Bienzle und die lange Wut / Bienzle im Reich des Paten - Felix Huby - E-Book

Bienzle und die lange Wut / Bienzle im Reich des Paten E-Book

Felix Huby

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Beschreibung

Zwei Bienzle-Romane in einem Band Bienzle und die lange Wut: Der Sagewerksbesitzer Albert Horrenried wird in einem kleinen Ort im Schwäbischen Wald ermordet. Kein leichter Fall, denn der Tote hatte sich zu Lebzeiten viele Feinde gemacht. Bienzle im Reich des Paten: Zwecks Amtshilfe eilt Bienzle nach Berlin. Dort agiert Stefan Seyboldt, einer seiner übelsten Kunden. Er ist ein gefragter Geschäfts-mann mit besten Kontakten in die Politik. Kann er so seine Waffengeschäfte tätigen?

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Felix Huby

Bienzle und die lange Wut / Bienzle im Reich des Paten

Doppelband

FISCHER E-Books

Inhalt

Bienzle und die lange WutDie Hauptpersonen– 1 –– 2 –– 3 –– 4 –– 5 –– 6 –– 7 –– 8 –– 9 –– 10 –– 11 –– 12 –– 13 –– 14 –– 15 –– 16 –– 17 –– 18 –– 19 –– 20 –– 21 –– 22 –– 23 –– 24 –– 25 –– 26 –– 27 –– 28 –– 29 –– 30 –– 31 –– 32 –– 33 –– 34 –– 35 –– 36 –– 37 –– 38 –– 39 –– 40 –– 41 –– 42 –– 43 –– 44 –– 45 –Bienzle im Reich des PatenDie HauptpersonenErster TagZweiter TagDritter TagVierter TagFünfter TagSechster TagSiebter TagAchter TagNeunter TagZehnter Tag

Bienzle und die lange Wut

Die Hauptpersonen

Ernst Bienzle

Erster Hauptkommissar im Landeskriminalamt.

Günter Gächter

Hauptkommissar und Bienzles Freund.

Hannelore Schmiedinger

Bienzles Lebensgefährtin.

Patrick

Gächters Neffe, der seinem Onkel unfreiwillig Überstunden und Seelenqualen beschert.

Joe Keller

Draufgänger, unverwüstlicher Optimist und leider etwas dumm.

Mascha Niebur

riskiert für ihn zu viel, weil Liebe manchmal dumm macht.

Siegfried Lohmann

skrupelloser Widerling, dessen Glückssträhne abrupt endet.

Gerry Adler

sein Partner, der sich nicht nur die Firma mit ihm teilt.

Albert Horrenried

Sägewerksbesitzer, Machtmensch ohne Skrupel, aber auch ohne allzu viele Freunde.

Martin Horrenried

ungleicher Bruder Albert Horrenrieds, für den er nur ein hoffnungsloser Versager ist.

Winfried Horrenried

Martin Horrenrieds Sohn, der auf Teufel komm raus versucht, auf seine Kosten zu kommen.

Inge Kranzmeier

unterstützt ihn dabei mit Hingabe, auch wenn sie eigentlich die Lebensgefährtin seines Onkels ist.

Hajo Schmied

einziger Freund des Sägewerksbesitzers und selbstverständlich rein freundschaftlich an dessen Testament interessiert.

– 1 –

Joe Keller schaute zufrieden über die Köpfe seiner Freunde hinweg. Er stand hinter der Verkaufsluke seines Imbissstandes. Das Fest kam langsam, aber sicher auf Touren. Aus zwei Boxen, die Joe links und rechts von der Ausgabeöffnung aufgehängt hatte, dröhnte Musik, die Joe nun zu übertönen versuchte: »Greift zu, Leute! Keine falsche Bescheidenheit!«

Mascha stieß die schmale Tür auf und kam herein. Sie lehnte sich gegen Joe und küsste ihn in die Halsbeuge. »He, du, das wird aber teuer …«

Joe grinste sie an. »Für dich ist mir doch nichts zu viel.« Die Musik verklang, und nun konnten alle Joe hören. »Man wird nur einmal zwanzig, stimmt’s?«

Ein paar der jungen Leute stimmten an: »Happy birthday to you …« Dazu trommelten einige von ihnen auf herumstehenden Tonnen, die sie allerdings erst umdrehen mussten, wobei der ganze Müll rausfiel. Joe beugte sich hinter seinen Verkaufstresen und holte ein paar Flaschen aus dem Kühlfach. »Champagner für alle!«, schrie er.

»Wo hast du denn den her?«, fragte Mascha.

Und einer der Jungs rief: »Hast du neuerdings einen Geldscheißer, oder was?«

»In der ›Stiftung Warentest‹ steht: Vom Kauf abzuraten – da hab ich ihn einfach so mitgenommen …!« Joe warf die Flaschen ein paar seiner Kumpels zu. Beim Öffnen spritzte der Champagner entsprechend. Mascha schob eine neue Kassette in den Radiorekorder. Einige der jungen Leute fingen an zu tanzen. Jürgen, ein breitschultriger Zwanzigjähriger, trat zu dem jungen Paar, während Joe laut rief: »Und Futter für alle – geht alles aufs Haus!«

»Trägt das denn der Laden?«, fragte Jürgen besorgt.

Joe schlug dem Freund auf die Schulter. »Siehste doch – läuft wie Rotz!«

Jürgen lachte: »Na ja, solange ihr alle freihaltet …«

»Ach was, das sind Investitionen – Werbemaßnahmen, verstehst du? Als Existenzgründer musst du dir was einfallen lassen.«

Am Rande des Standplatzes hielt ein Auto. Zwei Männer stiegen aus. Beide trugen enggeschnittene Tuchmäntel. Sie waren nicht viel älter als Joes und Maschas Gäste, und doch sahen sie aus, als kämen sie aus einer ganz anderen Welt.

