Berliner Nacht - Felix Huby - E-Book

Berliner Nacht E-Book

Felix Huby

3,0

  • Herausgeber: GMEINER
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2022
Beschreibung

»Eine junge Frau liegt zusammengekrümmt auf dem nassen Asphalt, der Kopf auf der Bordsteinkante. Ihre schwarzen Haare schwimmen in einer Blutlache. Die Tote ist nahezu unbekleidet, ihr Körper zeigt blaue Flecken und mehrere Schnittwunden. ›Die Verletzungen haben sicher nichts mit dem Unfall zu tun‹, meint der Gerichtsmediziner. ›Das arme Ding‹, sagt Kommissar Peter Heiland leise.« Wenn es Tag wird in Berlin, kommt alles Dunkle ans Licht.

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Seitenzahl: 210

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Felix Huby

Berliner Nacht

Kriminalroman

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Didier Laurent / AdobeStock

ISBN 978-3-8392-7428-6

1

Nacht vom Montag, 11. Mai, auf Dienstag, 12. Mai 2020

»Keiner weiß, wie lange das noch dauert.« Carl Finkbeiner stand am Fenster und sah in die Nacht hinaus. »Obwohl die Neuerkrankungen langsam zurückgehen.«

Peter Heiland sagte nichts dazu. Er saß weit vorgebeugt an seinem Schreibtisch, die Augen auf den Bildschirm seines Computers fixiert.

Finkbeiner drehte sich um. »Die Stadt ist wie tot. Ich kann mich nicht erinnern, dass wir schon einmal so wenig zu tun gehabt haben, wenn wir im Bereitschaftsdienst waren. Und es fängt schon wieder an zu regnen. – Was machst du denn da?«

»Ich stelle ein paar Aufgaben für Heinrich zusammen, die er morgen lösen soll, wenn ich zu Hause bin. Seitdem die Schulen geschlossen sind, spielen Hanna und ich abwechselnd Lehrer für das Kind.« Er griff nach dem Wasserglas auf seinem Tisch, warf eine Tablette ein und trank das Glas in einem Zug aus.

»Hast du immer noch solche Zahnschmerzen?«, fragte Carl Finkbeiner.

»Ich hab das Gefühl, die verschlimmern sich von Stunde zu Stunde.«

Finkbeiner setzte sich und legte die Füße auf seine Schreibtischplatte. Die Schuhe hatte er ausgezogen. »Wenn die Ausgangssperre …«

»… Beschränkung«, verbesserte Heiland.

»Oder so, ja. Also wenn die noch länger dauert, kriegen wir ganz andere Fälle auf den Tisch als sonst.«

»Was meinst du?«

»Na ja, Folgen häuslicher Gewalt. Mord und Totschlag unter den eingesperrten Menschen.«

»Mal bloß den Teufel nicht an die Wand!« Peter Heiland gab den Druckbefehl, ein paar Blätter Papier wanderten aus dem Gerät. Heiland sah zu seinem Kollegen hinüber. Finkbeiners breites Gesicht hatte etwas von einer gutmütigen Dogge. Das rechte Augenlid hing ein klein wenig tiefer als das linke. Über den graugrünen Augen wölbten sich zwei buschige Brauen. Die vollen braunen Haare schien er selten zu kämmen oder zu bürsten, aber die Art, wie die Frisur wild um seinen Kopf stand, passte irgendwie zu ihm.

»Die düstere Stimmung legt sich wie Mehltau über die ganze Stadt«, sagte Heiland.

Finkbeiner nickte. »Mal sehen, wie lange es dauert, bis die Ruhe nicht mehr auszuhalten ist und die erste Panik ausbricht.« Er nahm die Füße vom Tisch, weil sein Telefon klingelte. Er hob ab. »Landeskriminalamt, vierte Mordkommission, Finkbeiner.«

Peter Heiland schaute auf seine Armbanduhr. 0.15 Uhr meldete die Digitalanzeige.

»Wo ist das?«, rief Finkbeiner in den Hörer und wiederholte dann: »Hagenstraße, Ecke Richard-Strauss-Straße. Wir kommen. … Ja, der Spurensicherung sagen wir Bescheid.«

Peter Heiland sah zu Finkbeiner hinüber, der am Steuer saß. »Seit wann kümmern wir uns um Verkehrsunfälle?«, maulte er schlecht gelaunt.

