Das Leuchten der Gipfel - Heidi Grund-Thorpe - E-Book

Das Leuchten der Gipfel E-Book

Heidi Grund-Thorpe

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Beschreibung

Ein einsames Bergdorf. Ein altes Familiengeheimnis. Und eine lebenslustige Yogalehrerin, die es zurück in die Heimat verschlägt. Für LeserInnen von Katharina Fuchs und Claire Winter, die sich in der Enkelin-Großmutter-Thematik wiederfinden Als die kunterbunte Bekka aus Berlin zurück in ihr Heimatdorf in den Alpen fährt, hätte sie nicht damit gerechnet, dass sich ihr ganzes Leben verändern würde. Als sie die Strickkunst ihrer Großmutter Nanny bewundert, kommt ihr eine Geschäftsidee, mit der sich auch ihr Job als Yogalehrerin verbinden lässt. Doch der attraktive Nachbarssohn Vitus sorgt für Unruhe – genauso wie das alte Familiengeheimnis und eine langzurückreichende Fehde zwischen den Familien, die noch nicht besiegelt ist. 

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© Piper Verlag GmbH, München 2022

Redaktion: Julia Feldbaum

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Covergestaltung: Traumstoff Buchdesign traumstoff.at

Covermotiv: Bilder unter Lizenzierung von Shutterstock.com genutzt

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Prolog

1. April 1933

17. Juni 1933

Januar 2021

Bekkas Ankunft

Der erste Abend

Juli 1948, Christchurch, Neuseeland

Januar 2021

Bekkas Fundstücke

Eine Bestandsaufnahme

Der Alltag beginnt

Oktober 1948, Christchurch, Neuseeland

Januar 2021

Die Wanderung

Nannys erste Yogastunde

Februar 2021

Socken, Socken, Socken

Die Polizei am Hauserhof

März 1949, Christchurch, Neuseeland

März 2021

Bekkas Shop

Bekkas Panne

Der Verkauf geht online

Bekkas Krieger

Bekkas Zukunft, Nannys Vergangenheit

Oktober 1949, Christchurch, Neuseeland

März 2021

Ein unerwarteter Besucher

Die ersten Bestellungen

März 2021

Besuch am Wochenende

Januar 1950, Christchurch, Neuseeland

März 2021

Auf der Hauseralm

Der Familienrat

Der Onlineshop

Der Angriff

Mai 1951, Christchurch und Wellington, Neuseeland

März 2021

Die Sache mit der Großfamilie

Der Corona-Schreck

April 2021

Von allem zu viel

Auf dem Berg

Zum Nonnenhorn

März 1952, Christchurch, Neuseeland

April 2021

Die Yogasocken

Angst um Benji

Nannys Bedenken

Ärger im Stockacherhof

Lotte zieht ein

Yoga geht Online

Februar 1959, Christchurch, Neuseeland

Mai 2021

Vorbereitungen für den Neustart

Nicos Ankunft

Nicht eingeplant

Juni 1959, Christchurch, Neuseeland

Mai 2021

Biowolle und Exoten

Die Sache mit dem Urheberrecht

August 1959, Christchurch, Neuseeland

Mai 2021

Die Woll-Lust

November 1959, Christchurch, Neuseeland

Juni 2021

Der Endspurt

Ein langer Montag

Die Briefe

Der Guggenbühl rutscht

Ein blaues Regencape

Hoffen und Bangen

Der Weg ist frei

Ruhe in Frieden

Danksagung

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Prolog

1. April 1933

»Die Vorsuppe war wieder mal köstlich, Afra.« Miriam zwinkerte ihrer Köchin zu, während diese die Schüsseln mit dem Hauptgericht servierte. »Und dieser verlockende Duft von den Karotten und dem sauren Kartoffelgemüs. Ich könnt direkt auf die Fleischpflanzerl verzichten.« Miriam reckte ihre Nase in die Luft.

»Des bisserl Fleisch in die Pflanzerl schad ned, wenn i des so sagn darf, Sie könnens vertragn.«

»Dass du dich auch immer so sorgst um mich.« Miriam nickte Afra anerkennend zu. »Die Süßspeis trag ich später selbst auf, du kannst ruhig schon nach Hause gehn. Und nimm die Reste aus der Küche mit, für uns ist es eh zu viel.«

»Gnädige Frau Miriam, ein herzliches Vergelts Gott, sag ich. Meine Kinder wern sich unbandig gfrein. I mach mi dann, mit Ihrer Erlaubnis, gleich aufn Weg.« Mit einem Knicks in Richtung der Herrschaften verließ sie das hell erleuchtete Speisezimmer.

Miriam wusste, dass bei Afra zu Hause ihr arbeitsloser Mann, ihr siebenjähriger Sohn und die beiden halbwüchsigen Kinder ihrer verstorbenen Schwester auf sie warteten, die sicher hungrig über das Essen herfallen würden. Außerdem wollte Miriam mit ihrem Mann allein sein, sie musste dringend ungestört mit ihm reden.

Als Arthur Goldstein am frühen Abend aus dem Geschäft zurückgekommen war, war ihm eine kaum spürbare Spannung angehangen. Für Miriam fühlte es sich an wie eine kurz vor dem Reißen gespannte Saite auf ihrer Geige, im Geiste erwartete sie ständig das »Pling«. Normalerweise ließ Arthur, wenn er die Haustür hinter sich schloss, die Vorkommnisse in der Firma oder Ereignisse der Politik, die sich seit der Machtübernahme Hitlers überschlugen und die auch ihr Unternehmen betrafen, draußen. Er streifte alles, was die heile Welt seiner von ihm vergötterten Gemahlin und seines zehnjährigen Sohnes Jakob in irgendeiner Weise bedrohen könnte, gleichsam mit dem Schmutz unter den Schuhen auf dem Fußabstreifer vor der Eingangstreppe ab. Dafür hatte er die prächtige Gründerzeitvilla im Münchner Stadtteil Bogenhausen, direkt am Hochufer der Isar gelegen, als Wohnsitz für die kleine Familie ausgewählt: Sie sollte eine Trutzburg gegen alle Unbill von außen sein.

Selbst seine Begrüßung, als er sie in den Arm nahm und küsste, war anders. In der Umarmung fehlte die Leichtigkeit, sie war etwas ungelenk und distanziert, sein Blick streifte sie nur kurz, die gewohnheitsmäßige, aber immer ehrlich interessierte Frage nach ihrem Befinden blieb aus. Heute war etwas mit ihm durch die Tür geschlüpft, das sie nicht hatte fassen können.

Aber sie würde es herausfinden. Miriam war eine Frau, die auf Klärung pochte, und sie wich keinem Thema aus. Beide hatten sich vor der Heirat versprochen, niemals etwas Unausgesprochenes zwischen sich stehen zu lassen, auch wenn es schmerzte.

»Wenn du fertig bist, räume ich ab und wir essen die Nachspeise.« Miriam hatte nur wenige Bissen gegessen, und aus den Augenwinkeln sah sie, dass auch Arthur nur auf dem Teller herumstocherte und das Essen hin- und herschob.

Sie nahm die Teller zusammen, stand auf und holte das Dessert.

»Da schau her, Afra hat deine Lieblingssüßspeise gemacht, Grießpudding mit Blaubeerkompott.« Sie stellte das Schüsselchen vor ihm ab und legte den Arm um ihn. »Gehts dir nicht gut?« Arthur wich ihrem Blick aus. Miriam dagegen fixierte ihn. »Ich glaub, wir haben was zu bereden, oder?«

»Ach verzeih, mein Herz, ich hab nicht gleich bemerkt, dass du ein neues Gwand hast. Es kleidet dich hervorragend, der Grünton unterstreicht deine Augen, und es betont deine wunderbare Figur.« Arthur strich mit den Händen über ihre Hüften, nahm seine Finger dann aber sofort wieder weg. Als Textilhändler und -fabrikant kannte er jedes einzelne Kleidungsstück seiner Frau, er schätzte ihren stilsicheren Geschmack und ihre Kreativität, mit der sie die Hausschneiderin zu ungewöhnlichen Konstruktionen anregte.

