Bellas Tod - Georges Simenon - E-Book

Bellas Tod E-Book

Georges Simenon

5,0

Beschreibung

Nur Spencer Ashby war im Haus, und jetzt ist Bella tot. Unvermittelt endet das beschauliche Leben des braven Lehrers in der nordamerikanischen Kleinstadt Lakeville, als er Hauptverdächtiger in einem Mordfall wird. Und erst jetzt fragen sich Ashby und seine Frau, wer das fremde Mädchen war, das sie da in ihrem Haus wohnen ließen. Wie sehr Ashby auch seine Unschuld beteuert: Ganz Lakeville hält ihn für den Mörder. Selbst seine Frau beginnt an ihm zu zweifeln. Wie lange dauert es, bis ein solcher Verdacht das Leben eines Menschen zerstört? Was tut ein Mensch, der derart in die Enge getrieben wird?

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Man kann sich nicht von der Lektüre losreißen

“Bellas Tod” ist ein Kriminalroman, der sowohl eingefleischte Fans des Genres als auch neue Leser begeistern wird. Simenons Fähigkeit, eine mitreißende Geschichte mit starken Charakteren zu erzählen, macht das Buch zu einem Pageturner. Es ist eine spannende Lektüre, die bis zur Auflösung des Falls die Neugierde und den Nervenkitzel aufrechterhält.
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Band 75

Georges Simenon

Bellas Tod

Roman

Aus dem Französischen von Elisabeth Serelmann-Küchler

Kampa

Erster Teil

1

Es kommt vor, dass ein Mensch in seiner Wohnung unbefangen und entspannt seine gewohnten Handgriffe macht und plötzlich merkt, dass die Vorhänge nicht zugezogen sind und Leute ihn von draußen beobachten.

So ungefähr erging es Spencer Ashby. Nicht ganz, denn in Wirklichkeit achtete an jenem Abend niemand auf ihn. Er hatte seine Einsamkeit ganz so, wie er sie liebte, dicht und undurchdringlich, ohne das geringste Geräusch von draußen; es hatte sogar angefangen zu schneien, und der Schnee machte die Stille fast greifbar.

Wie hätte er, wie hätte irgendjemand auf der Welt ahnen können, dass man diesen Abend später wie ein Insekt unter die Lupe nehmen, dass man Ashby zumuten würde, ihn in allen Einzelheiten nachzuerleben?

Was hatte es zum Abendessen gegeben? Keine Suppe, keine Eier, auch keine Hamburger, sondern eines von Christines berühmten Resteessen, nach deren Rezepten sich ihre Freundinnen immer erkundigten, um ihr eine Freude zu machen. Diesmal waren es überbackene Makkaroni mit allerlei Hackfleisch und Schinken sowie Erbsen.

»Willst du wirklich nicht zu den Mitchells mitkommen?«

Es war sehr warm im Esszimmer. Sie mochten es, wenn gut geheizt war. Er erinnerte sich, dass seine Frau beim Essen wieder einmal rote Backen gehabt hatte, was eigentlich ganz nett aussah. Obwohl sie erst Anfang vierzig war, hatte er sie irgendwann mit einer Freundin über die Wechseljahre reden hören.

Warum fielen ihm ausgerechnet die geröteten Wangen wieder ein, während alles andere dieser Mahlzeit in einem undeutlichen Licht verschwamm? Sicherlich war Bella da. Er wusste, dass sie da war. Doch er erinnerte sich weder an die Farbe ihres Kleides noch an das Thema des Gesprächs oder ob sie überhaupt daran teilgenommen hatte. Er selbst hatte geschwiegen, und so hatten die beiden Frauen sich bestimmt allein unterhalten; als die Äpfel auf den Tisch kamen, fiel das Wort Kino, und daraufhin verschwand Bella.

War sie zu Fuß ins Kino gegangen? Durchaus möglich. Der Weg war nicht weit, höchstens achthundert Meter.

Er war immer gern im Schnee spazieren gegangen, besonders im ersten Schnee des Winters, und er freute sich bei dem Gedanken, dass rechts von der Eingangstür unter der Veranda in den kommenden Monaten immer die Gummistiefel und daneben die Schneeschaufel stehen würden.

