Gazprom-Das unheimliche Imperium - Jürgen Roth - E-Book

Gazprom-Das unheimliche Imperium E-Book

Jürgen Roth

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Beschreibung

Skrupellos und kriminell: das System Gazprom Das Imperium Gazprom verfügt über eine eigene Armee und einen mächtigen Geheimdienst. An verantwortlichen Positionen arbeiten ehemalige KGB-Agenten, sein privater Besitz ist absolut geschützt, die Verantwortlichen sind unantastbar. Mit Hilfe williger deutscher und europäischer Industrieller versucht es, den Energiemarkt zu monopolisieren und die Verbraucher abzuzocken. Bestsellerautor Jürgen Roth enthüllt, wer hinter den Kulissen die Fäden zieht. National wie international ist der Name Gazprom mit Korruption, Erpressung, Geldwäsche und Kapitalsteuerflucht verbunden. Kein anderes Unternehmen hat weltweit so viel Macht und Einfluss, auch dank gewisser "Freunde" des mächtigsten Mannes Russlands, Wladimir Putin. Doch welche Rolle spielt Putin genau? Wer sind die Drahtzieher bei Gazprom, und welche Verbindungen haben sie nach Europa und Deutschland? Welche Netzwerke beherrschen Gazprom, und warum kuschen die europäischen Regierungen? Jürgen Roth deckt die Verbindungen auf und zeigt, dass sich hinter dem Imperium insbesondere Schweizer Unternehmen verbergen und wie Altbundeskanzler Gerhard Schröder mit einigen Parteifreunden weltweit Politik macht im Sinne seines Freundes Putin, den er einst zum "lupenreinen Demokraten" kürte. Jürgen Roth hat Insider getroffen, die erstmals bereit sind, über die Machenschaften des Imperiums auszupacken. Denn es ist auch mitverantwortlich dafür, dass Meinungsfreiheit in Russland unterdrückt wird und es dort keine demokratische Kultur gibt. Das stört anscheinend weder Geschäftspartner noch Regierungen, schließlich kann das Imperium uns alle erpressen: Denn wer nicht spurt, dem wird der Gashahn zugedreht.

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Ebook Edition

JÜRGEN ROTH

GAZPROM – DAS UNHEIMLICHE IMPERIUM

WIE WIR VERBRAUCHER

BETROGEN UND STAATEN

ERPRESST WERDEN

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www.westendverlag.de

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in

der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten

sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.

Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt

insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen

und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

ISBN 978-3-86489-001-7

© Westend Verlag GmbH, Frankfurt/Main 2012

Satz: Publikations Atelier, Dreieich

Druck und Bindung: CPI – Clausen & Bosse, Leck

Printed in Germany

Inhalt

Vorwort

1 Das Märchen vom possierlichen Weltkonzern, der sich alles und jeden kaufen kann

2 Die vielen Geheimnisse, die sich hinter Gazprom verstecken

3 Über Hintergründe, die den unaufhaltsamen Siegeszug des Kreml-Machtinstruments Gazprom ermöglichten

4 Zuckerbrot und Peitsche – das Kaleidoskop der Erpressungen und Einflussnahmen

5 Gazprom und das Netzwerk von Günstlingen und Seilschaften

6 Die Armee Putins und des Imperiums

7 Die Quelle der Macht, des Reichtums und verborgene Geheimnisse

8 Gazproms Beziehungen zu mafiosen Strukturen

9 Ein gewagtes Machtspiel oder Hintergründe eines eiskalten Winters

10 Die deutschen und europäischen Amigos des Systems Putin-Gazprom

Schluss: Politische Ethik als Blockade für blendende Geschäfte

Anmerkungen

Abkürzungen

Personenregister

Vorwort

Als sie von meinem Vorhaben, ein Buch über den Gazprom-Konzern zu schreiben, erfuhren, warnten mich sowohl osteuropäische wie deutsche Freunde: Sollte ich es wirklich versuchen, hinter die Kulissen des Gazprom-Imperiums zu schauen, würde ich mir jede Menge Probleme einhandeln. Denn, so der russische Publizist Wladimir Iwandize, der wegen seiner kritischen Berichterstattung Russland verlassen musste und inzwischen in Frankreich lebt: »Gazprom ist eine Mafia-ähnliche Organisation, weil Gangster das Geld von Gazprom für ihre Aktivitäten benutzen.«1 Übertreibt der Kollege da maßlos?

Schon im September 2007 begann der Journalist Hans-Martin Tillack einen Bericht über Gazprom im Stern mit den Sätzen: »Es geht bei dieser Invasion um Gas. Aber mehr noch um eine große Menge Geld. Um sehr viel Geld für sehr wenige. Und zwar für Menschen, die größten Wert darauf legen, nicht bekannt zu werden.«2 Und das angesehene englische Wirtschaftsmagazin The Economist schrieb bereits 2006 in einem Artikel mit der Überschrift »Lege dich nicht mit Russland an«: »Putins Einsatz von Energie als Waffe ist nur eine Instanz des russischen Selbstbewusstseins, das heutzutage an Gangstertum anzugrenzen scheint.«3

Worum handelt sich also bei diesem Gazprom-Imperium?

Zu Zeiten der Sowjetunion war Gazprom ein Arbeitsbereich des Ministeriums für Gasförder- und Gastransportindustrie. Im Zuge der Perestroika wurde Gazprom 1989 in einen Staatskonzern umgewandelt und hatte sofort das Monopol auf 95 Prozent der gesamten sowjetischen Gasförderung. Am 17. Februar 1992 wurde aus dem bisherigen Staatskonzern eine Aktiengesellschaft, an der der russische Staat 41 Prozent Anteile hielt. Nach Wladimir Putins Machtantritt im Jahr 2000 erhöhte sich die Beteiligung des russischen Staates an Gazprom auf 50,002 Prozent.4 Putin machte Gazprom zu seinem persönlichen Projekt.

Heute beschäftigt Gazprom über 400 000 Mitarbeiter und ist einer der weltweit mächtigsten Energiekonzerne. Zu seinen Geschäftsbereichen gehören nicht nur die Förderung und Lieferung von Gas, sondern er ist zudem einer der wichtigsten Erdölproduzenten Russlands. Außerdem ist Gazprom unter anderem Mitbesitzer von Banken, Investmentgesellschaften, Fluggesellschaften, Versicherungen, Bauunternehmen und Medien. Geschätzt wird, dass Gazprom allein zwischen 2001 und 2007 über vierzig Milliarden Dollar ausgegeben hat, um Anteile von Unternehmen zu kaufen, die nichts mit dem Gasgeschäft zu tun haben.5 Dazu gehören insbesondere Anteile an Konzernen der Erdölindustrie und Elektrizitätswerke. Über Hunderte von Tochtergesellschaften und Joint Ventures ist Gazprom zudem auf dem globalen Gasmarkt aktiv, unter anderem in Deutschland, Österreich, der Schweiz, Holland und Frankreich.

Auffällig sind die schier unüberschaubaren Netze von Strohfirmen und geheimen Holdings, die von der Schweiz nach Luxemburg, Deutschland, Österreich, Ungarn, Italien bis nach Zypern reichen. Gazprom-Tochtergesellschaften haben ihren Sitz in Steueroasen, um die Steuerlasten zu vermindern.6 Für einen Staatskonzern eher ungewöhnlich. Denn das Geld fehlt für die notwendigen sozialen Infrastrukturmaßnahmen in Russland. Im Jahr 2010 betrug der von Gazprom erwirtschaftete Gewinn 23,8 Milliarden Euro und damit 24 Prozent mehr als im Jahr 2009.7Von diesem Weltkonzern kommt immer wieder gebetsmühlenartig die Aussage, die von deutschen Politikern gern nachgeplappert wird: Durch Gazprom werde die Versorgungssicherheit mit Gas in Europa, insbesondere in Deutschland oder Österreich, gewährleistet.8 Die Frage, wie hoch der Preis dafür ist, den wir alle bezahlen müssen, wird hingegen kaum gestellt.

Wer das Gazprom-Imperium verstehen will, muss sich zwangsläufig auch mit Wladimir Putin und seiner Vergangenheit und die seiner langjährigen Wegbegleiter beschäftigen. Vor über zehn Jahren recherchierten der russische Journalist Wladimir Iwandize und ich unabhängig voneinander über die mutmaßlichen Verstrickungen Putins in korrupte und kriminelle Machenschaften in Sankt Petersburg, wo er Anfang der neunziger Jahre zweiter Bürgermeister war. »Sich damit zu beschäftigen ist außerordentlich gefährlich, schrieb er mir damals. Du hast es mit ehemaligen und noch aktiven KGBLeuten zu tun, und dazu kommt noch die Tambowskaja-Mafia.«

Ähnlich argumentierte Craig Murray, der ehemalige Botschafter Großbritanniens in Usbekistan. »Es ist wahr, Russland ist heute so etwas wie ein Gangsterstaat, in dem die Mafia in Verbindung mit dem KGB und ehemaligen KGB-Angehörigen in Wirklichkeit diesen Staat kontrolliert.«9

Viel Lärm um nichts, billige Hysterie?

Beim wichtigsten russischen Konzern Gazprom beziehungsweise dessen Tochterfirma Nord Stream AG ist schließlich ein deutscher Exbundeskanzler sogar Vorsitzender des Aktionärsausschusses, und er hat dort sein überragendes, ausgeprägtes sozialdemokratisches politisches und persönliches Renommee eingebracht. Der wird doch niemals mit jemandem aus einem Gangsterstaat kooperieren. Schließlich besitzt er das SPD-Parteibuch, und im Grundsatzprogramm der SPD steht: »Mit ihrer durch Kartelle und Verbände noch gesteigerten Macht gewinnen die führenden Männer der Großwirtschaft einen Einfluss auf Staat und Politik, der mit demokratischen Grundsätzen nicht vereinbar ist. Sie usurpieren Staatsgewalt.« Und genau das wird ja Gazprom vorgeworfen.

