Beim Anblick des Bildes vom Wolf - Jörg Albrecht - E-Book

Beim Anblick des Bildes vom Wolf E-Book

Jörg Albrecht

3,7

Beschreibung

Ein Freundeskreis Anfang dreißig, zehn Jahre nach dem Jahrtausendwechsel: Thies, seine Exfreundin Wanda, Jasper und die Zwillinge Jonte und Pelle. Sie leben als free lancer in einer großen Stadt, die von Werbung, Gentrifizierung und der Kreativwirtschaft bestimmt wird. Immer knapp bei Kasse nehmen sie jeden Auftrag an, auch wenn sie kaum daran verdienen - denn: Sichtbarkeit ist alles! Aber neben der Arbeit am eigenen Image geht es auch noch um die große Liebe, die allerdings auch nicht so einfach ist. Überhaupt haben sich die großen Versprechen von Freiheit und Selbstverwirklichung eher in Selbstausbeutung und prekäre Existenzen aufgelöst. Thies unternimmt Recherchen zur Kreativbranche, führt Interviews mit denen, die in ihr tätig zu sein glauben, und dreht mit seinen Freunden einen Film über die Geschichte der Stadt und die eigene Vergangenheit. Dunkle Schatten werden sichtbar, Genderverwirrungen, eine Blutspur scheint sich durch alles zu ziehen. Mutiert man am Ende etwa selbst zum Wolf? Ist es ein Spiel? Ein Theaterstück? Oder gar das eigene Leben? Jörg Albrecht fragt nach den Zumutungen der neoliberalen Gesellschaft und vergleicht ihre Ansprüche mit der Wirklichkeit.

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Jörg AlbrechtBeim Anblick des Bildes vom Wolf

Jörg Albrecht

Beim Anblickdes Bildes vom Wolf

Roman

für copy & waste

For the werewolf, for the werewolf, have sympathyFor the werewolf, somebody like you and me.

Cat Power

The visual is essentially pornographic, which is to saythat it has its end in rapt, mindless fascination.

Frederic Jameson

Doch alles singt sich heute gar zu leichtUnd jeder Handgriff schwer wie BleiIm besten Fall hab ich die Theorie erreichtDie alte Augenauswischerei

Ja, Panik

Eine kurze Geschichte der Ideologie der Geschichten 1

Wir tauchen auf, unsere Ohren: wattiert. Sie haben nichts, aber auch gar nichts mit der Geschichte da drinnen zu tun. Nur unsere Augen wollen an diesem Gewimmel teilnehmen, dieser Neueröffnung eines Designbüros. Wir wollen das nicht, aber tauchen immer zu spät wieder auf. Dabei sind wir viel zu müde, um so spät aufzutauchen und rauszugehen, in die Nacht. Wir sind so müde. Seit Jahren. Immer müder. Und immer wacher, in dieser Müdigkeit. Ja, du musst wach sein, is doch klar, in dieser Stadt, warte, sie schiebt sich gerade in den Vordergrund, ja, da ist sie, in dieser Stadt musst du wach sein, damit dich niemand abdrängt, aus dem Vordergrund, denn nur da, im Vordergrund, kannst du das sein, was du sein willst: kreativ und frei und kurz davor, es zu packen, das Glück. Fuck. Schon weg.

Ja, Glamour ist Arbeit. Das weiß jeder hier. Jeder, der in diese Stadt kam, weiß, dass der ganze Glanz nicht von allein auf dich fällt. Da musst du schon einiges unternehmen. Und wer in den Neunzigern darauf aus war, möglichst viel zu unternehmen, in Independentclubs, in Independentkinos, in Independentirgendwas [Hauptsache: independent], wer independent Unternehmungen machte, ist heut Independentunternehmer. Jonte als Computergamekomponist, Pelle als Animationszeichner, Wanda als Modedesignerin und Thies als Spezialist für Texte. Und Jasper, fragt Jasper, was ist mit Jasper? Ja, und Jasper als erfolgreicher Filmregisseur, fürs Arbeitsamt aber: erfolgloser, also: erfolgreich erfolgloser Filmregisseur, dessen Arbeit vor allem darin besteht, bezahlt zu werden fürs Nichtarbeiten. Oder doch, fürs heimliche Arbeiten, heimlich, an einem Werwolffilm, den wir fünf mit der Hilfe aller uns noch zur Verfügung stehenden anderen Freunde gerade drehen, aber: pst!

Sagen wir: zu viel. Sagen wir: immer wieder. Sagen wir: Jedem von uns ist es seit langem immer wieder zu viel, High End Stress! Und es wird nicht weniger. Im Gegenteil. Also, auf dem Konto doch. Auf dem Konto wird es weniger. Und das Arbeitspensum: mehr. Und mehr. Und unser Fame? Auch. Das sind wir: Thies, geboren wenige Wochen nach MTV, aus dem Ruhrgebiet in diese Stadt gekommen, um hier abzuschreiben, aus dem Leben. Wanda, an der Küste Schleswig-Holsteins ohne Eingabe in Suchmaschinen sofort diese Stadt gefunden zu Beginn der Nullerjahre, wo sie Mode machen wollte, die es vorher noch nie gab, zumindest nicht in Schleswig-Holstein. Jasper, der aus Würzburg in eine andere Stadt ging und dort Film studiert, gerade aber hier rumhängt. Und dann noch: Jonte und Pelle, die Zwillinge aus Oberammergau, die nicht mehr identische Klamotten tragen wie mit zwölf, dreizehn noch und auch tagsüber in verschiedene Richtungen gehen: Jonte zum Komponieren, Pelle zum Zeichnen, um am Abend, in der doch identischen Wohnung, wieder zusammenzukommen.

Jeder von uns macht sein Ding. Jeder von uns macht das Ding, das er macht, gern. Jeder von uns hat mal wieder zu viele Aufträge angenommen, um lässig sagen zu können: Joa, ich mach so mein Ding. Jeder, nur Jasper nicht, Jasper macht es richtig, Jasper macht nichts. Oder zumindest sieht niemand von außen, dass er irgendwas macht. Und eigentlich machen wir alle dasselbe: Wir warten. Warten. Immer und immer. Darauf, dass es besser wird. Unsere Bewegungen, manchmal müde, völlig übermüdet, zeichnen Gesten in den Raum, diesen Raum zwischen uns. Und diese Gesten, wenigstens die schaffen was. Die machen unsere Stadt zum Schauplatz dessen, was folgen wird, machen sie zum Hintergrund und Vordergrund, zur Arbeit und zum Ergebnis der Arbeit in einem. Auch in diesem Dezember, der ewig dauert, nein, er nimmt kein Ende.