Er hatte gehört, wie Christine Teller und Besteck in die Geschirrspülmaschine räumte. Da hatte er vor dem Kamin gestanden und sich gerade eine Pfeife gestopft. Weil es schneite, hatte Christine zwei Holzscheite angezündet, nicht seinetwegen – er hielt sich nur selten im Wohnzimmer auf –, sondern weil Freundinnen zum Tee gekommen waren.

»Schließ bitte die Tür ab, falls ich nicht zurück sein sollte, wenn du ins Bett gehst. Ich nehme meinen Schlüssel mit.«

»Und Bella?«

»Sie sitzt in der ersten Vorstellung und wird spätestens um halb zehn zurück sein.«

All das war so selbstverständlich, dass es kaum noch Konturen hatte. Christines Stimme kam aus dem Schlafzimmer, und als er an die Tür trat, sah er sie auf dem Bettrand sitzen, damit beschäftigt, ihre rote Wollstrumpfhose anzuziehen, die sie aus dem Schrank geholt hatte und die nach Naphthalin roch. Christine trug sie nur im Winter, wenn sie ausging. Warum wandte er beim Anblick des hochgerutschten Kleides verlegen den Kopf ab? Warum machte sie eine Bewegung, als wolle sie es herunterziehen?

Dann war sie fort. Er hatte das Auto wegfahren hören. Sie wohnten nur ein paar Schritte vom Dorf, fast im Dorf, und brauchten trotzdem ständig das Auto, um irgendwohin zu kommen.

Zuerst hatte er Jackett und Krawatte abgelegt und seinen Hemdkragen aufgeknöpft. Dann hatte er sich, um seine Pantoffeln anzuziehen, auf den Bettrand gesetzt, auf die noch warme Stelle, wo seine Frau gesessen hatte.

Ist es nicht sonderbar, dass man sich hinterher nur mit Mühe an solche Dinge erinnert? Dann bleibt einem nichts anderes übrig, als sich zu sagen:

›Also, wie war das? Hier habe ich gestanden. Was habe ich dann gemacht? Was mache ich sonst immer um diese Zeit?‹

Er hätte vergessen können, dass er in die Küche gegangen war und den Kühlschrank aufgemacht hatte, um seine Flasche Sprudel herauszunehmen. Oder dass er sich auf dem Weg durchs Wohnzimmer mit der Flasche in der Hand gebückt hatte, um von einem Tischchen die New York Times und dann seine Tasche unter dem Kleiderständer zu nehmen. Es war wie immer: Er ging in seine Bude, hatte irgendwelche Sachen unterm Arm und musste achtgeben, dass nichts hinunterfiel, wenn er die Tür öffnete und wieder schloss.

Gott weiß, was dieser Raum gewesen sein mochte, bevor sie das Haus umgebaut hatten. Vielleicht die Waschküche? Eine Speisekammer? Ein Werkzeugkeller? Was ihm so gut gefiel, war gerade, dass er keinem gewöhnlichen Raum glich: zunächst, weil unter der Treppe die Decke schräg verlief, dann, weil man drei Stufen hinuntersteigen musste und der Boden aus breiten, unregelmäßigen Steinplatten bestand; und schließlich, weil das einzige Fenster so weit oben war, dass es mittels einer Schnur und eines Flaschenzugs geöffnet werden musste.

Er hatte alles selbst gemacht: die Malerarbeiten, die Regale an den Wänden, die komplizierte Beleuchtungsanlage; und den Teppich, der auf den Fliesen vor den Stufen lag, hatte er auf einer Versteigerung erstanden.

Christine spielte bei den Mitchells Bridge. Wie kam es, dass er sie manchmal in Gedanken ›Mummy‹ nannte, obwohl sie nur zwei Jahre älter war als er? Vielleicht weil Freunde von ihnen, die Kinder hatten, ihre Frauen gelegentlich so ansprachen? Trotzdem war es ihm unangenehm, wenn ihm im Gespräch mit ihr dieses Wort entfuhr, und er empfand deswegen ein gewisses Schuldgefühl.

Wenn sie nicht Bridge spielte, diskutierte sie über Politik oder vielmehr über die Belange der Gemeinde.