Auffällig ist, dass es sich bei Gazprom und den weit über hundert Tochter- und Zwischengesellschaften um einen nicht besonders transparenten Konzern handelt, um es diplomatisch zu formulieren. Hinzu kommt, dass einige Gazprom-Zwischenfirmen »Verbindungen zu Gruppen der organisierten Kriminalität in Russland und Europa hatten, während andere dieser Mittlerfirmen verdächtigt wurden, Hunderte Millionen Dollar zu waschen, die auf Konten von hochrangigen russischen, ukrainischen Politikern und Staatsbeamten deponiert wurden.«10 Alles nur üble Verdächtigungen?

Unbestritten dürfte sein, dass in den letzten Jahren Hunderte von Millionen Euro in mehr oder weniger dunklen Kanälen versickert sind. Und genauso sicher ist, dass die Bürger in Europa kaum Aussichten haben, billiger Gas geliefert zu bekommen – im Gegenteil. Sie müssen mit immer höheren Energiepreisen rechnen. Prinzipiell gelingt es Gazprom, mit welchen Mitteln wird in den kommenden Kapiteln gezeigt, langfristige Verträge abzuschließen, bei denen der Gaspreis an den Ölpreis gebunden ist.

Das sichert hohe Gewinne zu Lasten der Verbraucher, denn die Wahrscheinlichkeit, dass die Ölpreise wegen politischer Instabilität in den Ölförderländern in Zukunft weiter steigen werden, die Kosten für Gas jedoch wegen des enormen Angebots eher sinken, lässt Rubel und Dollar in die Kassen der multinationalen Konzerne sprudeln. Und die deutschen Verbraucher werden deshalb in Zukunft hohe Gaspreise zahlen dürfen.

Für Andrej Owschinnikow, dem Öl- und Gasanalytiker der Credit Suisse, ist klar, dass »die Verbindung des Gaspreises mit dem Ölpreis Gazprom in Europa zum Hochpreislieferanten gemacht hat, eine Situation, die sich in der Zukunft fortsetzen wird«.11 Aber wohin fließen diese Gewinne, und wer profitiert davon? Es ist das System Putin!

Gazprom war nach Putins Machtantritt am 7. Mai 2000 das erste Unternehmen, in dem sämtliche Schlüsselpositionen durch seine Bekannten und/oder engen Freunde aus Sankt Petersburg besetzt wurden. Sie arbeiteten in den neunziger Jahren entweder in der Sankt Petersburger Stadtverwaltung, der Aktiengesellschaft Hafen Sankt Petersburg, in Sankt Petersburger Handelsunternehmen oder beim Geheimdienst, dem KGB beziehungsweise, nachdem der umbenannt wurde, beim heutigen FSB.

Diese Konstellation ist im Vergleich zu anderen globalen Energiekonzernen durchaus ungewöhnlich. Üblicherweise werden derartige Führungspositionen von jenen Männern oder Frauen übernommen, die über eine entsprechende Ausbildung und langjährige Erfahrungen in Energieunternehmen verfügen. Ob das für die ehemaligen Verwaltungsangestellten, die Mitarbeiter oder Manager von Hafenbetrieben oder Immobilienfirmen aus Sankt Petersburg gilt, darf bezweifelt werden.

Genau sie jedoch wurden von Wladimir Putin in die Toppositionen der führenden russischen Öl- und Gasunternehmen gehievt. Alle verbindet zudem ein Geheimnis, das in Sankt Petersburg im wahrsten Sinne des Wortes begraben ist.

In diesem Buch will ich – davon abgesehen, dass ein Sankt Petersburger Geheimnis gelüftet werden soll – zwei Probleme aufzeigen, die unsere Gesellschaft verändert haben oder verändern werden. Da geht es zum einen um jene Konzernchefs, Toppolitiker, Lobbyisten und manche Dunkelmänner nicht nur in Russland, die Millionen und Milliarden Euro in ihren Taschen verschwinden lassen, sowie ihre Helfershelfer und Propagandisten auch in Westeuropa. Das hat nicht nur, aber in diesem Fall viel mit Gazprom und dem Kreml zu tun. Zum anderen geht es darum zu zeigen, dass heute in Politik und Wirtschaft, ob in Russland oder beispielsweise auch in Deutschland oder Österreich, nicht einmal ansatzweise ethische Grundsätze von Bedeutung sind. Auch das wiederum lässt sich am besten am Beispiel von Gazprom und den direkten oder indirekten Helfershelfern – wäre man bösartig, würde man sie Komplizen nennen – in Europa und Deutschland dokumentieren.

Gazprom jedenfalls, tönte am 27. Mai 2008 der damalige russische Präsident Dmitri Medwedew in einer Rede vor Vorstandsmitgliedern von Gazprom, sei »eine Macht, mit der man rechnen muss, und eine wichtige Macht in der Welt«.12 Diese Aussage bekräftigte mir in einem Hintergrundgespräch ein osteuropäischer Unternehmer, der eine Tochtergesellschaft von Gazprom führt: »Das ist eine politische Firma. Die wirklich Mächtigen bei Gazprom sind Politiker. Und dadurch war und ist bis heute immer ausreichend viel Geld vorhanden, um ihre Politik zu finanzieren.«

1Das Märchen vom possierlichen Weltkonzern, der sich alles und jeden kaufen kann

Wenn wir unsere Gasheizung anstellen, damit die Zimmer kuschelig warm werden, freuen sich auf jeden Fall nicht nur die Aktionäre beim sogenannten Energiekonzern Gazprom. Denn von diesen Einnahmen fließt gleichzeitig auf jeden Fall indirekt ein Teil in Wladimir Putins Machtapparat, an seine Günstlinge, und damit folgerichtig zur Partei Einiges Russland, das heißt der Partei der Diebe und Gauner.1 So gesehen finanzieren wir, ob wir wollen oder nicht, direkt jene Strukturen, die für die undemokratischen und mörderischen Zustände in der Russischen Föderation mitverantwortlich sind. Dazu gehört auch die Unterdrückung der Presse- und Meinungsfreiheit. Für einige hohe Politiker, etwa Sergei Sobjanin, den Moskauer Bürgermeister, ist das vollkommen richtig. »Ich denke nicht, dass ein Journalist an sich frei sein kann, und auch die Presse kann bei uns nicht frei sein.«2

Doch was hat das mit Gazprom zu tun?

Gern wird ausgeblendet, wahrscheinlich sogar wissentlich verschwiegen, dass der Kreml über Gazprom-Media, eine Tochtergesellschaft von Gazprom, nicht nur die fünf wichtigsten Fernsehsender besitzt und damit die Fernsehlandschaft dominiert. Ihr gehören inzwischen mindestens zwei Drittel aller russischen Medien. Neben der Iswestija, einer einst angesehenen Zeitung, sind vierzehn weitere Zeitungsredaktionen unter der Gazprom-Media-Holding vereint und damit das Propagandainstrument, um die Politik des Kreml abzunicken. Und die wenigen übriggebliebenen Medien werden massiv unter Druck gesetzt. Zensur, Überfälle auf kritische Journalisten und nicht aufgeklärte Morde – die Angst davor hat sich in den meisten Köpfen eingenistet. Die Folgen? »Eine Untersuchung der Journalistenunion hat einen dramatischen Anstieg unkritischer Berichte über Putin und dessen Nachfolger Medwedew sowie negativer Beiträge über Gegenkandidaten und Opposition ausgemacht. Der Propagandaanteil in politischen Sendungen habe vor acht Jahren bei dreißig Prozent gelegen, erläutert Igor Jakowenko (Generalsekretär der Journalistenunion, d. Autor). Heute seien es mehr als neunzig Prozent.«3 Mindestens zwanzig unaufgeklärte Journalistenmorde gab es in der achtjährigen Regierungszeit von Putin als Präsident in den Jahren 2000 bis 2008.

»Demokratie ist die Summe aus einer freien Gesellschaft, freier Presse und Meinungsfreiheit« war das Thema der Konrad-Adenauer-Stiftung am 29. April 2008. Hier wurde der Demokratiereport 2008 vorgestellt. Er beschäftigte sich unter anderem mit der Pressefreiheit in Russland. »Die freie Berichterstattung hat in Russland in den vergangenen fünf Jahren massiv abgenommen. Ursächlich hierfür sind eine enge Staatskontrolle, indirekte Einflussnahme durch Regierungsbeamte auf die Herausgeber und verantwortlichen Redakteure sowie Strafmaßnahmen gegen kritische Journalisten«, klagte Alexei Simonow, der Vorsitzende der »Stiftung für den Schutz von Glasnost«. »Die Berufsausübung von Journalisten wird immer mehr zum Heldentum.« Mit der Verstaatlichung von Druckereien gibt es eine indirekte Möglichkeit der Zensur, Computerdurchsuchungen seien an der Tagesordnung, mit der Gründung von Parallelstrukturen würden kritische Vereinigungen wie der Journalistenverband untergraben.