Klar,

klar,

klar sind wir hier, in der Kreativbranche.

Was sollen wir in einer Stadt wie dieser auch machen, als uns verbrauchen, in der Branche der Branchen?

Was sollen wir auch anderes machen? Als warten. Immer und immer warten auf den nächsten Job,

den besseren Job,

den Durchbruch,

den Drehbeginn, den Drehschluss,

oder überhaupt jeden Schluss,

auf die große Liebe.

Welche große Liebe?

Einfach DIE große Liebe. Im Allgemeinen.

Es ist nicht so, dass das nicht müde macht, dieses scheiß Warten. Und dann muss wieder alles ganz schnell gehen, bis zur Deadline.

Das kann mir nicht passieren.

Nein?

Und, was macht die Kreativität? Sie klammert. Zumindest visuell. Zumindest eine visuelle Klammer soll es endlich geben, hat man sich so gedacht, damit sie sichtbarer werden, die kreativen Veränderungen in der Stadt. Und dabei, wie das geschaffen wird, können die Bewohner dieser drei Straßen, die um diese Zeit auf sind, was bei Menschen in diesem Milieu ja gar nicht so oft der Fall ist, können die Bewohner, zu denen auch Thies gehört, auch Jonte und Pelle gehören, temporär auch Jasper, sich selbst überzeugen, also: könnten sie, wenn sie denn schon wach wären. Dann könnten sie einen bärbeißigen Asphaltwalzenfahrer auf einer Asphaltwalze fahren sehen, der keinen Schnauzbart trägt, aber eine Kappe und eine Latzhose, wie es sich gehört, und der sich bei näherem Hinsehen, was bei dieser Tageszeit sicher noch schwieriger ist, als überhaupt wach zu sein, als ziemlich butche und eben bärbeißige Asphaltwalzenfahrerin entpuppt, die mit unterdrückt-aggressiver Genauigkeit, ja, Penibilität diesen Asphalt walzt, auf dem aber kein neuer Asphalt aufgezogen wird, sondern eine rote Granulatschicht. So dass jeder, also wirklich JEDER, der vorbeikommt, stehenbleibt und mit der Zeit ein gewaltiger Menschenauflauf entsteht. Zehn, zwölf Menschen sind ja noch halbwegs verteilbar, auch zwanzig, dreißig noch, aber als es Mittag ist und auch Jasper aus dem Haus gestolpert kommt, alarmiert von Pelle über iPhone, drei Klappstühle aus seiner temporären WG unterm Arm, die er nun zum Rest der Bande schleppen will, da sind es nicht mehr zwanzig, dreißig Menschen. Orientierungsversuche, übers Phone [wo seid ihr denn?, was?, die Leute quatschen so laut!, die Koordinaten!, gebt mir die GPS-Koordinaten!], und gleich ist er da, relativ weit vorn, denn Thies war hier einer der ersten, war am Morgen einer der ersten wachen Bewohner dieser relativ spät wachen drei Straßen. Die Leute hinter Thies, Jonte und Pelle, als Jasper sich samt dreier Küchenklappstühle, vier Dosen Bier, iPhone um den Hals und Pappbecherchen mit Espresso auf dem Kopf, durch die Menge drängelt, die Leute grummeln, knurren, schnauben und platzen heraus, dass das unverschämt sei, aber Jasper hält durch. Und als er vorn ist und die vier Freunde sich auf die drei Klappstühle quetschen, werden die Beschwerden nur kurz lauter, um dann abzuflauen, als die Leute kapieren, dass sie sich zwar einen halben Fuß nach hinten bewegen mussten für die Klappstühle, aber nur um jetzt, da die vier Jungs sitzen, eine viel bessere Sicht zu haben auf [TUSCH!]: die butche Asphaltwalzenfahrerin, die kunstvoll, gegen die Gesetze der Physik, auch die Gehwege mit der Asphaltwalze befahren kann, auch wenn die schmaler sind, streckenweise zumindest schmaler sind als die Walze, viel schmaler. Die Butch kann sogar einzelne, kaum dreißig Zentimeter schmale Gehwegstücke mit dem roten Granulat beziehen, ohne abzusteigen, ohne mit der gesamten Asphaltwalze abzurutschen vom Gehweg, zu stürzen, nach unten, weit nach unten, die vielen Credits wieder verlierend, die sie gerade ungewollt sammelt, während, ja, wie über Jaspers iPhone-Radio hörbar wird, inzwischen schon zirka zweihundertfünfzig Leute einem spontanen Spektakel beiwohnen im Dreieck dreier Straßen, die, wie in den vergangenen Wochen ja oft berichtet und diskutiert worden sei, heute durch roten Granulatbezug visuell geklammert werden, gebrandet als das offiziell kreativste Viertel, das diese Stadt zu bieten hat. Aber hier, wie geht es hier weiter, wird die butche Asphaltwalzenfrau es schaffen, auch das letzte Stück Gehweg mit dem Granulat zu beziehen? Und, viel wichtiger, wann wird ihre inzwischen kaum noch unterdrückte, sondern offene, offensive Aggression ein erstes Opfer finden? Oder wird sie gar kein Opfer finden? Wird die butche Asphaltwalzenfahrerin einfach von der Asphaltwalze abspringen, während die auf die Menge zufährt? Von zurasen kann man nicht sprechen, aber bei so einer Walze ist auch geringe Geschwindigkeit in Nähe einer Menschenmenge hoch. Wird sie die Walze allein walzen lassen, nur als Schreckmoment, im Wissen, dass die Walze, wenn der Fahrersitz länger als fünfzehn Sekunden ohne Gewicht ist, von selbst abbremst, also genau wenige Zentimeter, ach was, Milli-, Mikrometer, aber doch GENAU vor der Menschenmenge? Wird sie das bringen, damit ihren eigenen Glamour um wahnsinnig viele Creditpoints nach oben treibend? Oder doch nicht, nein, doch nicht, sagt Jasper, den Kopf schüttelnd, eigentlich ja, eigentlich schon und ja und: eigentlich na klar, aber diesen letzten Satz, den sie dann noch rausschleudern musste in ihrer butchen Aggressivität, dieser Satz, den hätte sie sich sparen müssen! Glamour als Aufstieg mit eingebautem Absturz:

Immer kommt jemand und guckt [GUCKT!].