Der Gemeinde galten im Grunde auch seine Bemühungen, wenn er, allein in seiner Bude, die Geschichtsarbeiten seiner Schüler korrigierte. Allerdings war die Crestview School keine Dorfschule, ganz im Gegenteil! Ihre Schüler kamen hauptsächlich aus New York, aus Chicago, aus dem Süden, ja sogar aus San Francisco. Eine gute Schule, die auf die Universität vorbereitete. Keine von den drei oder vier, die die Snobs stets im Munde führten, aber eine angesehene Highschool.

Hatte Christine denn so unrecht mit ihrem Gemeinschaftssinn? Sie hätte freilich nicht ständig und so entschieden darüber reden und von allen verlangen dürfen, sich dafür einzusetzen. In ihrer Vorstellung bildeten die gut zweitausend Einwohner des Ortes eben eine Einheit; sie waren miteinander verbunden, nicht durch ein unbestimmtes Gemeinschafts- oder Pflichtgefühl, sondern durch jene engen und verwickelten Bindungen, die auch Großfamilien zusammenhalten.

Gehörte nicht auch er dazu? Er stammte nicht aus Connecticut, sondern von weiter oben, aus Vermont in Neuengland, und war erst mit vierundzwanzig hierhergekommen, um sein Amt als Lehrer anzutreten.

Seitdem hatte er sich vollkommen eingelebt. Wenn er an dem Abend seine Frau begleitet hätte, so hätte ihm jeder die Hand geschüttelt und ihn freundlich begrüßt:

›Hallo, Spencer!‹

Die Leute mochten ihn, und er mochte sie. Er korrigierte gern, hatte allerdings mehr Spaß an Geschichte als an den naturwissenschaftlichen Fächern. Bevor er sich an die Arbeit setzte, hatte er die Whiskyflasche und ein Glas aus dem Wandschrank geholt und den Flaschenöffner aus der Schublade genommen. All das tat er mechanisch, ohne lange zu überlegen. Wie hätte er wohl auf einer Fotografie ausgesehen, die jemand an diesem Abend von ihm gemacht hätte?

Also, es hätte Schlimmeres geben können!

Er trank immer den gleichen Whisky, immer gleich stark, und ein Glas reichte für eine halbe Stunde.

Eine der Hausarbeiten war von Bob Mitchell, bei dessen Eltern Christine gerade Bridge spielte. Sein Vater, Dan, war Architekt und wollte sich um eine höhere Beamtenstelle bewerben, weshalb er ständig einflussreiche Persönlichkeiten zu sich einladen musste.

Bob hatte in Geschichte nicht mehr als sechs Punkte verdient, und Spencer schrieb die Zahl mit Rotstift hin.

Von Zeit zu Zeit hörte er einen Lastwagen dreihundert Meter entfernt die Steigung heraufkeuchen. Sonst war kaum ein Geräusch zu vernehmen. Es gab keine Uhr in der Bude. Spencer hatte keinerlei Grund, auf seine Armbanduhr zu sehen. Er brauchte kaum mehr als vierzig Minuten, um die Arbeiten zu korrigieren, dann verstaute er die Hefte in seiner Aktentasche und trug diese ins Wohnzimmer, wo er abends immer die Sachen für den nächsten Tag zurechtlegte. Wenn er besonders früh aus dem Haus musste, rasierte er sich sogar noch vor dem Zubettgehen.

Es gab keine Läden an den Fenstern, nur Jalousien, und die waren hochgezogen. Oft ließen sie sie erst kurz vor dem Schlafengehen herunter, manchmal auch gar nicht.

Er blickte einen Augenblick hinaus in den fallenden Schnee, sah, dass nebenan Licht brannte und Mrs. Katz am Klavier saß. Sie trug ein leichtes Hauskleidchen und spielte mit viel Temperament, doch er konnte nichts hören.

Er zog an der Schnur, um die Jalousie herunterzulassen. Diese Bewegung war für ihn ungewohnt. Sonst gehörte das zu Christines Pflichten. Besonders wenn sie das Schlafzimmer betrat, war ihre erste Sorge, ans Fenster zu gehen und nach der Schnur zu greifen, worauf man das leise Scheppern der Lamellen hörte.