Joe sah ihnen entgegen, und sein Gesicht verfinsterte sich. »Wir haben heute eine geschlossene Gesellschaft«, rief er.

Der Größere der beiden grinste Joe an. »Guter Witz … Wie sieht’s denn mit der Kohle aus?«

»Heut ist Maschas Geburtstag«, sagte Joe. »Über Kohle kannst du morgen wieder mit mir reden, Sarrach.«

Der Große schüttelte den Kopf. »Ich glaube, das siehst du nicht ganz richtig. Die Rate ist seit vierzehn Tagen fällig.«

»Ich ruf den Lohmann morgen an«, sagte Joe obenhin.

»Der schickt uns ja grade, weil er deine ewigen Ausreden nicht mehr hören kann. Wenn du sechs Wochen im Verzug bist, verfällt der Vertrag für den Standplatz. Aber die Kohle bleibste natürlich trotzdem schuldig! Ich wollte dir das nur noch mal ganz klarmachen.«

Joe sah sich um, ob auch keiner seiner Freunde zuhörte. Aber nur Jürgen stand in der Nähe. »Ja, ja, ist ja gut!«, sagte er ungeduldig.

»Eben nicht.« Sarrach war noch immer freundlich.

Deshalb hatte Joe auch den Mut nachzuschieben: »Mann, du störst. Du verdirbst uns das ganze Fest!«

Sarrach hob die Arme, als ob er sagen wollte: »So ist die Welt«, drehte sich dann aber um und ging zu seinem Wagen zurück. Der andere Mann, der die ganze Zeit kein Wort gesprochen hatte, folgte ihm.

Jürgen sah Joe überrascht an. »So leicht gibt der sich zufrieden?«

»Der weiß doch, dass ich zahle. Und der Lohmann weiß das auch. Die werden doch nicht die Kuh schlachten, die sie melken.« Er fasste Mascha um die Hüften und stieg mit ihr die drei Stufen hinunter, zog sie noch enger an sich und küsste sie.

Mascha sagte ihm leise ins Ohr: »Du, ich hab dich wahnsinnig lieb.«

»Und ich dich erst!«, flüsterte Joe zurück.

Nach einer Pause, in der die beiden selig miteinander tanzten, fragte Mascha: »Glaubst du, wir schaffen’s?«

»Ja, was denn sonst? – Vor zwei Stunden hab ich noch mit einem Banker geredet, der unser Unternehmen an die Börse bringen will!«

Mascha kicherte. »Spinner!«

Joe fuhr fort: »Und die vom Verband junger Unternehmer wollen mich zu ihrem Vorsitzenden machen.«

Er nahm Schwung auf und tanzte mit Mascha in die Mitte. Nach und nach hielten die anderen Paare inne und klatschten im Rhythmus, während Mascha und Joe im Zentrum herumwirbelten wie die Derwische. Immer schneller, immer verrückter und noch schneller und noch verrückter, bis plötzlich die Musik zu Ende war und die beiden engumschlungen und außer Atem stehen blieben.

 

Ernst Bienzle betrat um die gleiche Zeit eine Wohnung im zweiten Stock eines alten Jugendstilhauses in der Ludwigstraße. Seine Schritte hallten laut. Er ging durch große, hohe Räume, die durch Flügeltüren miteinander verbunden waren. Ein alter, lichtbrauner Parkettfußboden spiegelte das Licht der Straßenlaternen, das durch die großen Fenster fiel. Hintenraus, wo man in den Park am Ende der leicht ansteigenden Stichstraße schauen konnte, stieß Bienzle auf eine Veranda, die man wohlwollend auch als Wintergarten hätte bezeichnen können. Von der Wohnungstür bis zu diesem verglasten Raum waren es siebenundvierzig Schritte. Bienzle hatte sie genau gezählt. Vorher hatte er im Stillen zu sich gesagt: »Wenn es mehr als vierzig sind, ist alles gut.«

Er machte oft solche Orakel, hätte aber nie zugegeben, dass er abergläubisch war. Wenn ihn jemand fragte, was für ein Sternbild er sei, lachte er nur und sagte, er gebe auf so was nichts. »Wissen Sie, ich bin Schütze, und Schützen sind von Haus aus skeptisch!«

An der Tür klingelte es. Auch dieses Geräusch klang in den hohen, kahlen Räumen laut und aufdringlich. Bienzle ging die siebenundvierzig Schritte zurück und öffnete. Hannelore stand vor der Tür. Er schloss sie spontan in die Arme.

»Sie ist es«, sagte er, »genau die Wohnung, die wir suchen.«

Hannelore legte die Stirn in Falten. »Dann brauch ich sie mir wohl gar nicht mehr anzuschauen …?«

»Doch, doch, du musst sogar. Du wirst begeistert sein. Los, komm, ich zeig dir dein künftiges Atelier.«

Seine Begeisterung war ansteckend. Hannelore folgte ihm. Wie gut, dass der Vermieter Bienzle den Schlüssel überlassen hatte; so konnten sie bis zum späten Abend ihre Pläne machen. Und als sie endlich in Paolos Trattoria ankamen, um das Ereignis zu feiern, war es schon fast elf Uhr.

 

Mascha und Joe kamen gemeinsam mit Jürgen in ihre Wohngemeinschaft zurück. Als sie sich endlich müde und glücklich auf ihrer großen Matratze aneinanderschmiegten, sagte Mascha: »Du, Joe …«

»Hmmm?«

»Wenn du dich mal in eine andere verliebst …«

»In wen denn?«

»Ist doch jetzt egal!«

»Stimmt, weil das nämlich nicht passieren kann.«

»Und warum kann das nicht passieren?«

»Weil ich dich liebe. Und zwar ultimativ.«

Er zog sie an sich und küsste sie. Der Kuss wurde leidenschaftlicher. Joe streichelte das Mädchen zärtlich, und sie gab jede Zärtlichkeit doppelt zurück.