»Der Kollege sagt, es müsse zuvor ein Verbrechen geschehen sein.«

Peter Heiland drückte seine Faust gegen die rechte Wange und stöhnte leise auf. »Soso, und wie hat er das bemerkt?«

»Wird er uns wahrscheinlich gleich erklären.«

Der Regen hatte zugenommen. Ein böiger Wind schüttelte die Kronen der Bäume am Straßenrand. Finkbeiner bog am Roseneck von der Clayallee in die Hagenstraße ein. Das zuckende Blaulicht eines Polizeiwagens kam in Sicht. Ein Kleinbus der Polizei blockierte querstehend die Straße. Die Scheinwerfer beider Polizeifahrzeuge waren voll aufgeblendet. Zwei Schutzpolizisten sperrten mit rot-weißen Bändern den Unfallort ab. Peter Heiland und Carl Finkbeiner parkten dicht am Gehweg auf der anderen Straßenseite und stiegen aus.

»Seit Tagen regnet es jetzt schon«, schimpfte Heiland.

»Die Natur kann es gebrauchen«, antwortete Finkbeiner gelassen. »Wir haben zwei Dürrejahre hinter uns, und die Erde ist auch jetzt erst bis in 20 Zentimeter Tiefe durchfeuchtet. Es müssen aber 150 sein, damit sich der Boden erholt.«

Etwa 30 Meter von den Polizeifahrzeugen entfernt stand, halb auf dem Gehsteig, ein roter Golf.

Die beiden Kriminalbeamten stellten sich den Schutzpolizisten vor und wiesen sich aus. Einer der uniformierten Beamten deutete auf den Kleinbus, dessen Seitentür offen stand. Dort saß an einem Tischchen eine Frau, tief in sich zusammengesunken. Sie hatte ihre beiden Hände vors Gesicht geschlagen. Ihre Schultern bebten.

Peter Heiland bat Carl Finkbeiner, sich um die Frau zu kümmern. In solchen Situationen war ihm der Kollege überlegen.

»Hier, Herr Hauptkommissar!«, rief einer der Schutzpolizisten. Heiland ging zu ihm hinüber. Der Beamte, ein kleiner, gedrungener Mann Mitte 20, hob eine Plane an. »Wir haben nichts verändert.«

Die junge Frau lag zusammengekrümmt auf dem nassen Asphalt, ihren Kopf auf der Bordsteinkante. Die schwarzen Haare schwammen in einer Blutlache. Die Tote war nahezu unbekleidet. Sie trug nur ein Höschen und ein Spitzenhemdchen, das bis unter die Achseln hochgerutscht war. »Da! Sieht aus, als wäre sie schwer misshandelt worden«, sagte der Schutzpolizist. Der junge Körper zeigte blaue Flecken und mehrere Schnittwunden. »Die Verletzungen haben sicher nichts mit dem Unfall zu tun. Deshalb haben wir Sie gebeten …«

»Schon gut!« Heiland rieb sich mit der flachen Hand die Wange, hinter der der Schmerz saß. »Das haben Sie richtig gemacht.« Er beugte sich über die junge Frau und richtete sich stöhnend wieder auf. Plötzlich war ihm schwindlig, sein Mageninhalt stieg hoch und drückte gegen seine Kehle. Er ging ein paar Schritte und atmete ein paarmal tief durch. Als er sich wieder umdrehte, sah er den Gerichtsmediziner auf sich zukommen, einen älteren Mann, der eigentlich schon in Pension sein sollte, dessen Vertrag aber noch einmal verlängert worden war, weil es so sehr an Fachleuten mangelte. Doktor Hauschild ging in die Hocke, beugte sich weit über die Tote, berührte kurz ihre Halsschlagader, richtete sich mühsam wieder auf und starrte eine Weile auf die halbnackte Gestalt hinab. »Das Mädchen ist höchstens 17, 18 Jahre alt geworden«, sagte er leise. »Das arme Ding.«

»Ich bin gar nicht schnell gefahren«, sagte die Frau im Polizeibulli schluchzend zu Carl Finkbeiner. »Sie ist ganz plötzlich aus dem Dunkel direkt vor mein Auto gesprungen. Ich bin nicht einmal dazu gekommen zu bremsen.«

Finkbeiner sagte: »Das muss schrecklich für Sie gewesen sein. Können Sie den Vorfall ein bisschen genauer schildern?«