Er ging ins Schlafzimmer, um Hose und Hemd zu wechseln; die graue Flanellhose, die er aus seinem Wandschrank nahm, war mit feinem Sägemehl bestäubt.

Ging er noch einmal in die Küche? Jedenfalls nicht, um Sprudel zu holen, denn die Flasche reichte ihm für den Abend. Er erinnerte sich undeutlich, das Feuer im Wohnzimmerkamin geschürt zu haben und aufs Klo gegangen zu sein.

Wichtig für ihn war die Stunde, die er anschließend an seiner Drehbank verbrachte, wo er an einem verschnörkelten Lampenständer arbeitete. Seine Bude war eher Werkstatt als Studierzimmer. Spencer hatte schon andere Schwierigkeiten überwunden und nicht nur Lampenständer gedrechselt. Christine hatte einiges davon an ihre Freundinnen verschenkt und brachte die Dinge auch immer bei Verlosungen oder Wohltätigkeitsbasaren zum Einsatz. Unlängst hatte er sich auf Lampenständer verlegt, und wenn ihm dieser glückte, würde er ihn seiner Frau zu Weihnachten schenken. Die Drehbank hatte er vier Jahre zuvor von Christine ebenfalls zu Weihnachten bekommen. Die beiden verstanden sich gut.

Er hatte seinen zweiten Whisky gemixt. Ganz in seine Arbeit vertieft, zog er kaum an seiner Pfeife, sodass sie fast ausging und er sie mit ein paar schnellen Zügen wieder in Gang bringen musste.

Er liebte den Geruch des Holzes ebenso wie das Surren der Maschine.

Bestimmt hatte er die Tür der Bude geschlossen. Er machte immer die Türen hinter sich zu, so als wolle er sich in den Zimmern verkriechen wie andere in ihren Decken.

Als er einmal während der Arbeit den Kopf hob, stand Bella auf der obersten Treppenstufe, und so, wie Mrs. Katz Klavier gespielt hatte, ohne dass er es hörte, bewegte Bella die Lippen, aber der Lärm der Drehbank verschluckte ihre Worte.

Er schüttelte den Kopf und gab ihr zu verstehen, dass sie einen Augenblick warten solle. Er konnte jetzt nicht loslassen. Bella trug eine dunkle Mütze auf ihrem kastanienbraunen Haar. Sie hatte ihren Mantel nicht ausgezogen und hatte noch ihre Gummistiefel an.

Sie wirkte bleich und bedrückt. Doch der Eindruck war sehr flüchtig. Sie merkte nicht, dass er nichts hörte, und wandte sich schon wieder ab. Nur an der Bewegung der Lippen erriet er ihre letzten Worte:

»Gute Nacht.«

Sie machte die Tür zunächst nicht richtig zu – der Riegel klemmte etwas – und kam noch einmal zurück, um den Knauf zu drehen. Fast hätte er sie zurückgerufen. Er fragte sich, was sie ihm außer »Gute Nacht« wohl gesagt haben mochte. Ihm war aufgefallen, dass sie, entgegen den Hausregeln, ihre Gummistiefel nicht ausgezogen hatte, um durchs Wohnzimmer zu gehen, und er fragte sich, ob sie vielleicht noch einmal weggehen wollte. Das war durchaus möglich. Sie war achtzehn und konnte tun und lassen, was sie wollte. Mitunter luden junge Männer sie abends nach Torrington oder Hartford ein; wahrscheinlich hatte einer von ihnen sie im Auto vom Kino nach Hause gebracht.

Wäre er nicht in genau dem Augenblick mit dem schwierigsten Teil seiner Arbeit beschäftigt gewesen, dann wäre vielleicht alles anders gekommen. Er glaubte eigentlich nicht an Vorahnungen, doch einige Minuten später, als er die Drehbank abgeschaltet hatte, hob er den Kopf und lauschte in die Stille. Ob wohl ein Auto auf Bella gewartet hatte, das er noch wegfahren hören würde? Aber es war schon viel zu spät; falls ein Auto da gewesen sein sollte, war es inzwischen längst wieder weg.

Warum hätte er sich ihretwegen Sorgen machen sollen? Weil sie, als sie plötzlich oben an der Treppe stand, im Licht seiner Bude blass und traurig ausgesehen hatte?