Das ist der neue Red-Carpet-Trend, der alle erfasst hat, sogar die Innenstädte unserer Metropolen, in denen auch immer jemand guckt, selbst wenn niemand da ist. Wo immer jemand durch die angebrachten Kameras guckt, an Hauswänden angebracht, in Schaufenstern angemacht, in U-Bahnen. Damit man überall weiß: Man ist nicht allein. Es gibt keinen Ort, an dem man noch allein sein kann, weil immer jemand da ist und guckt. The eyes, the eyes, they’re a dead giveaway!

Auf dem breiten Mittelstreifen liegt er also, der permanente rote Granulat-Teppich, rutschfest, der sich auch auf den Gehwegen fortsetzt. Zum Glück heißt er nicht so: Walk of Fame, obwohl er natürlich Hollywood nachempfunden ist. Dieser rote Teppich, der ein ganzes Viertel grundiert, eine Stadt fundiert. Versuche, diese Stadt als innovativ, human und attraktiv zu branden. Ja, Mensch, so isses nun ma: Kreative gehen da hin, wo andere Kreative rumspringen. Hippe Nachbarn, am besten Künstler oder schwul oder beides, und davon einfach ein paar zusammendrängen in einem Viertel, und schon kannst du aufatmen: Nein, du wirst nicht so werden wie Detroit, DU nicht! Und dafür brauchst du Geschichten. Und die Geschichte dieser Stadt weiß genau, wer in den Vordergrund gehört und wer nicht. Und wir haben Glück. Wir gehören in den Vordergrund, sehr weit nach vorn.

Thies arbeitet schon beim Frühstück immer. Wanda arbeitet erst nach dem Frühstück, das sie bis acht Uhr achtundzwanzig beendet hat. Jasper arbeitet erst nach dem Espresso nach dem Mittagessen, das er fast immer am Abend isst. Thies arbeitet bis zur Mittagspause und lässt die Mittagspause meist weg. Wanda arbeitet bis zur Mittagspause vier Stunden und danach noch mal vierundvierzig. Jasper arbeitet vor allem an den Formularen, die bezeugen, dass er nicht arbeitet. Thies arbeitet nach der Mittagspause, die er meistens weglässt, weiter, oder er trifft jemanden, ja, wenn er überhaupt jemanden kurz zum Kaffee treffen kann, dann kurz nach der Mittagspause, dann trifft er sich auch mal mit Leuten, statt den Kram elektronisch zu besprechen. Wanda lässt alle zwei Wochen die Mittagspause weg, wenn sie bei ihrem Therapeuten sitzt, um die Psyche transparent zu machen. Jonte und Pelle arbeiten auf je einem anderen Kreativareal in dieser kreativen Stadt, Jonte in einem Atelier ganz allein, Pelle in einem Atelier mit ganz vielen zusammen, Jonte vor allem an seinem Netzwerk, Pelle an Handlungsabrissen für seine Filme, und meist geht es bei ihnen entspannter zu als bei Thies, bei dem es entspannter zugeht als bei Wanda, bei der es entspannter zugeht als bei Jasper, der ständig [STÄNDIG!] auf irgendwelchen Fluren irgendwelcher Ämter sitzen muss, um irgendwelche Zahlungen zu bekommen. Thies arbeitet nach dem Treffen nach der Mittagspause weiter, arbeitet im Schreibprogramm, im Firefox und am Phone weiter, bis zum Abendessen, und danach, danach würde ich echt gern mal wieder, ok, noch n bissl, und um zwölf is Schluss, aber dann, wenn es gerade dann gut, dann doch bis halb eins, eins, zwei, kann ja ausschlafen morgen, ausschlafen, bis zum Frühstück, ach nein. Denn Thies arbeitet eigentlich schon vor dem Frühstück, an seinem Körper, im Fitnesscenter. Wanda arbeitet so viel, dass sie für so was keine Zeit hat, aber sie gleicht es schon aus, gleicht es ab, gleicht die Kalorien auf jeder Lebensmittelverpackung mit ihrem Spiegelbild ab, geht doch auch. Jonte und Pelle arbeiten eigentlich immer, ja, ich mein, wenn so ne Idee, wenn die daherkommt, da kannst du ja nicht einfach sagen, jojo, mach ich morgen, da musst du manchmal verzichten, auf n Bier am Abend verzichten oder aufs Kino oder n Date oder auf die große Liebe, weil nur eine nie, NIE! NIE! NIE! warten kann: die Arbeit.

Wie kommen wir je wieder davon weg, nur glücklich zu sein, wenn wir arbeiten? Wobei die Arbeit nie nach Arbeit aussehen darf, nur nach Spaß. Und das verkaufen wir uns als Erfolg, uns und den Freunden um uns herum, die daraufhin noch mehr arbeiten, um irgendwie anzuknüpfen an dieses Erfolgskonzept, das ungefähr so lautet: Weil ähm mich das irgendwie glücklich macht und weil ich irgendwie immer das Gefühl habe, dass ich das machen muss, so aus einem inneren Zwang heraus. Und innerlich noch mehr Antworten vorbereiten für die Interviews zum eigenen Erfolg, aber so antworten, dass die gleich als Bonusmaterial taugen, auf irgendeiner DVD über dein Leben:

I wanted to

I chose to

I had this concept of

I really had the vision that

I couldn’t believe we had

I felt it was the turning-point of my life, when I

I guess I just knew what I was doing

Und andere Erfolgsgeschichten. Solche BESCHISSENEN GESCHICHTEN!

Ich halte es in meinem Atelier nicht mehr aus!

Und ich nicht in meiner Altbauwohnung. Ich will weg, und zwar irgendwohin, wo die Miete billiger.

Dann geh in nen Plattenbau!

Hey! Ich bin platt genug, ja? Das ist das einzige, was ich von dieser Stadt gelernt hab in diesem Jahrtausend.

So schön, wir waren so schön, in den Neunzigern.

Als wir auf jedem Foto unschuldig aussahen.

Als wir auf jedem Foto wie das Gegenteil von unschuldig aussahen.

