Bɘnt11 - Benedict Mandelbaum im Dänenland - Rolf Piotrowski - E-Book

Bɘnt11 - Benedict Mandelbaum im Dänenland E-Book

Rolf Piotrowski

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Beschreibung

Meine Armbanduhr zeigte fünfzehn Minuten hinter fünf Uhr, nachmittags, nach Bɘnt-Zeit. Über dem dänischen Küstenstädtchen schien die Nachmittagssonne, aber es war nicht sommerlich warm. Für Mitte August eher kühl. Zudem wehte ein kühler Wind. Etwa zweihundert Meter von unserer Holzbank entfernt, begann der schmale Sandstrand, dahinter die Ostsee. Die vermutlich sehr kalte Ostsee. Wir hatten ihr noch keinen Besuch abgestattet. Wann auch? Wir waren gerade erst in Broager angekommen. »Hunger!«, brachte Bɘnt11 seine aktuelle Befindlichkeit auf den Punkt. Vor zwei Wochen hatte mein Bruder Geburtstag, Aus Bɘnt10 war Bɘnt11 geworden. »Wie heißt das, was ich habe?«, fragte Bɘnt11. »Kohldampf!«, gab ich zurück. »Nee, ich meine das Asberg-Ding!« »Asperger-Syndrom, mit p. »Seit wann?« »Schon immer.« »Aha! Hunger!« - Der 19jährige Sören und sein vom Asperger-Syndrom betroffener 11jähriger Bruder Benedict, genannt Bɘnt, verbringen eine Urlaubswoche im elterlichen Ferienhaus im Küstenort Broager in Dänemark. Ohne Eltern. Bɘnt verlässt zunehmend seine eigene Welt und die Brüder finden immer mehr zusammen. Es wird eine mitunter turbulente Woche in Broager, während der die Brüder ein Menschenleben retten. Vermutlich sogar zwei. Was im Vorjahr begann, entwickelt sich weiter: Die Brüder lassen sich »in die Karten gucken« und lernen die Wahrnehmung des anderen schätzen und davon zu profitieren.

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Rolf Piotrowski, geboren 1956, absolvierte ein Studium der Kognitiven Psychotherapie und begleitete als Heilpraktiker für Psychotherapie Menschen mit autistischen Auffälligkeiten und den daraus für die Betroffenen resultierenden Problemen.

Selbst vom Asperger-Syndrom betroffen, gelang ihm der empathische Zugang zu seinen Klienten und deren andersgearteten Denk- und Erlebniswelten.

Aus dieser Tätigkeit, und nicht zuletzt aus eigenen Erfahrungswerten, entstanden die »Bent-Romane«, die der Autor vorlegt.

»In meinen Bent-Romanen agiert der Protagonist Bent wie ich in dessen Alter. Sein Bruder Søren verkörpert den älteren Bruder, den ich leider nie hatte«.

www.rolf-piotrowski.net

Dank

Ich danke meiner Frau Anni für die vielen Jahre an meiner Seite und ihre verlässliche Begleitung auf meinem Weg durch meine »etwas andere« Welt.

Rolf Piotrowski

Bnt11

Benedict Mandelbaum im Dänenland

Roman

Engelsdorfer VerlagLeipzig2019

Bibliografische Information durch die DeutscheNationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Copyright (2019) Engelsdorfer Verlag LeipzigAlle Rechte beim AutorHergestellt in Leipzig, Germany (EU)www.engelsdorfer-verlag.deE-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2019

Inhalt

Cover

Über den Autor

Titel

Impressum

Die Erfindung des Benedict Mandelbaum

Bnts Anderssein

Montag: Alt+155, Gule ærter und ein blauer Zeh

Dienstag: Osmathus, Freya und der rote Riese

Mittwoch: Frau Ohlsen, Melanie und der Godkøbe

Donnerstag: Francesca und 5556

Freitag: Ein roter Volvo V50 Kombi, ein Sondereinsatz und ein neuer Mensch

Samstag: ein Paar Klinik-Clogs, Zimmer 311, das Treffen

Die Erfindung des Benedict Mandelbaum

Vor zwei Jahren »erfand« ich einen zehnjährigen Jungen namens Benedict Mandelbaum, genannt Bnt. Er sollte die Hauptrolle in meinem ersten Bnt-Roman spielen. Ich wählte ganz gezielt die Form eines Romans, um interessierten Lesern einen Einblick in das Asperger-Syndrom zu ermöglichen, da ich der Meinung war, die Welt brauche nicht ein weiteres Buch über das Asperger-Syndrom. Fokus meiner Bnt-Romane ist demnach nicht das Asperger-Syndrom, sondern ein Junge mit Asperger-Syndrom.