Er hätte hinaufgehen und sich vergewissern können, ob sie in ihrem Zimmer war, oder, um nicht neugierig zu erscheinen, wenigstens nachsehen können, ob Licht unter ihrer Tür hervorschimmerte.

Stattdessen leerte er sorgfältig seine Pfeife in eine Aschenschale aus, die er zwei Jahre zuvor gedrechselt hatte, stopfte sie neu – auch die Tabaksdose hatte er gedrechselt, es war seine erste schwierige Arbeit gewesen – und machte sich nach einem Schluck Whisky wieder an die Arbeit.

Er dachte weder an Bella noch an sonst jemanden, als das Telefon klingelte. Für genau solche Fälle hatte er sich einige Monate zuvor eine Nebenleitung in seine Bude legen lassen.

»Spencer?«

»Ja.«

Christine war am Apparat, hinter ihr hörte er fremde Stimmen. Er wäre außerstande gewesen, auch nur annähernd zu sagen, wie spät es war.

»Arbeitest du immer noch?«

»Noch ungefähr zehn Minuten.«

»Alles in Ordnung zu Hause? Ist Bella zurück?«

»Ja.«

»Willst du wirklich nicht eine Partie Bridge mit uns spielen? Jemand könnte dich mit dem Auto abholen.«

»Lieber nicht.«

»Dann sei so gut und warte nicht auf mich mit dem Zubettgehen. Bei mir wird es spät werden. Marion und Olivia sind gerade erst mit ihren Männern gekommen, und wir wollen gleich ein Turnier spielen.«

Ein kurzes Schweigen. Gläser klirrten aneinander. Er kannte das Haus, das Wohnzimmer mit den im Halbkreis aufgestellten riesigen Sofas, den zusammenklappbaren Bridgetischen und der Küche, wo man sich sein Eis holte.

»Es bleibt also dabei, dass du nicht kommst? Alle würden sich freuen.«

Dan Mitchell rief mit vollem Mund in den Apparat:

»Nun komm schon, Faulpelz!«

»Was soll ich antworten? Hast du gehört, was Dan gesagt hat?«

»Danke. Ich bleibe hier.«

»Also dann, gute Nacht. Ich werde versuchen, dich nachher nicht aufzuwecken.«

Er räumte seine Werkbank auf. Niemand rührte etwas an in seiner Bude, er selbst machte sie einmal in der Woche sauber. In einer Ecke stand ein uralter, sehr niedriger Ledersessel, wie man sie sonst nirgends mehr sah. Dort machte er es sich bequem, streckte die Beine aus und warf einen Blick in die New York Times.

In der Küche, wo er anschließend die Sprudelflasche und das leere Glas abstellte und vor dem Zubettgehen das Licht ausknipste, war eine elektrische Uhr. Doch er kam nicht auf den Gedanken nachzusehen, wie spät es war, und warf im Korridor auch keinen Blick auf Bellas Tür. Er kümmerte sich wenig, eigentlich gar nicht um sie. Sie wohnte noch nicht lange und auch nur vorübergehend bei ihnen; sie gehörte nicht zum Haus.

Er schloss die Jalousien im Schlafzimmer, schloss auch die Tür, zog sich aus, legte die einzelnen Kleidungsstücke an ihren Platz, stieg, ohne zu wissen, wie spät es war, ins Bett und streckte den Arm aus, um die letzte Lampe auszuschalten.

Hatte er während dieser ganzen Zeit geschäftig gewirkt wie ein Käfer, der unter der Lupe des Naturforschers sein bescheidenes Dasein führt? Möglich. Er hatte das alltägliche Leben eines Menschen geführt – eines Mitglieds der Gemeinschaft, wie Christine gesagt hätte –, aber das hatte ihn nicht am Denken gehindert. Noch kurz vor dem Einschlafen dachte er etwas, hatte ein Bewusstsein von dem Ort, an dem er sich befand, seiner Umgebung, dem Haus, dem erlöschenden Feuer im Kamin, dem Schnee, den er am nächsten Tag auf dem Gartenweg bis zur Garage hin wegschaufeln würde; auch das Ehepaar Katz beispielsweise lebte in seinem Bewusstsein, und andere Leute, die in anderen Häusern wohnten, deren Lichter er hätte sehen können, sowie die hundertachtzig Schüler der Crestview School, die in dem großen Ziegelbau oben auf dem Hügel schliefen.

