Benehmt euch! Ein Pamphlet - Jürgen Roth - E-Book

Benehmt euch! Ein Pamphlet E-Book

Jürgen Roth

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Beschreibung

Schamlos, laut und rücksichtslos – dies ist unsere Gesellschaft. Egal ob telefonierend auf dem Fahrrad, beleidigend im Auto oder pöbelnd in der Bahn: überall trifft man auf Mitglieder der Ellbogengesellschaft. "Hauptsache ich" scheint das Motto zu lauten. In "Benehmt euch" nehmen die Satiriker Stefan Gärtner und Jürgen Roth die Gesellschaft genau unter die Lupe. In vier Kapiteln zeigen sie mit spitzer Zunge, wie verkorkst der Umgang miteinander ist. In "Verrohung", "Verblödung", "Verkindung" und "Verderben" rechnen die Autoren augenzwinkernd mit den Egozentrikern der modernen Welt ab und bieten gleichzeitig einen Lösungsansatz.-

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Jürgen Roth, Stefan Gärtner

Benehmt euch! Ein Pamphlet

Ein Pamphlet

Saga

Benehmt euch! Ein Pamphlet

 

Auf Wunsch der Autoren erscheint dieses Buch in alter Rechtschreibung.

Covergestalltung: SAGA Egmont

Copyright © 2014, 2022 Jürgen Roth, Stefan Gärtner und SAGA Egmont

 

Alle Rechte vorbehalten

 

ISBN: 9788728438756

 

1. E-Book-Ausgabe

Format: EPUB 3.0

 

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit der Zustimmung vom Verlag gestattet.

 

www.sagaegmont.com

Saga ist Teil der Egmont-Gruppe. Egmont ist Dänemarks größter Medienkonzern und gehört der Egmont-Stiftung, die jährlich Kinder aus schwierigen Verhältnissen mit fast 13,4 Millionen Euro unterstützt.

Everyone’s right and no one is sorry

That’s the start and the end of the story.

Nada Surf

 

Zivilisiertheit ist ein Verhalten, das die Menschen

voreinander schützt und es ihnen zugleich ermöglicht,

an der Gesellschaft anderer Gefallen zu finden.

Richard Sennett

 

»Ich bin meine eigene Welt«,

sagt der glücklich zu Ende verblödete Mensch.

Markus Metz / Georg Seeßlen

VERROHUNG

Norbert Elias’ berühmte Untersuchung Über den Prozeß der Zivilisation beginnt mit einem Tadel, gerichtet an die Adresse ahistorisch arbeitender Soziologen und Psychologen: »Wenn man heute über die Struktur menschlicher Affekte und ihrer Kontrolle nachdenkt [...], dann begnügt man sich gewöhnlich mit Beobachtungen an zeitgenössischen Menschen der entwickelteren Gesellschaften als empirischem Belegmaterial.«

Diesen Vorwurf müssen wir vorderhand auf uns nehmen. Wir haben uns seit einiger Zeit umgetan, im Hier und Jetzt, eher unwillentlich als willentlich, und mit wachsendem Unbehagen, ja Ärger registriert: Seit Jahren wird es immer schlimmer – Krach, Krach, Krach, praktisch rund um die Uhr, und zwar nicht nur an Autobahnen und in Einflugschneisen, sondern überall: im Wohngebiet, beim Einkaufen, in der U-Bahn, wo immer man sich aufhält oder sich aufzuhalten gezwungen ist.

Kaum noch jemand kann sich zum Beispiel in einer Lautstärke unterhalten, die aus dem Homo sapiens einen zivilisierten Menschen macht. An nahezu jedem Nebentisch in nahezu jedem Café sitzt eine Ansammlung von Peinfiguren, die ihre unmaßgeblichen Meinungen akustisch derart ostentativ ausbreiten, daß man sich die lachhaften Schweigekreise der achtziger Jahre zurückwünscht. Allerorten wird gekeift, geplärrt, gezetert, gebelfert, was das Zeug hält, und hockt man gerade in seiner polierten Karosse, wird gehupt, gehupt, gehupt – zum Gruße, aus Dicktuerei, weil der Müllwagen zwei Minuten die Straße blockiert oder einfach aus der schieren hirnlosen Freude am Hupen an sich. Auf den »stummen Zwang der ökonomischen Verhältnisse« (Marx) antwortet der prangende Gegenwartsmensch mit Gelärme und Gegelle.

