Berggeflüster und falscher Hase - Heidi Grund-Thorpe - E-Book

Berggeflüster und falscher Hase E-Book

Heidi Grund-Thorpe

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Beschreibung

Über Steine auf dem Weg kann man stolpern – oder sie überwinden. Ein moderner Heimatroman als Liebeserklärung an die Berge »Weder du noch andere aus dem Dorf werden mich daran hindern, Dinge ans Licht zu bringen, die nicht in euer selbstgefälliges Bild passen.« Ein plötzlicher Karrierestopp erschüttert die beruflich erfolgreiche Ida genauso wie das unerwartete Erbe eines Bergbauernhofes. Kurz entschlossen kehrt sie nach zwanzig Jahren in ihre Heimat in den bayerischen Alpen zurück. Sie hofft, während der Renovierung des Hofes Licht ins Dunkel ihrer familiären Herkunft zu bringen – doch sie muss schnell erkennen, dass die Idylle der Bergwelt heute wie damals nur ein äußerer Schein ist, hinter dem das intrigante Verhalten der Dorfbewohner brodelt. Und es bleibt nicht bei verbalen Attacken... »Moderne Heimatromanze mit einen Touch Krimi. Wunderschön geschrieben und echtes Bergfeeling.«  ((Leserstimme auf Netgalley)) »Wenn ihr Lust auf einen modernen Heimatroman habt, dann ist dieses Buch die richtige Auswahl. Es ist eine Mischung zwischen Heimat- und Liebesroman und wird definitiv von mir weiter empfohlen.« ((Leserstimme auf Netgalley)) »Alpenromantik pur! Eine schöne Landschaft, eine nette Geschichte, die mit Herz geschrieben ist und Charaktere die perfekt in einen Heimatroman passen.« ((Leserstimme auf Netgalley)) 

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© Piper Verlag GmbH, München 2021

Redaktion: Julia Feldbaum

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Covergestaltung: Annika Hanke

Covermotiv: Bilder unter Lizenzierung von Shutterstock.com genutzt

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

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Inhalt

Cover & Impressum

Prolog

Idas Ankunft

Maria erinnert sich

Der erste Abend im Hotel

Bestandsaufnahme

Marias Besuch im Pflegeheim

Putztag

Besuch in München

Umbaupläne

Handwerkersuche

Stammtischrunde

Maria spioniert

Marias zweiter Besuch im Pflegeheim

Rückfahrt von München

Stöbern auf dem Dachboden

Maria und Stefan

Holzlieferung

Besuch bei Johanna

Zwischenstopp bei Florian

Amys Geständnis

Der Albtraum

Florians Mutter

Der alte Herr Pfarrer

Ida bekommt Besuch

Das Abendessen

Bei Johanna im Altenheim

Ein heimlicher Gast

Die neue Treppe

Der DNA-Test

Besuch bei Kreszentia

Idas Schafherde

Annalena wird vermisst

Marias dritter Besuch im Pflegeheim

Ein Gespräch mit Paula

Die Bergtour

Epilog

Danksagung

Prolog

Die Eingangstür des ehemals sicher sehr beeindruckenden Wohngebäudes hatte tiefe Risse, Spuren von mehreren Lackschichten in Grau- und Brauntönen hingen in Fetzen vom Holz. Daneben lagerten Plastiksäcke mit Müll, von denen eine süßlich-faulige Geruchswolke aufstieg. Der Inhalt eines aufgeplatzten Sackes war auf dem breiten Gehsteig um den Eingang herum verteilt.

Maximilian Eggert zog die Adresse aus der Tasche. Nein, der Taxifahrer hatte sich nicht vertan. Die Hausnummer, mit Mühe zu entziffern, war die richtige. Das Haus wirkte wie ein Fremdkörper zwischen den renovierten Gründerzeitgebäuden im Münchner Glockenbachviertel. Die geschwärzte und im Sockelbereich beschmierte Hauswand und die Fenster, bei denen man befürchten musste, dass sich die Scheiben jeden Moment aus dem Rahmen lösten, passten nicht ins Straßenbild.

Ein Klingelschild gab es nicht, vielleicht befand es sich hinter dem Hauseingang. Maximilian drückte gegen die Tür, die sich ohne den geringsten Widerstand, aber mit lautem Quietschen und Ächzen öffnen ließ. Die Briefkästen dahinter hatten zwar Namensschilder, zeigten aber keinen Hinweis auf das Stockwerk des Bewohners. Im Treppenhaus fand er dunkle schmutzige Stufen vor und abgeblätterten Putz mit Kritzeleien in vielen Farben und Sprachen. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als Etage für Etage die Wohnungstüren nach dem Namen abzusuchen.

Unter seinen Tritten stöhnte jede Stufe in einer anderen Tonart. Je weiter er nach oben kam, desto mehr intensivierte sich die sauer-schimmelige Geruchsmischung. Wie gut haben wir es doch in den Bergen, dachte Maximilian, frische Luft, die man bedenkenlos einatmen kann.

Im zweiten Obergeschoss prangte das große glänzende Messingschild wie ein Fremdkörper in der schmuddeligen Umgebung: »Wirtschaftsdetektei Vordermann.« Es erfüllte seinen Zweck, denn es fiel auf – trotz der schummrigen Treppenbeleuchtung.

Nach mehrmaligem Klingeln wurde die Tür schwungvoll aufgerissen und entließ einen Schwall kalter Zigarrenluft. Ein kleiner, untersetzter Mann stand mit leicht geöffnetem Mund und weit aufgerissenen Augen vor ihm. Maximilians Blick fiel wegen der geringen Körpergröße seines Gegenübers direkt auf die glänzende Oberkopfglatze, die von dünnen langen Haarsträhnen umkränzt wurde. Er trug Hosenträger und eine Fliege zum gestreiften Hemd, das in einer Cordhose mit auffällig durchscheinenden Stellen steckte.

Maximilian wusste nicht, wie er sich einen Detektiv vorgestellt hatte, aber in jedem Fall nicht wie die Person, die vor ihm stand.

»Des lob ich mir, Pünktlichkeit ist die Tugend der Herren. Bitte kommens doch herein, Herr Eggert. Ich geh voraus, wenns erlaubt ist.«

Maximilian erkannte den Wiener Dialekt, den er durch das vorausgehende Telefonat zur Terminvereinbarung noch im Ohr hatte. Vordermann schlurfte vor ihm her und bahnte sich den Weg durch ein wildes Durcheinander. Auf einem Cocktailsessel aus den 50er-Jahren stapelten sich Zeitungen, von einer dicken Staubschicht bedeckt. Abseits in der Ecke des Flurs hatte ein Ficus seine dürren Blätter um sich herum verstreut, das Gerippe der filigranen braunen Äste war zur Decke hin gerichtet. Jacken, Mäntel und Schuhe lagen auf und unter den Möbeln, selbst über einer Stehlampe, deren massiver Messingfuß noch sichtbar war, hingen Kleidungsstücke. Das Chaos setzte sich auch im Büro fort, was Maximilian nicht überraschte.

»Nehmans doch Platz.«

Maximilian sah sich suchend um. Der einzige Stuhl vor dem Schreibtisch wirkte, als würde er unter der Last eines Bücherstapels jeden Moment zusammenbrechen.