Als wir auf jedem Foto aussahen, als wären wir erwischt worden, backstage.

Ich kann das nicht mehr. Nein, im Ernst, es ist vorbei.

Wie kannst du das tun?

Es liegt nicht an dir! Es liegt an mir. Ich habe einfach was Besseres verdient!

In den kurzen Arbeitspausen: solche Gespräche, die uns nie herausführen werden aus diesem ganzen Ding. So wie Filme, die nie herausfinden aus der Entwicklungsphase, die über Wochen, Monate, Jahre und länger in irgendeinem Produktionsbüro in der Ablage liegen, in dieser Hölle, in Filmkreisen development hell genannt. Filme, die dort liegen und aus unerfindlichen Gründen doch nie produziert werden: Weil der Autor beim Drehbuch nicht den entscheidenden Dreh kriegt, weil die richtigen Darsteller immer schon bessere Engagements haben und, als das nicht mehr so ist, schon nicht mehr hip genug sind, weil irgendeine Lizenz für zu kurze Zeit gekauft und dann weiterverscherbelt wurde, also irgendjemand anders diesen Wahnsinnsroman verfilmen will und das Projekt dort auch nur in der Ablage hängt. So hängen wir rum. Heute hängen wir immer nur rum vor den Laptops. Das war früher mal anders. In den Neunzigern vor dem Fernseher rumhängen mit Alternative Nation oder Daria auf MTV, vor Jugendzentren rumhängen, mit Halfpipes oder Fotolabors, vor Bühnen, mit Schreigesang und dem Versprechen, dass Am-Rand-Stehen irgendetwas heißt.

Rumhängen als Kulturarbeit. Das alles noch in den Gegenden, aus denen wir kamen, in diese Stadt. In den Neunzigern, sagt Jonte, als ich zum ersten Mal in diese Stadt kam, schien sie mir so unübersichtlich. Die Neunziger selbst, sagt Pelle, scheinen mir von heute aus unübersichtlich, allein deshalb, weil Google Maps die ganzen independent locations nicht orten konnte, die sich heute alle Mühe geben können, sich zu verstecken, sie werden gefunden, in nullkommanullneun Sekunden. Und ich auch, ruft Jonte, von der Werbung werde ich gefunden, sie ist überall und übersieht mich nie, obwohl ICH sie immer übersehen konnte, wenn ich wollte, in den Neunzigern. Bis jetzt, sagt Pelle, weiß ich nicht mal, wie ich dieses Jahrzehnt, das nun schon mehr als ein Jahrzehnt zu Ende ist, zusammenfassen soll, immer wenn ich das versuche, brauche ich Tage und bin am Ende am Ende. Versuchs noch mal! Versuchs doch einfach mal! Okay, here we go: Die Neunziger, sagt Wanda, als noch alles independent war und die Sänger von Screamobands in irgendwelchen Kellern schrien, und wir dachten, das würde immer so weitergehen. Und dann kam der Glanz.

Doch nicht jedes Gesicht ist gewohnt, im Blitzlicht gut auszusehen. Jaja, sagt Pelle, mit dem Designpreis und den Interviews und den Artikeln in den ganzen Magazinen kam auch das. Und auf einmal, auf einmal kann Pelle in der Kantine des Kreativareals, auf dem sein Atelier liegt, nicht mehr essen, ohne dass gleich mehrere Designerinnen die Wimpern schlagen, ihm mit den Wimpern in die Fresse schlagen. Und während ich Mittag esse und erzähle, von irgendeinem nerdigen B-Movie, das ich gerade mal wieder entdeckt habe, merke ich, dass ein Teil von mir selbst nicht zuhört, sondern den schönen Augen schöne Augen macht. Wie soll ich denn noch irgendwas sein, wenn mein Bild immer schon da ist und flirtet, ohne mich? Und sofort schauen sich alle anderen männlichen Designer, die auf dem Kreativareal designen, Pelles Filme an, ganz genau, um den Stil wenigstens ein bisschen zu kopieren und auch zu ihrem Flirt zu kommen. Also, es is ja schon so, dass, also so Erfolgsgeschichten, auch die aus anderen Städten, von anderen Städten, die regen doch an, selbst wenn sie nicht kopiert werden können, weil die Bedingungen vor Ort ganz andere sind, weil Schlüsselakteure fehlen oder weil man einfach nicht in Oberammergau aufgewachsen ist, wo einem zwischen den Passionsspielen nichts anderes übrigbleibt als zeichnen, zeichnen. Das eigene Bild zeichnen, damit es allein ausgehen kann. Und so läuft alles ohne mich: Drinks, Flirt, Fick.

Aber irgendwann ist die Arbeit ja auch getan.

Irgendwann bist du sichtbar gemacht, wie die ganze Stadt.

Irgendwann strahlst du so weit, dass alle dich kennen, aus jedem europäischen Bahnhofskino, ja: Glamour sprengt alle Grenzen!

Lebenszeit wird zu Arbeitszeit.

Arbeitszeit wird zu Nacharbeitszeit.

Nacharbeitszeit wird zu Nachtarbeitszeit.

Night creatures call: Wir wollen Arbeit!

Der projektbasierte Kapitalismus.

Was heißt hier Projekt? Das ist mein Leben mit dir. Meine Liebe zu dir.

In the end, it nearly destroyed me.

Oder soll ich mir hier umsonst n Wolf filmen?

Es ist bald wieder Vollmond, dann ändert er sich, es kann sein, dass.

Das reicht jetzt.

Ich will damit nicht sagen, dass er auf allen vieren herumläuft und den Mond anheult.

Es reicht!

Nur manchmal habe ich das Gefühl,

Still!

in Bewegung bleiben, das wär schon gut,

Jetzt halt mal still!

ich muss ja nicht gleich anfangen zu heulen.

Halt still, sonst kann ich dich nicht retuschieren.