»Was für ein Herdentier der moderne Mensch ist, läßt sich sehr schön an Dingen sehen, von denen niemand je geglaubt hätte, daß sie einmal in Mode kommen würden«, schreibt Stefan Rose in seinem Blog Fliegende Bretter unter dem Titel »Die zunehmende Verlärmung der Welt«: »Etwas erleben, das heißt in diesen Zeiten für viele: Krach schlagen und die Umwelt behelligen. [...] Vorzugsweise im Rudel, noch lieber in Massen. Denn der moderne Mensch hält es nicht aus mit sich selbst, und leise kann er auch nicht. Hat er nie gelernt. Sie nennen es: Party machen und Spaß haben. Wenn kein Rudel da ist und die Lärmbolzen tatsächlich einmal allein sein müssen, zum Beispiel im Auto, dann ballern sie sich die Birnen mit dämlicher Bumsmusik voll.«

In einer Lautstärke selbstverständlich, die im Umkreis von hundert Metern jeden an diesem Vergnügen Anteil nehmen läßt.

»Es ist nicht schwer zu sehen, daß die Durchsetzungschancen für Ruhe, genauer: gegen zusätzliche Lärmbelästigung im öffentlichen Raum [...] erheblich gesunken sind«, konstatiert Jürgen Kaube (Otto Normalabweicher – Der Aufstieg der Minderheiten, Springe 2007). Und weiter: »Das ältere Modell des Busfahrers, der den Motor abstellt und sich weigert weiterzufahren [bei Randale; d. Verf.], leuchtet offenbar nicht mehr ein.«

Nein, die Lärmbrüder und -schwestern entscheiden in dreister Eigenmächtigkeit darüber, wie es in der verlärmten Welt tagein, tagaus zuzugehen hat, nicht allein in akustischer Hinsicht. Der geschätzte Kollege Jörg Schindler berichtet in seiner Streitschrift Die Rüpel-Republik – Warum sind wir so unsozial? (Frankfurt/Main 2012) von regelmäßigen gewalttätigen Übergriffen auf Busfahrer und zitiert einen Sprecher der Kölner Verkehrs-Betriebe: »In den Bussen und Bahnen habe sich der Umgang seit einigen Jahren dramatisch verschlechtert. ›Respekt, Freundlichkeit, Rücksichtnahme – das alles ist weg.‹«

Die Idee zu diesem Pamphlet entstand, bevor Jörg Schindlers Buch auf den Markt kam. Schindlers Befund – »antisoziale Seuche«, »um sich greifende gesellschaftliche Verwahrlosung« – teilen wir. Und nicht nur wir. Es scheine »mit der Angst vor dem Abstieg auch die Bereitschaft zu wachsen, sich im Verteilungskampf mit härteren Bandagen Vorteile zu verschaffen«, liest man auf der Website des WDR. Der normalerweise wahrlich nicht allzu ernstzunehmende Allzweckskribent Michael Jürgs klagte im Spiegel 41/2011: »Was in trauter gesamtdeutscher Eintracht rülpst, rotzt, rempelt, räsoniert, ist nicht etwa eine jugendliche Ochsenschar, wie es sie immer gab, die man durch gezielte Schläge zwischen die Hörner zur Besinnung bringen könnte. Es sind Millionen. Alte und Junge, Frauen und Männer, Westler wie Ostler.« Und der große Dieter Hildebrandt stellte kürzlich nüchtern fest: »Den Schlüsselsatz ›So etwas macht man nicht‹ gibt es nicht mehr. Weil er mit Anstand zu tun hat.«

Ja, wir leben im »coolsten Land der Welt« (Rösler, FDP). »Gefälligkeiten, die an sich geringe scheinen, doch aber dazu dienen, Frieden zu erhalten [...], und die man deswegen nicht verabsäumen soll« (Adolph Freiherr Knigge: Über den Umgang mit Menschen), sind so arschuncool, wie ein »Scheißopfer« zu sein. (Was sich hinter der gängigen Beleidigungsformel »Du Scheißopfer!« verbirgt, macht einen schaudern.)