»Momenterl, ich mach Ordnung. Ist auch immer so viel, was sich ansammelt, und die Zeit zum Misten ist stets zu kurz.«

Maximilian wartete, die Hände tief in den Hosentaschen vergraben, und versuchte, möglichst flach zu atmen. Er hatte wegen der kalten Rauchschwaden das dringende Bedürfnis, das Fenster zu öffnen. Vordermann hob einen Stapel Zeitschriften, gekrönt von einem überquellenden Aschenbecher, vom Besucherstuhl auf den Boden. Von den Zigarrenstumpen und der Asche, die dabei auf den Boden fielen, nahm er keine Notiz. Wahrscheinlich würden die beim nächsten Besuch auch noch dort liegen.

Hätte sein Anwalt ihm Vordermann nicht als vertrauenswürdig empfohlen, wäre er längst wieder gegangen.

»So, bittschön, der Herr, nehmans doch Platz«, wies der Detektiv weit ausholend auf den Stuhl. »Was ist denn das werte Anliegen, wenn ich so direkt fragen darf, wir wollen ja keine Zeit verlieren?« Vordermann saß in lauernder Stellung hinter seinem Schreibtisch, dabei stützte er das vorgereckte Kinn auf seine gefalteten Hände. Das Licht der Schreibtischlampe traf genau auf seine Glatze und brachte sie zum Leuchten, die wenigen Haarsträhnen fielen ihm ständig wie ein zotteliger Vorhang ins Gesicht. Reflexartig strich er mit beiden Händen die Haare hinter die Ohren.

Um diesem absurden Anblick nicht allzu lange ausgesetzt zu sein, kam Maximilian direkt zur Sache. »Ich möchte meinen Erben testamentarisch bestimmen, und dazu muss die Vaterschaft einer jungen Frau geklärt werden. Mein Anwalt sagte mir, dass Sie der richtige Mann dafür sind, genau diese Nachweise zu beschaffen.«

»Na ja, so alt sans doch noch net, oder sans etwa krank, was man nicht hoffen will?« Die Neugier stand Vordermann ins Gesicht geschrieben.

»Das tut nichts zur Sache.«

»Sie meinen, des junge Fräulein sollte von den Nachforschungen nichts bemerken«, schlussfolgerte der Detektiv mit einem breiten Grinsen. »Oder brauchens gar nur ein Dokument als Beweis ohne Untersuchung …?«

»Ich benötige ein Dokument, das die Vaterschaft klärt, sonst nichts. Allerdings sollte das Vorgehen der Klärung …«, Maximilian suchte nach dem richtigen Ausdruck, »… diskret ablaufen.« Für Maximilian stand von je her eindeutig fest, wer seinen Hof erben würde. Seitdem ihm aber das Gerücht zu Ohren kam, dass eine längst verflossene Liebschaft behauptete, ihre uneheliche Tochter sei sein Kind und damit auch die Erbin des Hofes, ließ ihm das keine Ruhe mehr. Sollte es tatsächlich so sein, dann würde er zähneknirschend das Testament ändern, denn was Recht war, sollte auch Recht bleiben. Aber er wollte sicher sein, dass keine Tricksereien vonseiten der Mutter bei der Vaterschaft im Spiel wären.

»Denn sonst würdens nicht zu mir kommen, sondern könnten das über einen offiziellen Test erfahren. Sie wissen schon, dass des a Stangerl Geld kostet? Wir müssen einige Hindernisse umgehen, die, sagen wirs mal vorsichtig, nicht mit dem Gesetz konform gehen.«

»Das ist mir bewusst, ich möchte aber auf keinen Fall mit einem offiziellen Test eine Lawine lostreten. Ist das verständlich?«, antwortete Maximilian. »Ich weiß, dass das unrechtmäßig beschaffte Dokument vor Gericht keine Aussagekraft hat, aber ich benötige das Ergebnis erst einmal für mich selbst. Sollte es nach meinem Ableben Probleme mit den Erben geben, können diese immer noch ihre DNA analysieren lassen. Mein Testergebnis liegt dann in jedem Fall zum Vergleich vor.«

»Na, des versteh ich doch«, beschwichtigte Vordermann, »auf meine Diskretion könnens sich verlassen.«

»Gut, dann sind wir uns einig.«

Maximilian schob ein Blatt über den Tisch. »Da sind ein paar Daten über die junge Dame. Den Rest müssens selbst organisieren.«

»Do könnans sicha sein. Is net des erste Mal, dass ich so was überprüf!« antwortete Vordermann mit erhobenem Zeigefinger.

»Aber noch einmal, dass das vollkommen klar ist«, betonte Maximilian schroff, »sie darf nichts davon merken.«

Vordermann fuhr sich mit der Hand über den Mund, die Lippen fest aufeinandergepresst, als würde er einen Reißverschluss schließen. »I bin verschwiegen wie ein Grab!« Er blätterte in seinem Tischkalender hin und her. »I schlag vor, Sie besuchn mi in zwei Wochen zur gleichen Zeit, bis dahin hob ich alles. Vorher brauch ich zum Vergleich eine Probe Ihrer DNA, denn ich vermute, dass es darum geht?« Er griff in eine Schublade unter dem Schreibtisch und zog einen langen schmalen Glasbehälter mit Deckel heraus, der in Folie verschweißt war. Geschickt entfernte er das Plastik. »Wenns so freindlich wärn, einmal über die Schleimhäut des Mundes streichen und dann bitte in das Glas steckn und fest verschrauben.«

Maximilian war überrascht, dass Vordermann das Testgefäß so schnell zur Hand hatte, und zögerte einen Moment.

»Des müssens scho machen, ohne des gehts net, der Herr.« Vordermann hielt ihm das Glas noch dichter vors Gesicht.

»Jaja, ist in Ordnung.« Maximilian ergriff das Glas und tat wie geheißen. »Also dann, und Sie meinen, in zwei Wochen haben Sie das Ergebnis vorliegen?«

»Schnell und gründlich wird hier gearbeitet, der Herr.«

Zwei Wochen später saß Maximilian erneut Vordermann gegenüber. Umständlich wühlte der Detektiv in einem Stapel Papier, zog einige Seiten heraus, legte diese wieder weg und holte die nächsten Blätter hervor.

»Momenterl, ich hobs gleich, es ist doch immer wieder ein Gfrett mit dem Papierkram. Ah, aber scho hammers, und, wie es ausschaut, sind es die richtigen Unterlagen. Es geht um Sie, Herr Maximilian Eggert, und besagte junge Dame.« Zögerlich und in die Länge gedehnt las er den Namen vor und vertiefte sich dann leise murmelnd in das Dokument, als wäre es vollkommen neu für ihn.

Maximilian grub die Fingernägel in die Armlehnen seines Stuhls, um nicht die Geduld zu verlieren. Er versuchte, seinen aufkeimenden Ärger im Zaum zu halten.

»Na dann, machn mas kurz, Sie san sicherlich scho gspannt wie a Flitzebogen, denn das Ergebnis ist ja von Bedeutung?« Vordermann machte eine lange Pause und blickte Maximilian fragend an.

»Jetzt machen Sie schon, geben Sie mir den Schrieb, und dann bin ich wieder weg.« Er wollte Bescheid wissen, wer die rechtmäßige Erbin seines Hofes war, dabei hatte er keine besonderen Präferenzen zwischen den beiden jungen Frauen, die infrage kämen. Er riss Vordermann das Schreiben aus der Hand.