Wenn er das Radio angemacht hätte, wie seine Frau beim Ausziehen, wäre die ganze Welt zu ihm hereingekommen, mit der Musik, den Stimmen, den Katastrophen- und Wettermeldungen aus aller Herren Ländern.

Er hörte nichts, er sah nichts. Er schlief. Als um sieben Uhr der Wecker klingelte, spürte er, wie Christine sich neben ihm bewegte, aufstand und in die Küche ging, um das Kaffeewasser aufzusetzen.

Sie hatten kein Mädchen, nur eine Putzfrau, die zweimal wöchentlich kam.

Das Badewasser lief in die Wanne. Er schob den Vorhang beiseite, um hinauszusehen. Es war noch nicht hell, nur der Himmel war grauer als in der Nacht, der Schnee von einem kreidigen Weiß, und alle Farben, sogar die rosa Ziegelsteine des neuen Hauses des Ehepaars Katz, wirkten seltsam grell.

Es schneite nicht mehr. Es tropfte vom Dach wie bei Tauwetter, und das bedeutete Schlamm und Schmutz, ganz abgesehen von der schlechten Laune der Schüler, die ihre Schlittschuhe und Skier vorbereitet hatten.

Es war wie immer halb acht, als er die Küche betrat. Das Frühstück war auf einem weißen Tischchen angerichtet, an dem sie nur morgens aßen, und Christine hatte Zeit gehabt, sich zu frisieren. War es Einbildung, oder war das Blond ihrer Haare morgens wirklich blasser und stumpfer?

Er liebte den Geruch von Speck, Kaffee und Eiern, liebte insgeheim auch den morgendlichen Geruch seiner Frau, der sich damit vermischte. Das gehörte für ihn zur Atmosphäre des beginnenden Tages, und er hätte diesen Geruch unter Tausenden erkannt.

»Hast du gewonnen?«

»Sechs Dollar fünfzig. Marion und ihr Mann haben wie gewöhnlich verloren. Alles in allem über dreißig Dollar.«

Gedeckt war für drei, aber Bella frühstückte selten mit ihnen. Man weckte sie nicht. Oft erschien sie gegen Ende der Mahlzeit in Morgenrock und Pantoffeln. Öfter noch sah Spencer sie morgens überhaupt nicht.

»Wie ich zu Marion sagte, die das erstaunlich findet …«

Die Unterhaltung war noch nichtssagender als am Tag zuvor, ohne irgendeine Bemerkung, die sich dem Gedächtnis hätte einprägen können, ein eintöniges Hin und Her mit ab und zu ein paar Eigennamen, ein paar Vornamen, die ihm so geläufig waren, dass sich kein Bild mehr mit ihnen verband.

All dies war übrigens nicht mehr wichtig, aber das wusste er noch nicht, niemand wusste es. Das Leben im Dorf begann wie jeden Morgen in den Badezimmern, in den Küchen, vor den Haustüren, wo die Männer ihre Gummistiefel über die Schuhe zogen, in den Garagen, wo die Autos angelassen wurden.

Er vergaß seine Aktentasche nicht. Er vergaß nie etwas. Er rauchte seine erste Pfeife, als er sich ans Steuer seines Wagens setzte, und er erblickte den rosa Morgenrock der kleinen Mrs. Katz an einem Fenster des Nachbarhauses.

Rundherum lagen die Häuser verstreut am Abhang des Hügels, eingefasst von Rasenflächen, die jetzt der Schnee bedeckte. Manche, wie zum Beispiel das Katz’sche Haus, waren neu, die meisten aber waren schöne, alte neuenglische Holzhäuser, zwei oder drei mit einem Säulenvorbau, alle weiß getüncht.

Weiter unten lagen das Postamt, die drei Lebensmittelläden, die wenigen Geschäfte, die die Main Street bildeten, mit einer Tankstelle an beiden Enden; der Schneepflug war schon durchgekommen und hatte zwischen den Gehsteigen einen breiten schwarzen Streifen freigelegt.