Die Frau schüttelte heftig den Kopf. »Ich … ich … in meinem Kopf ist alles so durcheinander, ich weiß nicht …« Sie starrte Finkbeiner aus geröteten Augen an. »Man sagt doch immer, man muss in jeder Situation anhalten können, sonst ist man schuld.«

Die Frau war nach Finkbeiners Schätzung um die 50. Ihr volles blondes Haar hatte sie hochgesteckt. Ihr schmales Gesicht hätte man unter anderen Umständen vermutlich als schön bezeichnet, aber nun war die Wimperntusche durch die Tränen verlaufen und hatte sich in schwarzen Schlieren über die Haut verteilt.

Eine Limousine näherte sich vom Roseneck her dem Tatort. Der Wagen blieb stehen, ein Mann sprang heraus. »Was ’n hier los?«, schrie er. »Warum sperrt ihr die Straße ab, verdammt noch mal?«

Peter Heiland trat auf ihn zu. »Sie sehen doch, dass es hier einen Unfall gegeben hat.«

»Kann ja sein, aber da muss man doch nicht gleich die ganze Straße zumachen.«

»In diesem Fall doch«, antwortete Heiland ruhig.

»Wenn ihr nur eure Macht ausspielen könnt!« Der Autofahrer wurde immer lauter.

Peter Heiland blieb ruhig. »Fahren Sie zurück bis zur Hubertusbader Straße, dort links und dann über die Furtwänglerstraße. Ist kein großer Umweg.«

»Ja, sonst noch was! Ich wohne gleich hier 200 Meter weiter. Da fahr ich doch nicht mit der Kirche ums Kreuz, nur weil ihr hier …«

Weiter kam er nicht. Heiland trat dicht vor ihn hin. »Ihre Papiere!«

»Was?«

»Ihre Papiere, bitte!«

»Ach, leck mich doch!«

»Haben Sie getrunken?«

»Sie wissen nicht, wen Sie vor sich haben.«

»Geben Sie mir Ihre Papiere, dann werde ich’s wissen.«

»Theo!« Der Schrei kam aus dem Polizeibulli.

Der Mann fuhr herum. »Annette?« Dann herrschte er Peter Heiland an: »Was machen Sie mit meiner Frau?«

»Die Dame hat den Unfall verursacht.«

»Was?«

Carl Finkbeiner kam aus dem Polizeibulli und reichte der Autofahrerin die Hand, um ihr beim Aussteigen behilflich zu sein. Sie stützte sich einen Augenblick schwer auf ihn und taumelte dann auf ihren Mann zu. »Theo!« Es klang wie ein Hilfeschrei. Er fing sie auf, aber Heiland, der die beiden genau beobachtete, sah den Widerwillen in seinem Blick. Der Mann fasste seine Frau fest an beiden Oberarmen, schob sie ein Stück von sich, schüttelte sie und schrie: »Was ist passiert? Was hast du gemacht?«

Sie löste sich von ihm. »Ich bin deinetwegen …«

»Ach, hör doch auf«, unterbrach er sie wütend. Dann fuhr er zu Peter Heiland herum. »Können wir gehen?«

»Sobald Sie sich ausgewiesen haben.«

Wütend riss der Mann seine Brieftasche aus seinem Jackett und streckte sie dem Kommissar entgegen. Heiland griff danach, schlug sie auf und diktierte in sein Handy: »Theo Schieferfeld, wohnhaft Hagenstraße 417, 14193 Berlin.« Er klappte die Brieftasche zu.

»Der Name wird Ihnen ja wohl etwas sagen«, knurrte sein Gegenüber.

»Bedaure, nie gehört.«

»Dann wird sich das ändern!« Schieferfeld setzte sich hinters Steuer seiner Limousine. Carl Finkbeiner war es, der die Beifahrertür für die Frau öffnete und, als sie eingestiegen war, sanft schloss.

Ein junger Schutzpolizist trat zu den beiden Kommissaren. »Ich habe versucht, die Blutspuren zu sichern. Bevor sie der Regen vollends wegwischt.«

Heiland sah den Kollegen mit einem anerkennenden Lächeln an. »Wie heißen Sie?«

»Brombacher, Polizeimeister Dietrich Brombacher.«

»Peter Heiland. Und das ist mein Kollege Carl Finkbeiner. – Dann zeigen Sie mal, Kollege Brombacher.«

Die beiden Kriminalkommissare folgten dem jungen Beamten in eine schmale Seitenstraße.