Die Begeisterung Miriams für die bayerischen Trachten flossen in ihre Kostüme und Kleider ein. Leider war es als Frau ihres Standes nicht angemessen, Dirndl zu tragen, denn das wäre ihr am liebsten gewesen. Aber sie fand immer eine Möglichkeit, mit miederartigen Oberteilen in Anlehnung ans Dirndl ihre schlanke Figur zu betonen und einen neuen Stil zu erschaffen. Exklusive Stoffe wie Seide und Samt unterstrichen die Eleganz der Schnitte, viele ihrer Freundinnen baten immer wieder darum, ihre Ideen kopieren zu dürfen. Wenn dann Arthur das Aussehen der Damen in Gesellschaft honorierte, folgte dem Dank oft ein leises, fast unhörbares Seufzen, dass er sicher wisse, dass es eine Kopie von Miriams Entwurf sei. Arthur unterdrückte meist ein schelmisches Grinsen und lobte anerkennend, das Individuelle der Trägerin mache das Ganze doch erst einmalig. Die Damen schmachteten ihn an, nicht nur wegen seines guten Aussehens, sondern auch, weil er sich tatsächlich als Mann nicht zu schade war, über Mode zu sprechen.

»Es freut mich, dass dir mein neues Kleid gefällt, aber das meine ich nicht.« Miriam schenkte ihm Wein nach und rückte etwas näher zu ihm hin. »Etwas bedrückt dich.« Sie stellte gar nicht erst eine Frage, sondern konfrontierte ihn mit ihrer Feststellung.

Erneut wich er ihrem Blick aus, erst nach einigem Zögern wandte er sich ihr zu.

Sie erschrak. Als hätte er eine Maske abgezogen, saß nun ein anderer Mensch vor ihr. Seine positive und aufrechte Haltung war gefallen.

Er nahm ihre Hände und legte sie vor sich auf den Tisch, dabei streichelte er immer wieder zärtlich darüber. Miriam spürte, wie er Mühe hatte, die Fassung zu wahren. Er suchte nach Worten und schüttelte immer wieder den Kopf, als fände er nicht den richtigen Anfang. Erst nach einem tiefen Seufzer begann er zu sprechen.

»Heute wurde die Bevölkerung öffentlich aufgefordert, alle jüdischen Geschäfte, Ärzte und Rechtsanwälte zu boykottieren. Auf dem Weg zu einem Einzelhändler in der Theatinerstraße, einem Kunden unseres Handelshauses, wurde ich durch uniformierte Soldaten und aufgewiegelte Bürger davon abgehalten, das Haus zu betreten. Schaufenster von jüdischen Geschäften wurden eingeschlagen, davor postierten sich Uniformierte. Der Mob schwadronierte auf der Straße«, er seufzte tief, »es war einfach entsetzlich. Seit der Machtübernahme Hitlers am 30. Januar deutete sich Schlimmes an, und die heutigen Geschehnisse weisen auf eine Entwicklung hin, die ich zwar befürchtet, aber nicht so schnell erwartet habe.« Während Arthur sprach, sackte er immer mehr in sich zusammen. Sein Entsetzen spiegelte sich in Miriams Zügen, ihre rosige Gesichtsfarbe hatte einen bleichen Grauton bekommen.

»Gut, dass Jakob bei meinen Eltern ist und nicht hier in München. Oder meinst du, in Murnau ist es genauso schlimm?« Sie schlug die Hand vor den Mund.

»Es ist zu befürchten. Morgen werd ich gleich von der Firma aus telefonieren. Sicher hätten sich deine Eltern gemeldet, wenn etwas vorgefallen wäre.«

Miriam wusste, dass er sie beruhigen wollte, aber sie musste auf der Stelle erfahren, wie es Jakob ging, und lief mit schnellen Schritten im Zimmer hin und her. »Wenn Papa sich doch bloß nicht gegen ein Telefon gewehrt hätte! So müssen wir immer warten, bis dein Kompagnon im Geschäft ist und sie benachrichtigen kann.«

»Das hilft jetzt nichts, morgen früh wissen wir mehr, Liebes.« Arthur wandte sich mit ernstem Ausdruck an Miriam.

»Ich bitte dich, geh nicht mehr allein aus dem Haus. Was dir vor wenigen Wochen passiert ist, könnte dich jetzt ins Gefängnis bringen, oder weitaus Schlimmeres könnte dir drohen.«

Miriam war mit ihrer Freundin Edda bei Dallmayr in der Dienerstraße verabredet gewesen. Auf ihrem Weg dorthin hatte sie beobachtet, wie ein blutjunger Bursche einen alten Mann mit Kippa bedroht und brutal auf ihn eingeschlagen hatte, weil er ihm aufgrund seiner Gehbehinderung nicht schnell genug aus dem Weg gehen konnte. Miriam hatte versucht, mit ihrem Stockschirm den jungen Mann abzudrängen, worauf er sie mit voller Wucht gegen die Wand geschleudert hatte. Er hatte nach der Polizei gerufen, nur durch die schmeichelnden und anbiedernden Beschwichtigungen Eddas hatte er sich beruhigen lassen. Sie hatte ihm hinter vorgehaltener Hand zugeflüstert, dass Miriam mit Eheproblemen kämpfe und deswegen etwas zu tief in Glas geschaut habe. Er solle bitte über den Vorfall von eben hinwegsehen, denn ihr Mann habe sich mit einer Jüngeren eingelassen. Miriam war entsetzt gewesen und hatte zu ihrem Glück vor Schock nicht antworten können.

»Arthur, ich verspreche dir, im Haus zu bleiben. Aber wie soll das weitergehen, wie soll Jakob, wenn er von den Eltern zurückkehrt, in die Schule kommen? Das erscheint mir alles aussichtslos. Unser schönes München, von solchen Barbaren heimgesucht, es ist unfassbar. Ich habe mich hier immer so sicher gefühlt.« Miriam konnte ihre Tränen nicht zurückhalten, ihre Verzweiflung machte sie fast ohnmächtig.

Arthur nahm sie fest in die Arme und wiegte sie wie ein Kind. »Liebes, wir hatten doch erst vor Kurzem darüber gesprochen, dass wir München verlassen werden, wenn sich die politische Situation zuspitzt.« Seitdem hatte er nach einem Käufer für die Firma gesucht, und es gab einige ernst zu nehmende Interessenten. Für ihn war entscheidend, dass der Käufer einem Rückkauf nach einigen Jahren, wenn sich die politische Situation wieder beruhigt hätte, zustimmte. Er würde den Verkauf möglichst schnell in die Wege leiten, da durch die von der Politik geschürten Aggressionen gegen die Juden mit einem Absturz der Preise zu rechnen war. Aber trotz allem, es gab noch ehrliche Menschen, in die er Vertrauen setzte. »Unser Vermögen ist zu einem Teil schon in Gold angelegt, einen Teil werde ich nach Neuseeland transferieren. Dort lebt mein Bruder, der das alles für uns verwalten und verwahren kann. Und dann werde ich einen Teil der Lösung, die wir vor unserer Hochzeit beschlossen haben, umsetzen.«

Miriam hob den Kopf zu ihm, ihre Stimme klang fremd und blechern, ohne jede Emotion. »Tu das, mein Liebling.«

17. Juni 1933

»Ist es so weit?« Miriam hätte die Frage nicht stellen müssen, sie spürte es, sie sah es Arthur an. Das tonnenschwere Gewicht der Verantwortung, unter dem seine aufrechte Haltung sich in den vergangenen Wochen mehr und mehr gebeugt hatte, seine fahrigen Bewegungen und auch sein leichtes Aufbrausen – all das war neu für Miriam, das gehörte nicht zu dem Arthur, den sie kannte. Er versuchte immer noch, schlechte Nachrichten, Erniedrigung und Schmach von ihr fernzuhalten. Für Jakob hatte er einen Privatlehrer gefunden, um ihm die öffentliche Schule zu ersparen.

