Bɘnt10 - Fünf Tage im Leben des Benedict Mandelbaum - Rolf Piotrowski - E-Book

Bɘnt10 - Fünf Tage im Leben des Benedict Mandelbaum E-Book

Rolf Piotrowski

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Beschreibung

Ich stand auf und suchte im Regal die richtige Tasse für Bɘnt10. »Die Blaue?«, wollte ich wissen. »Nee, die ist für Milch«, ließ mich Bɘnt10 wissen. »Ich dachte, die weiße Tasse mit dem Marienkäfer ist für Milch?« »Ist sie ja auch, aber nur für kalte Milch!« »Und welche Tasse ist für Kakao?«, fragte ich ungeduldig. »Der gelbe Becher mit dem Mond drauf!« antwortete Bɘnt10, völlig befremdet ob meines Informationsdefizits. »Aber wenn du noch lange brauchst, wird es der rote Becher mit der kleinen gelben Raupe!« »Wieso das denn?«, fragte ich. »Weil der Kakao dann kalt ist und dann der rote Becher mit der gelben Raupe zuständig wird!« »Welche Tasse ist denn für fast kalten Kakao?«, fragte ich Bɘnt10. »Jetzt sei nicht albern und setz dich!« - Der 18jährige Sören und sein 10jähriger Bruder Benedict, genannt Bɘnt10, hüten gemeinsam das Elternhaus, während die Eltern in Dänemark weilen, um dort ein Ferienhaus zu erwerben. Das Zusammenleben der Brüder gestaltet sich zunächst schwierig. Denn Bɘnt ist vom Asperger-Syndrom betroffen, eine leichtere Form des Autismus. Er lebt zeitweise in seinem eigenen Kosmos und nur dort fühlt er sich sicher und wohl. Während dieser einen Woche kommt es zu etlichen Zwischenfällen und zu Problemen, die es zu bewältigen gilt. Es beginnt mit einem ruinierten Teppichoden im Wohnzimmer und endet mit dem Verlust eines Blinddarms. Die Brüder merken, dass sie sich gegenseitig brauchen. Mehr noch: Sie ergänzen sich und bilden letztlich ein unschlagbares Team. Ein Buch über das Anderssein, Bruderliebe und gegenseitige Wertschätzung.

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Rolf Piotrowski, geboren 1956, absolvierte ein Studium der Kognitiven Psychotherapie und begleitete als Heilpraktiker für Psychotherapie Menschen mit autistischen Auffälligkeiten und den daraus für die Betroffenen resultierenden Problemen.

Selbst vom Asperger-Syndrom betroffen, gelang ihm der empathische Zugang zu seinen Klienten und deren andersgearteten Denk- und Erlebniswelten.

Aus dieser Tätigkeit, und nicht zuletzt aus eigenen Erfahrungswerten, entstanden die „Bent-Romane“, die der Autor vorlegt.

„In meinen Bent-Romanen agiert der Protagonist Bent wie ich in dessen Alter. Sein Bruder Søren verkörpert den älteren Bruder, den ich leider nie hatte“.

www.rolf-piotrowski.net

Dank

Ich danke meiner Frau Anni für die vielen Jahre an meiner Seite und ihre verlässliche Begleitung auf meinem Weg durch meine „etwas andere“ Welt.

Rolf Piotrowski

Bnt10

Fünf Tage im Leben des Benedict Mandelbaum

Roman

Engelsdorfer VerlagLeipzig2019

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Copyright (2019) Engelsdorfer Verlag LeipzigAlle Rechte beim AutorHergestellt in Leipzig, Germany (EU)www.engelsdorfer-verlag.deE-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2019