Zum Glück sind wir manchmal noch unter uns. Was heißt: manchmal? Also, wir sind immer unter uns, wenn wir Yilmaz aus der Dönerbude abziehen, wenn wir den Typen mit dem Hut abziehen, der immer vorm Edeka bettelt und mit Jasper stundenlang spricht, ohne dadurch eine Hauptoder Nebenrolle in Jaspers Film ergattern zu wollen, und wenn wir Kaylee abziehen, die immerhin in Trinidad geboren ist, aber klar, auch sie macht Kunst! Und Sandrine jetzt auch. Wandas alte Schulfreundin Sandrine, die jahrelang nur die schlimmsten Jobs machen musste, und jeder aus dem Freundeskreis hat das mitbekommen, alle hat das so was von mitgenommen, und alle haben immer Mitleid gezeigt und sich heimlich gedacht: Hoffentlich wird das nie so bei mir. Und jetzt? Hat Sandrine das ultimative Angebot, denn sie wird einen Roman schreiben, für irgendeinen großen Verlag einen Roman schreiben über die vielen Jobs, die sie machen musste, und mit diesem Roman wird sie endlich DEN Job finden: Autorin von Jobromanen.

Ten years after the turn of the century / zehn Jahre nach der Drehung des Jahrhunderts, und Glanz und Underground, Glamour und Politik sind eins. Und sie wollen DICH, mit Haut und Haar. Und du musst alles verkaufen, immer als viel mehr Arbeit und viel schönere und befreiendere Sache verkaufen, als the next fucking big thing, das musst du einfach, denn: Hier sind alle into art, alle, wieso solltest ausgerechnet DU nur Verkäufer an der Kasse im Edeka sein? All die Versuche, diese Stadt als hoffnungsvoll und vollkommen zu branden. Früher, ja früher konnte ich noch als Nerd herumlaufen und beschimpft werden oder wenigstens einen Jungen küssen und dafür Schläge kassieren. Heute gehören wir einfach dazu. Das ist sie. Die Tragödie derjenigen, die alle sehen, die alle sehen MÜSSEN, denn wenn man dich nicht sieht, bist du nicht da, jaja. Hatten wir uns das nicht so erträumt, in den Neunzigern? Irgendwie schon. Auch wenn hier, auf dem roten Teppich dieser Stadt, dem rotem Teppich als Stadt, die Neunziger weit weg scheinen, mindestens ein Jahrhundert weit. Na ja. There is always a sequel!

Nicht schlagen!

Wir machen doch gar nix. Sie lesen zu viel Schlagzeilen in U-Bahn-Fenstern, Mister. Zu viele reißerische Schlagzeilen, die an den Nerven reißen.

So wie heute: Immobilienmakler krankenhausreif aufgefunden!

Nach einer Wohnungsbesichtigung.

Die zu einer Demonstration wurde, gegen steigende Mieten.

Die zu einer Party wurde. Umfunktioniert wurde.

Und hat jemand von den Demonstranten?

Die waren zu blau. Von deren Blutprobe konnten die Bullen ihr Betriebsfest machen.

Die Demonstranten wurden mitgenommen.

Und der Makler? Blieb, um abzuschließen und lag später auf den frisch abgezogenen Dielen, in seine Wangen Zeichen geritzt.

Mit dünnen, scharfen Instrumenten war die Differenz hineingeritzt.

Die Differenz zwischen der Miete vorher und der Miete, die der Typ jetzt –

Vorher vierhundert warm, nachher siebenhundert.

Eine neue Art von linkem Terror?

Der Familienvater kam noch mal mit dem Schreck davon.

Der Familienvater [geschieden, eigentlich schwul] kam mit dem Scheck davon. Dem Scheck der Versicherung.

Wird er davon die OP zahlen können, gegen die Narben auf den Wangen?

Wenn Photoshop es gut mit dir meint.

Klick, klick: Speichern.

Er kann nicht schlafen. Seit Tagen kann Thies nicht schlafen, wenn er will, und schläft, wenn er es nicht mehr will, nie mehr will, weil der Wachzustand so angenehm ist, weil der Wachzustand im Dämmerzustand am schönsten ist. Und er liegt allein. Und er kann sich nicht vorstellen, dass dieser Zustand, dieser Wachdämmerzustand, dieser Limit-überschritten-Zustand, dieser Absolutpräsent-und-überhaupt-nicht-anwesend-Zustand, dass der mit jemandem zusammen irgendwie schöner wär. Er denkt kurz daran zurück, wie es war, als Wanda noch auf dem Laken lag, da, wo jetzt ein Stapel Bücher liegt und sein iPad. Aber das ist lange vorbei. Wanda und er, das war diese große Zeit, diese ganzen ersten Jahre in dieser Stadt, in denen noch niemand von ihnen merkte, was sich in den Bestandteilen dessen verschob, das man einfach so benennt, wenn man den Namen der Stadt ausspricht. Na doch, so dumm brauchst du dich gar nicht zu stellen! Natürlich hat jeder gemerkt, dass das so war. Man wollte nur nicht, dass es DAS ist: ein Haufen unterbezahlter oder unbezahlter oder unbezahlbarer Jobs oder Straßenzüge, verwüstet durch Bioläden oder Werbewände, vor denen Menschen laufen, von denen man annimmt, dass sie dreidimensionale Projektionen sind, die zur Werbung gehören, so perfekt sind sie. Man wollte natürlich, dass es eher DAS ist: ein diffuser Haufen Freiheit, in dem man irgendwo mit seinem Macbook sitzt und durch einen Strohhalm frischen O-Saft schlürft, was durch ein neues Onlineportal alle Freunde wissen, so dass sie gleich dazustoßen können, und du wirst niemals [NIEMALS!] mehr allein sein. Schön. Hach, so schön inzwischen hier. Und das war der Moment, in dem die ganze Geschichte, die sie mitschrieben, jeden Tag, in dieser Stadt, merkwürdig wurde.

In einem besonders leeren Sommer, vielleicht im letzten, dämmerte ihm das, langsam, so langsam, wie der Wasserfleck an seiner Arbeitszimmerdecke sich in einen Schimmelfleck verwandelte und die Form geöffneter Lippen annahm, so langsam wie der eineinhalbjährige Sohn der dreiundzwanzigeinhalbjährigen Videokünstlerin von nebenan läuft, immer zwanzig bis dreißig Schritte hinter der Mutter, stolz und schwebend in dieser Langsamkeit, so langsam, wie Ende August die Schlangen vor der Eisdiele am Kanal unmerklich wieder kürzer werden, Tag für Tag, so langsam kam Thies die Ahnung, dass irgendwas nicht stimmen könnte, und die Idee, dass er mit möglichst vielen Leuten darüber sprechen müsste, was ihnen allen zustößt und mit ihnen diesem urbanen Raum, zugespitzt in den vergangenen zehn Jahren. Also: ein neues Projekt. Wie immer. Wie immer kommt doch ein Projekt, ja, bei mir ist jetzt immer Projektwoche. Und in der dreht sich alles um Interviews:

Thies interviewt eine Sängerin. Thies interviewt einen Produktdesigner. Thies interviewt einen Volontär in einem großen deutschen Verlag. Thies interviewt eine Regieassistentin. Thies interviewt drei freie, junge Schauspieler, zwei davon zusammen, einen einzeln. Thies interviewt einen Fotografen und einen Fotodesigner, getrennt, und beide legen Wert darauf, nicht das jeweils andere zu sein. Thies interviewt eine Dramaturgin. Thies interviewt eine junge Frau, die zeitgleich Magister in Kulturwissenschaft und Diplom in Soziologie gemacht hat und jetzt für die Kreativkurse zuständig ist in einer Unternehmensberatung. Thies interviewt einen Musiker, der unter vier verschiedenen Namen Soloprojekte hat, in drei Bands spielt und manchmal noch einspringt, wenn in anderen Projekten Not am Mann ist. Thies interviewt einen Typen, der sich irgendwo bewegt im Grenzbereich zwischen Kulturmanagement und inhaltlicher kuratorischer Mitarbeit. Thies interviewt die freie Mitarbeiterin eines Rundfunksenders, die schon so lange frei mitarbeitet, dass sie eigentlich fest angestellt werden müsste, aber immer, wenn es wieder so weit ist, muss sie mal drei Monate aussetzen, dann gehts von vorn los. Thies interviewt einen Maler. Eine Videokünstlerin. Drei wissenschaftliche Mitarbeiter. Einen Plattenladenbesitzer [dessen Plattenladen drei Tage nach dem Interview pleite macht]. Eine Lektorin. Einen Produzenten für freies Theater. Einen Produzenten für Film. Einen Agenten für Schauspieler, der das Geld, das er in seine Agentur steckt, als Statist für Opern verdient und als Synchronsprecher für Soaps. Eine Pianistin. Eine Cellistin. Einen Triangelspieler. Zwei Inhaber dreier Galerien. Eine Maskenbildnerin. Einen Modedesigner, der vor acht Monaten noch Modedesignerin war. Fünf Praktikanten [zwei davon Theater, eine Literaturhaus, einer Kunstzeitschrift, eine Fußballzeitschrift]. Zwei Kulturjournalisten. Eine Bühnenbildnerin und ihren Freund, den Zahnchirurg, der ihr bei allem hilft, was es zu bauen gibt. Einen Sounddesigner, der, wenn nichts anderes reinkommt, in Western-Stuntshows live die Geräusche macht. Einen Schauspieler über fünfzig, der aber genug hatte von Bühne, Film, Funk, Fernsehen und jetzt im Arbeitsamt arbeitet. Eine Putzfrau.

Schade, dass das die Einzige ist, die so n bisschen.

Rausfällt?

Schade, dass der ganze Rest so reinfällt.

Worauf?

Egal.

Bent Fjølk wartet vor dem Kaiser’s am Kotti in einem eigentlich nicht, aber für diese Gegend doch etwas zu chicen Jackett, mit schwarzer Jeans und einem Rucksack, auf dem ein Fuchs ist, der nicht aus Dänemark kommt, sondern Schweden. Bent Fjølk ist dänisch-stämmig und nicht stämmig. Bent Fjølk hat rötliches Haar, rötliche Wangen und überraschend dunkle Augen, so dunkelbraun, dass man denken könnte: schwarz. Bent Fjølk ist Anfang dreißig, trägt das Gesicht nicht glattrasiert, aber dennoch glatt, mit einem so stereotypen Dreitagebart, dass der doch schon wieder als glatt durchgeht in dieser Stadt. Na gut, für nen Anwalt nich, denkt Thies, für nen Anwalt sieht er sowieso. Oh. Wohin?, fragt Thies. Zu mir oder zu dir?, fragt Bent Fjølk. Und Thies lacht, wird trotzdem rot und schlägt dann eine Richtung ein, um schnell wegzukommen, von den roten Flecken im Gesicht.