Sie fühlte sich wie in einem Glashaus. Sie wollte raus, die Menschen aufrütteln, alle darauf hinweisen, was um sie herum passierte. Durch Afra erfuhr sie, was sich auf den Straßen abspielte. Die Tageszeitung bestätigte Afras Berichte, ihr Entsetzen wuchs ins Unermessliche. Auch wenn sie München liebte und es sich nie hätte vorstellen konnte, jetzt war es an der Zeit, ihr elegantes Haus zu verlassen, um ihr Kind in Sicherheit zu bringen. An sich selbst dachte sie dabei überhaupt nicht.

»Setzen wir uns in mein Arbeitszimmer, dort sind wir ungestört?« Jeder im Haus wusste, wenn der Hausherr dort verweilte, gab es außer einem Notfall keinen Grund, ihn zu stören.

Miriam nahm ihm gegenüber am Schreibtisch Platz. Schweigend zog Arthur drei kleine Schatullen aus der Tasche seiner Anzugjacke und legte sie nebeneinander vor sich hin. Sie erkannte, dass auf den Deckeln Jakob, Miriam und Arthur eingraviert war.

Miriam beobachtete stumm jede seiner Bewegungen, ihr früheres launiges Geplapper hatte sie sich in den vergangenen Wochen abgewöhnt, es blieben nur noch scharfsinnige Kommentare, die sie sich aber auch meistens verkniff.

Arthur holte tief Luft und legte beide Hände auf den Schreibtisch. »Alles, was ich dir jetzt sagen muss, fällt mir äußerst schwer, aber ich halte mich an unser Versprechen, offen und ehrlich miteinander umzugehen.« Er sah Miriam auffordernd an, als wollte er hören, er solle sich nicht an das Versprochene halten.

Miriam nickte schweigend.

»Die Firma hier in München habe ich an einen früheren Kunden verkauft, zu einem niedrigen, aber akzeptablen Preis. Unser Haus übernimmt Korbinian Stockacher aus Hochkogel. Du erinnerst dich sicher an ihn, während unserer Sommerfrische auf dem Hauserhof haben wir öfter mit ihm gesprochen. Ich werde, solange es die politische Situation noch irgendwie zulässt, in der Firma als Geschäftsführer weiterbeschäftigt. Für Afra habe ich auch gesorgt, sie und ihr Mann wie auch alle bisherigen Angestellten können bei meinem Nachfolger weiterarbeiten.«

Miriam atmete hörbar auf.

»Jetzt kommt für mich der schlimmste Teil«, er kämpfte mit den Tränen. »Du und Jakob, ihr werdet zu einem langjährigen Freund unserer Familie, Roman von Hollweg, ziehen. Offiziell steht er auf der Seite von Hitler, leistet aber im Untergrund Widerstand. Er wohnt südlich von München vollkommen abgeschieden in einer kleinen, alten Villa. Du wirst seine Ehefrau, und Jakob als sein Ziehsohn erhält Privatunterricht.«

Miriam sprang auf, dabei fiel ihr Stuhl nach hinten. »Niemals, was hast du dir dabei gedacht?« Sie stemmte beide Hände auf die Schreibtischkante und richtete sich deutlich auf. Sie wirkte größer, als sie eigentlich war.

»Mein geliebtes Herz, das ist die einzige Lösung für euch. Roman hat alle Papiere anfertigen lassen, die jeder Überprüfung standhalten sollten: eine Bescheinigung für unsere Scheidung genauso wie die Dokumente für die Eheschließung zwischen dir und Roman. Sollte es für mich hier in München zu unsicher werden, dann kann ich immer noch fliehen, allein ist das viel einfacher. Ihr beide seid bei Roman sicher, mehr als irgendwo sonst auf der Welt. Du weißt, dass es mir das Herz bricht, dich gehen zu lassen.«

Miriam lief zu ihm hin und klammerte sich an ihn, sie hatte ihn noch nie weinen sehen. Sie konnte es nicht ertragen – ihr starker Arthur, in Tränen aufgelöst. Auch sie weinte, sie konnte sich nicht mehr beherrschen. Sie trösteten und küssten sich, sie wiegten sich und klammerten sich aneinander.

Eine gemeinsame Flucht der Familie nach Neuseeland hatte Arthur schon in Erwägung gezogen, aber sowohl Eltern als auch Schwiegereltern hatten es abgelehnt, deswegen sah er sich genötigt, zu bleiben und sie solange wie möglich zu unterstützen. Sein einziger Hoffnungsschimmer war, dass sich die NSDAP langfristig nicht durchsetzen würde. Dann könnten Miriam und Jakob wieder zurückkommen, das Rückkaufsrecht für seine Firma und die Villa hatte er vorsorglich im Kaufvertrag fixiert.

Nach vielen Stunden, in denen sie alle denkbaren Alternativen durchgespielt hatten, wie sie sich vor den Nazis schützen und verbergen konnten, erkannte Miriam, dass Arthurs Vorschlag der einzig richtige war.

Er öffnete die Schatulle mit ihrem Namen. »Und hier ist die endgültige Lösung, wie wir sie besprochen haben. Die Elfenbeinplatte dieses Rings lässt sich zur Seite schieben, darunter ist eine winzige Kapsel, gefüllt mit Zyankali, versteckt. Bevor uns jemand irgendein Leid zufügt, ist das unser Weg in die Freiheit.«

Januar 2021

Bekkas Ankunft

»Ja, Madl, is des a Freid, dass du mi bsuachst«.

Bekka konnte es kaum glauben. Sie hatte mit Ablehnung gerechnet und war bereit gewesen zum sofortigen Rückzug. Alles hatte sie erwartet, nur nicht diese herzliche Begrüßung ihrer Oma Nanny. Sie ließ sich immer tiefer in deren Arme fallen. Die Umarmung umhüllte sie wie ein Kokon, dessen Seidenfaden aus Geborgenheit und Liebe bestand. Nichts Unangenehmes, nur Vertrautes – als hätte es die letzten zehn Jahre nicht gegeben.

»Kemmts einer in die gute Stubn, I hab grad an Kaffee aufgsetzt, und an Topfenstrudel hab i a. Mei, is des schee, so a Freid.«

Während Nanny ihre Enkelin und deren Vater Benji, ihren Sohn, der sich wortlos im Hintergrund hielt, in die Wohnküche schob, wiederholte sie es wieder und wieder. »Is des a Freid. Hats dir in Berlin nimmer gfoin, hast Sehnsucht ghabt nach de Berg?« Die Oma tätschelte Bekkas dunklen Lockenschopf und drückte ihre Enkelin immer wieder an sich. Sie äußerte sich nicht über die bunten Strähnen am Pony, obwohl Bekka sie mehrmals um ihre Finger gewickelt hatte und vor Nervosität hin und her zwirbelte.

Bekka schloss die Augen. Das war es, was ihr gefehlt hatte, die Herzenswärme von ihrer Oma Nanny. Sie umarmte die alte Frau, und Tränen flossen. »Ach, Nanny … es tut mir furchtbar leid, dass ich mich nicht mehr gemeldet habe. Ich …«

»Lass guad sei, Madl, ois hat sei Zeit. Aber erzähl, wie is dir ergangen? Studiert hast, hat der Benji erzählt, und gleich zwei Abschlüsse hast in der Daschn! Kannst stolz sei auf di.«

Stolz? Das Gefühl war ihr fremd. Früher, ja, da war sie vor Stolz geplatzt, wenn sie eine gute Note nach Hause brachte oder mit den Eltern zusammen einen Gipfel bestieg, ein Tennisturnier gewann oder von der Nanny gelobt wurde, weil sie die Tageseinnahmen des Gasthauses sorgfältig eingetragen hatte und bis auf den Cent alles stimmte. Aber in den letzten Jahren war ihr dieses Gefühl abhanden gekommen, vermutlich, weil es niemand gegeben hatte, der sich dafür interessiert hätte.