Mascha hatte Mühe, grade noch zu sagen: »Ich glaub, ich würd dran sterben!«

 

Bienzle hatte sein Büro schon lange nicht mehr so schwungvoll betreten.

Gächter sah ihn verwundert an. »Du kommst daher, als ob du frisch verlobt wärest.«

»Ja, so was in der Art ist es auch!« Begeistert erzählte Bienzle von der neuen Wohnung, in die sie nun wieder zusammenziehen würden, er und Hannelore. Er hatte Urlaub eingereicht. Ein paar Tage wollte er mit Hannelore noch mal in den Schwäbischen Wald fahren und im Steinachtal wandern. Danach werde er gemeinsam mit ihr die Wohnung streichen und tapezieren.

»Aber so was kannst du doch gar nicht«, sagte Gächter.

»Mr kann älles lerna, wenn mr will«, gab Bienzle fröhlich zurück.

»Na, da wär ich gerne dabei, wenn du deine Wohnung nach dem Prinzip von Versuch und Irrtum renovierst!«

»Kein Problem. Komm ruhig. Dann kannst mir a bissle helfen.« Bienzle setzte sich hinter seinen Schreibtisch, streckte die Beine weit von sich und hakte die Daumen in den Hosenbund. »Bloß gut, dass das Verbrechen zurzeit einen Bogen um Stuttgart macht.«

– 2 –

In der Nacht hatte es zu regnen begonnen. Ein tiefer grauer Himmel hing über der Stadt. Kurz nach acht Uhr begannen Mascha und Joe damit, die Überreste des Festes zu beseitigen.

»Hast du eigentlich mal zusammengerechnet, was uns das gestern alles gekostet hat?«, fragte Mascha.

»Das lass ich lieber«, gab Joe zurück.

»Der Lohmann verlangt aber sein Geld, und ich fürchte …«

Weiter ließ Joe sie nicht kommen. »Der weiß doch, dass wir die Kohle beibringen. Dem kommt’s auf ein paar Tage hin oder her nicht an.«

Maschas Miene zeigte deutlich, dass sie anderer Meinung war. »Lohmann trau ich nicht mal so weit, wie ich ’ne Waschmaschine schmeißen kann«, sagte sie.

Lohmann, der mit allem makelte, was Geld brachte, hatte Joe und Mascha den Imbissstand verschafft. Das Gelände, auf dem die Bude auf Rädern stand, gehörte ihm ebenfalls. Mascha und Joe zahlten dort Standortmiete, und sie hatten sich bei Lohmann mit 50000 Mark verschuldet, um den Stand vom Vorgänger ablösen und über das notwendige Anfangskapital verfügen zu können. Sie mussten ja Waren kaufen, die Ausrüstung vervollständigen, gegenüber den Getränkefirmen in Vorleistung gehen. Joe hatte sich allerdings von dem Geld auch ein Motorrad zugelegt; denn er war sich absolut sicher, dass für ihn und Mascha nun ihr ganz persönliches Wirtschaftswunder begonnen hatte.

Die Aufräumungsarbeiten gingen gut voran. Mascha hatte geschickte Hände und konnte kräftig zulangen, und sie waren ein eingespieltes Team. Plötzlich horchte Joe auf. Das Geräusch schwerer Kettenfahrzeuge war zu hören. Joe ging um den Stand herum. In breiter Front kamen drei gewaltige Schaufelbagger über das Gelände, direkt auf den Imbissstand zu.

»Was soll’n das werden, wenn’s fertig ist?«, fragte Joe. Aber da war niemand, der ihm hätte antworten können.

Auf der Straße fuhr Jürgen mit seinem Abschleppwagen heran. Er war auf dem Weg zur Autobahn und wollte vorher noch bei den beiden frühstücken.

Die Bagger kamen immer näher.

Jürgen sprang vom Bock seines Lasters, ging zum Imbissstand, stellte sich auf die Zehen, um einen Blick ins Innere werfen zu können, und rief: »Ey, habt ihr den Grill noch nicht an? Ich will frühstücken!«

Joe schien ihn gar nicht gehört zu haben. »Der Lohmann hat gesagt, hier wird in fünfzig Jahren nicht gebaut!«

Nun entdeckte auch Jürgen die Baufahrzeuge. »Die fünfzig Jahre sind aber schnell vergangen.«

»Die können uns doch hier nicht abräumen«, schrie Mascha. »Wir haben einen Vertrag!«

»Hat der Typ gestern nicht gesagt, der verfällt, wenn ihr nicht bezahlt?«, wandte Jürgen ein.

»Scheiße, die sechs Wochen sind schon seit vierzehn Tagen rum!«, sagte Mascha plötzlich leise.

Joe wirkte zuerst noch seltsam ruhig. »Das hat der doch gewusst. Lohmann muss doch gewusst haben, dass hier gebaut wird. Diese Sau! Der hat uns da reingeritten.«

Und dann bekam er unvermittelt einen Tobsuchtsanfall. Er trat gegen eine der Tonnen, so dass sie umfiel. Dann griff er – außer sich vor Zorn – nach einem Sack mit Würsten und fing an, sie einzeln gegen die herannahenden Bagger zu werfen. Stoisch fing einer der Baggerführer so ein Geschoss mit einer Hand auf und biss hinein. Joe wütete gegen den eigenen Imbissstand. Er riss ein Schild um, zog krachend die Rollläden herunter, trat so unbeherrscht gegen einen der Stehtische, dass er umfiel.