Inhalt

Cover

Über den Autor

Titel

Impressum

Die Erfindung des Benedict Mandelbaum

Bents Anderssein

Montag: Eine Schiffermütze, ein Puzzle und ein Geburtstag

Dienstag: CPH SAS1012, Mafia-Torte und Chaos

Mittwoch: Bienenkotze, zwei Käfer und Ganesha

Donnerstag: Aksel Madsen, Bnt10 unterwegs und etwas Rundes

Freitag: Der Blinddarm, Olivia und Süßholz

Samstag: Count down, over and out

Die Erfindung des Benedict Mandelbaum

Vor zwei Jahren »erfand« ich einen zehnjährigen Jungen namens Benedict Mandelbaum, genannt Bent. Er sollte die Hauptrolle in meinem ersten Bent-Roman spielen. Ich wählte ganz gezielt die Form eines Romans, um interessierten Lesern einen Einblick in das Asperger-Syndrom zu ermöglichen, da ich der Meinung war, die Welt brauche nicht ein weiteres Buch über das Asperger-Syndrom. Fokus meiner Bent-Romane ist demnach nicht das Asperger-Syndrom, sondern ein Junge mit Asperger-Syndrom.

Schon während des Schreibens des ersten Bandes entwickelte sich Bent zu einem Romanhelden, der ungewöhnlich denkt, entscheidet und handelt. So kommt es in seinem Alltag – und dem seiner Mitmenschen – immer wieder zu unvorhergesehenen und durchaus überraschenden Ereignissen, die er aber auf seine ganz eigene Art zu meistern versteht. Dies mit Unterstützung seines acht Jahre älteren Bruders Søren. Aber nicht immer wird deutlich, wer wen unterstützt. Aber genau diese Eigenschaften machen Bent zu Bent. Zumeist brilliert Bent mit unerschütterlicher Logik, auf die Søren nicht nur einmal zurückgreift. So bildete sich ein ungleiches aber erfolgreiches brüderliches Team. Wichtig ist, dass die beiden Brüder zunehmend ihr zunächst distanziertes Verhältnis zueinander überwinden und lernen, ihr Anderssein zu akzeptieren und respektieren. Diese Entwicklung erweist sich für Bent und Søren gleichermaßen als wertvolle Bereicherung.

Ich wollte einen vom Asperger-Syndrom betroffenen Jungen darstellen, ohne, wie es bedauerlicherweise oft medienwirksam und überzogen geschieht, das Bild eines Freaks oder Nerds zu zeichnen. So ist Bent keine willkürliche Addition von Symptomen. Er ist wie er ist. Und wie er ist, ist er in Ordnung.

Bents Anderssein

Bent hat das Asperger-Syndrom. Das Asperger-Syndrom ist eine leichtere Form von Autismus. Deshalb wirkt er auf seine Mitmenschen oft sonderbar: ein Außenseiter, ein Einzelkämpfer, ein Eigenbrötler, der die Welt mit seinen eigenen Augen sieht und sich in ihr auf seine Art zurechtfinden möchte.

Er ist intelligent und kann gut logisch denken. Er hat aber Probleme, Kontakte herzustellen und aufrecht zu erhalten. Natürlich hat er auch Hobbys und Interessen, aber die teilt er nicht gerne mit anderen. So lebt er meistens in seiner eigenen Welt, in der er sich wirklich geborgen und zu Hause fühlt, denn in der Außenwelt ist es zu laut, zu hell und viel zu unordentlich für ihn. Bent erlebt seine Umwelt häufig als störend. Nur in seinem »Ich« kommt er zeitweise zur Ruhe und dort ist er für andere Menschen kaum erreichbar.

Er mag es nicht, wenn man ihn anfasst, und er braucht einen größeren räumlichen Abstand zu seinem Gegenüber. So wirkt er unnahbar und arrogant. Aber das ist er nicht.

Bent mag es, wenn alles seinen gewohnten Verlauf nimmt. Rituale geben ihm Sicherheit. Am liebsten wäre es ihm, wenn jeder Tag wie der andere verliefe, es jeden Tag um die gleiche Uhrzeit das Gleiche zu essen gäbe, er immer die gleichen Sachen anziehen könnte. Und er mag Dinge, die berechenbar sind: Dinge, die sich zählen, wiegen oder messen lassen. Dinge, die für ihn logisch sind. Und das sind nicht immer die Dinge, die für andere Menschen logisch sind. Und da Bent manchmal in seiner eigenen Sprache spricht, versteht man ihn auch nicht immer. So kommt es oft zu Missverständnissen.