Sie saßen in der Wohnküche, genauso wie früher. Ihr Vater Benji am Kopfende, Bekka auf der Chaiselongue und Nanny gegenüber auf dem Lehnstuhl, der mit Kissen ausgepolstert war. Die Kuhle auf dem Sofa fühlte sich noch genauso an wie früher, eine der Polsterfedern stach durch den Velourbezug und pikste sie in den Po. Sie grinste über diese vertraute Stichelei, als wäre es eine Begrüßung. Der Duft des frisch aufgebrühten Kaffees vermischte sich mit den süßlichen Schwaden des Strudels, der rauchige Geruch des leise knisternden Herdfeuers, mit dem Nanny selbst im Sommer kochte – Bekkas Sinne erkannten all das wieder, es hatte sich für immer in ihre DNA eingebrannt.

Nanny öffnete die Tür des Geschirrschranks, das quietschende Scharnier erklang wie früher in der gleichen Klangfolge. Den letzten Ton, der schon immer ausgeblieben war, pfiff Bekka.

Alle drei lächelten, jeder hatte darauf gewartet.

Nanny reichte Bekka einen Teller, den sie zuunterst aus dem Tellerstapel hervorholte. »Meinen Lieblingsteller, den hast du noch?« Bekka strich mit der Fingerkuppe rund um den Rand, der mit Vergissmeinnicht-Blümchen bemalt war. Sie stoppte an einer bestimmten Erhebung, sie würde sie auch blind ertasten. Dieses Blümchen war nur auf ihrem Teller, auf allen anderen Tellern des Services, das seit jeher nur an besonderen Tagen herausgeholt wurde, fehlte es.

Gewohnheitsmäßig wischte Nanny mit der Hand über das blitzblanke Wachstischtuch, bevor sie den Teller abstellte, und achtete darauf, dass trotz des riesigen Stücks Topfenstrudel das Blümchen sichtbar blieb. Jede Bewegung, jede kleinste Geste war Bekka vertraut. Nichts fehlte, nichts war dazugekommen.

»Lass da´ss schmegga Madl. Und erzähl mir, wies dir geht.«

Bekka mampfte vor sich hin. »In Berlin ging’s mir schon gut, vor allem anfangs war es sehr aufregend, ganz anders als in München. Nach dem Studium habe ich verschiedene Arbeitsstellen ausprobiert, bis Corona kam. Dann war alles weg, meine Jobs, meine Mitbewohner und sogar meine Wohnung.« Sie zögerte. »Ich hätte mich fast nicht getraut, einfach so bei dir wieder aufzutauchen, aber Papa meinte, das wär genau das Richtige für mich, jetzt zu dir zu ziehen.«

»Da hat er recht, dei Papa.« Sie nickte ihrem Sohn zustimmend zu. »Wie lang warst in München, dort is ja kaum Platz für drei Leit?«

»Ein paar Tage, dann hatten wir genug voneinander.« Sie lachte ihren Vater an. »Nein, ich finde wir haben uns super verstanden. Chiara war ausgesprochen lieb, obwohl ich Papa und sie vollkommen überrumpelt hatte mit meinem Besuch. Aber zu dritt in einer Dreizimmerwohnung wird der Platz schnell eng, vor allem, weil Paps und Chiara im Homeoffice arbeiteten und ich nie wusste, wie ich meine Zeit verbringen sollte. Wegen der Coronabestimmungen konnte ich ja nirgendwo hin, niemanden treffen, die Cafés und Kinos waren zu … einfach ätzend. Und in München halten sich die Leute viel krasser an die Vorschriften als in Berlin, da ging schon das ein oder andere.«

Der erste Abend

»Du konnst in dei oids Zimmer«

»Alles ist noch wie früher? Kann man den Turm noch besteigen?«

Das, was Bekka immer als ihren Turm bezeichnet hatte, war ein quadratischer Erker über dem Hauseingang mit einer riesigen Zwiebel als Abschluss, der den beiden darüberliegenden Stockwerke vorgelagert war und über den hohen First des Hauses hinausragte. Früher, lange vor Bekkas Zeit, war dort eine Glocke gehangen, mit der das Dorf beim Ausbruch eines Feuers oder bei nahendem Unwetter gewarnt wurde. Später, als die Glocke nicht mehr gebraucht worden war, hatte Nannys Mutter an allen vier Seiten Fenster einbauen lassen. So war daraus eine Art Turmzimmer mit dem Zugang über eine Wendeltreppe von Bekkas Zimmer aus geworden.

Bekka hatte als Kind im Turm Rapunzel und Dornröschen gespielt, stundenlang war sie in ihre Märchenwelt versunken. Sie wechselte die Rollen, einmal war sie der mutige Prinz, ein anderes Mal die verzauberte Prinzessin. An Nanny gekuschelt verfolgte sie im Turm schwere Gewitter, seitdem war ihre Angst davor verschwunden. Als sie älter wurde, bewunderte sie die Aussicht auf den Wendelstein und die umliegenden Gipfel, die nach Wetterlage zum Anfassen nah oder im Dunst weit weg und unerreichbar schienen. Und ganz besonders schön in ihrer Erinnerung waren die Nächte, in denen sie zwischen Mum und Paps in dicke Decken gewickelt den Sternenhimmel beobachtete. So hell und nah wie hier in den Bergen hatte sie das nie mehr erlebt.

Nicht einen Gedanken daran hatte sie sich in den vergangenen Jahren gestattet. Sie hatte ihre Erinnerungen in einem tiefen Schacht abgelegt und den Weg dorthin mit einigen Umleitungsschildern versperrt, um ihnen nicht zu nahe zu kommen. Als hätte sie Angst gehabt, diese Erlebnisse könnten ihr Leben, für das sie sich mit Beginn des Studiums in Berlin entschieden hatte, auf den Kopf stellen.

Aber jetzt kribbelte es in ihren Händen und Füßen, sie verspürte eine Lust und wollte plötzlich all das wiederfinden. Ob sie die alten mit den neuen Erlebnisse würde verknüpfen können?

»Alles is noch da, es wart nur auf di.« Nanny lächelte und stupste ihr auf die Nase. »I habs gwusst, dass du wiederkommst. I musst nur warten. Und i hätt a no länger gwart.«

Bekka stand auf und umarmte ihre Oma über die Stuhllehne hinweg. »Ach, Nanny, das tut so gut, hier bei dir zu sein. Und ich ärgere mich wahnsinnig, dass ich so a schlechte Enkelin war die letzten Jahre.«

Nanny schüttelte nur den Kopf und strich ihr über die Locken. »Passt scho, Madl, jetzt bist ja da.«

Benji schleppte unter übertrieben lauten Ächzlauten die beiden riesigen Koffer nach oben, den Rucksack schulterte Bekka selbst. »Was hast du bloß alles da drin, die sind ja Tonnen schwer?«

»Alles, Papa, das ist alles, was ich besitze.« Plötzlich liefen die Tränen, und Benji nahm sie in den Arm.

»Schsch. Ist alles a bisserl viel auf einmal. Wirst sehn, alles wird gut.«

Bekka wühlte ihre Waschtasche und ein ausgeleiertes Shirt aus dem Rucksack, alles Übrige würde sie in den kommenden Tagen auspacken. Nanny hatte das Zimmer schon vorbereitet, denn Benji hatte ihre Ankunft angekündigt. Bekka erkannte ihre Lieblingsbettwäsche mit den kleinen Röschen wieder – ihr Dornröschenbett. Selbst heute fand sie das Rosenmuster irgendwie gut … vintagemäßig. Sie warf sich aufs Bett und kuschelte sich ein, wie früher. Jetzt fehlte nur noch, dass Nanny hereinkam und ihr eine gute Nacht wünschte, aber dazu war sie wohl doch ein bisschen zu alt. Aber sie täuschte sich, denn es klopfte an der Tür, die einen Spalt geöffnet wurde.