»Also … das gnädige Fräulein is net Ihre Tochter«, kam ihm Vordermann zuvor. »Jetzt stellt sich nur die Frag, wer der richtige Voda ist, aber da kann ich gern helfen«, bot sich der Detektiv an. »Sie wissen ja, schnell und diskret, das ist meine Devise.«

»Beantworten Sie mir nur noch die Frage, wie Sie an das DNA-Material gekommen sind. Kann ich sicher sein, dass es eindeutig von ihr ist?« Maximilian wollte mögliche Zweifel vollständig auslöschen.

»Normalerweise plaudere ich nicht aus dem Nähkästchen«, antwortete Vordermann mit wichtigtuerischer Miene, »aber in diesem Fall war es a einfache Sach. Ich hab mir im Personalraum aus der Haarbürste in ihrer Handtasche a paar ihrer üppigen Lockn herausgeholt. A scheens Madl, übrigens, das Fräulein, ganz a Fesche. Aber wie gsagt, nicht von Ihrem Blute, das Ergebnis is eindeutig.«

»Gut, Herr Vordermann, das genügt mir im Moment. Wie Sie wissen, regelt mein Anwalt das Finanzielle. Vielen Dank für die schnelle Abwicklung und auf Wiedersehen.«

»Stets zu Diensten, der Herr, stets zu Diensten«, schüttelte Vordermann zum Abschied überschwänglich Maximilians Hand, der froh war, wieder wegzukommen.

Anschließend fuhr er auf direktem Weg zu seinem Anwalt. Nun hatte er den eindeutigen Beweis in der Hand, dass er selbst keine Tochter hatte. Der Rechtsanwalt konnte sofort das Testament verfassen, und er würde einen Brief dazulegen, der die infrage kommende Erbin bestätigte. Er übergab auch sein DNA-Ergebnis dem Rechtsanwalt, damit diesem im Falle einer Testamentsanfechtung eindeutige Beweise zum Vergleich vorlagen.

Idas Ankunft

Der Hof lag vor ihr. Die tiefe Schlucht zwischen dem Aussichtspunkt an der Bergstraße und dem Gebäude auf der Anhöhe gegenüber war kaum wahrzunehmen. Das Gehöft lag am Rand der bayerischen Alpen und zeugte von Bodenständigkeit und einem arbeitsreichen Leben. Haus und Scheune waren eingebettet in ein terrassenartiges Plateau, dahinter erhoben sich sanft ansteigende Wiesen, die allmählich in die schroffen Felsen übergingen. Die klare Morgenluft täuschte über die Entfernung des fast 1800 Meter hohen Gipfels hinweg, er wirkte zum Greifen nah. Darüber nichts als wolkenloser blauer Himmel, nur ein paar Dohlen segelten unbesorgt durch die Luft.

Ein breiter, von prächtigen Ahornbäumen gesäumter Schotterweg, der von der Hauptstraße in Richtung Hof abzweigte, leuchtete zwischen dem Grün der Wiesen hervor. Er mündete in einem Bogen in die breite Auffahrt zum Wohnhaus. Das Plätschern des Brunnenwassers vor dem Haus konnte sie nur sehen, nicht hören, aber sie ergänzte gedanklich das vertraute Geräusch.

Hinter dem zweistöckigen Wohnhaus erstreckte sich der Stall mit der angrenzenden Scheune, die weit über die Länge des Hauses hinausragte. Sie begrenzte den großen Hof mit dem ausladenden Ahorn in der Mitte.

Ida ließ den friedlichen Eindruck noch einige Minuten auf sich wirken. Dass der Hof sich nicht zur Schau stellte, sondern einfach da war, still und selbstverständlich, aufgeräumt, als wäre er mit sich selbst zufrieden, hatte eine wohltuende Wirkung auf sie.

Sie beschloss, ihren Weg fortzusetzen.

Ida parkte im Hof unter dem Ahorn. Sie fühlte sich klein und unbedeutend unter dessen mächtiger Krone, aber trotzdem beschützt. Früher war am Baum eine Schaukel gehangen, auf der sie sich als Kind immer vorgestellt hatte, fliegen zu können – über die Berge hinweg in ein Land, das sie sich in ihren Lieblingsfarben bunt ausgemalt hatte.

Zwischen Scheune und Wohnhaus, die direkt hintereinanderstanden, waren etwa zwanzig Meter Abstand. Aus dieser Perspektive wurde ihr die weitläufige Größe der Hofanlage erneut bewusst, denn was aus der Ferne dicht gedrängt gewirkt hatte, erwies sich nun als großzügig bemessen. Die angrenzenden Wiesen waren frisch gemäht und leuchteten in hellem Grün. Das schon leicht angetrocknete Gras war traditionell zum Trocknen auf Heuböcken aufgeschichtet worden.

Das Haus wirkte mit den verriegelten Fensterläden hermetisch verschlossen, aber trotzdem nicht abweisend. Über der breiten zweiflügeligen hölzernen Haustür mit der Jahreszahl 1879 ragte ein Balkon mit verwittertem dunklem Holzgeländer hervor. Ein wild rankender Rosenstock kletterte neben der Haustür an einem Spalier bis zum Balkongeländer, die Knospen wirkten, als würden sie jederzeit aufplatzen. Auf der anderen Seite stand eine massive Bank aus halben Baumstämmen. Die große Steinplatte vor der Eingangstür war durch die vielen Füße, die in dem fast 150 Jahre alten Hof ein- und ausgegangen waren, abgeschliffen.

Nun war sie also an der Reihe, die Steinplatte weiter zu formen.

Sofort tauchten ihre alten Zweifel und die Frage auf, ob sie hier wirklich am richtigen Ort war. Eine Stimme, die sie nur zu gut kannte, flüsterte ihr ins Ohr: Was willst du hier? Warum in die Vergangenheit eintauchen?

Ida wusste, dass es kein Problem wäre, das Erbe loszuwerden. Es gab genügend Münchner, die ihr den Hof mit Handkuss abkaufen würden, denn bei vielen der Schönen und Reichen gehörte ein traditionelles Wochenendrefugium in den bayerischen Alpen zum guten Ton – wie das Cabrio in der Tiefgarage oder das Segelboot am Starnberger See.

Über ihr spontanes Ja auf die Frage des Notars, ob sie das Erbe annehmen wollte, war sie selbst anfangs mehr als erstaunt gewesen. Bis sie festgestellt hatte, dass es wie eine Flutwelle aus ihr herausgeströmt war, als hätte es seit Jahren darauf gewartet, befreit zu werden. Wie eine Aufforderung war es gewesen, sich allem, was mit diesem Ja verbunden war, zu stellen.

Während Ida vor dem Eingang stand, erinnerte sie sich daran, wie sie mit ihrer Mutter vor unzähligen Jahren das Haus einer verstorbenen Tante ausgeräumt hatte. Wie ein Eindringling war sie sich damals vorgekommen, während die Mutter Zimmer für Zimmer durchforstet hatte. Bei jedem Öffnen einer Schublade hatte Ida sich wie ein Dieb gefühlt, der sich der persönlichen Besitztümer und Erinnerungen längst vergangener Generationen bemächtigte. Gefühle dieser Art waren ihrer Mutter fremd gewesen, sie hatte sich einfach schnell entschlossen, ob etwas noch brauchbar war oder nicht. Sie selbst hatte mit ihren zwölf Jahren mit Ehrfurcht die mit Perlen bestickten Trachtenkleider aus schweren, dunklen Stoffen, Röcke aus Leinen, deren Säume mit farbigen Blütenranken in einer ganz eigenwilligen Art bestickt gewesen waren, bestaunt. Auch Handtücher, Tischdecken und Servietten waren aufwendig mit Stickereien verziert gewesen. Diese wunderschönen Dinge hätte sie damals gern für sich behalten. Und dennoch hatte sie sich nicht gegen ihre Mutter aufgelehnt, die zur Entscheidung gekommen war, dass Idas ältere Schwester die wertvollen Stücke für die Aussteuer bekommen, der Rest aber in die Altkleidersammlung wandern sollte.