»Dahin« – zu besagten Gefälligkeiten – »gehört: daß wir Poltern, Lärmen, spätes Türzuschlagen im Hause vermeiden« (Knigge). Ach was. Rumgedröhnt wird auf der seit zwei Jahren inbrünstig betriebenen Privatbaustelle auf dem Nachbargrundstück bei Bedarf auch sonntags stundenlang, mit Bohrern, Sägen, Schleifmaschinen, Hämmern, ganz im Sinne F. W. Bernsteins: »O du Werkzeug, / mit dem man klopft, / einschlägt, / zerteppert –, / Du Instrument / des Aufbaus / und des Abbaus« (»Ode an den Hammer«). Im eigenen Hof wirft der Nachbar am Sonntag, sollte der mal halbwegs still sein, seine drei feisten Motorräder an und läßt deren Aggregate eine, eineinhalb Stunden lang röhren, die meiste Zeit simultan. Bittet man ihn schließlich uncool um Ruhe, ist er beleidigt und grüßt einen drei Wochen nicht mehr – wahrscheinlich, weil man ihn in seiner »individuellen Entfaltung«, dieser saucoolen FDP-Erfindung, eingeschränkt hat.

Währenddessen rasen ohnehin Schwerstgestörte mit ihren Choppern ohne Unterlaß durchs Viertel, bevorzugt auf verkehrsberuhigten Straßen, an deren Rändern Kinder spielen. Es ist eben, yeah, rattencool.

Die Verrottung aller Lebensumstände, sie schreitet unaufhaltsam voran (unsere Beispiele aus der Empirie, nebenbei, sind beliebig und ad infinitum vermehrbar). An einem Sonntagabend: Zwei Typen Ende zwanzig latschen mitten auf der Straße, mit einem Radio, das man nicht sieht (so klein sind diese Dinger unterdessen), und hören ungerührt irgendeine kreuzblöde Rumpelmusik in Diskothekenlautstärke; wenige Minuten später schmeißt dir ein junges, korpulentes Mädchen, das dir entgegenkommt, eine leere Wasserflasche vor die Füße; wieder daheim, schleppen nebenan zwölf-, dreizehnjährige Gören einen Ghettoblaster auf den Balkon und lassen, während sie herumgrölen, Dancefloordreck in die Hinterhöfe knattern.

Wie wohltuend, eine Stunde danach, das Glockengeläute, das vierminütige; die narrische Amsel auf ihrer Singwarte, einer Dachantenne, behütet von einer Taube, die über ihr thront.

Die Unerträglichkeit namens öffentliches Leben, das nur mehr »Gesellschaftswiderwillen« (Peter Handke) auslöst: Es ist der permanente monadenhafte, egozentrische Aufruhr, der sinn- wie ziellose Krawall, das unentwegte Affekt- und Affektiergehabe. Jürgen Kaube erkennt darin – bei aller Gleichförmigkeit solcher Aufspreizungen, bei aller Homogenität solcher »Selbstverwirklichungs«-Hampeleien, die nichts mit fröhlicher Pluralität gemein haben – das »Recht zur Normalabweichung«: »Individualität heißt also nicht Originalität und schon gar nicht, daß es möglich wäre, ein Leben diesseits gesellschaftlicher Prägungen zu führen.« Denn all diese angeblichen Individualisten, vulgo: ignoranten Arschgeigen sind durch und durch nichts anderes als fanatisch Angepaßte. Sie gehorchen im Kainszeichen der »Erweiterung der inneren Welt der Provokateure« (Kaube) ausschließlich dem unausgesprochenen Zwang zur idiotischen Exaltation, konformistische »Identitätspflege« (derselbe) ist Pflicht. Daraus resultiert, vornehm gesprochen, eine Art »leerer Subjektivität« (Hegel), auf Grund derer die bloße Anwesenheit der anderen zur Tortur wird.