»Mit der Freiheit des Wortes in Russland ging auch die Freiheit der Wahlen verloren«, so Alexei Simonow. Deshalb ist die Medienmacht auch eine Gefahr für die Demokratie in Russland.4 Auf dem Index für Pressefreiheit 2011–2012 von Reporter ohne Grenzen steht Russland auf Platz 142, noch hinter Uganda und Gambia.5

Es ist nicht bekannt, dass Gazprom-Medien an irgendeiner prominenten Stelle in ihren Zeitungen und Fernsehprogrammen jemals diesen Zustand beschrieben oder gar kritisiert hätten. Sie würden sich damit ja auch selbst massiv in Frage stellen. Schließlich sind sie nicht mehr als das Sprachrohr des Kreml. Denn das Gas und damit Gazprom sind schließlich auch ein Garant dafür, dass das Vermögen Wladimir Putins nicht geringer werden wird als bisher. Demnach soll er unter anderem an Gazprom einen Aktienanteil von 4,5 Prozent besitzen.6

Auf meine entsprechende Nachfrage in der Presseabteilung der Moskauer Gazprom-Zentrale, ob und wie viele Aktien Wladimir Putin an Gazprom halte, habe ich keine Antwort erhalten.7

Idylle am Strand, das Geschrei der Möwen und Nord Stream

Die Gemeinde Lubmin liegt am östlichen Zipfel von Mecklenburg-Vorpommern. Einst stand hier zu Zeiten der DDR ein Atomkraftwerk russischer Bauart. Nach der Wende sollte es eigentlich abgebaut werden, von 2012 an nur noch eine grüne Wiese zu sehen sein. Die Gebäude mit den hohen Schornsteinen stehen noch. Aber heute ist ein Teil des ehemaligen AKW ein Museum. Zu besichtigen ist Block sechs, der kurz vor der Inbetriebnahme war. Inzwischen steht am Rande des ehemaligen Kernkraftwerks eine riesige Halle, die direkt an ein Naturschutzgebiet angrenzt, das neue Zwischenlager für abgebrannte Brennstäbe und Kastoren.

Seit Herbst 2011 kam Nord Stream hinzu, in Sichtweite des alten Atomkraftwerks und des Kastorzwischenlagers. Am neu gebauten Industriehafen, der wie ausgestorben wirkt, blickt der Besucher auf die silbern glänzenden Kompressorenanlagen mit drei hochragenden Schornsteinen, die Verdichterstation und das Erdgas-Druckerhöhungswerk. Von hier aus wird das russische Erdgas weitergeleitet.

Gesteuert wird alles nicht hier in Lubmin, sondern von einem Kontrollzentrum im schweizerischen Zug aus, dem Sitz von Nord Stream. Über eine Satellitenverbindung steht das Kontrollzentrum mit der Anladestation in ständiger Verbindung. Nord Stream ist ein internationales Joint Venture von fünf Unternehmen, das zur Planung, zum Bau und zum Betrieb der Erdgaspipeline durch die Ostsee gegründet wurde. Hauptaktionär ist Gazprom mit einer 51-Prozent-Beteiligung. Die deutschen Energiefirmen Wintershall Holding und E.ON Ruhrgas AG sind mit jeweils 15,5 Prozent an dem Projekt beteiligt. Die anderen beiden Unternehmen sind die niederländische Gasunie und die französische GDF Suez mit jeweils neun Prozent.

Nicht weit von der Nord-Stream-Anladestation entfernt hat die Bundespolizei ein zweistöckiges Gebäude errichtet. Von hier aus sollen jährlich bis zu 55 Milliarden Kubikmeter Gas transportiert werden, um den Energiebedarf, so Nord Stream, von mehr als 26 Millionen europäischen Haushalten zu decken. Eingebettet sind die Industrieanlagen hier in ein Naturschutzgebiet von hoher Qualität: zwei ausgewiesenen EU-Vogelschutzgebieten und einem nationalem Schutzgebiet.

Derjenige, der die Industrialisierung in der Region maßgeblich angetrieben hat, wohnt nicht weit vom Industrie- und Gewerbegebiet Lubminer Heide entfernt im Seebad Lubmin, der Perle am Greifswalder Bodden, wie es in den Werbebroschüren der Kurverwaltung steht. Dieter Rittscher, Chef der Energiewerke Nord (EWN) und anderer Unternehmen, residiert in einem langgezogenen weiß verklinkerten, etwas spießig wirkenden Bungalow. Beeindruckend ist das große Gelände hinter dem Bungalow, wo einst einmal Kiefernwald war. Und bis zum weißen Strand der Ostsee sind es nur wenige Schritte.

Der Name Dieter Rittscher ist untrennbar verbunden mit »strahlendem Abfall in der Republik«.8 Als Vorsitzender der Geschäftsführung der EWN ist er unter anderem für den Rückbau des Kernkraftwerks Greifswald zuständig. Ein Mann mit langjährigen Erfahrungen. Medienberichte, wonach die Bundesregierung plant, Atommülllager zu privatisieren und die Verantwortung dafür den Energiewerken Nord (EWN) zu übertragen, hatten bei der SPD-Fraktion im Niedersächsischen Landtag helle Empörung ausgelöst. »Es verschlägt einem die Sprache! Ein Mitverantwortlicher für die Asse-Schande, ein Mann, der aktiv daran mitgewirkt hat, dass wir in der Asse diese Situation haben, so ein Mann soll Verantwortung tragen für den sorgsamen Umgang mit den gefährlichsten Giften, die die Menschheit kennt. Das wäre ein unglaubliches Bubenstück«, sagte Detlef Tanke, stellvertretender Vorsitzender und umweltpolitischer Sprecher der SPD-Fraktion, im September 2010 in Hannover. Seine Kritik entzündete sich vor allem an der Person des EWNGeschäftsführers Dieter Rittscher.9

»Zahlreiche fehlerhafte Einlieferungslisten für die Asse aus den siebziger Jahren tragen Rittschers Unterschrift. Die Erkenntnisse des Asse-Untersuchungsausschusses des Landtags sowie der vor kurzem vorgelegte Bericht der Arbeitsgemeinschaft Asse-Inventar belegen, wie fahrlässig damals bei der Einlagerung von Atommüll verfahren wurde. Herr Rittscher war daran beteiligt. Und nun soll er Zugriff auf (…) Atommülllager bekommen. Damit würde man tatsächlich den Bock zum Gärtner machen«, sagte Tanke.10 Auf meine Nachfrage bei dem inzwischen pensionierten Dieter Rittscher, was er zu den Vorwürfen des SPD-Abgeordneten Detlef Tanke sage, antwortete er mir: »Diese Aussagen bewerte ich gar nicht. Das ist Unsinn. An den ganzen Vorwürfen ist nichts dran.« Der Plan, Atommülllager zu privatisieren, wurde inzwischen fallengelassen.

Nord Stream schien auch Valeri Jasew zu begeistern, den Vizepräsidenten der russischen Staatsduma und auf russischer Seite für das Vorantreiben der Ostee-Pipeline zuständig. »Es ist großer Bahnhof auf dem Gelände der Energiewerke Nord (EWN), als der Hubschrauber aus Berlin landet. Doch der Gast, der aus dem Chassis springt, macht sich nichts aus Formalitäten. Valeri Jasew trägt eine Freizeitjacke, schüttelt allen die Hand und eilt mit EWN-Chef Dieter Rittscher zum Ostseestrand. Anpacken und los! Das soll sein Auftritt vermitteln, und so sagt er es auch in die russischen TV-Kameras, die er gleich mitgebracht hat: Keine Probleme, alles läuft nach Plan«, berichtete das Neue Deutschland im Juni 2009.11

Das schmucke Seebad Lubmin. Mit vielen bunten Werbebroschüren sorgte Nord Stream in der Vergangenheit dort für gute Stimmung. Selbst in der Kurverwaltung konnte Nord Stream seine Prospekte auslegen. Beim großen Seefest 2010 wurden von Nord Stream an der Seebrücke die Werbebroschüren verteilt. »Sie waren innerhalb einer halben Stunde weg«, erzählt mir der ehrenamtliche Bürgermeister Axel Vogt in seinem Büro im alten Bahnhofsgebäude des Seebades Lubmin. Einwände gegen das Projekt Nord Stream habe es nicht gegeben. Schließlich habe Lubmin während der Bauzeit von Nord Stream profitiert, weil Zimmer an die Angestellten und Arbeiter von Nord Stream vermietet werden konnten.

Auf die Frage, ob denn unter den Lubminer Bürgern nicht einmal der Zusammenhang zwischen Gazprom und der fehlenden demokratischen Kultur und der grassierenden Korruption in Russland diskutiert wurde, meinte Axel Vogt, dass die Menschen ja schon zu Zeiten der DDR mit dem Kernkraftwerk ganz gut gelebt hätten. Ja, man erinnert sich: »Die Geschichte der vier Reaktorblöcke vom sowjetischen Typ WWER 440, die seit 1973 nacheinander ans Netz gingen, gleicht einer Horrorchronik. Nach bis Anfang dieses Jahres geheimgehaltenen Berichten und Dokumenten, die dem Spiegel vorliegen, gab es im Kombinat ›Bruno Leuschner‹ nahe dem Dorf Lubmin, 22 Kilometer von Greifswald, immer wieder schwere Störfälle und fortwährend Verstöße gegen auch nur minimale Anforderungen an den Strahlenschutz.«12

Vier Tage lang, vom 22. Juni 2009 bis 25. Juni 2009, dauerte der Erörterungstermin in Stralsund über die vierzig Einwendungen von Verbänden, Institutionen und Privatpersonen gegen das deutsche achtzig Kilometer lange Teilstück der geplanten Ostsee-Pipeline. Die Frage der Umweltzerstörung spielte dabei eine besondere Rolle. Denn was bedeuten die Anladestation und die Pipeline tatsächlich für die Umwelt?