Bent hat große Schwierigkeiten, sich in andere Menschen hineinzuversetzen. Er sieht beispielsweise, dass es seinem Gegenüber nicht gut geht, weiß aber oft nicht, was er tun soll oder was der andere von ihm erwartet. Da helfen »klare Ansagen« weiter.

Auch mit Sprichwörtern und Redewendungen kann Bent nicht viel anfangen. Er versteht nicht deren Sinn. So kann er sich keinen Reim darauf machen, dass sich Menschen »Hals über Kopf« verlieben oder was »zum Kuckuck« ein »heiliger Bimbam« sein soll. Deshalb wirkt er auf andere Menschen humorlos und manchmal sogar langweilig, was er aber beides nicht ist. Keinesfalls. Bent ist nur ein bisschen anders.

Und manchmal auch ein bisschen »sehr anders …«

Wie sein Erfinder.

Montag: Eine Schiffermütze, ein Puzzle und ein Geburtstag

Gleich zu Beginn der Sommerferien beauftragt zu werden, auf seinen kleinen Bruder aufzupassen, ist ganz sicher nicht der beste Start in den Sommer, den sich ein Achtzehnjähriger wünscht.

Mein kleiner Bruder, das ist Bnt10. Eigentlich heißt er Benedict, aber meine Eltern sind eingefleischte Dänemark-Fans. Darum nennen sie ihn Bnt10. Ich nannte ihn seit gestern Bnt10. Vorgestern hörte er noch auf Bnt9, vorausgesetzt, er hörte überhaupt. Mein Name ist Sören. Sören Mandelbaum.

Es war eine ruhige Geburtstagsfeier am Abend zuvor in Marcos Pizzeria im allerengsten Familienkreis, überschattet von den Reisevorbereitungen unserer Eltern und der Abneigung meines Bruders gegen Familienfeiern jeder Art, insbesondere, wenn sie ihm galten.

Zugegen waren Mom, Dad, Bnt10 und ich.

Bnt10 hatte sich über die braune Schirmmütze gefreut. So hofften wir. Eine solche Schiffermütze hatte er sich zumindest gewünscht. Warum, konnte sich niemand erklären, zumal Bnt10 keinerlei weitere Affinität zu maritimen Dingen erkennen ließ. Diese Kappe passte – nach Empfinden meines Bruders – aber zu dem blau-weiß gestreiftem Fischerhemd, das er zufällig an diesem Abend trug. Und das tat sie auch.

Ich drückte dem Geburtstagskind ein weißes T-Shirt mit dem roten Aufdruck Made in Danmark in die Hand. Ich hatte es wenige Tage zuvor in einem Internet-Versandhaus gesehen und bestellt. 24 Stunden später war es eingetroffen. »Das passt dir!«, versprach ich meinem Bruder.

Aber unseren Eltern schien es nicht zu passen. Sie schauten sich erst sprachlos an und starrten letztlich zur Restaurantdecke. Da wurde mir klar, wie nah ich der Wahrheit mit dem Hinweis Made in Danmark im Hinblick auf die Schöpfung meines Bruders gekommen war.

»Bnt10 wurde in …« Weiter kam ich nicht.

»Ihr habt mich im Dänenland …« Weiter kam Bnt10 nicht.

»Hat jemand Lust auf Tiramisu?«, unterbrach Mom.

Es hatte niemand Lust auf Tiramisu.

Nachdem Bnt10 seine Pizza Inferno zu Ende gegessen hatte, mit der neuen Schiffermütze auf seinem blonden Schopf, packte er das Geschenk von Tante Marion aus, das diese bei Mom zur Überreichung an diesem Abend hinterlegt hatte.

Mein Bruder riss das wenig geschlechts- und altersentsprechende Geschenkpapier vom Karton. Knallbunte Luftballons auf himmelblauem Hintergrund. Wie schrecklich!