»Dieser Verbrecher … Den häng ich an den Eiern auf. Den bring ich um. Diese Granatensau …!«

Mascha versuchte ihn zu beruhigen. »Joe! Joe, bitte nicht, hör doch auf!« Aber er wurde immer verrückter, immer wilder und unbändiger.

Jürgen packte ihn am Arm. »Keep cool, Mann. Überleg lieber, was man da machen kann.«

Mascha rannte auf den ersten Bagger zu.

Joe fuhr Jürgen an: »Was man da machen kann? Meinst du, gegen einen wie Lohmann kannst du was machen, außer dass du ihm ein Messer zwischen die Rippen rammst?«

Hinter ihnen hielt der erste Bagger an. Mascha kletterte zu dem Baggerführer hinauf. Jürgen und Joe konnten nicht hören, was die beiden miteinander redeten.

Joe schrie seinen Freund an: »Der hat doch genau gewusst, dass wir hier nach acht Wochen wegmüssen, aber er hat mich die ganze Ablöse zahlen lassen: Vierzig Mille! Die Standmiete hat er kassiert, und die Zinsen wollte er auch noch haben. Aber das wär nur auf lange Sicht zu schaffen gewesen! So viel Kohle so schnell, das geht gar nicht! Wir haben doch erst angefangen … In son Laden musst du erst mal ’ne Menge reinstecken. Das sagt dir jeder!«

»Mich musst du doch nicht überzeugen«, sagte Jürgen lahm.

Joe war jetzt den Tränen nahe. »Irgendwann hätt ich’s geschafft!« Sosehr er gerade getobt hatte, so sehr drückte ihn nun der Jammer nieder. Er sank plötzlich auf die Knie, brach förmlich zusammen.

Mascha kam zurück. Sie nahm Joes Kopf in ihre Arme. »Ich hab mit dem Typ ausgemacht, dass sie hier erst mal nichts machen …«

»Und was soll das bringen?«, fragte Jürgen skeptisch.

»Das werden wir ja sehen. Ich geh jetzt zu Lohmann.« Mascha wirkte entschlossen.

»Aber nicht ohne mich!« Joe stand wieder auf.

»Aber klar ohne dich. Du bist doch imstand und knallst ihn ab.«

»Da müsst ich erst ’ne Waffe haben.«

»Wenn’s weiter nichts ist … Die kriegst du von mir!«, sagte Jürgen grinsend.

Mascha fuhr ihn an: »Hör auf, hier rumzuspinnen. – Ich fahr mit dem Motorrad, ja?«

Joe machte eine Geste, als ob er sagen wollte: Jetzt ist sowieso alles egal.

Als Mascha weggefahren war, rissen die beiden Männer erst einmal zwei Bierdosen auf.

»Geht auch als Frühstück«, sagte Jürgen.

Joe grinste: »Ist ja auch nix, immer nur Austern auf Eis und Kaviar mit neuen Kartöffelchen …«

Sie tranken beide einen langen Schluck und starrten vor sich hin. Dabei ließen sie sich auch nicht von den Baggerfahrern stören, die inzwischen ausgestiegen waren und diskutierten, was nun zu tun sei.

»Musst du nicht los?«, fragte Joe nach einer Weile.

»Sobald ’ne Meldung kommt.«

Nachdem beide noch einen Schluck genommen hatten, sagte Joe: »Man sollte die Bude dem Lohmann direkt vor sein stinkfeines Büro hinplatzen und sagen, da hast du deine Kackbude zurück.«

»Und warum machen wir das nicht?«, fragte Jürgen.

»Ja, genau, warum machen wir das eigentlich nicht …?«

»Vielleicht, weil Mascha doch noch was bei ihm erreichen könnte.«

»Du glaubst doch nicht an den Weihnachtsmann, oder?«

– 3 –

Lohmann residierte in einem modernen Bürohaus aus Glas, Stahl und Marmor an der Lautenschlagerstraße, nicht weit vom Schlossplatz. Mascha stellte das Motorrad auf den Gehweg, nahm den Sturzhelm ab und streifte den Kinnriemen über ihren Unterarm. Sie ging über rötliche Granitplatten auf das Gebäude zu, an dessen Außenfront ein gläserner Aufzug emporglitt. Das Bürohaus spiegelte sich matt in den glänzenden Steinplatten des Vorhofs. Mascha stieß die Tür auf. Sie war nicht das erste Mal hier. Droben im siebten Stock hatten sie den Vertrag unterschrieben.

Im Inneren des Bürohauses gab es einen zweiten Aufzug. Mascha war alleine in der Kabine, sie rekapitulierte in Gedanken noch einmal, was sie Lohmann sagen wollte.

Die Aufzugtür öffnete sich. Mascha trat hinaus und orientierte sich. Ein Mann Mitte dreißig in einem hellen Leinenanzug kam den Korridor herunter. Er sah Mascha an.

»Suchen Sie jemand? Ach, warten Sie mal, Sie sind doch …«

Auch Mascha erkannte Gerry Adler erst auf den zweiten Blick. Er war Lohmanns Partner. Damals war er sehr freundlich zu ihr und Joe gewesen.

»Wo sitzt der Herr Lohmann?«, fragte sie.

»Letzte Tür rechts.«

Mascha ging weiter. Gerry Adler schaute ihr nach und schnalzte mit der Zunge. Mascha hörte es und drehte sich noch mal um. Da rief er ihr zu: »Egal, was er Ihnen verspricht – glauben Sie’s nicht!«

Mascha klopfte kurz und ging dann durch die Tür in Lohmanns Vorzimmer. Dort saß Corinna Lohmann an einem Computer, tippte mit atemberaubender Geschwindigkeit auf dem Keyboard und hob nicht einmal den Kopf, als sie sagte: »Ja, bitte?«

»Zu Herrn Lohmann, bitte«, sagte Mascha knapp.