Auf der Insel, von der Bent Fjølk stammt, stelle ich es mir wie vor? Still. Eine Insel nur aus Stille. Aber die ist zu weit weg, viel zu weit, ach ja, Dänemark, sagt Bent Fjølk, kommt mir manchmal vor, als wären es Jahrhunderte, die ich nicht mehr da war, ich kann mich fast an nichts erinnern, dann noch eher an den Übergang, an die Zeit, in der ich herübergewandert bin, von dem Leben dort in das Leben jetzt, und diese Stadt ist für mich heute meine Geschichte, sonst nichts. Und du bist Anwalt?, fragt Thies und stellt das digitale Diktaphon etwas weiter weg von Bent Fjølks rechter Hand, die ab und zu nervös den Daumen hebt und absenkt, ein sehr leises Klopfen, aber zu laut für das digitale Diktaphon. Oder besser, in welche Richtung gehst du als Anwalt? Ich trete da auf, sagt Bent, wo Hilfe gebraucht wird, in allen von Schatten heimgesuchten Wohnvierteln dieser Schattenstadt. Aber erst mal, sagt Thies, sieht ja niemand Schatten, also, das musst du erklären. Ich sag nur, kreativ, sagt Bent. Kreativ, jaja, aber das weckt doch ausschließlich positive Assoziationen, in allen Schichten der Bevölkerung, sagt Thies, deshalb hat sie es ja so leicht mit ihrem Siegeszug, die Kreativwirtschaft. Und das ist der Schatten, sagt Bent, noch fester mit dem Daumen der rechten Hand klopfend, so dass Thies ihn kurz festhalten muss, verlegen lächelnd, und Bent hält den Daumen still, seinen und Thies’, denn auf einmal hält seine Hand Thies’ Hand, während er weiterspricht: Dieser Schatten, der auf unser aller Leben fiel, kein Wunder, dass so viele Menschen in ihren Wohnungen über zu wenig Licht klagen, die Kreativität hat auch die Räume schon heimgesucht, ein guter Grund zu heulen, denn das heißt: Bald werden sich Leute diese Räume zum Arbeiten leisten, die es vorher niemals getan hätten. Eben nicht die Künstler, sagt Thies. Genau, eben nicht die Künstler, sondern solche, die denken, die Kreativität fährt in sie ein wie ein Geist, sobald sie in diesen Räumen sitzen, und deshalb geben sie ihr unkreatives Büro auf und kommen her, an einen Ort, wo sie dasselbe haben wie bei ihrem iPad: Look and Feel! Und da schaltest du dich ein? Na, meine Arbeit fängt an im Schatten des Schattens, da, wo die, die da vorher ganz normal gewohnt haben, vertrieben werden, im Namen einer kreativen Allmacht. Gib mal ein Beispiel, sagt Thies, gilt das nur für so was wie Fabriketagen? Es gibt da Formen, schlimmer als der schlimmste Splatterfilm, sagt Bent Fjølk, vor allem hier, in diesem Viertel, und man weiß ja, es hat das hier immer gegeben, gerade in Kreuzberg hat es seit Jahrhunderten immer wieder die Zerstörung von Gebäuden gegeben, und dieses Verticken an die kreative Elite ist die subtilste Form, so langsam glaube ich, habe ich fast alles gesehen. Was, alles? Bretterbuden in Hinterhöfen, in denen zwei Familien auf einmal wohnten, eine tagsüber, eine nachts, Schichtdienst, und die wurden einfach von einem Tag auf den anderen auf die Straße gesetzt, damit sich eine Werbeagentur, ziemlich jung, aber schon dick im Biz, da einnisten konnte. Oder besetzte Häuser, aus denen die Männer mit lauter Punkmusik und Biergeruch und einem kaum hörbaren Hypnosesignal rausgelockt wurden, damit man dann mit den Frauen und Kindern leichtes Spiel hatte, und aus den Transparenten, die die Häuser für besetzt erklärt hatten, ließen die Makler extravagante Teppiche machen, die den neuen Mietern, von Filmemachern bis Produktdesignlabel, den ganzen Chic dieser historischen Gemäuer klarmachen sollten. Oder ein weinendes Teeniegirl, das nicht glauben konnte, dass seine Eltern von jetzt auf gleich aus ihrer Wohnung wegwollten, dabei hatte jemand nur mit einigen großen Scheinen gewedelt, und sofort brach die Familie auf, die Familie, die, seit der Vater aus der Türkei hergekommen war, dort gewohnt hatte, zog sofort aus, ließ alle Sachen zurück, und das ganze Ding konnte die Firma gewinnbringend verkaufen, mit Möblierung, mit dem special Migrationshintergrundmöblierungsbonus, jetzt ist ne reiche Performancegruppe drin, die machen Dokutheater. Was für ein Horror, sagt Thies. Ja, und über den könnten sich die Horrorfilmemacher auch mal Gedanken machen. Apropos Horror, sagt Thies, hast du von diesem Makler gehört, den sie zusammengeschlagen haben? Klar, sagt Bent, den kennt man, na klar, wer sich mit steigenden Mieten in dieser Stadt auskennt, kennt diesen Mann, und die flippigen Krawatten auch, rot mit violetten Eistüten, gelb mit pinken Autos, schwarz mit Clownsgesichtern, Krawatten als Markenzeichen, um sich zum Anwalt zu machen, zum Anwalt einer kreativen Neubesetzung der Viertel, die Krawatten wird er jetzt vielleicht nicht mehr tragen. Und auch du trittst als Anwalt auf? Ich trete auf und versuche, die Lücken im Recht, die selbst die nicht kennen, die die Lücken im Recht nutzen, um anderen den Raum wegzunehmen, diese Lücken in den Lücken zu kennen und den Leuten dabei zu helfen, nicht zum Opfer zu werden steigender Preise und wedelnder Geldscheinbündel, die endlich auch kreativ sein wollen. Und was, fragt Thies, das jetzt so als letzte Frage, sagt Thies und fragt weiter, was passiert denn mit diesem Mythos Kreuzberg, wenn der ganze Stadtteil auf einmal so hip ist und zur Stadt gehört? Bent hat noch immer Thies’ Hand gehalten, schiebt sie jetzt weg, gießt ihm Weißwein nach, holt noch mal Luft und sagt: Kreuzberg hat lange nicht dazugehört, vor dem Mauerfall, hat immer am Rand gestanden, so wie du, als du neunzehn, zwanzig warst, noch gern am Rand rumstandst, in der Indiedisco am Rand rumhingst und dachtest, ich werd nie dazugehören, und das ist auch gut, und so ähnlich hat sich Kreuzberg das gedacht, und jetzt, jetzt ist es so mittendrin, was kann man da tun? Äh, der beste Ort, radikal zu sein, ist in der Mitte, sagt Thies, dem dieser Spruch ohne die zwei Gläser Weißwein sicher zu dumm gewesen wär. Und wem bleibt noch was anderes übrig?, fragt Bent, wem?, jetzt, wo sich alles ändert, alles entschärft, wo sogar Vampire im Kino ganz klar hetero sind, einer der größten Rückschläge der Filmgeschichte. Jaja, sagt Thies und wird wieder rot und weiß nicht, warum. Was solls, sagt Bent und nimmt wieder seine Hand, ich hab schon viel mitgemacht, sagt Bent Fjølk, es ist schon so eine Art zweites Leben, wenn du schon mal Krebs gehabt hast, you know?, aber ich will nicht vergleichen, Vergleichen macht unglücklich, das haben Glücksforscher endlich herausgefunden. Ein schöner letzter Satz, sagt Thies und drückt auf das digitale Diktaphon. Danke.

Dann noch mal: Gehen wir zu mir oder?

Ich muss das noch abtippen, was wir grad.

Zu Hause habe ich n Programm, das dir automatisch.

Neinnein, ich muss das selbst machen, das kann kein Programm.

Komm schon. Let me be your Entspannungsprogramm.

Klingt wie ein Slogan für die Kreativwirtschaft.

Ja, wo selbst Vampire jetzt glitzern, im Kino.

Vampire für Wellness?

Und Kino als Gesundheitsdienst.

Oh Mann. Aber manchmal wär das nicht schlecht, bei der ganzen Arbeit.

Du brauchst ne Pause, sag ich doch.

Hab ich jeden Morgen, wenn ich trainieren geh, okay?

Hier meine Nummer. Nach dem Work-Out kommt der Burn-Out, Baby.