»Was soll das denn?«, fragte er ungläubig. Diese Frage galt weniger dem Geschenkpapier als dem, was sich darunter verbarg. »Ein Puzzle?«

»Ja, eintausend Teile!«, sagte Mom, auf das Präsent ihrer Schwester deutend. »City of London!«

Es ist schwierig, Emotionen vom Gesicht meines Bruders abzulesen. Aber wenn sie so massiv auftreten, wie sie sich bei der Betrachtung des eintausendteiligen Premium-Puzzles bei ihm einstellten, schafft man es. Ich las: Ernüchterung und Enttäuschung in Symbiose mit Befremden und grenzenlosem Unverständnis.

Mit dem Wort »Unsinn!« fasste er seine Gefühle in der für ihn typischen kompakten Art und Weise zu zusammen.

»Das schaffst du!«, meinte Mom.

»Klar!«, sagte Dad. »1000 Teile sind ein Klacks!«

Mein Bruder hatte keine Bedenken, sich dem Puzzle zu stellen. Er hatte keine Lust, es überhaupt zu versuchen. Er fand es sinnlos.

»In der Puzzle-Fabrik stanzt man ein Stück Karton kaputt, Tante Marion kauft dieser Firma die Schnipsel ab – und ich soll das Bild wieder zusammensetzen?«

»Aber nein …«, begann Mom.

»Aber ja!«, unterbrach ich. »So ist es doch.«

»Na ja …«, lenkte Mom ein.

»Quatsch!«, sagte Bnt10. »Pille-Palle!«

»Korrekt!«, unterstützte ich ihn brüderlich.

Genauso gut hätte man Bnt10 auffordern können, seinen leeren Pizzateller auf den Fliesenboden in Marcos Pizzeria zu werfen, um im Anschluss daran dessen Einzelteile mit Porzellankleber wieder zusammenzufügen.

So empfand ich es. Und so empfand es mein Bruder wahrscheinlich auch. Das Geburtstagsessen endete um fünfunddreißig Minuten hinter acht Uhr nachmittags, nach Bnt10-Uhrzeit.

Dienstag: CPH SAS1012, Mafia-Torte und Chaos

Am nächsten Morgen fuhren wir mit unseren Eltern zum Flughafen. Es war für Dad die erste Fahrt in seinem nagelneuen Auto. Ich sollte das Privileg und damit verbunden das Vergnügen haben, das Gefährt sicher zurück nach Hause in die Garage zu fahren.

Ich konnte es kaum erwarten, denn ich hatte zwar schon einen Führerschein, aber noch kein eigenes Auto.

»Ihr werdet diese eine Woche doch sicher alleine klarkommen?«, stellte unsere Mom eine ihrer beliebten Suggestivfragen, während Dad sich eher um seinen fabrikneuen BMW sorgte statt um das Wohlergehen seiner Nachkommen.

»Du bringst den Wagen heil nach Hause in die Garage. Ohne Umwege. Und da bleibt er auch stehen, bis wir wiederkommen.« Mit einer filmreifen Geste ließ Dad die Autoschlüssel in meine rechte ausgestreckte Handfläche fallen. Das Klimpern klang gut.

»Nachdem ich das Auto nach Hause gebracht habe, werde ich es keinen einzigen Millimeter bewegen«, versprach ich.

»Ich vertraue dir«, sagte Dad und sah mich in einer Art und Weise an, die Zweifel an der Aufrichtigkeit seiner Aussage zuließen.

»Wir müssen los!«, drängelte Mom. »Passt gut auf euch auf! Der Kühlschrank ist voll! Wir bleiben allerhöchstens eine Woche. Ihr könnt ja auch mal was gemeinsam kochen …«

»Schon klar!«, sagte ich.

»Aber der Kühlschrank ist randvoll!«, wiederholte Mom.

»Oder ihr geht zu Marco!«, lautete Dads Alternative.

Mit diesen Empfehlungen entschwanden unsere Eltern zum Check-in-Schalter, um ihr Reisegepäck aufzugeben, ihre Identitäten feststellen zu lassen und ihre Flugscheine vorzuzeigen.

Mag ein atomarer Sprengsatz auf unser Reihenhaus niedergehen oder ein Blitzeinschlag das Haus zertrümmern. Beides wäre unangenehm. Aber: Der Kühlschrank ist voll. Und Marco hat gute Pizzen.