Noch immer schaute die Frau an dem Computer nicht auf. »In welcher Angelegenheit?«

»Das werd ich ihm dann schon sagen. Wo geht’s rein – da?« Sie zeigte auf die Tür zu Lohmanns Büro und war fast im gleichen Augenblick schon drin.

Corinna sprang auf und wollte ihr nach. »Jetzt Moment mal«, rief sie aufgeregt.

Die Tür fiel ins Schloss.

Gleichzeitig betrat Gerry Adler vom Korridor her Lohmanns Vorzimmer. Er lächelte Corinna an. »Jetzt ist er erst mal beschäftigt, oder?«

Dann zog er Corinna ohne Umschweife an sich und küsste sie. Corinna erwiderte den Kuss, schob Gerry dann aber mit den flachen Händen von sich.

»Bist du verrückt? Er kann jeden Moment rauskommen.«

»Weißt du, wer da grade zu ihm rein ist?«, fragte Gerry.

»Sie hat sich mir nicht vorgestellt!«

»Mascha Niebur … Drück ihr eine Pistole in die Hand, und sie erschießt ihn!«

Er lachte und küsste Corinna erneut, dabei glitt seine Hand unter ihren Rock, und Corinna gab einen zustimmenden gurrenden Laut von sich.

»Los, komm, wir gehen in dein Büro«, sagte sie atemlos, »ich stelle das Telefon um.«

Sie drückte die notwendigen Knöpfe. Dann verließen die beiden den Raum.

 

Jürgen hatte den Imbisswagen auf den Haken seines Abschleppers genommen. Das seltsame Gespann fuhr grade über die Neckarbrücke und auf der B 14 stadteinwärts. Die beiden Freunde saßen im Fahrerhaus und grölten um die Wette: »Old McDonald had a Farm – hiahiaho …«

Sie waren in einer seltsam überdrehten Stimmung, und obwohl Joe soeben kampflos seinen Standplatz geräumt hatte, fühlte er sich, als ob er’s mit der ganzen Welt aufnehmen könnte.

 

Mascha saß unterdessen auf einem Besucherstuhl in Lohmanns Büro. Der Makler ging auf und ab. Er trug einen taubenblauen Anzug mit Weste, die über seinem feisten Bauch spannte. Feist war alles an ihm, sein Gesicht, in dem die Augen hinter Fettwülsten fast verschwanden, seine dicken, viel zu kleinen Hände, seine kurzen Beine. Lohmann musste um die vierzig sein, seine wenigen Haare hatte er seitlich über den immer kahler werdenden Schädel gekämmt. Kleine Schweißtropfen standen auf seiner Stirn. Selbst bei der kleinsten Erregung begann er zu schwitzen. Eigentlich ging er nicht durch den Raum, er schob seinen Körper mit vorgewölbten Hüften herum.

»Ich verstehe doch Ihr Problem«, sagte er. »Vielleicht finden wir ja gemeinsam einen neuen Stellplatz für den Stand. In Cannstatt können Sie natürlich nicht bleiben. Das ist ja jetzt Baugelände.«

»Aber Sie haben doch gesagt …« Mascha bemühte sich um einen freundlichen Ton.

Lohmann lächelte feist. »Nun ja, die Dinge entwickeln sich. Wir leben in einer dynamischen Zeit.«

»Und die Schulden …?«

»Tscha, Vertrag ist Vertrag, meine Liebe … Sie hätten sich nicht darauf einlassen sollen, wenn Sie damit überfordert sind!«

Plötzlich trat er dicht vor sie hin, fasste sie unterm Kinn, hob es hoch. Mascha schüttelte ihn unwillig ab, was ihm aber nur ein überlegenes Lächeln abnötigte. »Wenn’s nur nach mir ginge … Ich bin ja auf das Geld nicht angewiesen. Und mehr als zwei Steaks am Tag kann ich auch nicht essen. Aber ich habe einen Partner. Und der ist knallhart. Um nicht zu sagen: gnadenlos!«

Er trat ans Fenster und schaute hinaus. Plötzlich hielt er den Atem an. »Das gibt’s doch nicht … Das ist doch Ihr Macker da unten! Und das ist euer Imbissstand!«

Mascha sprang auf und trat neben Lohmann, der nun laut loslachte.

»Alle Achtung! Der traut sich was … Jetzt sitzen Sie allerdings noch ein bisschen tiefer in der Scheiße, meine Liebe.«

Mascha sagte trostlos: »Ich hab’s wenigstens versucht.«

Sie wollte zur Tür.

Lohmann fuhr herum. »Warten Sie doch! Augenblick. Ich könnt Ihnen schon helfen. Ich hab was übrig für so freakige Typen wie Sie und Ihren Freund da unten. Ich helfe Ihnen mit meinem privaten Geld … Sie müssten mir allerdings auch ein wenig entgegenkommen.«

Er trat dicht zu ihr und legte seine kurzen, dicken Arme um ihre Taille.

»Sie wollen mit mir ficken, stimmt’s?«

Lohmanns Atem ging kurz. »Ist ’n Angebot«, sagte er heiser, und seine Augen traten ein wenig aus ihren Fetthöhlen hervor. »Du kannst natürlich nein sagen. Wir leben ja schließlich in einem freien Land.«

Seine Patschhände wanderten nach oben, packten Mascha an den Schultern, drückten das Mädchen nach hinten gegen die Kante seines Schreibtisches. Jetzt fasste er mit beiden Händen an ihre Bluse und knöpfte sie auf. Dabei versuchte er, sie weiter nach hinten zu drücken.