Schon während des Schreibens des ersten Bandes entwickelte sich Bnt zu einem Romanhelden, der ungewöhnlich denkt, entscheidet und handelt. So kommt es in seinem Alltag – und dem seiner Mitmenschen – immer wieder zu unvorhergesehenen und durchaus überraschenden Ereignissen, die er aber auf seine ganz eigene Art zu meistern versteht. Dies mit Unterstützung seines acht Jahre älteren Bruders Søren. Aber nicht immer wird deutlich, wer wen unterstützt. Aber genau diese Eigenschaften machen Bnt zu Bnt. Zumeist brilliert Bnt mit unerschütterlicher Logik, auf die Søren nicht nur einmal zurückgreift. So bildete sich ein ungleiches aber erfolgreiches brüderliches Team. Wichtig ist, dass die beiden Brüder zunehmend ihr zunächst distanziertes Verhältnis zueinander überwinden und lernen, ihr Anderssein zu akzeptieren und respektieren. Diese Entwicklung erweist sich für Bnt und Søren gleichermaßen als wertvolle Bereicherung.

Ich wollte einen vom Asperger-Syndrom betroffenen Jungen darstellen, ohne, wie es bedauerlicherweise oft medienwirksam und überzogen geschieht, das Bild eines Freaks oder Nerds zu zeichnen. So ist Bnt keine willkürliche Addition von Symptomen. Er ist wie er ist. Und wie er ist, ist er in Ordnung.

Bnts Anderssein

Bnt hat das Asperger-Syndrom. Das Asperger-Syndrom ist eine leichtere Form von Autismus. Deshalb wirkt er auf seine Mitmenschen oft sonderbar: ein Außenseiter, ein Einzelkämpfer, ein Eigenbrötler, der die Welt mit seinen eigenen Augen sieht und sich in ihr auf seine Art zurechtfinden möchte.

Er ist intelligent und kann gut logisch denken. Er hat aber Probleme, Kontakte herzustellen und aufrecht zu erhalten. Natürlich hat er auch Hobbys und Interessen, aber die teilt er nicht gerne mit anderen. So lebt er meistens in seiner eigenen Welt, in der er sich wirklich geborgen und zu Hause fühlt, denn in der Außenwelt ist es zu laut, zu hell und viel zu unordentlich für ihn. Bnt erlebt seine Umwelt häufig als störend. Nur in seinem »Ich« kommt er zeitweise zur Ruhe und dort ist er für andere Menschen kaum erreichbar.

Er mag es nicht, wenn man ihn anfasst, und er braucht einen größeren räumlichen Abstand zu seinem Gegenüber. So wirkt er unnahbar und arrogant. Aber das ist er nicht.

Bnt mag es, wenn alles seinen gewohnten Verlauf nimmt. Rituale geben ihm Sicherheit. Am liebsten wäre es ihm, wenn jeder Tag wie der andere verliefe, es jeden Tag um die gleiche Uhrzeit das Gleiche zu essen gäbe, er immer die gleichen Sachen anziehen könnte. Und er mag Dinge, die berechenbar sind: Dinge, die sich zählen, wiegen oder messen lassen. Dinge, die für ihn logisch sind. Und das sind nicht immer die Dinge, die für andere Menschen logisch sind. Und da Bnt manchmal in seiner eigenen Sprache spricht, versteht man ihn auch nicht immer. So kommt es oft zu Missverständnissen.

Bnt hat große Schwierigkeiten, sich in andere Menschen hineinzuversetzen. Er sieht beispielsweise, dass es seinem Gegenüber nicht gut geht, weiß aber oft nicht, was er tun soll oder was der andere von ihm erwartet. Da helfen »klare Ansagen« weiter.

Auch mit Sprichwörtern und Redewendungen kann Bnt nicht viel anfangen. Er versteht nicht deren Sinn. So kann er sich keinen Reim darauf machen, dass sich Menschen »Hals über Kopf« verlieben oder was »zum Kuckuck« ein »heiliger Bimbam« sein soll. Deshalb wirkt er auf andere Menschen humorlos und manchmal sogar langweilig, was er aber beides nicht ist. Keinesfalls. Bnt ist nur ein bisschen anders.