»Verlust teils hochwertiger Böden, Beeinträchtigung von hochwertigen Sandstandorten, Verlust von hochwertigen Biotoptypen (Kiefernwald et cetera), Verlust von Habitatsstrukturen für Brutvögel, erhebliche Beeinträchtigung für Seeadler, Rotmilan, Schwarzspecht, Heidelerche durch dauerhaften Funktionsverlust von Brutrevieren«, klagten engagierte Naturschützer wie der Biologe Günther Vater aus Greifswald, der seine Einwände bei dem Erörterungstermin im Juni 2009 dokumentierte.13

Das Bergamt Stralsund, zuständig für das Genehmigungsverfahren, hatte alle diese Beeinträchtigungen bestätigt. Im Planfeststellungsbeschluss heißt es dazu jedoch: »Die Verträglichkeitsprüfung ergab, dass der Bau und Betrieb der Anladestation geeignet sind, das EU-Vogelschutzgebiet Greifswalder Bodden und südlicher Strelasund erheblich zu beeinträchtigen, und dementsprechend das Projekt insoweit zunächst unzulässig ist. Aber die Beeinträchtigungen der Vogelarten rechtfertigen nicht die Ablehnung des für die Energieversorgung Deutschlands und Europas bedeutsamen energiewirtschaftlichen Projekts. Müsste auf den Bau der Anladestation an vorgesehener Stelle verzichtet werden, kämen dadurch die beantragten Projekte NEL14 und OPAL15 sowie auch das Projekt Nord Stream zu Fall.«16 Am 31. März 2011 gab Nord Stream in einer Presseerklärung bekannt, dass eine Naturschutzstiftung Deutsche Ostsee gegründet wurde und Nord Stream ein Stiftungskapital von zehn Millionen Euro einbringt. Bemerkenswert ist, wer zu der Stiftung gehört. Es sind die Umweltverbände BUND Mecklenburg-Vorpommern und der World Wide Fund For Nature (WWF) Deutschland.

Es ist der 6. September 2011. An diesem Tag wurde in Lubmin ein Jahrhundertereignis gefeiert – zum Wohle der sicheren Energieversorgung Deutschlands und Westeuropas, versteht sich. Es findet der Probelauf für die Erdgasleitung Nord Stream statt. Durch diese Pipeline wird nun das russische Gas aus den Gasfeldern Sibiriens nach Wyborg (nahe der russisch-finnischen Grenze) und von dort durch die Ostsee nach Lubmin gepumpt. Anwesend sind unter anderem der russische Ministerpräsident Wladimir Putin, Repräsentanten der deutschen Energiekartelle und Altbundeskanzler Gerhard Schröder, Vorsitzender des Aktionärsausschusses der Gazprom-Tochter Nord Stream. Mit verschmitztem, breitem Lächeln marschiert Gerhard Schröder, leger gekleidet im Sakko mit offenem himmelblauem Hemd, auf den zweitmächtigsten Mann der Welt zu: auf Wladimir Putin. Gerhard Schröder herzt Wladimir Putin auf eine Art und Weise, die man unter Umständen als ausgesprochen innige Beziehung interpretieren könnte.17 In Russland gilt diese Form der Umarmung als Ausdruck kameradschaftlicher Nähe und Brüderlichkeit.

In einem strategischen Analysebericht des Schweizer Bundesamts für Polizeiwesen vom Juni 2007 – Titel des Analyseberichts: »Organisierte Kriminalität und Nachrichtendienste aus der GUS« – wird auf Nord Stream hingewiesen. Dort wird unter anderem behauptet: »Generell lässt sich feststellen, dass die Nachrichtendienste bei Geschäften im Ausland vermehrt ihren Einfluss geltend machen und dabei auch auf nachrichtendienstliche Verbindungen mit anderen Staaten zurückgreifen Das lässt sich beispielsweise bei der im Jahr 2005 in Zug gegründeten Firma Nord Stream veranschaulichen.«

Der Bericht nimmt dabei Bezug auf den im Jahr 2005 einzigen Verwaltungsrat der Pipeline-Betreibergesellschaft Northern European Gas Pipeline Company, die später in Nord Stream umbenannt wurde. Er saß von 1987 bis 1990 im Verwaltungsrat einer Zuger Firma, die unter Umgehung der Embargobestimmungen gegen die DDR den Beschaffungshandel von Waren für die DDR organisierte. In dieser Zeit soll Urs Hausheer, laut dem Bericht des Bundesamts für Polizeiwesen, mit Wladimir Putin in Dresden »in Kontakt gestanden haben«.18 Das Unternehmen Asada galt für die DDR als Schwerpunkt bei der Beschaffung von Embargowaren. Urs Hausheer bestritt, Kontakte in die DDR oder die Sowjetunion gehabt zu haben.

Wenn Politiker nach Lubmin eilen

Es ist der 8. November 2011, und die Nord-Stream-Pipeline wird offiziell von Bundeskanzlerin Angela Merkel und dem russischen Präsidenten Dmitri Medwedew in Betrieb genommen.

500 Ehrengäste feierten das Ereignis, 250 Journalisten beobachteten das Geschehen, und knapp 500 Sicherheitskräfte und Servicemitarbeiter sorgten für das allgemeine Wohlbefinden der mehr oder weniger illustren Gäste. Einen Tag vor der Feier wurden bereits mit einer Iljuschin II 167 M die beiden gepanzerten Staatslimousinen des Präsidenten Medwedew eingeflogen. Der jedoch schwebte – nach seinem Abschiedsbesuch als russischer Präsident bei Bundeskanzlerin Angela Merkel – mit ihr in einem Hubschrauber aus Berlin ein.

An der Eröffnungszeremonie nahmen außerdem die Regierungschefs aus den Niederlanden und aus Frankreich teil. Und: »Gerhard Schröder, als Aufsichtsratschef der Pipeline-Gesellschaft Nord Stream …, hat es sich zur Aufgabe gemacht, den deutschen Zeigefinger zu geißeln und den früheren sowie künftigen Präsidenten Wladimir Putin als besonders vertrauenswürdigen Menschen zu preisen.«19

Zwischen Schröder und Bundeskanzlerin Angela Merkel scheint es sowieso keine großen Differenzen mehr zu geben. Von einem ausgezeichneten Verhältnis ist die Rede und dass Gerhard Schröder in bezug auf Russland und Putin der Bundeskanzlerin mit seinen langjährigen Erfahrungen ein wichtiger Ratgeber sei.

Um Energiepolitik ging es in Lubmin nur bedingt, wie der Tagesspiegel über das Ereignis schrieb: »Bürgerfragen nach dem Nutzen wären fehl am Platz. Es geht um strategische, langfristige Außenpolitik.«20 Auf jeden Fall wird es nun einfacher werden, »Osteuropäern den Gashahn abzudrehen, ohne Westkundschaft in Mitleidenschaft zu ziehen«.21

Pipelines für Gazprom – die Gelddruckmaschine

Eine Öl- oder Gaspipeline ist in Russland mehr als ein Stahlrohr, sie ist fast so etwas wie ein großer Lottogewinn. Tatsache ist, dass dort bei dem Bau und der Verlegung von Pipelines ungewöhnlich viel Geld verdient wird und gleichzeitig Personen versorgt werden, die zu Putins Freunden gehören. 140 000 Rohre für die beiden Leitungsstränge wurden von der Firma Europipe in Mühlheim produziert, schreibt Nord Stream in seinem Prospekt »Die Logistik für die Pipeline«. Auffällig ist, dass ein Teil des Auftrags über das Handelshaus Eurotube in Kaarst abgewickelt wurde. Über dieses gelang es Europipe, insgesamt 97 000 Tonnen Großrohre für Russland zu buchen. Doch warum benötigt ein so seriöses Unternehmen wie Europipe die Vermittlung eines vergleichsweise eher bescheidenen Handelshauses? Und wer verbirgt sich dahinter?

Das Unternehmen Eurotube GmbH wurde im Jahr 2005 gegründet, als auch der Bau von Nord Stream beschlossen wurde. Interessant wird es, wenn man sich die Eigentümer des Unternehmens im deutschen Handelsregister anschaut. Da tauchen zwei deutsche Minderheitsaktionäre auf, die bereits für Mannesmann aktiv im Röhrengeschäft mit der Sowjetunion tätig waren. Und dann gibt es drei Unternehmer aus Russland, die zusammen eine Beteiligung von 46 Prozent an der Eurotube GmbH in Kaarst halten, also die faktische Mehrheit.

Einer dieser Unternehmer ist Igor Schabalow. Er ist Vorsitzender der Vereinigung des Rats der russischen Röhrenproduzenten und war zuvor Generaldirektor der Firma Gaztaged, die von Boris Rotenberg, ebenfalls ein Miteigentümer von Eurotube, kontrolliert wurde. Der Vereinigung gehört unter anderem eines der weltweit führenden Unternehmen auf dem Gebiet des Röhrenmarktes an. Aber nicht deren Repräsentanten erhielten den Vorsitz der Vereinigung, sondern der frühere Generaldirektor von Gaztaged.

Gleichzeitig taucht Igor Schabalow in Deutschland in einem weiteren Unternehmen auf: der Luxburg GmbH in Gelsenkirchen. Geschäftszweck ist die Investment- und Anlageberatung. Schabalow hält fünfzig Prozent an der Luxburg GmbH. Betrug die Bilanzsumme im Jahr 2006 noch magere 25 000 Euro, waren es ein Jahr später acht Millionen. Und für das Jahr 2010 wurde eine Bilanzsumme von zehn Millionen Euro genannt. Mit welchen Investitionen dieser Gewinnsprung erreicht wurde, ist aus den veröffentlichten Bilanzen nicht zu ersehen.

Die wichtigsten Eigentümer von Eurotube sind jedoch die Brüder Arkadi und Boris Rotenberg, die je 16,675 Prozent halten, während Igor Schabalow 16,65 Prozent besitzt.