»Was ist der Unterschied zwischen höchstens und allerhöchstens?«, fragte Bnt10.

»Es gibt keinen«, antwortete ich.

»Ach so …«, brummte Bnt10.

Mom und Dad winkten uns zu. Dann hatten sie sich unserem Sichtfeld entzogen.

Dad hatte mich schon mit seinem alten Auto fahren lassen. Auf dem Parkplatz eines Supermarkts. Zwei Mal. Sonntags. Immer im Kreis. Dad saß auf dem Beifahrersitz. Es waren für mich keine entspannten Fahrten, die auch kaum meiner Vorbereitung auf den Straßenverkehr dienten. Dennoch hatte ich wenig später meine Führerscheinprüfung bestanden. Zu diesem Zeitpunkt war das wirklich schrottreife Altfahrzeug meines Dads bereits entsorgt. Ich lege Wert auf die Feststellung, dass das Auto schon schrottreif war, bevor ich in ihm meine Runden gedreht hatte. Sein Nachfolger stand jetzt im Parkhaus des Flughafens. Sein Kilometerstand: 000056.

»Alles klar?«, frage ich meinen Bruder, der sich in dem Gedränge des Abflugterminals sichtlich unbehaglich fühlte.

»Geht schon!«, antwortete er. »Willst du das Flugzeug abfliegen sehen?«

»Willst du denn?«, stellte ich die Gegenfrage.

»Na ja …«, brummte Bnt10.

»Die Maschine startet erst in 90 Minuten!«, gab ich zu bedenken.

»Okay, dann ja!«, entschied mein Bruder. Er blickte auf seine Armbanduhr. »Es sind noch 92 Minuten!«

Ich hatte eine gegenteilige Antwort erwartet, denn Bnt10 wartet nicht gerne und langweilt sich zudem sehr schnell. Obendrein hatte ich den Eindruck, als würde die Menschenansammlung im Abflugterminal minütlich dichter.

»Wo kommen nur die ganzen Menschen her?«, fragte ich vor mich hin, während ich uns einen Weg durch etliche Menschentrauben bahnte. »Da hinten ist es nicht ganz so schlimm«, versprach ich.

»Von zu Hause und aus Flugzeugen«, antwortete Bnt10 und folgte mir. Rhetorische Fragen gibt es für meinen Bruder nicht.

Ich sah mich um, ob Bnt10 noch hinter mir ging. Es kann vorkommen, dass seine Aufmerksamkeit durch irgendetwas gefangen genommen wird und er das Objekt seines Interesses ansteuert, ohne sich abzumelden. Die Gefahr, dass wir uns in diesem Getümmel aus den Augen verlieren konnten, war groß.

Aber mein Bruder hing an meinen Fersen, und wir erreichten zeitgleich einen kleinen Platz in der Hallenmitte, der weniger frequentiert wurde. Warum auch immer.

Wie überbrückt man in einem Flughafen anderthalb Stunden? Zunächst war Bnt10 von der großen Anzeigetafel fasziniert, auf der die Ankünfte und Abflüge der nächsten Flugzeuge bekannt gegeben wurden. Das leise Rattern beim Umschlagen der einzelnen Buchstaben und Zahlen fand er faszinierend. Er hat zuhause einen Wecker, auf dem die Zeitanzeige auf gleiche Weise wechselt. Ich glaube, so etwas nennt man Klappzahlenmechanismus. Ein Relikt aus den 60er oder 70er Jahren. Manchmal verfolgt er diesen Vorgang auf seinem Radiowecker minutenlang. Manchmal auch stundenlang.

»Der Flieger steht jetzt drauf!«, sagte mir Bnt10.

»Wo?«, fragte ich ihn, während ich die Tafel nach Hinweisen dafür absuchte.

»Als vorletzter Flug«, antwortete er. »CPH, SAS1012.«

»Was ist CPH?«

»Kopenhagen!« erklärte mein Bruder. »Auf Englisch. Flugenglisch!«

»Und SAS?«

»Scandinavian Airlines! Dahinter steht die Flugnummer.«

»Und wofür steht das zweite S?«

»System! Aber das hat man wegfallen lassen!«

Ich war beeindruckt.