Und manchmal auch ein bisschen »sehr anders …«

Wie sein Erfinder.

Montag: Alt+155, Gule ærter und ein blauer Zeh

»Alt-Taste gedrückt und die Zahl 155 tippen«, sagte mein Bruder unvermittelt.

Seit einer Stunde tippte er auf seinem Laptop herum, das er auf seinen Oberschenkeln balancierte. Wir saßen Seite an Seite auf einer verwitterten Holzbank im zaunfreien Vorgarten des Ferienhauses unserer Eltern und genossen die Seeluft, die von der Vemmingbundbucht zu uns herüberwehte. Ähnliche Holzhäuser befanden sich in Abständen von jeweils mindestens dreihundert Metern von unserem. Ich sah kurz von meinem Dänemark-Reiseführer hoch in den blauen Himmel über Broager.

Ich hatte nicht ernsthaft erwartet und auch nicht in Betracht gezogen, mich zu irgendeinem Zeitpunkt meines Lebens an der Vemmingbundbucht, genauer gesagt in Dänemark, noch genauer gesagt in Broager, wiederzufinden.

Unsere Familienurlaube während der vergangenen Jahre fanden ausnahmslos in Dänemark statt. Allerdings nicht in Broager. An meinem sechzehnten Geburtstag wurde es mir freigestellt, an diesen Dänenland-Reisen teilzunehmen, was ich fortan auch nicht mehr tat.

Aber was soll’s? Es war eine »Besser-als-nichts-Entscheidung«. Wenigstens eine Woche der Sommerferien außerhalb des Wohnortes verbringen! Meinetwegen auch in Broager. Mit meinem elfjährigen Bruder Benedict.

»Dann bekommt man ein kleines o mit einem Querstrich von oben rechts nach unten links durch das o«, sagte mein Bruder.

Bnt11 neigt dazu, lange Pausen zwischen seinen Sätzen zu machen. Das macht es mir nicht immer leicht, ihm zu folgen. Aber diesmal war mir klar: Es ging um das ö in meinem Vornamen.

»Aha!«, sagte ich. »Und was mache ich damit?«

»Deinen Namen schreiben. Sören schreibt man nämlich nicht mit einem ö, sondern mit einem o und einem Querstrich von oben rechts nach unten links mitten durch das o«, erklärte mir Bnt11.

Er glaubte, eine neunzehn Jahre zurückliegende Nachlässigkeit des für die Beurkundung meiner Geburt zuständigen Standesbeamten aufgedeckt zu haben. »Man kann den Strich natürlich auch von unten links nach oben rechts durch das o machen!«

»Aha!«, fiel mir dazu nur ein.

»Ein großes O mit einem Strich durch macht man mit Alt-Taste und 157. Aber das brauchst Du ja nicht.«

»In Deutschland schreibt man Sören mit ö«, antwortete ich.

»Der Standesmann kannte den Trick nicht!«, mutmaßte Bnt11.

»Welchen Trick?« Ich sah von meinem Buch hoch.

»Alt-Taste festhalten und die Zahl 155 tippen«, sagte mein Bruder.

Ich klappte meinen Reiseführer zu und sah auf dem Umschlag den Namen des Verfassers: Søren Poulsen.

Meine On-Off-Beziehung zu Nadine hatte sich vor sieben Monaten in einen stabilen Off-Modus eingependelt.

Vor zwei Monaten hatte es noch einmal eine zweiwöchige On-Phase gegeben, während der wir unseren ersten gemeinsamen Urlaub an der deutschen Nordseeküste planten. Nadine wollte nach Sankt Peter-Ording. Also gut. Aber noch bevor wir die Reise detailliert planen konnten, raste unser Beziehungsbarometer wieder in den Keller. Ganz unten. Null. Wegen einer Nichtigkeit. Wie immer. Das war an meinem neunzehnten Geburtstag.

Warum also nicht mal nach Broager? Es war der erste Aufenthalt für Bnt11 und mich im Ferienhaus unserer Eltern. Ein Ferienhäuschen. Im Erdgeschoss der Holzhütte gab es eine Wohnküche, eine Sitzecke und das Badezimmer. Auf der ersten Etage, unter den Dachschrägen, befanden sich zwei Schlafzimmer. Die meisten Möbel hatten unsere Eltern von den Vorbesitzern übernommen, wie auch die meisten der übrigen Einrichtungsgegenstände. Neu waren der große Fernseher und die Satellitenanlage auf dem Dach. Beides hatte Dad dankenswerterweise als erste Neuanschaffung für das Ferienhaus gewählt.