Die beiden Rotenberg-Brüder gelten als enge Freunde Wladimir Putins seit ihrer gemeinsamen Zeit in Sankt Petersburg in den neunziger Jahren. Der heutige Multimillionär Arkadi Rotenberg war einer der Gründer des Petersburger Judoklubs Jawara-Newa, in dem Putin Ehrenmitglied war. Arkadi Rotenberg und sein Bruder Boris sind nicht nur Besitzer der Bank Severny Morskoy Put. Im Jahr 2000 gründete Arkadi Rotenberg ein weiteres Unternehmen in Moskau, das sechs Jahre später wieder liquidiert wurde. Das Unternehmen verkaufte offiziell Lebensmittel, während ein ehemaliger Direktor berichtete, in Wirklichkeit sei Gas verkauft worden.

Gazprom verkaufte an Arkadi Rotenberg im Jahr 2008 fünf Firmen. Journalisten der Nowaja Gazeta, die bei Gazprom um nähere Auskünfte baten, erhielten zur Antwort, dass diese Vermögenswerte in einer offenen Auktion vergeben worden seien und dass eben der Höchstbietende die Anteile bekommen hätte.22

Im Jahr 2008 verkauften die Besitzer des Seehafens Nowosibirsk zehn Prozent des Hafenbetriebes an die Rotenberg-Firmen, und im gleichen Jahr verkaufte Gazprom fünf Baufirmen ebenfalls an Arkadi Rotenberg. Diese Firmen wiederum hielten Anteile an Mittlerfirmen, die Pipelines und Ausrüstungsmaterial an Gazprom lieferten. Der ehemalige Direktor einer dieser Firmen wurde Direktor der Bauabteilung und Mitglied des Aufsichtsrats von Gazprom. So konnten viele bedient werden, wobei Gazprom diese Zwischenfirmen eigentlich überhaupt nicht benötigen würde, sondern alles in eigener Regie abwickeln könnte. Aber die vielen Freunde müssen ja irgendwie zufriedengestellt werden.

Boris Rotenberg ist ebenfalls ein Judofan, der gern mit Wladimir Putin trainierte. Ihm gehören zwei Unternehmen, die Pipelines und Ausrüstungsmaterialien für Gazprom liefern. Eine dieser Firmen ist wesentlich am Unternehmen Gaztaged beteiligt, das wiederum zu 75 Prozent von einer Gazprom-Tochtergesellschaft kontrolliert wird. Die Rotenberg-Brüder haben quasi ein Monopol für die Lieferung von Pipelines, die aus einem besonders hochwertigen Stahl produziert werden und in der Lage sind, sogar Gas aus dem arktischen Eis zu transportieren. Auch Pipelines für Nord Stream wurden von ihnen geliefert. Im Jahr 2010 verkauften sie über 1,5 Millionen Tonnen Röhren im Wert von 2,5 Milliarden US-Dollar mit einem Gewinn von 266 Millionen US-Dollar. Wenn irgendwohin Pipelines verlegt wurden, dann profitierten die beiden Brüder Rotenberg aufgrund ihrer bisherigen engen Geschäftsbeziehungen zu Gazprom in hohem Maß davon.

Nein, sagte Arkadi Rotenberg in einem Interview, Putin habe ihm bei seinem geschäftlichen Erfolg nicht geholfen. »Wir sind noch freundschaftlich verbunden, obwohl wir uns nicht mehr so häufig treffen wie früher.«23 Arkadi Rotenbergs Vermögen wird auf 1,28 Milliarden Euro geschätzt, ebenso das seines Bruders.24

In der Dokumentation des Finanzinvestors William Broweder aus dem Jahr 2003 wurde bereits die Verlegung einer anderen Pipeline heftig kritisiert. Es geht um Blue Stream. Das ist eine Gaspipeline, die von der nahe der Schwarzmeerküste gelegenen Stadt Izobilny durch das Schwarze Meer nach Samsun in die Türkei bis nach Ankara führt. Die Bauarbeiten waren im Oktober 2002 zu Ende, und seit Februar 2003 floss das Erdgas in die Türkei. Die Kosten betrugen 3,2 Milliarden Euro. Der Finanzinvestor hatte ausgerechnet, dass die Pipeline, wäre sie mit türkischer Effizienz für den russischen Teil gebaut worden, für Gazprom mindestens 596 Millionen US-Dollar billiger gewesen wäre. Denn die 444 Kilometer auf türkischem Boden zwischen Ankara und Samsun kosteten 1,35 Millionen US-Dollar pro Kilometer, während die kürzere Strecke in Russland über 373 Kilometer 2,95 Millionen US-Dollar pro Kilometer kostete. Schließlich musste ja das russische Pipeline-Unternehmen Stroitransgas bedient werden, quasi ein Familienunternehmen von Gazprom-Managern.25

Bei dem Projekt der Trans-Kaspischen Pipeline von Turkmenistan durch das Kaspische Meer nach Europa hingegen kam heftiger Widerstand aus Moskau. Die Pipeline unter dem Kaspischen Meer hätte unübersehbare ökologische Folgen, außerdem drohten dort heftige Erdbeben. Denn das Kaspische Meer sei ein geschlossenes System ohne Verbindungen zu den Meeren der Welt, wurde argumentiert.26 Bei Blue Stream lagen die Dinge noch anders, aber da war Russland ja beteiligt. Auf jeden Fall scheinen die Herstellung und der Vertrieb von Röhren eine ständig sprudelnde Geldquelle zu sein. Das belegen auch andere Beispiele. Im Jahr 2006 veröffentlichte Gazprom auf seiner Webseite, dass die 2 800 Kilometer lange Gaspipeline von Westsibirien nach China, das Altai-Projekt, gebaut werde. Sie kostet einschließlich der Kompressorstationen pro Kilometer zwischen 1,3 und 1,4 Millionen Euro.27

Und nach offiziellen Angaben von Gazprom aus dem Jahr 2005 plante das Unternehmen damals bereits den Bau einer 144 Kilometer langen Pipeline von Gryazovets nach Wyborg – von wo aus seit Dezember 2011 das Gas nach Deutschland gepumpt wird. Die Kosten sollten pro Kilometer jedoch vier Millionen Euro betragen.28 Das heißt, die Pipeline nach Wyborg ist viermal teurer als die nach China, deren Bau unter ungleich ungünstigeren geographischen Bedingungen durchgeführt werden wird.

»Bemerkenswert ist, dass die Kosten für einen Kilometer der OPAL-Pipeline zwischen Lubmin bei Greifswald und Olbernhau an der deutschtschechischen Grenze nur 2,1 Millionen Euro betragen, so Mikhail Korchemkin, ein renommierter amerikanischer Experte für den russischen Gassektor.«29 In einer Studie über die »Inflation der Baukosten bei Gazprom« nennt er ein anderes Beispiel: »Im März 2008, vor der Wirtschaftskrise und den hohen Preisen für Materialien und Dienstleistungen, errechnete das russische Unternehmen Piter Gaz Engineering30, dass die Kosten für die Sotschi-Gas-Pipeline einschließlich der Kompressorstationen zwischen 190 und 250 Millionen Euro betragen würden.«

Im September 2009, als die Preise für Stahlrohre und andere Materialien niedriger als vor der Krise waren, erklärte der Vorstandsvorsitzende von Gazprom, Alexei Miller, dass die Kosten für diese Pipeline 650 Millionen Euro betragen würden.31 Fazit dieser Studie? »Die Verantwortlichen von Gazprom genehmigten ihren Kontraktfirmen und Brokern anscheinend hohe Gewinnmargen, so dass die Kosten für die Pipelineprojekte vier- bis fünfmal höher sind als normal.«32

Und nicht viel anders dürfte es bei dem Projekt Nord Stream abgelaufen sein. Doch darüber redet in Deutschland niemand, und die Verbraucher bezahlen das letztlich alles mit den entsprechend hohen Gaspreisen. Am 26. Oktober 2011 startete die Föderale Antimonopolagentur (FAS) Ermittlungen gegen Unternehmen der Brüder Rotenberg wegen des Vorwurfs der Kartellbildung und Preisabsprachen zu Lasten von Gazprom. »Die FAS sieht Anzeichen für Verletzungen des Antimonopolgesetzes bei russischen Herstellern von Rohren mit großem Durchmesser … In der Tat weigerten sich die Marktteilnehmer zu konkurrieren und koordinierten ihre Aktivitäten, was mit Sicherheit zu Einschränkungen des Wettbewerbs führte.«33 Das erklärt dann auch vielleicht, warum bei Ausschreibungen von Gazprom »fast immer Firmen gewonnen hatten, die zum Rotenberg-Konzern gehörten«.34 Und da Rotenberg ja freundschaftlich mit dem russischen Zar Wladimir Putin verbunden ist, dürfte das Ergebnis der Antimonopolagentur feststehen: Es wird im Sande verlaufen.

Die Angst der Polen vor Nord Stream

Auf wenig Gegenliebe stieß die Eröffnung der Nord-Stream-Pipeline im Nachbarland Polen. Die herrschende Elite im Kreml ist hier immer noch – aus verständlichen historischen Motiven – wenig beliebt. Und das nicht nur wegen des Massakers an etwa 4 400 polnischen Offizieren am 19. Mai 1949 im Wald von Katyn durch Einheiten des Innenministeriums der UdSSR und wenig später die Massenmorde von über 24 000 Offizieren, Priestern und Intellektuellen, ebenfalls aufgrund eines Befehls von Josef Stalin.