»Die Flugdauer beträgt etwa achtzig Minuten. Für 623 Kilometer!«, informierte mich Bnt. »Luftlinie natürlich!«

»Natürlich«, sagte ich.

Wirkte er Minuten zuvor nervös und unsicher, wurde er jetzt zunehmend ruhiger. Sein Blick wich nicht von der Anzeigetafel. Ich war weit weniger von ihr fasziniert. Nach zwanzig Minuten versuchte ich, meinen Bruder durch eine Einladung zu einem Becher Coca-Cola in einem benachbarten Bistro von der Anzeigetafel zu lösen. Es gelang mir mühelos, dank der hohen Anziehungskraft der braunen Prickelbrause auf ihn.

Wir saßen uns an einem kleinen Zweiertisch gegenüber und hielten unsere Pappbecher voll Cola umklammert. Ich fragte mich, wie mein Bruder die knapp über dem Gefrierpunkt temperierte Cola trinken konnte. »Tut gut«, sagte er und nahm einen weiteren tiefen Schluck.

Ich nippte zaghaft an meinem Becher. »Nicht schlecht«, meinte ich. »Kalt!«

»Stell dir vor, wir fliegen in einem Raumschiff«, begann Bnt10 unvermittelt. »Immer weiter und weiter und weiter. Wo kommen wir dann hin?«

»Kommt darauf an, wie lange der Treibstoff reicht«, antwortete ich.

»Stell dir vor, er würde nie weniger!«

»Aber er würde weniger!«

»Stell dir vor, er würde nie, nie, nie weniger! Wir könnten immer weiterfliegen. Solange und so weit wir wollten!«

Ich ließ mich darauf ein, war aber mit der Fantasie meines Bruders überfordert. Wie so oft. »Keine Ahnung«, gab ich zu und war gleichzeitig von dem Gedankengang fasziniert. Aber ich brauchte Zeit, mir so etwas vorzustellen.

Bnt10 nicht.

»Wenn wir alle Planeten hinter uns gelassen haben, unser Sonnensystem hinter uns liegt. Was kommt dann?«, wollte er wissen.

»Es hört nicht auf!«, entschied ich.

»Es hört nicht auf?«, fragte Bnt10. »Hmm …«

»Das Weltall ist unendlich! Es geht immer weiter!«, behauptete ich.

»Wie weit?«, hakte mein Bruder nach.

»Unendlich eben. Ohne Ende«, gab ich als Antwort, obschon ich es mir selbst nicht vorstellen konnte. »Endlos eben.«

Mein Bruder guckte in seine Cola und dachte fieberhaft nach. Mit meiner These wollte er aber noch nicht konform gehen. Zumindest befriedigte sie ihn nicht. »Na ja«, meinte er nur.

Mein Bruder hatte mich ins Grübeln gebracht. »Vielleicht kommt irgendwann eine Mauer«, schlug ich vor und fand diese Möglichkeit schon absurd, bevor ich sie ausgesprochen hatte.

»Und was kommt hinter der Mauer?«

1: 0 für Bnt10.

Ich hatte einen weiteren Vorschlag: »Wir können uns Unendlichkeit einfach nicht vorstellen, weil alles, was wir kennen, einen Anfang und ein Ende hat.« Um mich nicht allzu sehr festzulegen, schob ich noch ein optionales »Oder so …« hinterher.

»Unendlichkeit haben Menschen nicht auf der Festplatte!«, resümierte mein Bruder.

Ich hätte es nicht treffender formulieren können.

Bnt10 wechselte das Thema: »Kann ich dein Würfeleis haben?«

Logisch: Würfeleis bedeutet Eiswürfel. Die Richtigstellung lief automatisiert in mir ab.

Zwischenzeitlich hatte ich meine Cola leer getrunken. Mein Bruder noch nicht. Ich ließ meine Eiswürfel in Bnt10s Becher plumpsen. »Cola schmeckt nur kalt«, stellte er klar.