Mascha war zuerst wie paralysiert, und einen Augenblick mochte es für Lohmann so aussehen, als ließe sie sich auf den Deal ein.

 

Jürgen hatte seinen Abschlepper mitten auf den Granitvorplatz des edlen Bürogebäudes gesteuert. Jetzt ließ er den Imbissstand langsam ab und platzierte die Futterkiste direkt vor den noblen Eingang des Bürogebäudes, wo der Stand hinpasste wie ein Vogel in ein Aquarium.

Joe rieb sich zufrieden und stolz die Hände. Er fand den Joke einfach klasse. Was die Aktion für Folgen haben konnte, interessierte ihn nicht. »So, und jetzt geh ich rauf und mach den Lohmann zur Sau!«, rief er seinem Freund zu.

»Die Mascha müsste doch noch bei ihm sein«, gab der zurück.

»Umso besser!«

Joe ging auf den Eingang zu. Er hatte dabei einen Gang wie Gary Cooper in »Zwölf Uhr mittags« als Will Cane vor seinem Duell mit Frank Miller.

Jürgen rief ihm noch nach: »Du, ich muss aber los!«

Joe winkte nur, ohne sich noch mal umzusehen.

 

Mascha hastete wie von Furien gehetzt den Korridor entlang. Am Ende des Ganges rannte sie die Treppe hinunter. Kaum war sie verschwunden, da öffnete sich die Aufzugtür, und Joe stieg aus dem Lift. Zielgerichtet marschierte er auf die Tür am Ende des Korridors zu.

Zur gleichen Zeit fuhr ein Streifenwagen der Polizei vor dem Bürogebäude vor. Zwei Beamte stiegen aus und umrundeten den Imbissstand, der so gar nicht hierherpasste.

Mascha kam aus dem Bürogebäude und rannte auf die Bude zu.

Einer der Polizisten sagte: »Gehören Sie hier dazu?« Dabei zeigte er auf den Imbissstand.

Mascha antwortete nicht, sie rief: »Joe … Joe?«, wollte die Tür aufmachen, aber die war verschlossen. Mascha rüttelte an der Klinke. »Joe, bist du da drin?«

 

Corinna kam in ihr Büro zurück. Sie setzte sich an ihren Platz und ordnete ihr Kleid noch mal, obwohl sie sich schon in Gerry Adlers Büro wiederhergerichtet hatte, solange der auf der Toilette gewesen war.

Plötzlich hörte sie ein Geräusch aus Lohmanns Büro. Die Tür war nur angelehnt. Corinna stieß sie auf.

Lohmann lag über dem Schreibtisch, in seinem Rücken steckte eine große Büroschere. Neben dem Schreibtisch stand Joe. Er versuchte gerade, mit seinem Taschentuch die Schere abzuwischen.

Corinna rannte auf den Korridor hinaus und lief direkt ihrem Liebhaber in die Arme.

»So sollte man jeden Tag anfangen«, sagte Gerry grinsend.

Aber Corinna schnappte nach Luft und stieß unzusammenhängende Wörter hervor. »Er ist … ein Mann mit einer Schere … tot, er ist tot.«

Gerry Adler durchquerte Corinnas Büro und betrat Lohmanns Zimmer. Joe fuhr herum.

Gerry hob beruhigend die Hände. »Ist gut, ist gut – glauben Sie mir, ich kann Sie verstehen!« Er ging um den Schreibtisch herum. »So wie er mit Ihnen umgegangen ist …« Gerry stand jetzt an der rechten Schreibtischschublade und zog sie ganz langsam auf. Auf einem Stapel Papier lag ein Revolver.

Joe stotterte. »Ich … ich weiß nicht, wie das passiert ist …«

Gerry nahm die Waffe heraus, entsicherte sie und richtete sie auf Joe. »Eine falsche Bewegung, und ich knall Sie ab!«

– 4 –

Bienzle hatte sich einen Helm aus Zeitungspapier aufgesetzt. Er stand hoch oben auf einer Bockleiter, tauchte die Rolle in die Farbe und zog an der Decke des Wohnzimmers seine erste Bahn, als sein Handy klingelte, das auf dem Tapeziertisch lag.

»Ich hätt’s ausschalten sollen«, rief er. »Kannst du grade mal rangehen?«

Hannelore kam aus der Küche, sie trug einen weißen Kittel und hatte ihre Haare in ein buntes Kopftuch gebunden. Sie nahm das Telefon vom Tisch und warf es Bienzle zu. Beim Versuch, es aufzufangen, verlor Bienzle beinahe das Gleichgewicht.

»Ja?«, bellte er in den Apparat. »Wo ist das? – Ist doch prima, wenn der Täter noch direkt neben der Leiche gestanden hat.« Dann seufzte er. »Also gut, ich komm.« Er schaltete das Handy aus und stieg von der Bockleiter.

»Ich hätt’s mir denken können«, sagte Hannelore.

»Ja no, Urlaub hab ich erst ab morgen«, sagte Bienzle. »Vielleicht hätten wir doch erst nach dem kleinen Wanderurlaub anfangen sollen.«

»Aus dem Wanderurlaub wird dann ja wahrscheinlich auch nichts.« Hannelore stieg missmutig die Leiter hinauf, um Bienzles Arbeit fortzusetzen.

»Natürlich wird da was draus. Das lass ich mir nicht nehmen.«

Hannelore sagte: »Bienzle, ich glaub dir kein Wort.«

Die Leiche Lohmanns lag noch immer auf dem Schreibtisch. Die Spurensicherung hatte gerade ihre Arbeit begonnen. Unter der Tür erschien Bienzle. Gächter war schon da. Joe stand mit Handschellen gefesselt in der Ecke.