Ich erinnere mich an ein Gespräch mit Zbigniew Wassermann. Als ich ihn in Krakau im März 2003 traf, war er noch Staatsanwalt. Im Jahr 2005 wurde er Geheimdienstminister in der national-konservativen Regierung von Kazimierz Marcinkiewicz. Wir hatten uns auch über Gazprom unterhalten. Er sagte mir: »Jede Art der Erpressung kommt im Zusammenhang mit Gazprom in Frage. Die Begrenzung der Lieferung, Erhöhung des Preises, niedrigere Preise für den Transit. Deshalb ist Gazprom für uns eine Bedrohung.« Er gehörte am 10. April 2010 zu einer polnischen Delegation, die auf dem Weg nach Katyn war, um dort des siebzigsten Jahrestags des Massakers zu gedenken. Die Maschine stürzte in Smolensk ab, die gesamte Regierungsdelegation sowie hochrangige Repräsentanten des polnischen Staates kamen dabei ums Leben. Die Hintergründe des mysteriösen Flugzeugabsturzes sind bis zum heutigen Tag nicht geklärt.

Das alles trug dazu bei, dass es in Polen zu massiven Vorbehalten gegen Nord Stream kam. »Nord Stream sei gegen die Solidarität in der EU gerichtet, und Russland könnte in einem neuen Energiekrieg Polen künftig den Gashahn zudrehen, ohne dass die lukrativen Lieferungen nach Westeuropa betroffen wären.«35

Die konkrete Hauptsorge gilt jedoch der Pipeline. Mit ihr könne die volle Nutzung der Umschlagmöglichkeiten der polnischen Häfen in Swinemünde und Stettin nicht mehr gewährleistet werden, so der Vorwurf. Dadurch werde der Zugang zu dem strategischen Energieversorgungsprojekt der EU, dem Flüssiggasterminal in Swinemünde, blockiert. Denn es gibt Einschränkungen, was den maximalen Tiefgang der Schiffe anbelangt, die den Hafen anlaufen. »Wir wollen, dass das Konsortium Nord Stream den Teil des Bauplans abändert, der den sicheren Zugang zum Hafen Swinemünde für die Schiffe mit dem maximalen Tiefgang von über fünfzehn Meter betrifft, erklären die Ratsmitglieder« von Swinemünde in einer gemeinsamen Mitteilung.36 Das ist mit der verlegten Pipeline jedoch nicht möglich.

Demnach würden Schiffe mit einem solchen Tiefgang die Pipeline beschädigen. Für Schiffe bis zu einem Tiefgang von 13,5 Metern gibt es hingegen kein Problem. Inzwischen klagt die polnische Hafengesellschaft Swinemünde gegen das Bundesamt für Seeschifffahrt und Hydrographie, das den Verlauf der Trasse auf dem deutschen Festlandsockel vor dem Swinemünder Hafen bereits genehmigt hat. Mit der Klage soll erreicht werden, dass die Pipeline in der Fahrrinne Swinemünde und im gegenüberliegenden schwedischen Hafen auf einer Länge von 2,8 Seemeilen im Meeresboden versenkt wird, damit künftig Schiffe mit einem Tiefgang von fünfzehn Metern den polnischen Hafen erreichen können.

Doch das wird, nachdem bereits das Erdgas durch die Pipeline fließt, nie und nimmer geschehen. Allen polnischen Protesten zum Trotz. Hier zählt nur das ganz große Projekt. Und da die Vertiefung der Hafenzufahrten sowieso nur möglichen zukünftigen Entwicklungen dient, muss man sich auch weiter keine Gedanken um die Entwicklung in dem Seehafen Swinemünde mehr machen. Die Tatsachen liegen unabänderlich unter der Ostsee begraben.

Demokratie und die nicht vorhandene Herrschaft des Gesetzes

Vom 9. bis 11. Oktober 2011 fand in Prag das mit internationalen Menschenrechtlern, Politikern und Wissenschaftlern hochkarätig besetzte »Forum 2000« statt. Thema in diesem Jahr: »Demokratie und die Herrschaft des Rechts«. Die Eröffnungsrede hielt Václav Havel, der ehemalige Präsident der Tschechischen Republik. Auf einer der zahlreichen Podiumsdiskussion ging es unter anderem um »Korruption und Gesellschaft«. Lapidar stellte dort der Straßburger Wirtschaftsprofessor Laurent Weill fest: »Russland ist Europas korruptester Staat und einer der korruptesten weltweit.«

Aber, wandte der russische Wirtschaftsexperte und Oppositionspolitiker Grigori Jawlinski auf dem Podium ein, so einfach dürften wir es uns nicht machen. Und damit spricht er die Komplizenschaft westlicher Regierungen, Banken und Konzerne an: »Warum wurde das System Putin überhaupt ermöglicht?«, fragte er. »Doch erst durch die massive Unterstützung der westlichen Welt, durch den Internationalen Währungsfonds (IWF), die Weltbank und durch die westlichen Regierungen. Wenn Sie Russland kritisieren, müssen Sie sehen, dass es ja ein Joint Venture mit den westlichen Banken gibt, die viel Geld mit der russischen Korruption verdienen. Oder mit den westlichen Unternehmen, die ebenfalls davon profitieren.«37

Grigori Jawlinski machte klar, dass »dieses hundertprozentige korrupte System in Russland« ein Teil des globalen Systems sei. »Die korrupten Eliten bei uns in Russland haben ihr Geld doch nicht in Banken von Nordkorea oder in der Vergangenheit bei Saddam Hussein gebunkert, sondern in den bekannten westlichen Metropolen.«38 Nach seinen Worten könnten 98 Prozent der russischen Nomenklatura sofort wegen Korruption angeklagt werden, wenn es so etwas wie die Herrschaft des Rechts in Russland geben würde. Und die, so übereinstimmend alle Podiumsteilnehmer, gebe es in Russland nicht. Russische Gesetze, das heißt immer noch, es wird nach Zarenart willkürlich Recht gesprochen. Wer den Zaren, in diesem Fall Wladimir Putin, nicht kritisiert, sondern ihn stützt, lebt unbehelligt. Er darf Steuern hinterziehen, betrügen, stehlen und morden.

Was nicht bedeutet, dass die kriminellen Taten vergessen würden. Sie sind fein säuberlich in den Tresoren des Inlandsgeheimdienstes FSB archiviert und dienen als ideales Erpressungsmaterial, sofern es dem Kreml nutzt. Doch wehe, der Zar im Kreml wird misstrauisch und sieht seine Position und die seines Hofstaates gefährdet. Dann werden die FSB-Archive geöffnet und das Gesetz auf einmal extensiv durchgesetzt. Von Rechtssicherheit kann keine Rede sein – es gilt ausschließlich das Recht des Stärkeren, das Recht, wie es dem Kreml passt.

Auf dem Panel zum Thema »Organisierte Kriminalität, Korruption und Politik« sprach Professor Yakov Gilinsky aus Sankt Petersburg. Er ist einer der wenigen, die versuchen, Einblicke in die herrschenden kriminellen Strukturen zu gewinnen. Der Vorsitzende des Instituts für Soziologie und abweichendes Verhalten an der russischen Akademie für Wissenschaften sowie Dekan der juristischen Fakultät der Sankt Petersburger internationalen Universität für Wirtschaft und Recht führte Mitte der neunziger Jahre eine kriminologische Studie über die Schwarzmarktwirtschaft und die organisierte Kriminalität in Sankt Petersburg durch. Er lebt in einem Hochhauskomplex am Rande von Sankt Petersburg in einer kleinen Dreizimmerwohnung. Sein Verdienst reicht gerade aus, um das Nötigste zu besorgen. Auslandsaufenthalte kann er nur dann finanzieren, wenn er eine Einladung bekommt.

Auf die Frage eines Teilnehmers auf dem Podium, wie Korruption in Russland heute aussehe, antwortete er: »Wir haben heute in Russland die totale Korruption. Bei Baumaßnamen liegt das Kick-back bei 35 Prozent, in der Wissenschaft ebenfalls. Besonders stark ist sie in der Polizei und Justiz ausgeprägt.« Und auf die Frage, was dagegen getan werden könne, was denn der Staat überhaupt tue, um Korruption zu bekämpfen, antwortete der Kriminologe wenig optimistisch: »Es tut mir leid, darauf kann ich keine Antwort geben.«39

Das sagte er im Jahr 2011. Wladimir Putin ist seit über zehn Jahren an der Macht.