Ich hörte meinen Bruder unentwegt auf die Tastatur seines Laptops tippen.

»Du bist im Internet unterwegs?«, fragte ich interessiert.

»Klar, warum denn nicht?«

»Wir sind im Dänenland!«, informierte ich Bnt11 zugegebenermaßen völlig überflüssig. Dänenland ist ein Zugeständnis meinerseits an meinen Bruder. Für ihn ist ein Land, in dem Dänenmenschen leben, eben Dänenland.

»Hat Dad so eingerichtet!«, erklärte Bnt11. »Sogar Flatrate!«

»Aha!«, staunte ich. Ich wusste nichts davon, fand aber Dads weitsichtige Entscheidung durchaus begrüßenswert. Ein noch weitsichtigerer Entschluss unseres Dads bestand in der Überlassung seiner Kreditkarte. Er hatte sie mir mit den Worten: »Logisch, dass Du damit keinen Unsinn machst« zu Hause überreicht. »Prima!«, hatte ich geantwortet, obschon ich seinen anwaltstypischen Suggestivversuch durchschaute. Mit Dad allein zu Hause im Wohnzimmer, flüsterte er mir hinter vorgehaltener Hand die vierstellige Geheimzahl zu: »Pssst. 5556«. Dann drückte er mir noch zweitausend dänische Kronen in Scheinen in die Hand, etwa zweihundertfünfzig Euro. »In Broager gibt es eine Filiale der Sydbank mit einem Geldautomaten. Für alle Fälle.«

Ich fühle mich beruhigt.

Vor drei Monaten hatten sich meine Eltern entschieden, den Teppichboden im heimischen Wohnzimmer gegen ein Echtholzparkett zu tauschen. Mom war davon so begeistert, dass sie der ersten Etage unseres Hauses die gleiche Veränderung angedeihen lassen wollte. Von dieser Maßnahme waren das Elternschlafzimmer, Bnt11s und mein Zimmer betroffen sowie der Flur zu diesen drei Räumen. Zwei Tage vor Beginn der Renovierungsarbeiten sollten Bnt11 und ich nach Dänemark ausgelagert werden. Dad sollte uns an einem Montag nach Broager fahren und am Samstag der gleichen Woche wieder dort abholen. Wir sollten outgesourct werden. Sozusagen.

Unsere Habseligkeiten hatten wir in Kisten und Kartons verstaut. Von uns aus konnte es losgehen. Beides: unser Männerurlaub in Broager und der Austausch der Bodenbeläge. Und zwar in dieser Reihenfolge.

»Wenn ihr wiederkommt, ist alles fertig!«, hatte Mom zum Abschied zu uns gesagt. »Echtholzparkett! Eiche hell!«

»Wann machst du, Abitur?«, wollte Bnt11 jetzt wissen.

Plötzliche Themenwechsel stehen bei Bnt11 an der Tagesordnung.

»Nächstes Jahr«, antwortete ich. »Vielleicht …«

»Aha«, sagte mein Bruder. »Nur vielleicht. Okay! Ich könnte etwas essen!«

Meine Armbanduhr zeigte fünfzehn Minuten hinter fünf Uhr nachmittags, nach Bnt-Zeit. Über dem dänischen Küstenstädtchen schien die Nachmittagssonne, aber es war nicht sommerlich warm. Für Mitte August eher kühl. Allerhöchstens achtzehn Grad. Zudem wehte ein kühler Wind. Etwa zweihundert Meter von unserer Holzbank entfernt begann der schmale Sandstrand, dahinter die Ostsee. Die vermutlich sehr kalte Ostsee. Wir hatten ihr noch keinen Besuch abgestattet. Wann auch?

»Hunger!«, brachte Bnt11 seine aktuelle Befindlichkeit auf den Punkt.

Vor zwei Wochen hatte mein Bruder Geburtstag. Aus Bnt10 war Bnt11 geworden.

»Wie heißt das, was ich habe?«, fragte Bnt11.

»Kohldampf!«, gab ich zurück.

»Nee, ich meine das Asberg-Ding!«

»Asperger-Syndrom, mit p.«

»Seit wann?«

»Schon immer.«

»Aha!« Und schon tippte er wieder drauf los.