»I hab denkt, i schau noch mal rein zu dir. Passt alles, brauchst was für die Nacht?« Nanny blieb im Türrahmen stehen.

»Machst du die Mumie?«

»Ja, freili, des tu i doch gern.« Als wäre kein Tag seit dem letzten Mal vergangen, schob die alte Frau die Ränder der Decke unter die ausgestreckt daliegende Bekka, erst die Längsseiten, dann die Querkante unter die Füße. »Und jetzt schlaf gut, mei Madl.« Nanny drückte ihr einen Kuss auf die Stirn und ging aus dem Zimmer.

Bekka starrte an die Decke, an schlafen war nicht zu denken. Ihre Gedankenkarussell drehte sich und wurde immer schneller, sie versuchte, einen Gedanken festzuhalten, um auszusteigen oder zumindest das Karussell zu verlangsamen.

Was war bloß in sie gefahren, dass sie den Kontakt zu Nanny mit jedem Jahr in Berlin mehr und mehr reduziert hatte? Anfangs hatte sie Nanny mindestens einmal im Monat angerufen, dann waren die Telefonate immer sporadischer geworden, und zum Schluss hatte sie an Nannys Geburtstag, an Weihnachten und manchmal zum neuen Jahr angerufen. Immer mit einem schlechten Gewissen, immer kurz angebunden, ohne dass es zwischen ihr und Nanny zu einem Streit oder irgendeiner Äußerung der Kritik oder Ablehnung gekommen war. Dabei hätte Bekka dringend jemanden gebraucht, mit dem sie den Schock der plötzlichen Trennung der Eltern und den damit verbundenen Verlust von allem, was ihr bis dahin wichtig gewesen war, besprechen und aufarbeiten hätte können. Mit ihrer Sprachlosigkeit hatte sie sich und die wichtigsten Menschen bestraft, die bis dahin zu den unverrückbaren Säulen ihres Lebens gehört hatten.

Dabei hatte Nanny mit der Scheidung ihrer Eltern nichts zu tun gehabt, sicher wäre es ihr auch lieber gewesen, dass die beiden zusammengeblieben wären. Paps war total verliebt in Lilly gewesen – bis zum Schluss und vermutlich weit darüber hinaus. Den Tag nach ihrer Abifeier würde sie nie vergessen, er hatte seitdem den Rest ihres bisherigen Lebens bestimmt.

Auf Wunsch ihrer Mutter sollte sie mit ihren Eltern frühstücken, Lilly hatte ihr das schon Tage vorher immer wieder gesagt. Natürlich wollte Bekka ausschlafen, denn die Abiturienten waren nach dem offiziellen Teil mit Eltern und Lehrern noch in den Englischen Garten gezogen, hatten Musik gehört, den mitgebrachten Alkohol getrunken und ausgelassen sich selbst und ihre neu gewonnene Freiheit gefeiert. Alle waren erleichtert gewesen, dass die Schulzeit hinter ihnen lag, sie hatten über ihre Pläne gesprochen, wo sie studieren, was sie lernen oder wohin sie reisen würden. Die Stimmung war heiter und gelöst gewesen, die Grüppchen und Pärchen waren zusammengesessen, wie sie sich in den Jahren der gemeinsamen Schulzeit gebildet hatten.

Lilly hatte den Wecker auf 8.30 Uhr gestellt. Kaum hatte Bekka ihn im Halbschlaf ausgeschaltet, kam Lilly schon ins Zimmer gestürmt. Sie sollte sich keinesfalls umdrehen und einfach weiterschlafen. Ein derartiges Verhalten kannte Bekka nicht von ihren Eltern, sie hatten immer großes Verständnis gezeigt, wenn sie nach Partys ausschlafen wollte oder auch mal einen Tag lang nicht ansprechbar war. Aber gerade nach ihrer Abifeier beharrten sie auf einem gemeinsamen Frühstück, was sollte das?

Als Bekka sich total verschlafen an den Terrassentisch setzte, schloss sie sofort die Augen, das Sonnenlicht war zu grell, es erzeugte Blitze auf ihrer Netzhaut. Die vertrauten Geräusche der bimmelnden Straßenbahn zwei Straßen weiter, das Rauschen des Verkehrs, selbst das Summen der Bienen im Garten wurden zum Störfeuer in ihrem Kopf. Lilly schenkte ihr eine Tasse Kaffee ein und fragte, ob sie einen frisch gepressten Saft haben wolle. Bekkas Antwort klang nach einem Brummen, ein Ja oder Nein war nicht zu verstehen. Wäre Bekka ausgeschlafen gewesen, hätte sie etwas bemerkt, denn ihr Vater saß still am Tisch, ohne sich über ihren Kater lustig zu machen.

»Let’s talk«, begann ihre Mutter, von Bekka zu Benji blickend, der den Kopf zur Seite drehte.

»Hat das nicht Zeit bis später«, stöhnte Bekka. »Heute Nachmittag bin ich bestimmt wieder fit.«

»Heute Nachmittag bin ich nicht mehr da, my dear.« Lillys Stimme überschlug sich, und Bekka riss erstaunt die Augen auf.

»Fährst du übers Wochenende weg oder was?«

»Ich fliege in wenigen Stunden nach England und übernehme dort einen Topjob in meiner Firma in London.«

Bekka kapierte es nicht. Warum wollte sie nach London, sie wohnten doch hier, und hier hatte sie ihre gut bezahlte Arbeit, ihr Traumjob in ihrer Traumstadt, wie sie es oft gesagt hatte. Was sollte das? »Wie, kommst du dann an den Wochenenden nach Hause? Und Paps …?« Bekka wandte sich ihrem Vater zu, der wie ein Häufchen Elend zusammengesunken am Tisch saß und auf seinen Teller starrte.

»Bekka, my dear, dein Vater und ich werden uns trennen.« Lillys sonst so tiefe und warme Stimme war hoch und schrill und klang in Bekkas Kopf wie ein Bohrer beim Zahnarzt.

Die Trennung ihrer Eltern, das kam in ihrem Universum nicht vor. Paps turtelte ständig mit Lilly und erklärte ihr täglich, auch im Beisein anderer, seine Liebe. Jeder bezeichnete sie als das Traumpaar schlechthin. »Paps, sag doch mal was.«

Bekka hoffte, dass er alles gleich als blöden Scherz darstellen würde, aber er schaute sie nur traurig an. Kein Wort kam über seine Lippen, er schüttelte den Kopf, stand hastig auf und flüchtete ins Haus.

Das, was Lilly ihr nun mit wenigen Worten, aber detailliert erklärte, kam bei ihr an, als würde sie ihr die Bedienungsanweisung für eine Spülmaschine darlegen. Lilly hatte eine Führungsposition bei ihrer Firma in der Filiale in London angenommen, sie sollte eine neue, internationale Abteilung aufbauen. Da sich ihre Liebe seit einigen Jahren sehr abgekühlt hätte, hätten sie und Benji schon länger beschlossen, sich zu trennen, wollten ihr das aber erst nach dem Abitur mitteilen und damit vermeiden, dass sie schulische Probleme in den beiden letzten wichtigen Schuljahren bekäme. Außerdem würde Bekka sich ab sofort sowieso abnabeln, das brächte ein Studium automatisch mit sich, dann würde sie die Trennung eh nicht hautnah miterleben.

Bekka fühlte sich wie schockgefroren, sie war zu keiner Bewegung oder Antwort fähig. Lilly war ihr in diesem Moment so fremd; sie hätte das Wort Mum nicht über die Lippen gebracht. Als Lilly sie aufforderte, etwas dazu zu sagen, begann Bekka erst leise, dann immer lauter und hysterisch kreischend zu lachen, bis Lilly sie an den Schultern fasste und schüttelte. Sie redete auf sie ein, sie müsse endlich erwachsen werden, schlimm genug, dass sie nie etwas davon gespürt habe, was zwischen ihren Eltern gelaufen sei. Sie hätten sie einfach zu sehr umsorgt, alles aus dem Weg geräumt, und nun sei sie nicht in der Lage zu erkennen, dass ihre Eltern das Recht auf ein eigenes Leben hätten.