Corinna Lohmann berichtete unter Tränen: »Er muss eine Minute vorher zugestochen haben. Und dann hat er mit dem Taschentuch die Schere abgewischt …«

Bienzle riss, ohne sich mit einem Gruß aufzuhalten, die Vernehmung an sich. »Wer sind Sie, die Sekretärin?«

»Ich bin seine Frau, und ich mache hier das Sekretariat, ja.«

Gächter sagte mit einem spöttischen Lächeln: »Und das ist der leitende Hauptkommissar Ernst Bienzle.«

Joe meldete sich: »Ich war’s nicht! Wie ich reingekommen bin, lag er schon so da.«

»Ich war bei Herrn Adler drüben«, sagte Corinna schniefend. »Wir haben ein Projekt besprochen.«

Bienzle warf Corinna einen misstrauischen Blick zu. Danach hatte er sie gar nicht gefragt. »Soso«, sagte er nur grimmig.

Joe rief wieder: »Ich war’s nicht, das müssen Sie mir glauben!«

»Haben Sie schon einen Anwalt?«, fragte Bienzle den jungen Mann.

»Ich hab den Bossi angerufen, aber den würde der Fall nur interessieren, wenn ich wirklich der Mörder wäre.«

Bienzle warf dem Jungen einen Blick zu. Entweder war er absolut cool, oder er war es tatsächlich nicht gewesen. »Wir reden im Präsidium weiter«, sagte der Kommissar und wandte sich dann zu den uniformierten Beamten: »Bringt ihn weg!«

 

Vor dem Bürohaus hängten zwei Männer in blauen Arbeitsanzügen den Imbisswagen an ein Abschleppfahrzeug der Polizei. Joe wurde von zwei uniformierten Beamten zu einem vergitterten grün-weißen Kastenwagen geführt. Der Regen hatte aufgehört. Bienzle trat aus dem Gebäude und blinzelte in die unnatürlich weiße Sonne.

Plötzlich war Mascha da und hängte sich an Joes Arm. »Was ist los, Joe, was machen die mit dir? Was ist passiert?«

Joe stieß hervor: »Den Lohmann hat einer abgestochen. Und jetzt soll ich’s gewesen sein.«

»Abgestochen? Wie meinst du das, abgestochen?«

Einer der Polizisten fasste Mascha an den Schultern. »Weg da! Verschwinden Sie!«

»Wir kriegen das hin, Joe – irgendwie kriegen wir das hin – ganz bestimmt!« Sie schlang ihre Arme um seinen Hals und küsste ihn.

Der Beamte wollte sie wegreißen. Blitzschnell fuhr Mascha herum und biss ihn in die Hand. Der Polizist schrie auf und zog den Schlagstock vom Gürtel.

Bienzle ging dazwischen: »Lassen Sie das!«

»Schauen Sie sich das an«, sagte der Beamte und hob seine Hand, um Bienzle die Bisswunde zu zeigen.

»Sie werden’s überleben«, knurrte der Kommissar und schaute Mascha dabei an. »Sie sind seine Freundin?«

»Ihr könnt ihn nicht einsperren! Er war’s nicht«, sagte sie.

»Wenn er’s nicht war, wer dann? Wissen Sie’s?«

Mascha biss sich auf die Unterlippe und schüttelte den Kopf.

 

Eine halbe Stunde später saß Bienzle Joe gegenüber. Gächter lehnte am Fensterbrett und drehte Zigaretten auf Vorrat. Der Junge hatte bereitwillig erzählt, wie er und Lohmann seinerzeit zusammengekommen waren. Der Makler hatte inseriert, Mascha hatte es gelesen, und Joe hatte sich bei ihm gemeldet.

»Vierzig Mille für die Ablöse und zehn als Investitionshilfe. Ich hab halt noch nicht so viel verdient, dass es für die Standmiete und die Zinsen gereicht hätte. Leben will man ja auch.«

»Wie viel war das denn? Standmiete und Zinsen?«, fragte Gächter.

»Vieracht im Monat.«

»Der hat’s aber auch von den Lebendigen genommen, mein lieber Scholli«, kommentierte Bienzle. »Haben Sie sich denn nicht beraten lassen?«

»Klar. Unternehmensberatung McKinsey. Die Studie ist in Arbeit.« Joe grinste.

Bienzle musste unwillkürlich lächeln. »Nach allem, was Sie erzählen, kann ich ja verstehen, dass Sie einen Riesenzores auf Lohmann gehabt haben.«

Joe maß den Kommissar aus schmalen Augen. »Ach ja, Sie können das verstehen? Sie haben einen sense für uns junge Leute, was?«

»Na ja, er hat Sie abgezockt, da wär ich auch sauer.«

Unvermittelt schrie Joe los: »Ihr Verständnis geht mir doch am Arsch vorbei, Mann! Wenn sich mal einer von euch um unsereinen kümmert, dann nur, damit er sich selber an seinen guten Absichten berauschen kann!«

Gächter stieß sich vom Fensterbrett ab, aber Bienzle machte eine beschwichtigende Geste in seine Richtung. »Ist das auf Ihrem Mist gewachsen, oder haben Sie das irgendwo gelesen?«, fragte er eher amüsiert.

»Dass Sie mir nix zutrauen, passt dazu«, blaffte Joe.

»Nu halt mal den Ball flach, Junge, ja?«, ließ sich Gächter hören.