Es ist aber nicht bloß das »Erlebnisvolk« (Stefan Rose), das gewissermaßen als Autistenmasse auf jeden Anflug von Empathie pfeift; es sind nicht bloß die durch die Werbeindustrie, grunzdebile Aufpeitschermedien und andere soziopathischideologische Apparate angestachelten und seelisch restlos amputierten Unterklassen- und Randgruppenexistenzen, die durch die Welt ramentern, als gebe es weder Nachbarn noch Mitmenschen. Die spätkapitalistische Verrohung der Sitten und Depravation der Gemüter, das insinuierte Naturgesetz befolgend, zu (über-)leben habe nur verdient, wer sich im verbrecherischen Dauerkonkurrenzkampf lauter, härter, ungestümer und brutaler geriert als der Nächstbeste, macht vor keiner Schicht halt. Im Juste milieu, in den sogenannten bürgerlich-gebildeten Kreisen, sieht es keinen Deut besser aus.

Noch einmal Michael Jürgs: »Täglich sichtbar sind Vandalen der Oberschicht, die es sich finanziell leisten können, mit Off-Roadern die Dschungel der Großstädte zu durchqueren, was gleichzeitig ihre herausgehobene Stellung beweist. Bürgerinnen parken ihre Dinos vor Kindergärten oder Schulen, in denen sie ihre Kleinen abgeben, liebend gern in der zweiten Reihe.«

Oder ein Eintrag aus Matthias Altenburgs Onlinetagebuch Geisterbahn: »Alles voll mit diesen jungen, viel zu reichen Eltern, mit ihren viel zu großen Autos und ihren viel zu lauten Kindern, die auf Schlitten gezerrt werden, gar nicht wollen, sondern brüllen. Wirklich alles voll. So habe ich diesen wehrlosen Buckel über der Stadt [den Lohrberg in Frankfurt; d. Verf.] noch nie erlebt, so geschunden, so versaut. Und in mir quillt eine Wut hoch, daß ich ebenfalls brüllen möchte. Und erschrocken bin über mich selbst.«

Beispiele für die »Aggression der Arrivierten« (Schindler)? Ja. Genauer: für die flächendeckende »rohe Bürgerlichkeit« inmitten eines »rabiaten Klassenkampfes von oben« (Wilhelm Heitmeyer), der in unserer grandiosen Waren- und Event-Welt unterdessen an allen Ecken und Enden ungeschminkt ausgefochten wird. Es ist halt das Gegenteil eines seit den achtziger Jahren gepredigten befreienden, bereichernden, flamboyanten Pluralismus der Lebensstile, Meinungen und Glaubensinhalte, nämlich, in der Pointe dieser Tage, »ein generalisierter Lobbyismus aller gegenüber allen« (Kaube) – sofern man nicht allzu deutliche Worte benutzen möchte.

Am Tag nach unseren Begegnungen mit der musikbegeisterten Jugend: auf der Terrasse einer Speisegaststätte um die Ecke; zwei Bahnangestellte, beide ungefähr Mitte dreißig; des einen Freundin ruft an; er: »Wieso bist du immer noch nicht da?! Dich mach’ ich rund, du Schlampe!«; und so weiter; nach dem Telephonat beginnt er gegenüber seinem Arbeitskollegen zu prahlen: »Wie ich die Alte heute fertiggemacht hab’, als es um den Posten 23 ging! Hat die losgeheult! Mann, war das geil!«

Sein Vermieter ruft an, es geht um eine Fernsehbuchse (man bekäme auch dann alles mit, wenn man einen Motorradhelm aufhätte). Unser Heros ist devot wie der hinterletzte Afterkriecher. Danach: wechselseitiges Vorführen impertinenter Klingeltöne, was mindestens eine halbe Stunde in Anspruch nimmt. Man zahlt – entnervt, deprimiert, entsetzt.