Mit einem Ruck tauchte Ida aus der Erinnerung wieder auf. Hier draußen würde sie nicht weiterkommen. Sie konnte sich an keine verwandtschaftlichen Beziehungen mit dem verstorbenen Besitzer, Maximilian Eggert, erinnern. Sie hatte ihn gekannt, da er ihr Lehrer in der Realschule gewesen war. Und sie wusste, dass er nach dem Tod seiner Mutter allein gelebt hatte.

Bei der Erinnerung an seine Mutter, die von den Dörflern schlicht Katt genannt worden war, ging ihr das Herz auf. Katt gab Ida immer das Gefühl, auf Idas Seite zu stehen, auch wenn ihr das damals nicht bewusst war. Ihre Mutter erledigte Näh- und Flickarbeiten für die ältere Dame, die Ida wöchentlich abliefern und wieder abholen musste. Sie freute sich immer auf das Zusammentreffen, passte aber höllisch darauf auf, dass zu Hause nichts von ihrem kleinen Glück bemerkt wurde. Sie war sicher, ihre Mutter hätte das Abholen sonst selbst übernommen. Wenn sie zu Katt gehen durfte, fühlte sie sich befreit von der lieblosen Stimmung zu Hause, wo sie nur herumgeschubst und angekeift wurde. Katt erwartete sie meistens mit Kuchen und Kakao, im Sommer auch mal mit Eis und Limonade. Sie wollte immer genau wissen, ob Ida Freundinnen hatte und wie es ihr in der Schule gefiel. Dieses große Interesse an ihrer Person kannte Ida überhaupt nicht, aber sie freute sich jedes Mal über die Unterhaltungen, fühlte sich ernst genommen.

Einige Wochen vor Idas Kommunion schenkte ihr Katt einen wunderschönen cremeweißen Baumwollbatist. Ida hatte Angst davor, ihrer Mutter zu sagen, dass Katt darum gebeten hatte, aus dem Batist ein Kommunionskleid für sie zu nähen. Das Murren und Schimpfen, das sie erwartet hatte, blieb zu ihrem größten Erstaunen aus, und ihre Mutter nähte bereitwillig ein wunderschönes Kleid für sie.

Als Ida Katt erzählte, dass sie selbst gern nähte, schenkte die alte Dame ihr eine Schnittvorlage und Stoff für eine Bluse und half ihr sogar beim Zuschneiden. Sie wurde überschwänglich gelobt, als sie ihr die fertige Arbeit zeigte. Für ihren Botendienst steckte Katt ihr jedes Mal ein wenig Geld zu, nicht wissend, dass Ida nie Taschengeld bekam.

Ida würde nie die Wärme vergessen, die sie durchflossen hatte, wenn Katt ihr zum Abschied über den Kopf gestrichen und erklärt hatte, sie würde sich freuen, wenn sie bald wiederkäme.

Katt war gestorben, kurz bevor Ida ihre Lehre in München beendet hatte. Sie war damals mit dem Zug nach Oberndorf zurückgefahren, um zur Beerdigung zu gehen. Da ihr wenig Zeit geblieben war, war sie direkt zur Aussegnung in die Kirche gehastet. Nach der Trauerfeier war ihre Mutter auf sie zugekommen und hatte sie angezischt, was sie denn hier wolle. Sie solle sofort nach München zurückfahren, damit keiner auf falsche Gedanken käme. Auf dem Weg zurück hatte Ida Überlegungen in viele Richtungen angestellt, was ihre Mutter mit dieser Äußerung gemeint haben könnte, aber sie war bis heute zu keinem Ergebnis gekommen. Irgendwann hatte sie die Andeutung vergessen, aber jetzt war sie wieder präsent.

Ob von Katt noch etwas auf dem Hof zu spüren war?

Eine seltsame Wendung in meinem Leben, jetzt als Eigentümerin hierher zu kommen, als wäre ich ein Familienmitglied.

Mit Herzklopfen machte Ida einen großen Schritt auf die Haustür zu und schob den klobigen schweren Schlüssel ins Schlüsselloch. Wie erwartet ließ er sich kaum drehen. Bei der Übergabe des Schlüssels hatte ihr Ludwig Angermaier, der Bürgermeister, der sich bisher auf Vermittlung des Notars um den Hof gekümmert hatte, gesagt, dass er immer durch den Hintereingang ins Haus käme, deswegen sei die Haupttür nicht in Gebrauch und entsprechend schwer zu öffnen.

Ida wollte jedoch heute durch die Vordertür hineingehen, aus symbolischen Gründen – schließlich war sie ja jetzt die Eigentümerin.

Irgendwann gelang es ihr, die Tür mit viel Druck zu öffnen. Sie zog den rechten Türflügel weit auf und löste die Verriegelung des zweiten Flügels, indem sie sich mit ihrem Körpergewicht dranhängte. Endlich gab er mit lautem Quietschen nach und rutschte in der Führung nach unten.

Sie klappte beide Türflügel weit auf, um frische Luft und Licht hineinzulassen. Sie ging in den geräumigen Hausflur. Die einfallenden Sonnenstrahlen malten Muster auf den schwarz-weißen Boden. Der unerwartete Willkommensgruß zauberte ein leises Lächeln auf ihr Gesicht.

Allmählich gewöhnten sich ihre Augen an das diffuse Licht, und sie registrierte am Ende des Raumes die breite Holztreppe zum oberen Stockwerk. Nun kam die Erinnerung zurück. Sie wusste auf Anhieb, die erste Tür links ging in die »gute Stube«, die Tür auf der rechten Seite öffnete sich in die gemütliche Wohnküche. Sie sah sich selbst vor sich, während sie hineinging, um den Wäschesack abzulegen. Sie konnte sich gut an den großen Kachelofen erinnern, der nicht wie in Idas Elternhaus mit grobem Putz verkleidet war, sondern mit wunderschön bemalten Kacheln. Auf der Eckbank sitzend hatte sie sich Geschichten zu den Bildern ausgedacht und sie auf dem Heimweg weiter ausgesponnen.

Mit festem Schritt öffnete Ida die Tür zur Wohnküche. Der Raum war dunkel und roch nach abgestandenem kalten Rauch, kein beißender Zigarettengestank, sondern Rauchgeruch, der durch ein Holzfeuer entstanden war. Instinktiv griff Ida nach dem Lichtschalter, aber natürlich war der Strom noch abgeschaltet. Ida ging zu den Fenstern der Wohnküche und öffnete nacheinander alle Läden.

Ida atmete die hereinströmende Luft des Frühsommers ein. Das Sonnenlicht beleuchtete den in kräftigen Farben bemalten Kachelofen im Zentrum des Raumes wie ein Spot.