Der Polizist bückte sich und deutete mit dem ausgestreckten Zeigefinger auf einen blassroten Fleck. »Hier! Und das zieht sich über den ganzen Gehsteig bis zum Haus Nummer 47. Lauter Blutflecke. Die Frau muss schon vor dem Unfall viel Blut verloren haben.«

Das Gartentor zum Grundstück mit der Nummer 47 stand halb offen. Auch auf dem Plattenweg, der zum Haus führte, fanden sich im Licht aus Brombachers starker Taschenlampe Blutspuren.

Finkbeiner klingelte an der Haustür.

Keine Reaktion.

Heiland ging um die zweigeschossige Villa herum. Hinter dem Haus erstreckte sich ein großer Garten. Einzelne in die Erde eingelassene Lampen beleuchteten Büsche von unten. Am Ende des Grundstücks standen zwei hohe Laubbäume. Auch sie wurden von Scheinwerfern, die im Boden versenkt waren, angestrahlt. Peter Heiland musste an einen Artikel denken, den er kürzlich gelesen hatte. Auch Pflanzen müssten ihre Nachtruhe haben, ständiges Licht schade ihnen.

Eine Treppe mit vier flachen Stufen führte zu einer Glastür in einer breiten, tiefgezogenen Fensterfront hinauf. Die Tür war einen Spalt offen. Heiland rief nach den anderen, gemeinsam betraten sie das Gebäude. Finkbeiner rief ein paarmal laut: »Hallo! Ist hier jemand?« – Stille! Um ihre Füße bildeten sich Pfützen.

Der junge Polizist drückte einen Schalter direkt neben der Tür. Warmes gelbes Licht breitete sich aus. »Hoppla!«, entfuhr es Peter Heiland.

Der etwa 80 Quadratmeter große Raum glich einem Schlachtfeld: auf dem Boden leere Flaschen, auf mehreren niedrigen Glastischen zum Teil umgestürzte Gläser, auf dem Terrazzoboden Zigarettenkippen und Reste von Joints, dazwischen zwei gebrauchte Kondome. Vier Sofas, die vermutlich zuvor eine gemütliche Sitzecke gebildet hatten, waren zu einer großen Fläche zusammengeschoben. Sessel und Stühle standen an den Wänden verteilt.

»Das muss eine verdammt wilde Party gewesen sein«, sagte der Schutzpolizist.

»Und das in Zeiten des strengen Kontaktverbots«, sagte Finkbeiner.

»Es gibt eben Leute, die glauben, für sie gelten die Regeln nicht«, meinte der junge Beamte. »Damit haben wir jeden Tag zu tun. Die einen halten sich streng daran, und andere lassen die Sau raus, als ob sie uns beweisen wollten, dass ihnen alle Gesetze und Verordnungen am Arsch vorbei … also … gleichgültig sind.«

Plötzlich stand ein dünner, großer Mann in der Terrassentür. Seine Silhouette vor dem schwarzen Nachthimmel wirkte wie ein Schattenriss. Er griff nach einem verdeckten Schalter und stand plötzlich in hellem Licht auf der Terrasse. Er trug Jeans und einen Parka. Die Jacke triefte vor Nässe, ebenso die Frisur. Die langen schwarzen Haare hingen ihm tief ins Gesicht. »Au Mann!«, rief er.

Die Polizeibeamten fuhren herum.

»Wer sind Sie?«, fragte Peter Heiland.

Der Mann zog einen Presseausweis aus einer der vielen Außentaschen seiner Jacke und hielt ihn hoch. »Fritz Konnert, ich bin Journalist.«

»Und? Was suchen Sie hier?«

»Ich wohne gleich hier um die Ecke in der Richard-Strauss-Straße und bin vor ein paar Minuten nach Hause gekommen. Da hab ich gesehen, was auf der Hagenstraße los war.«

»Auf der Hagenstraße«, meldete sich Finkbeiner, »aber wir sind hier im Pflasterweg.«

»Ein Polizist hat mir freundlicherweise gesagt, dass Sie hier in der Gegend sein müssten. Er hat gesagt: ›Die Leute von der Mordkommission.‹ Und da müsste ich ja mit dem Klammerbeutel gepudert sein, wenn ich der Sache nicht nachgehen würde.«

»Wenn Sie hier in der Gegend wohnen, wissen Sie vermutlich, wem dieses Haus gehört?«, fragte Heiland.