Als Ashby anhielt, um seine Zeitung zu kaufen, hörte er jemanden sagen:

»Gleich wird es wieder schneien, und wahrscheinlich gibt es vor Einbruch der Dunkelheit noch einen Schneesturm.«

Als er die Post betrat, bekam er genau die gleichen Worte zu hören, die wahrscheinlich während des Wetterberichts gefallen waren.

Jenseits des Flusses nahm er die kurvenreiche Straße, die zur Schule hinaufführte. Der ganze zum Teil bewaldete Hügel gehörte der Schule, und oben standen, außer den Bungalows der Lehrer, an die zehn Gebäude. Hätte Christine nicht ein eigenes Haus besessen, dann hätten auch sie einen dieser Bungalows bewohnt, und bevor Ashby sie heiratete, hatte er jahrelang im größten, dem mit dem grünen Dach, gehaust, der den unverheirateten Lehrern vorbehalten war.

Er parkte seinen Wagen in einem Schuppen, in dem schon sieben andere standen, und als er die Stufen zum Eingang hinaufging, öffnete sich die Tür; die Sekretärin, Miss Cole, stürzte heraus, als wolle sie ihm den Weg versperren.

»Ihre Frau hat eben angerufen. Sie bittet Sie, sofort nach Hause zu kommen.«

»Ist ihr etwas passiert?«

»Ihr nicht. Ich weiß nicht. Sie hat mich nur gebeten, Ihnen zu sagen, Sie sollten sich nicht aufregen, aber Sie müssten unbedingt sofort nach Hause kommen.«

Er wollte an ihr vorbei ins Sekretariat gehen und zum Hörer greifen.

»Sie bittet Sie, nicht erst anzurufen.«

Er runzelte verwundert die Stirn, sein Gesicht verdüsterte sich, im Grunde aber regte er sich nicht sonderlich auf. Er hatte sogar Lust, Christines Anweisung einfach nicht zu befolgen und seine Nummer zu wählen. Ohne Miss Cole, die ihm noch immer den Weg versperrte, hätte er es getan.

»Na schön! Dann sagen Sie bitte dem Direktor …«

»Ich habe ihm schon Bescheid gesagt.«

»Ich hoffe, dass ich vor Ende der ersten Unterrichtsstunde wieder zurück bin …«

Er war irritiert, das war das richtige Wort. Vor allem, weil das Christine gar nicht ähnlich sah. Sie hatte ihre Fehler wie jeder Mensch, war jedoch keine Frau, die wegen einer Kleinigkeit den Kopf verlor, und erst recht war es nicht ihre Art, ihn in der Schule zu stören. Sie war jeder Lage gewachsen und hätte bei einem Kaminbrand eher die Feuerwehr und bei einer Unpässlichkeit oder einer Verletzung eher den Arzt angerufen als ihn.

Als er die Straße hinunterfuhr, begegnete er Dan Mitchell, der seinen Sohn zur Schule brachte, bevor er ins Büro fuhr. Einen Augenblick wunderte er sich über Dans erstauntes Gesicht, erst später wurde ihm klar, dass es den Leuten sonderbar vorkommen musste, ihn um diese Zeit den Weg hinunter- statt hinauffahren zu sehen.

Nichts Besonderes in der Main Street, auch keinerlei Unruhe in der Nähe seines Hauses, nirgends etwas Ungewöhnliches. Erst als er in den Gartenweg einbog, sah er Doktor Wilburns Wagen vor der Tür seiner eigenen Garage.

Er brauchte nur fünf große Schritte durch den Schnee zu machen und hatte seine Pfeife mechanisch in die Tasche gesteckt. Auf der Schwelle streckte er die Hand nach dem Klingelknopf aus; bevor er ihn erreichte, öffnete sich die Tür jedoch von selbst, genau wie zuvor in der Schule.

Was ihn nun empfing, hätte er nie geahnt, und es hatte auch keinerlei Ähnlichkeit mit irgendetwas, das er bisher erlebt hatte.