Nach siebenstündiger Autofahrt hatten wir Broager vor zwei Stunden erreicht. Dad hatte mich keinen einzigen Kilometer fahren lassen. Ich hatte immer noch kein eigenes Auto. So verbrachte ich die Reisezeit mit meinem meist schweigenden Bruder auf der Rückbank des BMW. »Autobahn ist langweilig«, sagte Bnt11, als wir in Hamburg in den Elbtunnel fuhren. »Und Tunnel sind doof!«

»Wie lang ist der?«, fragte ich unbehaglich.

»Drei Kilometer«, antwortete Dad.

»3325 Meter!«, korrigierte mein Bruder.

Nachdem Dad uns mit unseren Reisetaschen vor unserem Urlaubsdomizil an der mehr oder weniger malerischen Vemmingbundbucht vor unserem Anwesen abgesetzt und für uns die Haustüre aufgeschlossen hatte, war er zum Einkaufen in einen nahegelegenen Supermarkt gefahren. »Erst mal die wichtigen Sachen«, hatte er gesagt. »Und wann kaufst du die unwichtigen Sachen?«, wollte Bnt11 wissen.

»Wenn ihr noch was braucht, müsst ihr zu Fuß in den Supermarkt. Godkøbe heißt der. Höchstens einen Kilometer entfernt. Wir sind eben daran vorbeigefahren. In der Küche findet ihr alles: Töpfe, Pfannen, Geschirr und was man so braucht. Und jede Menge Vorräte an Lebensmitteln. Ich bin in einer halben Stunde zurück.«

Richtig. Wir waren durch Broager gefahren. Was ich sah, löste zunächst keine Hoffnung auf eine kurzweilige Urlaubswoche aus. Meine ohnehin nur rudimentäre Vorfreude auf Broager fand sich im Null-Bereich ein. Nette Einfamilienhäuser, gepflegte Gärten und links und rechts viel Gegend. Und eine sehr kurze Fußgängerzone mit wenigen Läden. Broager vermochte auch meinen Bruder nicht sonderlich zu fesseln. Er hatte nur einmal kurz aus dem Fenster gesehen. Im Übrigen blickte er geradeaus auf die Rückseite der Kopfstütze an Dads Fahrersitz.

Während Dad an einer roten Ampel angehalten hatte, konnte ich einen Blick in die autofreie Einkaufsstraße werfen. Auch mein Bruder sah dort hinein. Ich sah einige touristische Highlights: eine Kirche, einen Friedhof, eine Pizzeria, ein paar kleine Geschäfte, die Filiale der Sydbank und Godkøbe. Die Pizzeria, und damit die Innenstadt Broager, lag also gefühlte und gefahrene tausend Meter von unserem hölzernen Ferien-Refugium entfernt, eine durchaus auch zu Fuß zu bewältigender Strecke. Das war in Anbetracht Bnt11s Affinität zu Pizzen aller Art und Größe interessant zu wissen. Wie sich später herausstellte, hatte mein Bruder sehr viel mehr von der Einkaufsstraße gesehen als ich. Eine seiner Fähigkeiten, um die ich ihn aufrichtig beneide.

Die Erkundung weiterer kultureller und gewerblicher Einrichtungen des idyllischen Städtchens sollte einem ausgedehnten Rundgang in den nächsten Tagen vorbehalten bleiben.

Der Wind in Broager entwickelte sich zu einem Sturm. Es wurde ungemütlich im Garten.

»Sollen wir unsere Reisetaschen schon mal auspacken?«, regte ich an.

»Nee!«, lehnte Bnt11 meinen Vorschlag kategorisch ab.

»Warum nicht?«, hakte ich nach.

»Wir warten, bis Dad zurückkommt!«

»Aber der fährt doch dann sofort wieder zurück nach Hause!«

»Ja. Eben. Deswegen!«

Ich unterwarf mich der Logik meines Bruders. »Alles klar!«

Am Abend vor unserer Abreise hatten wir in unseren benachbarten Zimmern zu Hause zeitgleich unsere Reisetaschen gepackt. Oder richtiger: Ich hatte meine Reisetasche schon vier Tage zuvor gepackt. Ich hatte nur meinen MP3-Player vergessen und suchte die gepackten Kartons nach ihm ab. Ein Vorgang von wenigen Minuten. Schon hatte ich die kleine Musikmaschine, so nennt mein Bruder MP3-Player, inklusive Ladekabel gefunden.

Im Nebenzimmer war es derweil still.