»Ja sicher. Frank Ulrich Bergmeister.«

»Dem Unternehmer?«, fragte Finkbeiner.

»Ja, Konsul Bergmeister.«

Peter Heiland sah seinen Kollegen überrascht an. »Kennst du den?«

»Er ist einer der wichtigsten Kunstsammler der Stadt. Ich hab ihn bei der einen oder anderen Vernissage gesehen. Er gilt auch als großzügiger Mäzen.«

Der Journalist meldete sich wieder: »Zurzeit ist er in Belgien, soviel ich weiß. Wegen dieser scheiß Coronakrise kann er nicht zurück. Und wenn, dann muss er erst einmal 14 Tage in Quarantäne.« Als ob das alles erklären würde, fügte er hinzu: »Wir spielen manchmal eine Partie Tennis zusammen. Drüben bei Rot-Weiß.«

»Dann hat wohl irgendwer seine Abwesenheit genutzt, um hier eine wilde Party zu feiern.«

»Na ja, Holm wahrscheinlich, sein Sohn.«

»Aha. Den kennen Sie natürlich auch.«

Der Journalist nickte. »Ich hab früher mal für Bergmeister gearbeitet. Fünf Jahre lang war ich sein PR-Berater.«

»Was versteht man darunter?«, fragte Peter Heiland.

»Pressearbeit. Außerdem habe ich eine Kundenzeitschrift für ihn gemacht, die vierteljährlich erschienen ist. So ein Hochglanzblatt, in dem ich seine gewaltigen Erfolge rühmen musste.« Er drehte sich kurz um und spuckte in den Garten.

»Und jetzt? Arbeiten Sie nicht mehr für ihn?«

»Nein. Seit drei Jahren lebe ich als freier Journalist.«

»Aber Sie spielen noch Tennis zusammen?«

»Ja, dass wir uns beruflich getrennt haben, hat unserer Freundschaft keinen Abbruch getan.«

Heiland musterte den langen, dünnen Mann misstrauisch. »Kann ich Ihren Personalausweis sehen?«

»Genügt Ihnen der Presseausweis nicht?«

»Nein!«, sagte Heiland knapp.

Widerstrebend reichte der Journalist dem Kommissar die Karte.

»Sie wohnen an der Schillerpromenade in Neukölln. Das ist nicht direkt hier um die Ecke.«

»Stimmt!« Konnert grinste breit.

»Also, warum tauchen Sie mitten in der Nacht hier auf?«

»Okay. Ich muss es zugeben: Ich höre den Polizeifunk ab.«

»Was verboten ist«, sagte Polizeimeister Brombacher.

»Junger Mann«, der Journalist sah auf den Beamten hinab, »haben Sie eine Ahnung, wie schwer es ist, als freier Journalist seine Brötchen zu verdienen?«

»Und wo wird nun Ihr Bericht erscheinen?«, fragte Peter Heiland.

»Schauen wir mal. Das weiß ich noch nicht.«

»Dort, wo man Ihnen am meisten dafür bezahlt, nehme ich an«, sagte Brombacher.

»Ganz recht! Ich arbeite für verschiedene Berliner Boulevardblätter, vor allem für die BZ.«

Konnert salutierte lässig mit dem Zeigefinger an der Stirn, nuschelte »bis die Tage, meine Herren«, verließ die Terrasse und ging um die Hausecke herum davon.

»Komischer Vogel«, sagte Finkbeiner.

»Der ist nicht sauber!«, schob der junge Brombacher nach.

»Da könnten Sie recht haben«, sagte Peter Heiland. »Ich schau mir das Haus schnell noch an.«

Er verließ das Gartenzimmer und gelangte in einen großzügigen Eingangsbereich. Eine elegant geschwungene Treppe führte nach oben zu einer Galerie. Durch eine breite Glastür unter der Treppe gelangte der Kommissar in einen Raum, auf den der Name »Salon« wohl zutreffen würde. Peter Heiland blieb stehen und legte die Stirn in Falten. »Komisch«, sagte er.

»Was ist komisch?« Carl Finkbeiner war hinter ihn getreten.