Bekka schüttelte die Hände ihrer Mutter ab, sie konnte die Berührung nicht mehr ertragen. »Ja, Lilly, es stimmt, ich hatte das Leben einer Märchenprinzessin – im festen Glauben daran, alles, was ich erlebte, sei echt. Das Schauspiel ist euch perfekt gelungen, euer Drama ist nun zu Ende. Ich wünsche dir alles Gute für den Rest deines Lebens. Ohne mich. Ohne … uns.«

Bekka ließ die vollkommen verdatterte Lilly stehen, sie drehte sich auch nicht mehr um, als sie ihr nachrief, ob sie sie denn nicht zum Flughafen bringen wolle … sie würde ihr die neue Adresse schicken, im Moment wohne sie erst mal im Hotel.

Bekka lief stundenlang stumm, dann wieder weinend durch München. Irgendwann sprach sie jemand an, ob sie Hilfe brauche, aber sie ließ die Person einfach stehen. Am späten Nachmittag landete sie an der Isar, an einem Platz, an dem sie früher oft mit ihrem Vater gewesen war. Ihre schmerzenden Muskeln empfand sie wie eine Erlösung, dadurch spürte sie sich selbst. Der unfassbare Schmerz in ihrer Seele breitete sich wie ein Entzündungsherd in ihr aus, eine offene Wunde, die wucherte. Bewegungslos, in die fließende Isar starrend, saß sie lange Zeit am Ufer. Sie wollte, nein, sie musste weit weg von hier. Ihren Erinnerungen entkommen. Sie wollte nicht jeden Tag sehen und erleben, was ihr fehlte und was ihren Schmerz täglich neu anstachelte.

In den nächsten Tagen musste sie sich für das geplante Anglistikstudium an den Universitäten bewerben. Sie strich München. Berlin, das wäre eine gute Entfernung. Ein Dorado für Studenten, eine hippe Szene, so hatte sie es bei ihrer Abireise erlebt. Während sie darüber nachdachte, hörte sie, wie jemand durch das Gebüsch hinter ihr kroch. Sie drehte sich nicht um, es war ihr egal, ob es ein Schulfreund, ein Junkie oder ein Sandler war.

Plötzlich spürte sie zwei vertraute Hände auf ihren Schultern. »Paps, woher weißt du …? Hast du dich an früher erinnert, als wir hier heimlich geangelt haben?«

Er setzte sich neben sie und zog sie an seine Schulter. »Es tut mir so leid … ich hätte es dir sagen sollen, du weißt, dass mir Ehrlichkeit über alles geht. Aber ich hatte bis zum Schluss gehofft, dass Lilly und ich es doch noch schaffen würden. Als ihr dann der neue Job angeboten wurde, habe ich schlagartig erkannt, dass ich sie endgültig verloren hatte. Ich konnte mich der Erkenntnis nicht mehr entziehen …« Er zog die Luft zwischen den Zähnen ein. »… dass man Liebe nicht erzwingen kann.«

Bekka schlang beide Arme um ihn, wie um ihn zu schützen. Er hatte ihr keine Show vorgespielt. Seine Liebesbezeugungen gegenüber Lilly waren bis zum Schluss echt gewesen, wenn er sie hofiert und ihr jeden Wunsch von den Lippen abgelesen hatte, wenn er mit ihr geturtelt hatte, als wären sie frisch verliebt. Es war der Strohhalm gewesen, an den er sich geklammert hatte, um ihre Liebe zurückzugewinnen.

Schweigsam gingen sie in der Dunkelheit nach Hause, ihr Zuhause, das sie ab sofort nie wieder unbefangen betreten konnte. Während sie sich in der Küche ein Butterbrot strich, erklärte ihr Benji, dass er das Haus verkaufen müsse, denn Lilly wolle ihren Anteil ausbezahlt haben, um sich in London eine Wohnung kaufen zu können. Obwohl er als Ingenieur bei BMW gut verdiene, könne er es nicht stemmen, den restlichen Kredit ab- und gleichzeitig Lilly auszubezahlen. Bekka sagte ihm, dass sie sich vermutlich für Berlin als Studienort entscheiden würde, sie müsse erst mal weit weg von hier.

Er nickte nur. Er würde sich eine Wohnung kaufen, und natürlich wäre immer ein Zimmer für sie eingeplant, es würde ihr neues Zuhause werden. »Bekka, du bist der wichtigste Mensch in meinem Leben, vergiss das bitte nie«, hatte er mit Tränen in den Augen gesagt, bevor er die Küche verließ.

Juli 1948, Christchurch, Neuseeland

Meine liebste Frieda,

wie geht es Dir, mein Herz? Ich hoffe, du bist wohlauf und hast die Nachkriegszeit unversehrt überstanden.

Leider sah ich mich außerstande, Dir früher zu schreiben, denn eine lange Odyssee mit vielen Zwischenstationen liegt hinter mir.

In den vergangenen drei Jahren verging kein Tag, an dem ich nicht an Dich dachte, meine Liebste.

Hätte Dein eifersüchtiger Nachbar mein Versteck auf der Almhütte nicht verraten, wären wir heute glücklich verheiratet, so, wie wir uns das beide wünschten. Aber jetzt liegt die halbe Welt zwischen uns – und sicher noch viele andere Widrigkeiten.

Ich hoffe, mein Sehnen nach Deiner Antwort ist nicht anmaßend. Falls Du Dich außerstande siehst, unsere Liebe über die endlos scheinende Entfernung hinweg aufrechtzuerhalten, kannst Du Dir meines Verständnisses sicher sein. Eine Antwort von Dir würde mich jedoch auf Wolken schweben lassen.

Meine Liebe zu Dir hat sich nicht geändert, allenfalls ist sie größer und tiefer geworden.

Mit den herzlichsten Grüßen und Küssen

für immer Dein

Jakob

Januar 2021

Bekkas Fundstücke

Während des Aufwachens musste Bekka sich räumlich orientieren. Ja, sie war hier in ihrem Turmzimmer. Seit Langem hatte sie nicht mehr so tief und entspannt geschlafen. Ein Blick auf ihr Handy, und sie stöhnte. Schon fast elf Uhr. Nicht dass sie einen Termin gehabt hätte, aber dass sie solange schlafen konnte, war ungewöhnlich.

Auf Socken betrat sie die Wohnküche und war erstaunt, dass Nanny nicht da war. Aber aus der Küche der Gastwirtschaft kamen Geräusche. Töpfe klapperten, gerade schien sie etwas zu hacken, das schnelle, rhythmische Klopfen eines Messers deutete darauf hin. Bekka war überrascht, dass Nanny kochte, denn auch hier in den Bergen galt für alle Gastwirte der Lockdown. Und Take-away konnte sie sich hier nicht vorstellen, wer sollte das in diesem kleinen Dorf mit vielleicht 2000 Einwohnern benötigen. Hier lebten viele Großfamilien unter einem Dach, Jung und Alt versorgten und unterstützten sich gegenseitig, so, wie das früher auch gewesen war.

Mit einem Kaffeebecher in der Hand schob sie sich durch die Tür der Küche. Wie sie vermutet hatte, hackte Nanny Kräuter, auf dem Herd quoll der Dampf aus zwei großen Töpfen, und im Backofen thronte ein großes Stück Braten.

»Gutn Morgn, mei Madl. Lang hast gschlafn. Hastn wohl braucht, dein Schlaf.« Ohne das Hacken zu unterbrechen, lächelte sie Bekka an.