Fünfzehn Jahre zuvor sah Yakov Gilinsky die Situation, zumindest auf Sankt Petersburg bezogen, fast ähnlich. Seine Aussage ist deshalb aufschlussreich, weil in jener Zeit, als er seine Studie über kriminelle Strukturen in Sankt Petersburg durchführte, Wladimir Putin bereits in entscheidender Position in der Sankt Petersburger Stadtverwaltung war, als stellvertretender Bürgermeister: »Von dem Moment an, wenn neue Handelsstrukturen beginnen, Profite zu erzielen, wecken sie das Interesse krimineller Organisationen. Von Geschäftsleuten wird versichert, dass einhundert Prozent der Handelsstrukturen von Schutzgeldzahlungen betroffen sind – sie kommen in allen Unternehmen mit Ausnahme der Militärindustrie und einigen ausländischen Firmen vor.«40

Seine für die Studie gewonnenen Interviewpartner beschrieben ihre Situation zusammengefasst folgendermaßen: »Man kommt ohne illegale Geschäfte nicht aus. Legale und illegale Methoden sind ineinander verzahnt.« Das bestätigten auch führende Polizeioffiziere gegenüber Yakov Gilinsky. »Die mittleren Geschäftsleute sind äußerst kriminalisiert … man muss für alles Bestechungsgelder zahlen … die Schulden müssen eingetrieben werden, indem man Gewalt anwendet … man kann keine Steuerprüfungen abwickeln, ohne Bestechungsgelder zu bezahlen … Mafiosi können unter den Vorstandsmitgliedern von Banken angetroffen werden.« Er listete auf, wie die Delikte aussehen, die von den Banditen in den Banken selbst verübt werden: »Bankbetrug, fiktive Transaktionen im Immobiliensektor, Autodiebstähle – und Wiederverkäufe, illegale Exporte von nicht eisenhaltigen Metallen, Schwarzmarkttransaktionen mit ›humanitärer Hilfe‹, Produktion und Schmuggel von schwarz produziertem Alkohol, Waffenhandel, Geldfälschung, Agenturen, die sexuelle Leistungen anbieten, Drogengeschäfte.«41 Fazit des Wissenschaftlers damals vor fünfzehn Jahren: »In Russland gibt es keine legale Wirtschaft mehr.« Und er fügte dann hinzu: »Wenn wir alle Verbrecher einsperren, bricht die Wirtschaft zusammen.«

Über fünfzehn Jahre sind vergangen, seit Wladimir Putin in Sankt Petersburg und dann in Russland herrschte. Nichts Prinzipielles hat sich seitdem verändert, abgesehen davon, dass viele der einstigen Banditen zu ehrenwerten Unternehmern, Politikern und Oligarchen mutierten.

Roberto Scarpinato, Oberstaatsanwalt aus Palermo, sieht die Situation nicht viel anders. In einem Vortrag in Karlsruhe sagte er im Jahr 2011: »Was Russland angeht, so ist bekannt, dass mafiöse kriminelle Vereinigungen, die aus dem KGB und dem sowjetischen Staatsapparat hervorgegangen sind, sich in den höchsten Positionen wirtschaftlicher und politischer Macht etabliert haben. Inzwischen wird allgemein anerkannt, dass der russische Kapitalismus mafiös ist – und zwar zu etwa sechzig bis siebzig Prozent.«42 Er hatte sich in der Vergangenheit übrigens mit Gazprom-Tochtergesellschaften und der sizilianischen Cosa Nostra beschäftigt. Tatsache ist, so Jelena Paniflowa, die Direktorin von Transparency International in Russland, »es gibt keine Insel der Integrität im öffentlichen und wirtschaftlichen Leben Russlands«.43

Hinzu kommt, dass Gazprom zugleich – laut Professor Jonathan Stern, Direktor am renommierten Institut für Energiestudien in Oxford – »für Wladimir Putin eine mächtige Melkkuh« sei.44 Gemolken werden in Wirklichkeit wir, die ahnungslosen Verbraucher in Europa, die in Zukunft immer höhere Energiepreise zahlen müssen. Und die russische Bevölkerung leidet. Die durchschnittliche Lebenserwartung liegt bei 66 Jahren, niedriger als in Papua-Neuguinea, Honduras und sogar im Irak. In Europa liegt sie bei 79 Jahren. Diese Lebenserwartung wird wahrscheinlich nicht jene Personen betreffen, die seit Putins Machtantritt zu Milliardären wurden. Ihre Zahl wird auf 62 geschätzt. Viele davon stehen in direkter Beziehung zu Wladimir Putin.45

Die Kluft zwischen Arm und Reich ist zwar auch in Westeuropa immer weiter auseinandergegangen. Aber in der Russischen Föderation sieht es folgendermaßen aus: »In dreizehn Regionen ist die Situation katastrophal: Hier leben dreißig Prozent der Bevölkerung in Armut. Zu den ärmsten Regionen zählt der autonome Distrikt Ust-Orda Buryat (125 000 Einwohner, d. Autor) mit einer Armutsrate von 72 Prozent, die Republik Kalmückien (290 000 Einwohner, d. Autor) mit 59 Prozent und der Oblast Ivanovo (knapp 410 000 Einwohner, d. Autor) mit 41 Prozent. Hingegen gelten als reiche Bezirke Sankt Petersburg mit einem Armutsanteil von 10,2 Prozent und Moskau mit immerhin noch 13,2 Prozent. Vergleichsweise niedrig ist die Armut in der autonomen Region Yamalo-Nenets mit 8,6 Prozent.«46 In dieser Region werden neunzig Prozent des russischen Naturgases gefördert.

Wegen der hohen Armutsrate in der Russischen Föderation stellte Nikolai Petrovich Popov, Wissenschaftler am ältesten und heute führenden unabhängigen »Forschungszentrum für öffentliche Meinung« (RPORC) in Moskau,47 der die Studie über Armut in Russland im Jahr 2008 verfasst hat, die Frage: »Ist Armut keine Kriminalität?«48

Dabei sollte doch seit 1999 unter Wladimir Putin und seinem Nachfolger Dmitri Medwedew nach den chaotischen Zeiten unter Boris Jelzin alles besser werden. Mit diesen Erklärungen gehen bis heute viele Politiker und Expolitiker in Deutschland hausieren. Viel wurde den Menschen in der Russischen Föderation versprochen, insbesondere der Kampf gegen Korruption und das organisierte Verbrechen.

Doch irgendwie zerplatzten alle vollmundigen Versprechungen Wladimir Putins. Für helle Empörung im Kreml wie im Moskauer Oberbürgermeisteramt von Juri Luschkow sorgte deshalb ein geheimer Bericht des US-Botschafters John R. Beyerle vom 12. Februar 2010. »Luschkow beherrscht ein System, in dem jeder auf jeder Ebene in Korruption oder kriminelles Verhalten eingebunden ist. Er ist ein loyales Gründungmitglied der Partei Einiges Russland und ein sicherer Lieferant von Stimmen. Luschkows Verbindungen in die Moskauer Geschäftswelt zu den großen und legalen wie den marginalen und korrupten Kräften hat ihm die Möglichkeit gegeben, Unterstützung zu verlangen, wenn er sie benötigt.«49

Und weiter: »Die direkten Verbindungen der Moskauer Stadtregierung zu Kriminellen zeigen, dass die Regierung mehr wie eine Kleptokratie arbeitet als eine Regierung.«50 Partnerstadt von Moskau ist übrigens Düsseldorf.

Die Analyse der US-Botschaft ist verheerend, selbst wenn man dem US-Botschafter Parteilichkeit unterstellt und fast das Gleiche in einer Studie der US-Sicherheitsorganisation Stratfor vom 3. Februar 2010 nachzulesen war.51 Hier wird lediglich bestätigt, was aus einer ganz anderen Sichtweise bereits ausführlich analysiert wurde, etwa von dem in jeder Beziehung unabhängigen Professor für Kriminalistik, Yakov Gilinsky.

Im September 2010 wurde Juri Luschkow von seinem Posten als Oberbürgermeister aufgrund eines Dekrets von Staatspräsident Medwedew entfernt. Aber nicht etwa, weil der Kreml die mafiosen Machenschaften des korrupten Juri Luschkow und seiner Komplizen beenden wollte. Nein, die offizielle Begründung war »Vertrauensverlust«. Sofort nachdem er sein Amt verlassen musste, hatten Oligarchen und Staatsunternehmen, die dem Kreml sehr nahestehen, systematisch Luschkows Imperium übernommen. Die Bank von Moskau zum Beispiel ging an die staatliche VTB Bank, die auch in Frankfurt am Main eine Filiale unterhält. Sie wird von russischen Bankenkritikern auch als das »schwarze Loch für Cash-Einlagen des Kreml gesehen, die versucht, das Gazprom des russischen Banksystems zu werden«.52 Im Aufsichtsrat der VTB Bank sitzt seit 2007 unter anderem Matthias Warnig53, ein enger Freund von Wladimir Putin. Er wird später im Zusammenhang mit Nord Stream und Stasikontakten wieder auftauchen.

Wie Milliarden verschoben werden

Auf den Kapverdischen und den Kanarischen Inseln waren im Sommer 2002 zwei Männer unterwegs, Jouri M. und Leonid Ch. Sie investierten Hunderte von Millionen Euro in Immobilien – das jedenfalls erzählten sie anderen Immobilienhändlern.

»Woher kommt das Geld?«, fragten die nach.

Die Antwort: »Machen Sie sich mal da keine Gedanken. Wir machen das für Gazprom, und über uns ist die schützende Hand von Wladimir Putin.«

Und dieses Prinzip hat bis heute Tradition: die schützende Hand. Ohne diese schützende Hand droht Investoren und Unternehmern in Russland die existentielle Vernichtung.

Lange Zeit war die deutschschweizerische Grenze in Richtung Zürich der Ort, wo Zollbeamte, wenn sie denn aufmerksam bestimmte Fahrzeuge kontrollierten, auf Männer mit russischen Unterlagen stießen. Im gepanzerten Mercedes kam am 20. Mai 2002 Wladislav L., der Inhaber einer Handelsagentur in Schweinfurt, von einem Trip aus Zürich nach Deutschland zurück. Mit im Auto saß Arsen Arslan Abakarow. Wladislav L. gab an, dass er hauptsächlich die Angestellten von Gazprom in Russland mit hochwertigen Autos beliefere, wofür er wohl auch die sechs Geschäftskonten in Riga benötigte. Dann fiel den Zollbeamten bei der Durchsuchung des Autos auf, dass er zwei Polaroidfotos bei sich hatte, auf denen er mit starken Gesichtsverletzungen und ausgeschlagenen Zähnen zu erkennen war.

»Das geht Sie nichts an«, erklärte er den Zöllnern.