»Ich war hier schon mal.«

»Hier? In diesem Haus?«

»Ja, ich kenne das alles, aber ich komm ums Verrecken nicht drauf, wann das gewesen sein könnte. Egal! Wir ziehen ab«, entschied Heiland. »Am liebsten würde ich die Spurensicherung rufen.«

»Geht aber nicht ohne richterliche Durchsuchungsanordnung.«

Die drei Beamten verließen das Haus und gingen durch den Garten zur Straße zurück. Der Regen hatte aufgehört. Die hohen Wolken zeigten erste Lücken, durch die ein fahler Mondschein fiel. Ein Stück den Pflasterweg hinunter lehnte der Journalist an einer Laterne. Eine Zigarette hing in seinem Mundwinkel. Mit der linken Hand hielt er ein Telefon ans Ohr, in das er hineinsprach, mit der rechten zog er einen Taschenkamm durch sein nasses Haar. Als er die Kommissare kommen sah, beendete er das Gespräch.

Peter Heiland trat auf ihn zu. »Weit sind Sie nicht gekommen.«

»Musste noch schnell telefonieren.« Konnert wandte sich zum Gehen.

»Augenblick noch! Haben Sie eine Ahnung, wo wir Holm Bergmeister finden könnten?«

Konnert blieb stehen und schüttelte den Kopf. »Mit mir redet der schon lange nicht mehr.«

»Und warum?«

»Keine Ahnung. Ehrlich!« Konnert nahm die Zigarette aus dem Mund, ließ sie auf den Bürgersteig fallen und trat die Glut mit der Schuhsohle aus. »Manchmal denke ich, er ist eifersüchtig, weil ich mich mit seinem Vater so gut verstehe.«

»Wohnt er denn hier im Pflasterweg?«

»Er hat wohl noch einen Schlüssel, kommt aber nur, wenn er weiß, dass sein Vater weit weg ist.«

»Und die Mutter?«

»Selbstmord vor zweieinhalb Jahren. Der Alte hat das leichter verkraftet als der Sohn, der hat danach total durchgedreht.«

»Wie alt ist denn der Sohn?«

»Zweiunddreißig, warum?«

»Nur so. Wie erreichen wir Sie, wenn wir noch Fragen haben?«, fragte Peter Heiland.

Konnert zog aus einer seiner vielen Jackentaschen eine leicht zerknitterte Visitenkarte, reichte sie dem Kommissar, klopfte eine neue Zigarette aus der Schachtel und steckte sie zwischen die Lippen, ohne sie anzuzünden.

Peter Heiland studierte die Karte im Licht der Straßenlaterne. Als Adresse war ›Richard-Strauss-Straße 111‹ angegeben. Die war aber durchgestrichen, und handschriftlich stand ›Schillerpromenade 137‹ darüber.

Ein Windstoß fuhr in die Krone der Kastanie direkt über ihnen und warf einen Schwall Nässe über sie.

»Scheißwetter!«, sagte Konnert.

»Der Beginn der Eisheiligen«, antwortete Carl Finkbeiner.

»Morgen ist Pankratius«, meldete sich Peter Heiland.

»Ja«, sagte Finkbeiner, »fast niemand weiß, dass die Eisheiligen heute, am 11. Mai, mit Mamertus beginnen. Danach erst folgen Pankratius, Servatius, Bonifatius und die Kalte Sophie.«

Konnert zündete sich seine Zigarette an und stieß eine Rauchwolke aus. »Na dann, viel Glück, meine Herren.« Er überquerte die schmale Straße, stieg in einen Fiat 500 und fuhr davon. Der Pflasterweg war eine Einbahnstraße und führte weg von der Hagenstraße in Richtung Clayallee.

2

Dienstag, 12. Mai 2020

Nach dem Bereitschaftsdienst in der Nacht hatte Peter Heiland einen Tag frei.

»Am besten gehst du gleich zum Zahnarzt«, sagte seine Frau Hanna beim Frühstück.

Peter schüttelte den Kopf. »Ich muss mich doch um Heinrich kümmern. Außerdem: Doktor Richters Praxis ist bis Donnerstag geschlossen, hat er auf seinen Anrufbeantworter gesprochen. Da es an Schutzkleidung fehle, könne er in der augenblicklichen Situation nur eingeschränkt praktizieren.«

»Eine Notfallversorgung muss es aber geben. Ruf doch mal in der Zahnklinik an der Königin-Luise-Straße an.«

»Okay, ich versuch’s.«

Der siebenjährige Heinrich kam im Schlafanzug herein und gähnte laut.