Auf der vorderen Seite lief eine Bank um den Kachelofen bis in die Zimmerecke mit dem Herrgottswinkel, davor stand der große Holztisch mit den Stühlen. Über allem lag eine dicke Staubschicht, und unzählige Spinnweben hingen in den Ecken und an der Decke.

Vermutlich werde ich nicht nur hier im Haus Staub aufwirbeln. Wenn die Einheimischen im Dorf erfahren, dass ich als Hoferbin einziehen werde, wird das eine richtige Lawine auslösen.

Sie begutachtete die Küche im hinteren Bereich des Zimmers und freute sich, dass der alte Spülstein – zwei Becken in einem Granitblock – noch existierte.

Allerdings war der damalige Arbeitstisch gegen massive Schränke mit einer Arbeitsplatte aus Holz ausgetauscht worden. Auch ein Gasherd – zwar nicht mehr das neueste Modell, aber immerhin ein Zugeständnis an modernere Zeiten – war eingebaut worden. Dick eingestaubte Töpfe hingen an der Stange über dem Holzofen, auch ein Gitter zum Trocknen für Geschirrtücher und Wäsche, so, wie sie es von zu Hause kannte, war in sicherer Höhe angebracht worden.

Eine Tür auf der linken Seite der Küche führte in die Speise- und Milchkammer auf der Nordseite des Gebäudes. Von dort konnte man in den hinteren, ansteigenden Teil des Hofes gelangen.

Sie öffnete auch diese Tür, um die Luft durchziehen zu lassen. Ein Korb mit Brennholz stand neben ausgetretenen Stiefeln, hinter der Tür hing eine schwere Jacke aus Walkloden, die Bauern in dieser Gegend trugen sie bei Wind und Wetter. Ein einseitig abgenutzter Besen, ein Holzrechen, der nicht mehr alle Zähne hatte, Blech- und Kunststoffeimer und Siebe hingen ordentlich an einer Leiste an der Wand, in einem Regal standen Körbe und Töpfe. Es wirkte auf sie, als hätte der ehemalige Bewohner nicht gewusst, dass er das Haus für immer verlassen würde.

Erneut fragte sich Ida, was Maximilian veranlasst hatte, ihr den Hof zu vermachen. Das Gericht hatte ihr den Namen genannt, und sie konnte sich auch noch sehr gut an ihn erinnern, denn er war ihr Lehrer und neben Katt einer der wenigen Menschen aus der damaligen Zeit gewesen, der mit Freundlichkeit nicht gegeizt hatte. Im Unterricht hatte er ihr jedes Mal zugezwinkert, wenn sie einen wertvollen Beitrag geleistet oder eine sehr gute Note in einer Arbeit erhalten hatte. Durch seine Vermittlung hatte sie ihre Lehrstelle in München bekommen. Aber darüber hinaus war ihr nie etwas Persönliches über ihn zu Ohren gekommen.

Ida bekam beim Anblick von Tannenzapfen und Holz Lust, Feuer im Kachelofen zu schüren. Ob sie das noch hinbekam? Augenblicklich lief der nächste Film vor ihrem inneren Auge ab, und sie hörte die gekeifte Schelte ihrer Mutter: »Wozu bist du zu gebrauchen, nicht einmal zum Feuermachen hast du Geschick, du taugst zu nichts, geh aus dem Weg!«

Immer wieder hatte sie sich bemüht, am Morgen das Feuer in Gang zu bringen, während ihre älteren Geschwister und die Eltern die Tiere im Stall versorgt hatten. Erst wenn das Feuer im Herd brannte, konnte sie das Wasser für den Kaffee erhitzen, denn einen Durchlauferhitzer wie hier in dieser Milchkammer gab es in ihrem Zuhause nicht. Eine Aufgabe, die für die damals achtjährige Ida zu groß war. Sie brach jedes Mal in Tränen aus, wenn das Anschüren nicht gelang und sie die Mutter zu Hilfe holen musste. Viel später erfuhr sie, dass ihr Bruder Alois heimlich feuchtes Anzündholz hingelegt und sich an ihren Schwierigkeiten ergötzt hatte. Er spielte sich immer groß auf, wenn er auf Anhieb das Feuer angezündet bekam – natürlich nahm er trockenes Holz. Die bösen Worte der Mutter und das hämische Grinsen in Alois’ Gesicht würde sie nie vergessen. Hatte der Vater von ihrem Versagen erfahren, musste sie auch noch seine abfälligen Bemerkungen über sich ergehen lassen, die sie noch mehr verletzten als die der Mutter und des Bruders. Ein Tag, der so begonnen hatte, hatte wie ein Klotz auf ihren schmalen Kinderschultern gelegen.

Nachdem Ida in der ehemaligen Milchkammer den Sicherungskasten gefunden hatte, legte sie den Hauptschalter um. Das Licht in der Wohnküche ging an.

Nun öffnete sie den Haupthahn für das Wasser und den Gashahn. Der Flüssiggastank befand sich in einem abgetrennten Bereich am überdachten Hintereingang, die Füllung dafür hatte der Bürgermeister auf ihre Bitte hin bestellt. Sie knipste den Durchlauferhitzer ein und öffnete das Ventil zum Heißwassertank. Augenblicklich sprang er an und befüllte den Tank. Erstaunlich, wie alles problemlos funktionierte.

Das war also schon mal kein Hindernis, hier zu wohnen.

Um den Kamin anzuschüren, trat sie in den Hausflur, denn der Kachelofen wurde von dort befeuert.

»Dann wollen wir doch mal schauen«, flüsterte sie vor sich hin.

Sie öffnete die schwere schmiedeeiserne Tür des Ofens. Als wäre es gestern erst ausgegangen, lagen verkohlte Holzstücke im Feuerloch. Der Aschebehälter war vollständig gefüllt, deswegen entfernte sie die verkohlten Hölzer mit einem Besen und einer schmalen Schaufel. Die Asche schüttete sie in eine Blechtonne, die in der Milchkammer stand. Sie wunderte sich darüber, dass ihre Hände die Arbeit erledigten, als wäre es eine alltägliche Gewohnheit.

Aus Tannenzapfen, die so trocken waren, dass sie bei jeder Berührung bröselten, und kleinen Holzscheiten, die in einem Weidenkorb lagen, schichtete sie einen Haufen im Feuerloch. Bevor sie allerdings die unterste Lage entzündete, nahm sie einen Bogen Zeitungspapier, den ihr der Bürgermeister hingelegt hatte, knüllte es leicht zusammen und legte es obenauf. »Mit dem Abbrennen des Papiers wird der Kamin frei, und es entsteht kein schwelender Rauch«, hatte er ihr geraten. Nachdem Ida den Tipp befolgt hatte, entzündete sie die Zapfenschicht, und tatsächlich fing das Feuer auf Anhieb an zu brennen. Sie öffnete die Luftklappe am Ofen und lauschte eine Weile den knackenden und knisternden Geräuschen des brennenden Holzes. Es fühlte sich gut an.

Nach einer kritischen Besichtigung aller Räume und nachdem sie ihr bisschen Hab und Gut in die Scheune geladen hatte, beschloss sie, zunächst das Zimmer im Dorf zu beziehen, das sie schon von München aus gebucht hatte. Sie wollte während der ersten Zeit der Renovierung eine sichere Bleibe haben. Ida verriegelte die Fensterläden und Haustüren. Mittlerweile war es schon dämmerig geworden, und die Alpen lagen im Abendrot vor ihr.