Folgenden Tags treffen wir einen Freund, der ebenfalls bei der Bahn beschäftigt ist. »So sind sie«, sagt er. »Heute kann sich jeder aufführen wie offene Hose.« Das Niedermachen anderer sei üblich, sogenannte »Führungskurse« brächten nichts. »Lustgewinn aus Demütigung, verstehst? Das ist Nazigesinnung. Und nachher scheißfreundlich. Die Heuchelei ist Grundprinzip. Wie heißt’s? Anstand ist eine Zier, aber weiter kommt man ohne ihr.«

Und wo, mit Erich Kästner zu fragen, bleibt das Positive? Die Stadtwerke Frankfurt am Main haben, scheint’s, die Laubund Staubbläser abgeschafft.

Abends hockt man in der Kneipe. Der Fernsehkasten läuft, denn ein Tag ohne Fußball ist in dieser Welt nicht mehr vorgesehen. Hat man außerordentlich großes Pech, gewärtigt man ein Interview mit Jürgen Klopp (Borussia Dortmund) oder Thomas Tuchel (FSV Mainz 05). »Typen wie Jürgen Klopp oder Thomas Tuchel«, hieß es in der Titanic 11/2011 zu Recht, »versprühen exakt den Witz, mit dem man Motivationsseminare auflockert.« Nämlich einen degoutanten, das Durchsetzungsvermögen verherrlichenden, einen bösartig raubtierhaften.

Noch niederschmetternder, noch fürchterlicher sind die Darbietungen der beiden am Spielfeldrand. Da wird gestenreich lamentiert, der Schiedsrichter zähnefletschend attakkiert, der nächstbeste Spieler aufgestachelt, das Fanvolk aufgepeitscht und aufgehetzt, wird ausgerastet, gemosert, gepetzt, geschrien, bis die Werbebanden umfallen, nahezu unausgesetzt. Ein kriegerischer Narzißmus gelangt da zur Aufführung, der Leitwolf des Teams inszeniert sich als sportiver Killer.

Kein Tier verhielte sich so. Die Aggressivität noch der stärksten Prädatoren ist zielgerichtet, biotisch gebunden. Bei Gestalten wie Klopp und Tuchel ist sie Selbstzweck, Selbstdarstellungsmittel, sozialer Code, im besten Falle theatralischer Mumpitz, Affentanz, Wichtigkeitsgewürge – oder eben, wahrscheinlicher, Ausdruck eines vollends durchgedrehten Asozialcharakters. Daß das bei all der Aufmerksamkeit, die die verluderten Öffentlichkeitsapparate für derartige Roh- und potentielle Raufköppe organisieren, abfärbt oder zur getreuen Nachahmung ermuntert, steht zu vermuten. Jörg Schindler hat den pöbelnden Müttern und Vätern rund um die Bolzplätze der niederen Fußballklassen (»Tritt ihn um!«; »Mach ihn fertig!«; »Spiel endlich richtig, du Kackarschmongole!«) ein eigenes Kapitel gewidmet. Wir müssen das nicht wiederholen.

Ein Genie wie Gerhard Polt erkannte ebendiese Entwicklung bereits Ende der Neunziger in all ihrer Wucht. In seiner Jahrhundertmonolognummer »Longline« (Der Standort Deutschland, 1997) läßt er einen prototypischen Unternehmerparvenü – mithin keinen Abgehängten, Deklassierten – erst mit seinen Ausflügen nach Wimbledon herumrenommieren, auf daß er dann während eines Tennismatches zwischen seinem Sohn und einem »Kindkollegen« komplett jede Kontrolle verliert.

Zunächst motiviert er seinen Sprößling dergestalt: »Noël, komm, blas den Krüppel weg vom Platz!« Als die Mutter des »genetischen Sondermülls« jedoch nicht aufhört, in den Platz hineinzucoachen, reißt ihm die Hutschnur: »Das können Sie doch nicht machen! Wir haben eine Verantwortung vor den kids, wir Erwachsenen ... Die jungen Leute brauchen Idole! Wir müßten uns ... correctness im Verhalten, responsibility, gnädige Frau! Nicht wahr, Sie werden nicht erleben, daß mein Sohn da rumproletet! Ja? Und Schläger schmeißt und vielleicht auch noch fuck schreit! Der schreit nicht fuck! Der – schreit – nicht – fuck! Und wenn der fuck schreit, schreit der nur einmal fuck!«.