Wilburn, der auch der Arzt der Schule war, war ein Mann von fünfundsechzig Jahren, vor dem manche Leute Angst hatten, weil er immer so aussah, als mache er sich über sie lustig. Viele behaupteten, er sei bösartig. Jedenfalls tat er nichts, um sich beliebt zu machen, und wenn er einem etwas Unangenehmes mitzuteilen hatte, lächelte er fast schon schadenfroh.

Er war es, der Spencer die Tür geöffnet hatte und nun wortlos vor ihm stand, mit vorgebeugtem Kopf, um ihn über seine Brille hinweg anzusehen, während Christine im dunkelsten Teil des Raumes, ebenfalls der Tür zugewandt, stand.

Weshalb überkam ihn plötzlich ein Schuldgefühl, obwohl er sich doch nicht das Geringste hatte zuschulden kommen lassen? Bei dieser Beleuchtung, dem bereits stumpf gewordenen Schnee und dem düster verhangenen Himmel war es fast unheimlich, den Arzt mit seinem listigen Gesicht die Türklinke halten zu sehen, so als ob er Ashby in sein eigenes Haus wie in einen schlechtbeleuchteten Gerichtshof einlassen wolle.

Er riss sich zusammen, hörte sich sagen:

»Was ist denn los?«

»Kommen Sie herein.«

Er gehorchte, betrat das Wohnzimmer, zog, auf der Strohmatte stehend, seine Gummistiefel aus. Aber er bekam immer noch keine Antwort. Sie wollten einfach nicht mit ihm sprechen.

»Christine, wer ist krank?«

Da sie sich zum Korridor umwandte, fragte er:

»Bella?«

Er sah ganz deutlich, wie die beiden einen Blick wechselten. Später hätte er diese Blicke in Worte übersetzen können. Christines Blick sagte zu dem Arzt:

›Sie sehen … Er scheint tatsächlich nichts zu wissen … Was halten Sie davon?‹

Und der Blick Wilburns, gegen den Spencer nie etwas gehabt hatte, schien zu antworten:

›Allerdings … Möglich, dass Sie recht haben … Möglich ist alles, nicht wahr? … Im Grunde ist das Ihre Sache …‹

Laut sagte Christine:

»Es ist ein Unglück geschehen, Spencer.«

Sie machte zwei Schritte in den Korridor.

»Bist du ganz sicher, dass du gestern Abend nicht aus dem Haus gegangen bist?«

»Ganz sicher.«

»Auch nicht für einen Augenblick?«

»Ich habe das Haus nicht verlassen.«

Wieder ein Blick auf den Arzt. Wieder zwei Schritte. Sie überlegte, blieb wieder stehen.

»Hast du im Laufe des Abends nichts gehört?«

»Nichts. Ich habe an der Drehbank gearbeitet. Warum?«

Was, zum Kuckuck, bedeutete dieses Getue? Er schämte sich beinahe. Schämte sich vor allem deshalb, weil er nervös wurde und seine Antworten so klangen, als hätte er sich etwas zuschulden kommen lassen.

Christine deutete mit der Hand zur Tür.

»Bella ist tot.«

Als er das hörte, drehte es ihm fast den Magen um, vielleicht auch, weil ihm die Tragweite des Vorangegangenen aufging. Ihm war, als stünde Wilburn hinter ihm, darauf lauernd, wie er reagieren würde, und ihm notfalls den Rückzug abzuschneiden.

Er hatte begriffen, dass es sich nicht um einen natürlichen Tod handelte, denn dann hätten sie nicht so ein Theater gemacht. Aber warum wagte er nicht, die beiden rundheraus zu fragen? Warum spielte er dieses sich steigernde Erstaunen?

Es gelang ihm nicht einmal, seiner Stimme ihren gewohnten Klang zu geben!

»Woran ist sie denn gestorben?«

Jetzt war ihm klargeworden, was sie wollten: Er sollte in das Zimmer hineingehen. Sie stellten ihn damit gleichsam auf die Probe, und er hätte kaum zu sagen vermocht, weshalb er sich davor scheute, und erst recht nicht, wovor er Angst hatte.

Als sich Christines Blick kalt und durchdringend, wie der einer Fremden, in den seinen bohrte, konnte er nicht anders, als einen Schritt vorwärts zu tun und den Kopf zu senken, während er im Nacken Wilburns Atem spürte.

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