»Alles im grünen Bereich?«, rief ich durch die offenen Zimmertüren.

»Eher im roten Bereich«, rief Bnt11 zurück. »Oder orange!«

Ich ging in Bnt11s Zimmer. »Wo ist Deine Reisetasche?«

»In irgendeinem der Kartons!«, gab mein Bruder Auskunft.

»Verstehe. In welchem?«

»Hmm …«

»Und Deine Anziehsachen und das, was Du noch mitnehmen willst?«

»Auch!«, lautete die unmissverständliche Antwort.

Das war eine logistische Fehlleistung meines Bruders. Eine Seltenheit. In den meisten Fällen erweist er sich zumindest auf den zweiten Blick als kühler Stratege, auch wenn man auf den ersten Blick Zeuge einer völlig chaotischen Herangehensweise wird. Seine Lösungsansätze sind völlig anders als meine, deren Ergebnisse dafür zumeist deutlich effektiver.

Nur jetzt nicht …

Also öffneten wir alle Kisten und Kartons in Bnt11s Zimmer, fanden die zusammengefaltete Reisetasche im letzten Karton mit der Nummer sechs und Bnt11 befüllte sie nach einem für mich ebenfalls undurchschaubaren Schema.

Ich hätte es sinnvoller gefunden, die Kartons mit Hinweisen auf deren Inhalte zu beschriften als mit Zahlen, aber nun gut. That’s Bnt. »Hast du wenigstens eine Liste mit den Inhalten der Kartons gemacht?«, fragte ich ihn. »Nein«, antwortete Bnt11. That’s auch Bnt.

Dabei hatte unsere Mutter meinem Bruder ihre Unterstützung beim Packen angeboten. Bnt11 hatte dankend mit den Worten: »Ich soll ja selbstständig werden«, abgelehnt.

»Zwei T-Shirts reichen?«, hatte ich zu Bedenken gegeben.

»Und das, was ich auf der Fahrt anziehe. Das mit Made in Danmark drauf, das finde ich echt krass!«

Ich hatte meinem Bruder das Shirt vor einem Jahr zu seinem zehnten Geburtstag geschenkt und damit bei Bnt10 helle Begeisterung ausgelöst, bei Mom und Dad hingegen betroffenes Schweigen.

»Und wenn es kalt wird?«, fragte ich.

»Dann ziehe ich alle drei übereinander!«

»Okay. Sehr pragmatisch! Kommst du weiter allein klar mit Packen?«, fragte ich meinen Bruder.

»Klar!«, hatte er geantwortet. »Ich will ja selbstständig werden.«

Jetzt sah ich das Auto unseres Dads auf unser Ferienhaus zufahren. Drei große Kisten mit Lebensmitteln, Toilettenpapier, Küchenrollen und sonstigen Sachen trugen wir ins Haus. »Es ist eigentlich noch alles da«, sagte Dad. »Ich war ja erst vor zwei Monaten hier.«

»Eigentlich ist ein blödes Wort«, fand Bnt11.

»Richtig!«, stimmte ich zu. »Eigentlich ist eigentlich überflüssig!«

Und vor drei Monaten war Mom hier. Für zwei Wochen. Alleine, da Dad sich nicht von seiner Anwaltskanzlei loseisen konnte. Im Übrigen wollten unsere Eltern uns nicht allein zu Hause lassen. Warum auch immer …

Dad ließ die Hausschlüssel zu unserem Feriendomizil in meine rechte Handfläche fallen. Ein Ritual, das mir sehr vertraut war. »Wenn etwas nicht klappt, einfach anrufen! Oder SMS,« sagte er zu mir und umarmte mich zum Abschied. Meinem Bruder fuhr er kurz durchs hellblonde Haar, da Bnt11 Berührungen oder gar Umarmungen allgemein nicht zu schätzen vermag. »Mach’s gut, Benedict!«

Seit einem Jahr konnte Bnt11 Gleiches von mir zulassen. Nicht nur als Empfänger einer Berührung oder Umarmung, sondern zuweilen auch als Initiator. Durch einige gemeinsam gemeisterte Vorkommnisse und Zwischenfälle hatten wir uns im Sommer vergangenen Jahres angenähert. Ich genoss es. Ich werde aber nie erfahren, ob Bnt es auch so erlebte. Und wenn, würde er vermutlich nicht darüber reden. Seit einem Jahr waren wir aber das, was wir zehn Jahre zuvor nicht waren: richtige Brüder.