»Machst du die Wirtschaft auf, trotz Corona?«

»Wo denkst du hin, das tät i mi nie traun. Der Kaspar von gegenüber dad mi sofort hinhänga bei der Polizei.«

»Für wen kochst du dann, das ist doch eine ziemliche Menge?«

»Ich koch sozusagen to go für einen festen Kundenstamm. Einige von denen san früher immer zum Mittagessen bei mir gwesn. Entweder schaffen di des nimmer, selbst zu kochn, oder den Männern sind die Frauen weggestorbn. Damit die trotzdem was Gscheits zum Essen kriegn, koch ich weiter. Sie holns ab, dann hat mar a die Gelegenheit, a bisserl mitanand zu redn. Und sie bleibn in Bewegung … und i a.«

»Sind die schon so alt?«

»Na, na, die sind zum Teil sogar um einiges jünger als i. Aber halt ned so fit. Des is entscheidend.« Nanny tippte sich lachend mit der Hand an die Schläfe. »Und des Geld nimm i a ganz gern mit.«

»Du bist echt der Hammer. Soll ich dir was helfen? Wenn nicht, würde ich duschen gehen und anfangen auszupacken.«

»Mach das, i hab hier alles im Griff. Spätestens um halb eins, wenn alle ihr Essen abgholt habn, gibts a für uns a Mittagessen. Semmelknödel, Schweinsbraten und Krautsalat. Nur dass du dich drauf einrichten kannst.«

Bekka war mehr als verblüfft, dass hier im Dorf Essen zum Mitnehmen gefragt war. Aber Nanny war schon immer up to date gewesen und vor allem flexibel, wenn es um Veränderungen ging. Vermutlich, weil sie schon immer auf sich selbst gestellt gewesen war. Aus Erzählungen wusste Bekka, dass Nannys Mann drei Jahre nach Benjis Geburt einen tödlichen Unfall bei der Waldarbeit gehabt hatte. Mit ihrer Mutter hatte sie die Gastwirtschaft mit den Pensionsgästen und dem kleinen Bauernhof weiterbetrieben und hatte dabei ihren Sohn zu einem tollen Mann großgezogen. Hut ab, sie war damals schon emanzipierter gewesen als manche Frauen heutzutage.

Nachdem sie sich geduscht und ihre geliebte Jogginghose übergezogen hatte, machte sie sich ans Auspacken. Sie öffnete die Türen des dreiflügeligen Schrankes, der einst zur Aussteuer ihrer Oma gehört hatte. Als sich Nanny eine modernere Einrichtung für ihr Schlafzimmer gekauft hatte, hatte Bekka auf eigenen Wunsch den alten Bauernschrank bekommen, denn sie war von den Bemalungen mit Blümchen begeistert gewesen. Wie die Bettwäsche mit den Röschen gefiel er ihr auch jetzt noch, er gehörte einfach zu ihrem Zimmer. Ebenso die Kommode aus Fichtenholz mit den schweren Schubladen. In Erinnerung an das Gewicht zog sie mit aller Kraft an der untersten Lade und landet rücklings auf dem Po, denn die Schublade war aus der Kommode gerutscht. Klar, als Kind hatte sie doch weniger Kraft gehabt als heute.

Im obersten Schub lagen zwei Spiralhefte. Neugierig öffnete sie sie und lächelte. Sie hatte damals schon den Tick gehabt, für alles Listen zu schreiben.

Solange sie in München zur Schule gegangen war, hatte sie es kaum erwarten können, bis die Ferien begannen. Bekka genoss es, die Zeit in den Bergen zu verbringen, denn ihre Großmutter übertrug ihr viel Verantwortung. Sie fühlte sich wichtig, wenn sie am Abend die Rechnungsbeträge der Quittungen der Gastwirtschaft sorgfältig unter der Rubrik »Einnahmen« auflistete, zusammenzählte und anschließend den Inhalt der Kasse überprüfte. Sie musste immer so viel Geld entnehmen, dass noch fünfzig Euro als Wechselgeld in der Kasse blieben. Das übrige Geld versah sie mit einer Banderole, die sie mit dem Datum und der Summe beschriftet in einer Kassette im Nannys Schlafzimmer deponierte. Stimmte die Summe der Einnahmen nicht mit der Summe in der Kasse überein, notierte sie das dazu, aber meistens handelte es sich nur um Centbeträge, die durch die Trinkgelder entstanden waren. Wie groß war ihre Aufregung, als sie das erste Mal eine kleine Differenz in Rechnung und Kasseninhalt bemerkte. Aber Nanny beruhigte sie und erklärte, dass die Kellnerin nach ihrer Abrechnung ihr Trinkgeld selbst herausnehmen würde, dabei passierte es schon mal, dass ein paar Cent zu viel oder auch zu wenig in der Kasse lagen, was aber kein Thema wäre. Nanny hatte großes Vertrauen in ihre Mitarbeiter gehabt, und war, soweit Bekka sich erinnern konnte, nie enttäuscht worden.

Bekka staunte, als sie die täglichen Summen der damaligen Einnahmen las, es waren zwar keine Reichtümer, aber trotzdem stattliche Summen, ähnliche Beträge wie in ihrem Café in Berlin. Dazu kamen dann noch die Abrechnungen der Pensionsgäste. An manche der Gäste, die alljährlich in die Berge zum Wandern gekommen waren, konnte sich Bekka noch gut erinnern. Manchmal waren auch gleichaltrige Mädchen oder Jungs dabei gewesen, denen Bekka ihre Lieblingsorte gezeigt hatte.

Auch das zweite Heft war mit Listen beschrieben, die lustigste war die mit der Anzahl der Eier, die die Hühner täglich gelegt hatten. Dann folgten To-do-Listen für die jeweiligen Ferien an Ostern, an Pfingsten, im Sommer und im Herbst. Dazu gehörte das Eierfärben, das Osternester-Binden, das Hühnerstall-Ausmisten oder das Erbsenpflücken, das Marmelade-Einkochen im Sommer, das Zwetschgen-Einwecken im Herbst und vieles mehr. Auf den letzten Seiten führte sie eine Strichliste, wann welcher der Einheimischen zum Stammtisch, Mittag- oder Abendessen kam. An den Zweck, den sie damit verfolgt hatte, konnte sie sich nicht mehr erinnern, aber damals hatte sie bestimmt ein Ziel vor Augen gehabt. Bekka staunte, dass Nanny ihr das alles zugetraut hatte; nach den Datumsangaben zu schließen, war sie gerade mal zwölf Jahre alt gewesen. Aber Nanny hatte sich auf sie verlassen können, alles, was ihr aufgetragen worden war, hatte Bekka pflichtbewusst und zuverlässig erledigt.

Damit hat sie mich nicht nur gefordert, sondern auch viele Eigenschaften in mir gefördert. Ein einfaches Prinzip der Erziehung, das sicher besser funktionierte als manches großartige pädagogische Konzept.

Im mittleren Schub fand sie Wollknäuel und unförmige Stricklappen, drei Federn, verschiedene Steine und einen Ast, der mit viel Fantasie die Form eines Notenschlüssels hatte. Außerdem ihre ersten Strickversuche. Sie strich mit der Hand über alle Fundstücke, als hätte sie einen Schatz geborgen. Die drei Federn hatte sie aufbewahrt, um Entscheidungen treffen zu können wie der Königssohn in Grimms Märchen. Jeder Stein hatte eine Bedeutung gehabt oder eine Geschichte beinhaltet, die sie mit dem Fund verbunden hatte. Bekka wunderte sich, dass sie sich nicht mehr an alle Einzelheiten erinnern konnte, denn früher war sie überzeugt gewesen, dass sie niemals etwas vergessen würde. Der Ast in Form eines Notenschlüssels würde sie jedoch immer an Florian erinnern, der als Gast bei ihnen gewohnt, jeden Tag Geige geübt hatte und unsterblich in Bekka verliebt gewesen war. Auf einem Streifzug durch den Wald hatte er den Ast gefunden, ihn ihr überreicht – und sie hatte ihren ersten Kuss bekommen.

»Bekka, kommst runter zum Mittagessn?«, hörte sie Nanny durchs Haus rufen.