Sie trat vor die Tür und sog tief die klare, schon etwas kühlere Luft auf, dabei schloss sie genießerisch die Augen. Dann machte sie sich auf den Weg ins Dorf, das weiter unten im Tal lag.

Mit dem Auto erreichte sie Oberndorf über die schmale und teilweise sehr steile Serpentinenstraße nach etwas mehr als fünfzehn Minuten. In den letzten zwanzig Jahren hatte sich das kleine Bauerndorf enorm verändert, war gewachsen, neue Wohn- und Geschäftshäuser im traditionellen Baustil drängten sich zwischen die Höfe, die früher einen Ring um den Dorfplatz gebildet hatten.

Ida war überrascht, denn sie konnte nicht mehr wie erwartet auf dem gepflasterten Platz parken. Sitzbänke, ein kleiner Brunnen und eine Infotafel mit einer Landkarte und eingezeichneten Bergtouren luden die Touristen zum Verweilen ein. Die Fensterbänke der alten Höfe und Geschäfte um den Platz waren mit üppig blühenden Blumenkästen geschmückt, wie man es von oberbayerischen Dörfern erwartete, die das Adjektiv »schmuck« in ihren Werbebroschüren verwendeten. Ida hatte diese Zurschaustellung augenfälliger Pracht schon immer abgelehnt, und genau mit dieser Einstellung hatte sie sich auch einen Namen in der Modewelt gemacht.

Ob sich wohl die Engstirnigkeit hinter dem äußeren Putz und Glanz geändert hat, überlegte sie, während sie aus dem Auto stieg.

Ihr Blick kreiste über die Gebäude und suchte nach etwas Bekanntem von früher. Beinahe hätte sie das alte Schusterhäuschen übersehen, das zwischen den übrigen Prachtbauten sein schmuckloses Dasein fristete. Eine alte Frau saß zusammengesackt im Rollstuhl vor der Tür. Das wird doch nicht die alte Lederin sein, die war doch damals schon uralt, als ich weggegangen bin.

Ida nahm sich vor, irgendwann einmal dort vorbeizugehen und nachzufragen, denn deren Enkeltochter hatte mit ihr zusammen die Schule besucht.

Das Hotel, das sie sich ausgesucht hatte, war mit einem scheunenartigen, aber trotzdem modernen Anbau verbunden, die Fassade mit Natursteinen und Holz verkleidet, die großen Fenster wurden mit vorgesetzten Lamellen teilweise verdeckt. Hier hatten sich Architekt und Bauherr Gedanken gemacht und etwas Neues geschaffen, das das Alte hervorhob.

Ida trat durch die Eingangstür und sah sich um. In der Gaststube war keiner zu sehen. Stimmen eines Mannes und einer Frau, die sich ständig ins Wort fielen und immer erregter klangen, drangen gedämpft, aber trotzdem gut hörbar durch die Tür mit der Aufschrift »Büro«.

Sie beschloss zu warten, irgendjemand würde schon kommen.

Plötzlich wurde die Tür hinter der Theke mit Schwung aufgerissen. Ein Mann in ihrem Alter, mit hochrotem Gesicht und verzerrten Gesichtszügen, rief im Hinausgehen: »… jetzt liegt es an dir, etwas zu ändern.« Er lief mit großen Schritten an ihr vorbei.

Während Ida ihm hinterherschaute, fiel die Eingangstür mit einem lauten Knall ins Schloss.

Wenige Sekunden später kam eine junge Frau mit einem tief ausgeschnittenen Dirndl aus dem Büro. Sie wischte sich mit dem Handrücken über die geröteten Augen, bevor sie sich an Ida wandte: »Es tut mir leid, dass Sie diesen Auftritt miterleben mussten. Ich bin Maria Angermaier, meinem Mann und mir gehört das Hotel. Was kann ich für Sie tun?«

»Kein Problem, ein Streit ist da, um Dinge zu klären«, beschwichtigte Ida. »Ich würde gern mein Zimmer beziehen, ich habe schon online gebucht.«

»Gern, einen Moment bitte … Machens Ferien in unserer schönen Gegend?«

»Ich will den Rupertihof oben am Berg renovieren, weiß aber noch nicht, wie lange das dauern wird.«

»Ach, dann bist du die Amrainer Ida … die Hoferbin.« Maria wechselte wie alle Dorfbewohner gleich zum vertraulichen Du. »Na, da hast dich auf was einglassen, der ist ja scho über a Jahr net bewohnt. Aber es ist a schöner Hof und hat a super Lage …« Maria redete lächelnd immer weiter, allerdings spürte Ida einer Veränderung in der Stimmung der anderen.

Maria erinnert sich

Sie redete und redete, während sie versuchte, die Situation in den Griff zu bekommen. Ida stand vor ihr, genauso wie Maximilian vor vielen Jahren.

Damals hatte Maria gerade ein paar Monate als Angestellte im Landhotel Angermaier gearbeitet. Sie erkannte Maximilian Eggert, den Eigentümer des Rupertihofes im gleichen Moment, als dieser den Gastraum betrat, denn sie hatte ihn vor ein paar Wochen mit ihrem Fernglas auf seinem Hof beobachtet. Er stand vor ihr, groß, selbstbewusst, vom Typ »älterer Naturbursche mit Charme«, ausgestattet mit einer riesigen Portion Selbstbewusstsein. Trotz der rötlichen Haare sah er richtig gut aus, kein Wunder, dass ihre Mutter sich vor vielen Jahren mit ihm eingelassen hatte.

Maria sog die Luft zwischen zusammengepressten Zähnen ein und straffte ihre Schultern, sie wollte besonders freundlich zu ihm sein. Max gesellte sich an den Stammtisch, an dem bereits der Bürgermeister und verschiedene Handwerker aus dem Ort saßen und ihn laut begrüßten.

»Bringst mir a Weiße und a Brotzeit, bitte«, bestellte er bei Maria. »Bist neu hier, hab dich noch nicht gesehen?«, fragte er und musterte sie.

»Freilich, ich bin schon länger hier, musst halt öfter kommen, dann hättst mich schon eher gsehn.«

Die anderen Männer am Tisch lachten, und der Bürgermeister bestätigte: »Jaja, Max, bei uns tut sich was, nicht nur bei dir in der Schul. So was Fesches wie die Maria wär doch auch was für dich.«

»Oje, was will sie mit mir altem Knochen, das junge Derndl hat sicher einen Jüngeren als mich im Sinn.«

»Damit liegst net falsch«, lachte Maria und ging in Richtung Küche, um die Bestellung aufzugeben.

Ohne ihn noch einmal im Lokal wiederzusehen, war Max vor wenigen Monaten gestorben. Und nun stand Ida, seine Erbin vor ihr.

Der erste Abend im Hotel

»Das Zimmer ist vorbereitet, zwei, drei Wochen, hast gsagt, oder? Kein Problem, die Hauptsaison hat noch nicht angfangn.«

Ida bemerkte, dass Marias Hände zitterten, als sie ihren Personalausweis mit den Daten im Netz abglich, und vermutete, dass dies eine Folge des Streits war. Er musste wohl doch heftiger gewesen sein. In diesem Moment kam Marias Mann wieder zurück. Ida spürte den Ruck, der durch die junge Frau ging, augenblicklich verschwand ihr Lächeln.