»Hand vor den Mund!«, rief Hanna.

»Nein, Armbeuge«, antwortete der Kleine, »wegen Corona.« Er setzte sich an den Tisch und widmete sich dem Müsli, das seine Mutter für ihn vorbereitet hatte. »Machen wir heute wieder Schule, Papa?«

»Ja, aber ich muss mich auch hinlegen. Ich hab die ganze Nacht nicht geschlafen.«

»Und er muss zum Zahnarzt!«, rief Hanna, schon im Weggehen.

»Da kann ich ja mitkommen«, sagte Heinrich.

Carl Finkbeiner war nicht nach Hause gegangen. Er hatte beschlossen, im Büro zu bleiben, bis Jenny Kreuters und Norbert Meier, seine Kollegen, mit denen er das Arbeitszimmer teilte, eintreffen würden. Und wie er gehofft hatte, kam Jenny zuerst. Er nahm sie in den Arm. Sie küssten sich, wobei sie beide ein wachsames Auge auf die Tür hatten. Niemand in der Abteilung wusste, was sich bei den beiden geändert hatte, seitdem sie sich, für beide völlig überraschend, ineinander verliebt hatten.

Carl Finkbeiner konnte sich bis heute nicht erklären, wieso es nicht sehr viel früher dazu gekommen war. Warum war ihm nicht längst aufgefallen, wie hübsch sie war? Ihre grünbraunen Augen über den hohen Wangenknochen hatten eine leichte Schräge nach oben. Das Gesicht war mehr herzförmig als rund und strahlte fast immer eine gewisse Fröhlichkeit, man könnte auch sagen Frechheit, aus. Die rotbraunen Haare trug Jenny kurz. Ein kleiner Pony fiel über die Stirn. Das alles war ihm nicht weiter aufgefallen, bis zu jenem warmen Spätsommertag, als sie während einer gemeinsamen Recherche im Ruppiner Land auf der Terrasse einer Gaststätte am See saßen und Jenny den Fisch für ihn filetierte, was er selbst noch nie gekonnt hatte. Völlig überraschend hatte er sie gefragt: »Sag mal, liest du eigentlich?«

»Wie bitte?«

»Ich meine: Liest du Bücher?«

Sie hatte von der Forelle aufgesehen und vorsichtig die lange Gräte auf ein Tellerchen gelegt. »Wie meinst du das?«

»Na ja, die meisten Leute lesen ja keine Bücher mehr. Höchstens Texte auf ihrem Smartphone oder Tablet.« Und dann erzählte er, dass er selbst ein begeisterter Leser sei. »Jeden Monat lese ich mindestens drei Bücher.«

Jenny hatte gelacht. »Da muss ich mich jetzt wohl outen: Ich bin auch eine leidenschaftliche Leserin. Gerade verschlinge ich ein Buch von Katharina Adler, es heißt schlicht Ida und erzählt das Leben einer Patientin von Sigmund Freud.«

»Kenn ich«, hatte er geantwortet, »das hab ich auch gelesen.«

»Na so was! Wie lange arbeiten wir jetzt zusammen?«

»Dreieinhalb Jahre, warum?«, fragte Carl.

»Weil sich Gemeinsamkeiten auftun, mit denen wir wohl beide nicht gerechnet haben.«

»Na, hoffentlich beeinträchtigt das unsere Arbeit nicht«, hatte Finkbeiner mit einem Lächeln gesagt.

Er hatte behutsam sein Besteck auf den Teller gelegt und seine Kollegin angesehen, als sei er ihr grade zum ersten Mal begegnet. »Gehst du auch manchmal ins Theater?«

»Früher öfter«, sagte Jenny, »aber die Freundin, die mich begleitet hat, ist inzwischen weggezogen, und seitdem gehe ich nur noch ganz selten.«

»Mir geht es genauso. Wenn man hinterher niemanden hat, mit dem man über die Aufführung reden kann, ist es nur das halbe Vergnügen.«

Jenny hatte nichts weiter dazu gesagt. Aber im Stillen hatte sie gedacht: Wenn er eines Tages mit zwei Theaterkarten ankommt, werde ich nicht nein sagen.