Sein Begleiter Arslan Abakarow erzählte – zumindest übersetzte es Wladislav L. so –, dass er der »zweite Mann von Gazprom in Moskau« sei und Inhaber eines Unternehmens in Wien, der A & M Trading Handels GmbH. Neugierig geworden, suchten die Zöllner im Auto nach Dokumenten und stießen auf einen in Tapeten eingewickelten Briefumschlag, der zusätzlich noch in einer Plastikhülle steckte. Darauf stand: »Trident Corporate Services, Zürich«.

Es handelte sich um ein Schreiben der Firma Trident Trust samt mehrerer Dokumente, darunter eine Aktie im Wert von fünfzig Millionen US-Dollar. Der Mann, der von sich behauptete, eine wichtige Persönlichkeit bei Gazprom zu sein, verfügte außerdem über zahlreiche Bankverbindungen: von der Frankfurter Volksbank über die Erste Bank Wien, die UBS Zürich, die Taunus-Sparkasse Bad Homburg bis zur Banco de Andalucía war alles dabei, was Rang und Namen hat. Außerdem unterhielt er noch ein Bankkonto in Moskau, eines in Belize und ein weiteres in Riga. Zudem stellten die Zöllner fest, weil es aus dem ihnen vorliegenden Schriftverkehr hervorging, dass Arslan Abakarow und ein Alexander Sch. von Geschäften, die über Gazprom liefen, zwanzig Prozent Provision kassierten.

Das erklärte vielleicht die zahlreichen Bankverbindungen, aber nicht, warum der Fahrer und Dolmetscher aus Schweinfurt ganz offenkundig zusammengeschlagen worden war.

Als ich in Wien bei der in den Unterlagen angegebenen Firmennummer von Arslan Abakarow anrief, teilte man mir mit, dass er tatsächlich Repräsentant von Gazprom sei, und zwar in Dagestan. Aber unter der Wiener Firmenadresse selbst stieß ich auf einen russischen Journalisten, der nichts davon wusste, dass Abakarow diese Anschrift benutzte.

Weitaus geschickter operierte da Viktor Tschernomyrdin, der 1989 der erste Vorstandsvorsitzende von Gazprom wurde. Und wäre er nicht auf aufmerksame Zollbeamte gestoßen, wäre nicht bekannt geworden, wie er in der Schweiz Geld höchst fragwürdiger Herkunft deponierte.

Anfang Februar 2001, es ist kurz vor Mitternacht, und das Thermometer zeigt minus fünf Grad an. Im Zollamt Bietingen an der deutsch-schweizerischen Grenze kontrollieren die deutschen Zollbeamten nur stichprobenartig die wenigen Fahrzeuge, die aus der Schweiz kommen. Einem Beamten fällt ein Ford Mondeo mit tschechischem Kennzeichen auf.

»Woher kommen Sie?«, fragt der Zollbeamte den Fahrer.

»Aus Zürich, da war ich bei meinem Rechtsanwalt, um Geschäfte zu regeln.«

»Haben Sie etwas zu verzollen? Wie viel Bargeld haben Sie dabei?«, bohrt der Zollbeamte weiter.

»Nein, nichts«, war die Antwort.

Doch der Beamte ist misstrauisch. Das Misstrauen verstärkt sich noch, als ihm der in Slowenien geborene Geschäftsmann Peter K. freimütig erklärt, er sei in der Schweiz im Auftrag des Energiekonzerns Gazprom geschäftlich unterwegs gewesen. Und er erzählt, er würde regelmäßig nach München, Stuttgart, Düsseldorf und Berlin reisen.

Ein anderer Zollbeamter hätte ihn vielleicht jetzt weiterfahren lassen. Nicht so der erfahrene Zöllner, der sich im Fachbereich für organisierte Kriminalität und Geldwäsche weitergebildet hatte.

»Irgendwie stimmt da etwas nicht«, denkt er sich und lässt sich die drei Aktenkoffer öffnen, die auf dem Rücksitz des Ford Mondeo liegen.

In einem der Aktenordner findet er Passkopien von drei Unternehmern aus Moskau und einem Treuhänder aus Zürich. In einem weiteren Ordner findet er Unterlagen von Gazprom und von Peter K.s eigener Firma, der Laversdale Holding Limited mit Sitz auf den Bahamas, und eine Aufstellung über die gesamte Gazprom-Führungsstruktur. Der Beamte spricht ihn auf die Unterlagen von Gazprom an.

»Die Firma ist mein Leben«, antwortet er und fügt hinzu: »Ich habe gute Beziehungen zu höchsten Regierungskreisen in Russland, den USA, der Schweiz, Österreich, Belgien, Frankreich, Italien und Deutschland.«

Der Zöllner wird noch neugieriger, findet in den Unterlagen einen Schuldschein über hundert Millionen US-Dollar.

»Wegen dieser Papiere war ich beim Anwalt in Zürich.«

In der Schweiz genießt dieser Anwalt den Ruf, ein Tresor für jene reichen Russen zu sein, die ihr Geld gern in Immobilien investieren.

Als nächstes stößt der Zollbeamte auf Korrespondenz zwischen einem deutschen Unternehmer und einem Mann namens Viktor Stepanowitsch Tschernomyrdin beziehungsweise dessen Unternehmen United Gas Company sowie zwischen der bekannten Züricher Anwaltskanzlei und Viktor Tschernomyrdin. »Das scheint nun tatsächlich eine hochkarätige Angelegenheit zu werden«, denkt sich der Zöllner.

Viktor Tschernomyrdin war einst Minister für Erdöl- und Gaswirtschaft in der UdSSR, zwischen 1992 und 1998 unter Boris Jelzin sogar Ministerpräsident Russlands und von 1999 bis zum Juni 2000 Vorsitzender des Gazprom-Aufsichtsrats. Von 2001 bis 2009 diente er als russischer Botschafter in der Ukraine.

In seiner mehrseitigen ausführlichen Geldwäscheverdachtsanzeige vom 3. Februar 2001 an das Zollfahndungsamt Stuttgart schrieb der Zöllner aus Bietingen, nachdem er alle Akten kopiert und an das Zollfahndungsamt Stuttgart geschickt hatte: »Aus den gesamten mitgeführten Papieren ist nachvollziehbar, wie und wo die Geldtransfers von Angehörigen der Gazprom beziehungsweise deren Anwälten organisiert wurden beziehungsweise werden.« Auch sei aus dem Schriftverkehr mit den Züricher Anwälten auf Englisch beziehungsweise Russisch zu erkennen, wie die Transaktionen stattfinden. »Bei den aufgeführten Summen geht es meist um zweistellige Milliarden-US-Dollar-Beträge, die kleinsten Summen sind zweistellige US-Dollar-Millionenbeträge.« So weit die Auszüge aus der Geldwäscheverdachtsanzeige der Zollbeamten.

Geldtransfers in Höhe zweistelliger Milliardenbeträge in US-Dollar, belastende Korrespondenz des ehemaligen russischen Ministerpräsidenten und Gazprom-Aufsichtsratschefs wurden gefunden – und was geschah daraufhin mit den brisanten Dokumenten beim Landeskriminalamt in Stuttgart? Nichts. Mit Gazprom oder deren europäischen Repräsentanten legte man sich damals nicht gern an.

Viktor Tschernomyrdin liefert ein hervorragendes Beispiel dafür, was den Diebstahl von Staatseigentum angeht. Bekannt ist, dass er zum Beispiel in Österreich Scheinfirmen installierte, über die er einen Teil seines Vermögens bei Gazprom abgezweigt haben soll. Es soll sich um circa 600 Millionen Euro handeln. Vorgeworfen wurde ihm zudem, dass hohe Summen über Gazprom an ihn und an Firmen, die von seinen Kindern kontrolliert würden, geflossen seien. Die Rede ist von fünf Milliarden US-Dollar. Tschernomyrdin bestritt dies vehement, verwies auf seine offizielle Steuererklärung, wonach er für 1996 bescheidene 8 000 US-Dollar als Jahreseinkommen deklarierte. Für 1997 gab er dann eine Viertelmillion US-Dollar als Jahreseinkommen an.54

Da ist es kein Zufall, dass ein großer Teil der Bauvorhaben von Gazprom über die Stroitransgas realisiert werden, einer Firma, die vom Tschernomyrdin-Klan beherrscht wurde. Bereits 1998 erläuterte der Oppositionspolitiker Grigori Jawlinski in einem Spiegel-Interview die Gründe, warum er Viktor Tschernomyrdin, der in den neunziger Jahren beste Beziehungen zu deutschen Unternehmern und Politikern unterhielt, für gefährlich hielt: »Weil wir die Korruption sehen, die sich unter ihm ausgebreitet hat. Weil wir um die vielen politischen Morde wissen, die in seiner Regierungszeit geschehen sind. Er war und ist der Repräsentant dieses oligarchischen Systems. Er hat, wie die Russen sagen, einen Kapitalismus aufgebaut für einen eng beschränkten Kreis von Leuten.«55

2Die vielen Geheimnisse, die sich hinter Gazprom verstecken

Entstanden ist Gazprom als das Werk zweier befreundeter und sehr fähiger Gasexperten aus den Zeiten der UdSSR: Rem Wjachirew und Viktor Tschernomyrdin. Beide machten in der Sowjetzeit als Gasdirektoren Karriere. 1985 ernannte Michail Gorbatschow Tschernomyrdin zum Gas- und Industrieminister, dessen Stellvertreter wurde Rem Wjachirew. 1989, nach dem Ende der UdSSR, wurde das Gasministerium in ein Staatsunternehmen namens Gazprom umgewandelt, und 1992 wurde aus dem Staatsunternehmen eine private Aktiengesellschaft. Die alte Führung blieb bestehen, und Tschernomyrdin leitete auch den neuen Gazprom-Konzern.