Wanda geht ihren Weg. Wanda geht in eine Agentur. Wanda geht Tag für Tag den ganzen Tag in diese Agentur. Ach, achtundvierzig Stunden sind auch kein Tag. Wanda geht in diesen Achtundvierzigstundentag, geht den Achtundvierzigstundenweg, und sie geht ihn gern. Sie geht und bereitet für hundertfünfzig Euro im Monat achtundvierzig Stunden am Tag eine Modemesse vor. Dabei schläft sie sehr wenig, so wenig, dass sie in jeder dieser achtundvierzig Stunden am Tag fast einschläft. An den Sonntagen, die immerhin frei sind, schläft sie bis achtzehn Uhr, und um zwanzig Uhr ist sie wieder müde. Wanda ist müde, auch mit dem Kaffee in der Hand, und dann kommt ihr Chef um die Ecke, nicht mehr ganz jung, aber mit den richtigen Kniffen im Repertoire, sieht Wanda an, nimmt ihr den Kaffee aus der Hand, und bevor er sich umdreht und wieder raus ist, sagt er: Du siehst gut aus, und, JA, immer dann, wenn sie gerade überhaupt nicht mehr kann, wenn sie total fertig ist, kommt jemand und sagt: Du siehst gut aus! Wanda sieht gut aus. Wanda ist müde und macht nicht schlapp. Wanda macht und macht. Und als die Messe, die nicht mal vierzehn Stunden gedauert hat, fast zu Ende ist, stellt ihr der Agenturchef ein paar wichtige Leute vor. Und dafür hat sichs gelohnt. Dafür, dass sie kurz Hände schütteln darf und sich Namen merken, haben sich vier Monate à achtundvierzig Stunden am Tag für sechshundert Euro [brutto] insgesamt ECHT gelohnt. Dafür, dass sie sich fünf große Namen und Gesichter merken kann, deren Besitzer sich ihren Namen und ihr Gesicht nicht merken können, Festplatte übervoll, und außerdem sind die Worte ihres Chefs keine große Hilfe: Das hier ist Wanda, unsere gute Fee. Oh je.

Interview #7

Ähm. Diese Richtung ist ja nun keine sehr klare Richtung, sondern eher ein ähm äh eine Ansammlung unterschiedlicher Richtungen. Ich wusste nur, ich will irgendwie ähm das klingt sehr blöd, aber kreativ / künstlerisch / wie auch immer arbeiten, in diesem Feld, und irgendwie mache ich jetzt so einen Mix aus allem, und das triffts dann genau. Also ohne mein, also quasi wenn ich meine Arbeit nicht hätte, dann gings mir glaube ich auch gar nicht gut. Klar, man könnte sich auch mit Leuten zusammensetzen und tolle Sachen ausspinnen, ohne dass es ein Arbeitskontext ist, aber dass es dann doch Arbeit ist, ist dann auch letztendlich wieder so n Antrieb, der einen dann glaube ich auch positiv wieder pusht, ähm. Ich hasse Networking, also dieses Nur-Kontakt-Halten-weil-der-andere-könnteja-mal-wichtig-werden, das finde ich ganz, ganz furchtbar, also ich mach das auch eigentlich. Na obwohl, wahrscheinlich mache ich es doch.

Interview #28

Also, ich glaub, ich hab eineinhalb Jahre Hartz IV bekommen, und das war die beste Zeit überhaupt, weil man konnte Nonstop von morgens bis abends nur Musik machen, zwei komplette Alben mit zwei Bands. Das war das Arbeitsamt Kreuzberg, und ich hatte so einen Sachbearbeiter, der total entspannt war. Da hatten wir gerade die letzte Scheibe raus, und da hat der mich eingeladen und gefragt, wie es denn jetzt aussieht, und ich meinte: Ja, die Platte kommt gerade. Und dann hab ich irgendwie auch als Beweis so ne CD mitgebracht, und er erst so abwehrend: Ich darf keine Almosen annehmen! Und dann so: Die! Die hab ich schon mal im Radio gehört! Fand ich gut! Dann hat er mir direkt nen Stempel gegeben. Also, das war das erste Mal in meinem Leben, dass es was gebracht hat, Musik zu machen [lacht].

Interview #33

Meine Eltern sind halt, klar, das war halt Ausbildung zu DDR-Zeiten, da ist das dann leichter und schwerer gleichzeitig. Meine Mutter zum Beispiel konnte nicht normales Abitur machen, weil ihre Eltern zu hohe Schicht waren, insofern musste sie erst eine Ausbildung und dann ihr Abitur machen. Ja, aber unbedingt leichter hatten sie es auch nicht unbedingt, weil zum Beispiel mein Vater hat auf Lehramt studiert und war dann kurz nach der Wende fertig, ähm, und da gab es dann überhaupt keine Stellen. Wo es jetzt, durch diese Informationsüberflutung, wenn man die rational betrachtet, es einfach schwierig ist, sich für irgendetwas zu entscheiden. Und damals das halt weniger der Fall war und damals vielleicht alles eindeutiger vor dir erschienen ist als es heute tut.

Wenn er sie übersetzte, alle Interviews, die er bisher geführt hat, in Abbildungen übersetzte, würde Thies einen Haufen ähnlicher Bilder herausbekommen. Und das nicht nur, was die Gegenwart angeht, sondern auch die Vergangenheit, die längst vergangene, die Teenagezeit. Kollektive Kindheitserinnerungen, Jugenderinnerungen, Jugendverlusterinnerungen als erste Ergebnisse der Interviewarbeit. Und das, obwohl fast niemand der Interviewten aus derselben Stadt hergekommen ist wie ein anderer: Freiburg, Flensburg, Guben, Jena, Basel, Heidelberg, Tübingen, Neuruppin, Cammin, Östersund, Peterborough, Sandhurst, Prochowice, Ostia, Orangeville, Buffalo, Morgantown [West Virginia] undundund. Aber in den Abbildungen, die Thies vor Augen hat beim Wiederanhören der Interviews, sind diese Städte aus ähnlichen Elementen gebaut, Partikel, die nie geplant waren, Gebäudeteile eines großen architektonischen Entwurfs, der sich nur langsam zeigte. Und den Eltern fürchteten. Die Eltern von fast allen der Interviewten fürchteten sich vor dieser ungeplanten Raumproduktion, die da geschah zwischen den Körpern ihrer Kinder, noch ungeplanter als die Pubertät, ja, es war noch was anderes, so ab fünfzehn, sechzehn.