Finkbeiner hatte dann die Rechnung übernommen. Er bezahle sie von seinem ersten Honorar für eine Kurzgeschichte, hatte er gesagt. Völlig perplex hatte Jenny ihn angesehen. »Du schreibst?«

»Ja, aber es ist nur so ein Hobby. Manchmal hab ich schon daran gedacht, einen Kriminalroman zu schreiben, aber dafür weiß ich wohl zu gut, wie es wirklich zugeht bei der Polizei. Jetzt versuch ich’s erst einmal mit Kurzgeschichten.«

Und so hatte ein Wort das andere gegeben, mit dem Ergebnis, dass plötzlich eine Vertrautheit zwischen ihnen entstand, die sich in den Wochen danach immer weiter vertiefte, bis Carl Finkbeiner zum ersten Mal über Nacht bei Jenny Kreuters in deren kleiner Wohnung in der Muskauer Straße mit Blick auf den Mariannenplatz geblieben war.

Bis jetzt hatten sie ihr Geheimnis für sich behalten, wohl wissend, dass die Chefetage es nicht akzeptierte, wenn zwei Beamte in einer Abteilung ein Liebesverhältnis hatten. Das war damals auch der Grund dafür gewesen, dass Hanna, Peter Heilands Frau, zum Betrugsdezernat versetzt worden war.

Norbert Meier kam herein. »Na, ’ne ruhige Nacht gehabt?«, fragte er Finkbeiner.

»Nein«, antwortete der, »ganz im Gegenteil, oder was glaubst du, warum ich noch hier herumhänge?«

Meiers Blick ging von Finkbeiner zu Jenny und zurück. »Wer weiß?«, sagte er und setzte sich an seinen Schreibtisch.

Carl Finkbeiner gab einen kurzen Bericht über die Geschehnisse der letzten Nacht.

»Weiß man schon, wer die Tote ist?«, fragte Jenny.

»Nein. Peter hat noch veranlasst, dass ein Foto von ihr den Zeitungen übermittelt wird. Aber das kann natürlich erst morgen erscheinen. Wir müssen versuchen, diesen Holm Bergmeister zu finden. Der hat vermutlich die Party veranstaltet. Ich hab schon nachgesehen. Er ist bei uns kein Unbekannter. Zweimal hatte er ein Verfahren wegen Körperverletzung und einmal eines wegen Fahrerflucht in einem besonders schweren Fall am Hals.«

»Ist er verurteilt worden?«

»Nein. In den Fällen wegen Körperverletzung haben die Opfer die Anzeige zurückgezogen, und das Verfahren wegen Fahrerflucht ist wegen unterschiedlicher Zeugenaussagen zu den Akten gelegt worden.«

»Der Papa wird’s scho’ richten!«, kommentierte Meier, indem er einen alten Song von Helmut Qualtinger zitierte.

»Sieht so aus, ja. Gemeldet ist dieser Holm Bergmeister bei seinem Vater im Pflasterweg in Wilmersdorf. Aber ein Zeuge sagt, da wohne er nicht mehr. Er sei nur dort, wenn sein Vater verreist sei.«

Kurz nach 10 Uhr meldete sich die Pforte: »Eine Frau Schieferfeld möchte Kommissar Finkbeiner sprechen.«

Finkbeiner legte seine Atemmaske an, fuhr mit dem Aufzug hinunter ins Erdgeschoss und begrüßte Annette Schieferfeld mit einer kleinen Verbeugung aus gebotenem Abstand. Die Frau trug ebenfalls eine Maske, was Finkbeiner einmal mehr zu der Überlegung brachte, wie wenig man von einer Person wahrnehmen konnte, wenn eine Gesichtshälfte verdeckt war. Gemeinsam fuhren sie in den fünften Stock und nahmen in einem der Besprechungszimmer Platz. Beide schwiegen auf dem Weg dorthin. Erst als sie sich gesetzt hatten, fragte Finkbeiner: »Nun?«

Frau Schieferfeld zog die Maske vom Gesicht. »Ich habe die ganze Nacht kein Auge zugetan.«

»Das kann ich verstehen.«

»Und ich habe hundertmal versucht, mir ins Gedächtnis zurückzurufen, was genau passiert ist.«

Der Kommissar nickte und sah sie erwartungsvoll an. »Und?«

»Es war ja dunkel, und es hat auch geregnet. Aber ich bin mir immer sicherer, dass da noch jemand war.«

»Jemand?«

»Ein Mann.«

»Können Sie ihn beschreiben?«