»Grüß Gott, neue Gäste sieht man doch immer gern«, begrüßte Johannes Ida, als hätte er sie vorher, als er aus dem Büro gstürmt war, nicht gesehen. »Ich bin der Johannes, wennst an Bergführer brauchst, bin ich der richtige.«

Maria erklärte ihm knapp, wer Ida war.

»Ah, der Bürgermeister hat mir davon erzählt. Dass wir so eine attraktive Nachbarin bekommen, hätte ich allerdings nicht erwartet«, schmeichelte Johannes.

Ida wusste, wie es sich anfühlte, wenn der eigene Partner eine andere Frau anbaggerte. Wollte er seine Frau wegen des vorangegangenen Streits absichtlich verletzen? Oder war es seine übliche Masche und diese vielleicht Anlass für den Krach? Sie suchte Marias Blick, doch die stand mit erstarrter Miene hinter der Theke.

Ida bezog ihr Zimmer und war froh, endlich die Tür hinter sich schließen zu können. Sie war ziemlich geschafft. Ein kurzer Blick genügte, um mit der Ausstattung des Zimmers mehr als zufrieden zu sein. Die Bettwäsche war aus grau-violettem Leinen, zum Glück nicht die übliche »Karoromantik«. Auf der Kommode aus Eiche stand eine alte Schüssel mit Wasserkrug, daneben lag ein Ast mit Moos, vier grobe Holzrahmen präsentierten alte Sticktücher. Ida fühlte sich auf Anhieb wohl.

Als sie nach der Dusche in ein Badetuch gehüllt ihre Haare trocken rubbelte, klingelte das Haustelefon. Nach kurzem Zögern nahm sie ab.

»Ja?«, meldete sie sich ohne Namensangabe. Außer ihrer besten Freundin Amy wusste niemand von ihrem derzeitigen Aufenthalt.

Maria, die Wirtin, entschuldigte sich wegen der Störung und erkundigte sich, ob Ida im Hotel essen wollte. »Wir haben allerdings wegen der Nebensaison keine Auswahl an warmen Gerichten«, sagte sie gleich, »es gibt Rehbraten mit Semmelknödeln, davor eine Suppe und als Nachtisch Topfenstrudel.«

»Das klingt wunderbar, genau das, was ich jetzt brauche«, freute sich Ida. »Ich komme gleich nach unten.« Sie flocht sich mit den noch feuchten Haaren einen dicken Zopf und schlüpfte in ihr übliches Outfit: schwarze Jeans und schwarzes Shirt. Rehbraten, so etwas Feines hatte es in ihrer eigenen Familie nie gegeben. Das Beste, an das sie sich erinnern konnte, war ein Hackbraten, den sie immer noch als »Heimatessen« bezeichnete, obwohl sie sich in den vergangenen Jahren gefühlsmäßig immer weiter von der Bedeutung »Heimat« entfernt hatte.

Die Einrichtung des Restaurants war ähnlich wie das Zimmer mit einem Blick für Details und Stilsicherheit ausgestattet. Die Vorhänge und Tischläufer waren aus naturfarbenem Leinen, die Dekoration bestand aus knorrigen Ästen und Feldsteinen. Das dicke weiße Porzellan und funkelnde Gläser, eingedeckt wie in einem gehobenen Restaurant, wirkten sehr einladend.

Ida wählte einen Platz am Fenster mit Blick auf den Hotelvorplatz, so lagen auch die übrigen besetzten Tische mit einem Pärchen und zwei Familien in ihrem Blickfeld. Sie bemerkte die verstohlenen Blicke der Gäste, Satzfetzen in bayerischem Dialekt sagten ihr, dass es Einheimische sein mussten. In Kürze würde es die Runde im Dorf machen, dass sie hier wohnte, während sie den Rupertihof renovierte. Wie bei der Flüsterpost würde mit jedem Weitergeben die Nachricht mit neuen Details ausgestattet werden, denn jeder wusste natürlich noch etwas ganz Besonderes, das er hinzufügen musste. Daran hatte sich sicher nichts geändert, aber im Gegensatz zu früher konnte sie das heute gut aushalten. Im Gegenteil, sie war neugierig, was dabei herauskommen würde, denn irgendwann würde die »Neuigkeit« sie selbst erreichen, und sicherlich gab es dann etwas zu lachen.

Sie bestellte sich zum Rotwein eine Karaffe Quellwasser vom hauseigenen Brunnen, um den »innerlichen« Staub wegzuspülen. Während sie das köstliche und mit Kräutern dekorierte Gericht aß, verließen die übrigen Gäste nach und nach das Lokal. Die meisten erhaschten beim Hinausgehen einen letzten Blick von ihr, manche nickten ihr auch zu, ohne sie zu kennen. Etwas belustigt lächelte sie mit dem Gedanken zurück: Schaut mich nur an, damit ihr möglichst viel zu reden habt.

Als das Dessert serviert wurde, saß Ida allein in der Gaststube. Maria stellte den Topfenstrudel vor sie hin und fragte, ob sie einen Schnaps auf Kosten des Hauses zur Begrüßung bringen dürfe.

»Normalerweise trinke ich keinen Schnaps, aber heute, zur Feier des Tages, gern«, erwiderte Ida.

»Das freut mich, ich bring was für uns beide.«

Als Maria sich zu Ida setzte, stießen sie an, und Maria hieß sie herzlich willkommen. »Auf die Heimkehr!«

»Na ja, direkt eine Heimkehr ist es nicht, denn auf dem Hof habe ich nie gelebt. Der Hof meiner Eltern ist vor vielen Jahren abgebrannt.«

»Des wusst ich net. Mit dem Hof hast du das große Los gezogen, nicht schlecht«, raunte Maria.

»Ja, es ist ein wirklich schönes Anwesen, aber ich werde es vermutlich nicht behalten.«

»Das bedeutet, du bleibst nicht hier?« Enttäuschung klang aus Marias Worten.

»Das ist zumindest der Plan.«

»Du weißt scho, dass das a echte Schinderei ist, den Hof zu renovieren? Und Geld brauchst a an Sack voll.«

»Ich habe meinen Firmenanteil verkauft und will von hier aus meinen Neuanfang planen.« Ida wunderte sich über sich selbst, da sie normalerweise Fremden gegenüber wenig von sich erzählte. War es der Schnaps, den Maria mehrmals nachgeschenkt hatte, oder die geschickten Fragen der anderen, dass sie so redselig wurde?

»Na dann, auf einen guten Start, ich freu mich, dass du da bist.«

Ida lehnte sich zurück, ihr war wohlig warm und ein bisschen schwindelig. Sie kicherte. »Ich dachte schon, hier will mich keiner.«

»Ich versteh, was d’ meinst. Ich steh selbst ständig unter Beobachtung, obwohl ich nun schon fast neun Jahre hier bin. Bisher gabs koan, mit dem ich warm gworden bin. Aber vielleicht verstehn wir beide uns ganz gut, ich hab in deinem Ausweis gsehn, du bist nur knapp drei Monate jünger als ich.«

Maria wechselte zwischen Hochdeutsch und dem ortsansässigen Dialekt, Ida hatte ihren Dialekt vollständig abgelegt. Als sie nach München gegangen war, hatte ihr Lehrherr Hochdeutsch von ihr erwartet, was ihr anfangs kaum über die Lippen gekommen war. Nach einer Weile hatte sie erkannt, dass durch das Hochdeutsch ein Abstand zu ihrem Zuhause entstanden war, der ihr das Heimweh, das sie trotz aller schmerzhaften Erinnerungen ab und zu geplagt hatte, leichter gemacht hatte.