Der Vormittag war vorbei, und noch hing kein einziges Kleidungsstück im Schrank oder lag in der Kommode. Aber ihr Bärenhunger überzeugte sie, dass sie das auch später erledigen konnte.

Nanny hatte schon aufgedeckt, der Bratenduft verstärkte Bekkas Kohldampf auf der Stelle um ein Vielfaches. Wann sie das letzte Mal Schweinebraten gegessen hatte, wusste sie schon nicht mehr, es konnte gut sein, dass es hier bei Nanny gewesen war.

»Dass du Essen to go anbietest, finde ich super. Wie viele Kunden hast du jeden Tag?« Bekka schob sich ein Stück Knödel, das sie in die dunkle Soße getaucht hatte, in den Mund. »Mhm, das ist so lecker.«

»Woast, kochn muss i sowieso, und i kenn meine Leit, die schon vor Corona regelmäßig zum Essen kumma san. Nachdem mich a paar drauf angsprochen ham, eher aus Spaß, ob i ned Take-away wie in der Stadt machn dad, hab i für mi denkt, warum ned. Ich habs alle gfragt, was davon halten tätn, und bis auf zwoa sind alle dabei … einundzwanzig an der Zahl.«

Dienstag, Donnerstag und Freitag bot sie Mittagessen an, immer Vor-, Haupt- und Nachspeise. Ihre Kunden hatten quasi ein Dreitages-Abo bei ihr. Sie war nach langem Überlegen auf diese Tage gekommen, da am Wochenende die meisten bei ihren Kindern oder Enkeln eingeladen waren und für den Montag was eingepackt bekamen.

Jeder brachte seine eigenen Behälter mit. So konnte sie die Portionen in den Schüsseln individuell verteilen und sparte sich das Geld für Kunststoffbehälter, außerdem vermieden sie damit Müll. Und Nanny wusste genau, was jedem einzelnen schmeckte. Der Fonse wollte gern mehr Soße und Beilagen, der Otto brauchte a bisserl mehr Fleisch als die anderen, dafür war ihm das Grünzeug nicht so wichtig, und die Lina nahm gern eine großzügige Nachspeise.

»Die meisten«, vermutete Nanny, »teilen sich die Portionen auf, sodass sie noch den zweiten Tag davon essen können, vielleicht a bisserl gstreckt mit am fertign Kartoffelbrei oder am Gmias ausm Gfrierschrank.«

Bekka bewunderte ihre Oma dafür, dass sie nicht die Hände in den Schoß legte und rumjammerte, sondern sich etwas einfallen ließ. Aufgeben sei nie ein Thema in ihrer Familie gewesen, das sei nicht infrage gekommen, antwortete Nanny mit Bestimmtheit. Über diesen Satz wurde Bekka nachdenklich. Hatte sie aufgegeben … sich selbst aufgegeben? Bedeutete aufgeben in ihrem Fall, dass sie nicht den Job angenommen hatte, der ihr durch das Studium möglich gewesen wäre und mit dem sie gut Geld hätte verdienen können? Aber sie hatte nie sich aufgegeben, sondern immer nur das, was ihr keinen Spaß gemacht hatte, was ihr sinnfrei erschienen war und nicht zu ihrem Leben gepasst hatte.

Während Nanny Kaffee kochte, holte Bekka die Stricklappen aus ihrem Zimmer. Mit den Lappen in beiden Händen umarmte sie ihre Oma.

»Du hast mir damals das Stricken beigebracht, und ich bin immer dabei geblieben, es ist richtig was draus geworden. Ich habe in Berlin ein Strick-Café geführt, das war echt gut. Und was crazy war, alle wollten plötzlich meine kunterbunten Pullover nachstricken, als wären die was Besonderes.«

»A Strick-Café … Was es alles gibt?« Nanny schüttelte ungläubig den Kopf.

Sie beschlossen, dass Bekka ihre Koffer ausräumte, während Nanny zum Einkaufen in den Großmarkt fuhr. Nach dem Abendessen würden sie stricken, und vor allem wollte Nanny mehr von Bekkas Leben in Berlin hören. Das Strick-Café klinge ja schon sehr verheißungsvoll, sie sei gespannt auf alles andere.

Bekka hatte gar nicht genug bekommen können von Nannys selbst gebackenem Bauernbrot. Schön dick mit Butter bestrichen, mehr hatte sie nicht zum Abendessen gebraucht. Das Brot backte Nanny jeden Freitag für die ganze Woche, denn einen richtigen Bäcker gab es seit Jahren nicht mehr im Dorf. Hier im Ort war zwar eine Filiale, aber die Backwaren waren ihr zu teuer, schmecken würden sie auch nicht, und nach zwei Tagen sei alles staubtrocken. Diese »Fließbandbackwaren« aus Fertigmischungen waren nichts, was ihren Ansprüchen genügte.

Bekka saß auf der Chaiselongue, Nanny an ihrem gewohnten Platz im Lehnstuhl. Konzentriert lauschten sie der Nachrichtensprecherin in der Tagesschau. Die Nachrichten waren Nanny wichtig, sie wollte wissen, was in der Welt passierte. Als die Gastwirtschaft noch offen gewesen war, hatte sie sie manchmal erst nachts um Viertel vor elf geschaut. Erst seit Corona ließ sie den Fernseher länger laufen, besonders interessierten sie Dokus über die Natur oder andere Länder.

Heute Abend griffen beide zu ihrem Strickzeug, nachdem Bekka ihre kunterbunten Garne unterschiedlichster Qualitäten aus einem Beutel hervorgeholt hatte. Bekka erklärte ihr System, dass sie immer ohne Plan mit dem Stricken beginne, ihre Pullis bestünden aus geraden Stücken für Vorder- und Rückenteil und auch für die Ärmel. Das Einzige, was sie vorher abstimmen würde, waren die Farben. Gelegentliche Muster fielen ihr beim Stricken ein, und die Form des Ausschnitts überlegte sie sich, wenn sie am Vorderteil arbeitete.

»Ziemlich wuid, aber gar ned so schlecht. I dads nimmer so hibringa, ganz ehrlich.« Nanny bewundert das Strickstück, das Bekka auf der Nadel hatte.

»Ich dagegen könnte nie mit dieser hauchdünnen Wolle Socken stricken, da kommst du ja kaum vorwärts. Dazu die Zopf- und Lochmuster, ein Wahnsinn.« Bekka bestaunt die erste Socke, die schon fertig war, und fuhr mit dem Zeigefinger an den Mustern entlang.

»Bestimmt gibt’s viele Leute, die dafür viel Geld bezahlen würden. Feinste Sockenwolle, von Hand gestrickt mit traditionellen Mustern … Das müsste bei dem derzeitigen Trachtentrend doch fast ein Selbstläufer sein.«

»Wer gibt denn scho gern Geld aus, wennst alles im Discounter nachgschmissn kriegst. Ob des richtige Wolle oder Kunstfaser is, des interessiert doch koan.«

»Nanny, da täuschst du dich. Ich recherchiere das morgen, wart’s ab. Bei mir im Strick-Café war allen eine hochwertige Wolle aus Naturmaterialien wichtig. Es ist doch schade um die ganze Arbeit, wenn es zwar gut ausschaut, aber das Material aus Kunstfaser sich ständig aufläd.«

»Mei, vielleicht hast ja recht. Aber was wolln die mit meine Trachtensockn? Was mi viel mehr interessieren tät, wie bist denn zu deim Strick-Café kommen? Glernt hast doch was ganz andres.«

»Nachdem ich mit dem Anglistikstudium fertig war, habe ich einen zweiten Master in Pädagogik gemacht, weil mir das alles zu schnell ging. Gleichzeitig habe ich eine Ausbildung zur Yogalehrerin absolviert, das fand ich richtig klasse, weil es mir selbst sehr guttat. Ausbildungen habe ich genug, und auch an verschiedenen Arbeitsstellen hat es mir nicht gemangelt.«

Ende der Leseprobe