Verstohlen unterdrückte sie ein Gähnen.

»Geh ruhig schlafen, ich decke noch die Tische für das Frühstück, dann bin ich auch im Bett.«

Ida erhob sich und musste sich mit beiden Händen am Stuhl festhalten, da sie leicht schwankte. »Oje, das war mehr Schnaps, als ich vertragen kann«, entschuldigte sie sich. »Ich wünsche dir eine gute Nacht.«

Bestandsaufnahme

Mit einem Notizblock ausgestattet ging Ida von Zimmer zu Zimmer. Schnell wurde ihr klar, dass viel zu tun war, um hier wohnen zu können. Mit jedem weiteren Raum erkannte sie, dass das viel Zeit, Geld und vor allem auch fachkundige Handwerker in Anspruch nehmen würde. Die Zimmer im oberen Stockwerk waren bis auf einzelne Truhen und eine Kommode in den Schlafzimmern leer geräumt, diese Arbeit blieb ihr schon mal erspart. Das Bad aus den 70er-Jahren war spartanisch ausgestattet. Ein Blick in den Kleiderschrank sagte ihr, dass die wenigen Stücke bei der Kleiderkammer in München gut ankommen würden. Das Bettgestell ließ sich sicher leicht zerlegen und zusammen mit dem Schrank entsorgen. Nur die Schubladenkommode würde sie stehen lassen, frisch aufpoliert würde ein schönes altes Stück daraus werden.

Sie fasste den Plan, zuerst die geräumige Küche mit einer intensiven Putzaktion nutzbar zu machen, damit sie sich darin aufhalten konnte. Die Wände müssten gestrichen, der Boden abgeschliffen und gewachst werden.

Ihre Liste, was sie besorgen musste, wurde länger und länger, von Putzmitteln bis hin zu Farbrollen und Wandfarben notierte sie alles.

Im Hotel angekommen traf sie an der Rezeption auf Johannes, Maria hatte wohl einen freien Tag. Er erklärte ihr den Weg zum Baumarkt und gab ihr noch den Tipp, sich dort an einen Freund von ihm zu wenden, der sich mit allem auskenne. Ida war überrascht, dass er keinerlei Anzüglichkeiten äußerte. Vielleicht war er doch angenehmer als zuerst angenommen.

Marias Besuch im Pflegeheim

Maria fuhr nach München ins Pflegeheim, in dem ihre Mutter Kreszentia mit schwerer Demenz seit langer Zeit lebte. Niemand wusste von ihrer Existenz, denn die offizielle Version lautete, ihre Mutter sei längst gestorben. Im Pflegeheim hatte sie sich als entfernte Verwandte von Zenzi vorgestellt. Sie wollte nicht als Tochter mit diesem Wrack in Verbindung gebracht werden, als könnte sie dadurch vermeiden, ein ähnliches Schicksal zu erleiden. Die Kosten der Unterbringung wurden von dem Konto ihrer Mutter abgebucht, so kam auch der Sozialdienst nicht auf den Gedanken, nach einem Verwandten zu suchen.

Die dunkle Kurzhaarperücke und ein mausgraues formloses Kostüm, das sie sich vor einiger Zeit zusammen mit einer geblümten Rüschenbluse gezielt in einem Billigkaufhaus für ihre Besuche besorgt hatte, wirkten wie eine Tarnkappe. Keiner käme auf die Idee, sie mit der strahlenden Maria, die immer teuer gekleidet war, in Verbindung zu bringen.

Endlich, nach vielen Jahren der Unterdrückung durch ihre Mutter, konnte sich Maria alles von der Seele reden, was sie belastete. Ihre Mutter konnte ja nicht antworten. Ein Arzt hatte Maria vor einigen Jahren dringend zu einer Therapie geraten, aber sie hatte sich geweigert, einem Dritten Einblicke in ihre vermurkste Vergangenheit zu gewähren. Ihrer Mutter alle schlechten Erinnerungen und üblen Erfahrungen unkommentiert vorwerfen zu können war in ihren Augen besser als jede Therapie. Auf die Genugtuung, die sie dabei empfand, folgte stets eine kurze Zeit der Entspannung und Erlösung. Leider hielt das nie lange an, und ihre Nerven wurden bis zum nächsten Besuch auf eine harte Probe gestellt.

Die Unruhe, die ihre Mutter nach jedem ihrer Besuche plagte, führten die Pfleger auf den seltenen Besuch und die damit verbundene Aufregung zurück. Keiner kam auf den Gedanken, dass es die Sprachlosigkeit war, zu der Kreszentia verdammt war.

»Grias di, Tante Zenzi«, ließ Maria noch für die Pflegerin verlauten, und kaum war die Tür geschlossen, legte Maria auch schon los.

»Schade, dass sie dich nicht genauso lieblos versorgen, wie du mich früher als Kind behandelt hast, verdient hättest du es.« Sie beugte sich zum Bett hinunter. »Hast vergessen, wie du mit mir umgegangen bist, hm? Die Omili hat mir alles erzählt, hast wohl geglaubt, ich erfahre es nie?«

Sie stocherte mit ihren Fingern mehrmals in die Bettdecke.

»Vier Wochen nach der Entbindung hast du mich allein zu Hause liegen lassen und bist zum Bedienen aufs Oktoberfest gefahren. Wenn mich Omili nicht hätte schreien hören und dich gefragt hätte, ob sie auf mich aufpassen dürfe, weiß ich nicht, was mit mir passiert wäre. Aber dafür liegst jetzt hier und bist deim Schicksal ausgeliefert. Eigentlich gehts dir viel zu gut, wenn ich es recht bedenke. Verdient hast du es jedenfalls nicht, ich hätt dich einfach nach deinem Treppensturz im Suff liegen lassen sollen.«

Maria hielt kurz inne und erinnerte sich an die dumpfen Schläge, als der Kopf und der Körper immer wieder auf die nächste Stufe aufgeschlagen waren, bis Kreszentia mit verdrehten Armen und Beinen auf dem Treppenabsatz liegen geblieben war. Keiner hatte es fassen können, dass sie dort einfach weitergeschlafen hatte, selbst die Sanitäter waren fassungslos gewesen.

Gedanklich sprang Maria wieder zurück zu ihrer Kindheit.

»Weißt, Omili war das Beste, was mir passieren konnte, ja, was mir überhaupt im Leben passiert ist. Von ihr wurde ich vom ersten Tag an mit Liebe und Zärtlichkeiten überschüttet, sie hat mich wie ihr eigenes Kind behandelt. Sie hat mich in den Kindergarten und in die Schule gebracht und abgeholt. Das Einzige, was ich von dir hörte, war dein ständiges Nörgeln und deinen Frust, wenn du wieder mal zu wenig Trinkgeld bekommen hattest. Ich werds nie vergessen, als ich mit einem Loch in der Strumpfhose weinend nach Hause kam. Dir war es vollkommen egal, wie das hatte passieren können. Statt mich wegen der aufgeschlagenen Knie zu trösten, hast du getobt und dich in Rage hineingesteigert – und mich zum Schluss geschlagen.«

Ende der Leseprobe