Aber Bienzle sagte: »Er hat doch recht.«

Joe äffte den Kommissar nach: »Er hat doch recht, er hat doch recht, aber krieg ich auch Recht?«

Gächter hob eine schmale Akte vom Tisch hoch. »Sie sind immerhin vorbestraft.«

»Da! Einmal ein Verbrecher, immer ein Verbrecher … In dem Lohmann seinem Büro können hundert Leute gewesen sein, bevor ich gekommen bin und die Sau tot auf dem Schreibtisch gefunden hab. Warum muss es dann ausgerechnet ich gewesen sein?«

Bienzle sagte geduldig: »Weil Sie ein Motiv hatten und weil Sie mit der Mordwaffe angetroffen wurden.«

»Es könnte allerdings auch Ihre Freundin gewesen sein«, sagte Gächter, »die war kurz vor Ihnen da.«

Joe sprang völlig unvermittelt auf und stürzte sich auf Gächter. »Lass Mascha da raus, du Scheißbulle!«

Gächter schlug sofort zu, so dass Joe wieder auf seinen Stuhl zurücktorkelte.

Bienzle sagte versöhnlich: »Des wär jetzt net nötig gewesen, Herr Keller. Sie haben ja recht: Es kann auch jemand ganz anderer gewesen sein.«

»Am Ende werdet ihr’s doch mir anhängen«, sagte Joe Keller dumpf.

 

Gegen sechs Uhr am Abend verließen Gächter und Bienzle gemeinsam das Präsidium.

»Und jetzt?«, fragte Gächter. »Noch mal zu Frau Lohmann und seinem Partner?«

»Kannst du machen … Ich fahr heim«, sagte Bienzle. »Überhaupt wird das ja dein Fall. Ich fahr morgen in den Schwäbischen Wald. Ich hab bekanntlich Urlaub!«

Gächter seufzte: »Und ich krieg nachher Besuch.«

Bienzle sah den Kollegen fragend an.

»Mein kleiner Neffe kommt, der Patrick, meine Schwester fährt mit ihrem Mann für vier Wochen nach Nepal, Trekking im Himalaya.«

»Des ischt au dr nächschte Weg«, sagte Bienzle, stieg in sein Auto und fuhr davon.

Gächter hatte noch ein paar Schritte bis zu seinem Wagen. Plötzlich stand wie aus dem Boden gewachsen Mascha Niebur vor ihm. Sie sagte unvermittelt: »Sie müssen ihn freilassen. Er war’s nicht!«

»Ihr Freund ist hinreichend verdächtig«, sagte Gächter sachlich. »Morgen wird er dem Haftrichter vorgeführt, und wenn unsere Indizien reichen, bleibt er drin bis zu seinem Prozess. Im Übrigen, kein Polizist kann einen Verdächtigen einfach so laufen lassen.« Er wandte sich ab und schloss sein Auto auf.

Aber so einfach ließ sich Mascha nicht abspeisen. »Er hält es im Gefängnis nicht aus – grade weil er’s nicht war.« Und nach einer kurzen Pause setzte sie leise hinzu: »Und ich halte es ohne ihn auch nicht aus.«

Gächter sah ihr in die Augen. »Ich kann’s nicht ändern.«

»Er hat keine Chance, was?«

»Wenn er’s war, bestimmt nicht.«

»Und wenn er’s nicht war?«

Gächter hatte die ganze Zeit kein Auge von ihr gelassen, und Mascha hatte seinem Blick standgehalten. Jetzt sagte der Kommissar: »Sie sind doch kurz vorher auch bei Lohmann gewesen.«

Zum ersten Mal senkte Mascha den Blick. Sie nickte. »Ja, aber als ich weggegangen bin, hat er noch gelebt.«

Gächter stieg in sein Auto.

Mascha ging zu ihrem Motorrad. Als der Kommissar losfuhr, folgte sie ihm.

– 5 –

Corinna Lohmann und Gerry Adler waren noch im Büro. Der Tresor in der Wand stand offen. Corinna hatte eine Akte aufgeschlagen.

»Schau dir das an. Die Geschäfte hat er alle an uns vorbei gemacht.«

Gerry schien nicht besonders verwundert zu sein. »Ich hab schon immer gewusst, was dein Alter für ein Linkmichel war!« Er ging zu Corinna hinüber, stellte sich hinter sie und versenkte beide Hände tief in ihren Ausschnitt, während er fortfuhr: »Aber jetzt hast du ja nur noch mich.«

Sie beugte ihren Kopf weit nach hinten und bot ihm ihren Mund zum Kuss.

Draußen fiel eine Tür ins Schloss. Aus dem Vorzimmer ertönte Gächters Stimme: »Ist jemand da?«

Gerry wollte sich von Corinna lösen, schaffte es aber nicht ganz, ehe Gächter hereinkam.

Der Kommissar lächelte. »Tut mir leid, wenn ich gestört habe, aber draußen war offen.« Er fixierte Corinna Lohmann. »Sie arbeiten?«

»Nur das Allernötigste«, sagte sie rasch. »Er hat so viel für sich behalten. Und es muss ja doch weitergehen.«

Gächter ging nicht darauf ein. Er zog einen Notizblock aus der Tasche und blätterte darin. »Kurz vor zehn Uhr kam Mascha Niebur zu Herrn Lohmann. Sie beide sind dann in Herrn Adlers Büro gegangen und haben dort gearbeitet. Das Telefon haben Sie auf Herrn Adlers Apparat umgestellt … Stimmt das alles so?«

Corinna reagierte gereizt. »Ja, das haben wir doch schon mindestens fünfmal gesagt!«

»Sie haben wirklich gearbeitet?«

»Ja natürlich, was denn sonst?«, sagte Adler.

»Ich hatte vorhin das Gefühl, da würde Ihnen schon was anderes einfallen«, sagte Gächter mit einem aasigen Lächeln. Bevor Adler noch etwas entgegnen konnte, fuhr ihn der Kommissar barsch an: »Sie sind gegen zehn Uhr auf dem Korridor gesehen worden. Kurz nach zehn Uhr wurde Ihr Kompagnon ermordet!«

Das war zwar ein Schuss ins Blaue, aber er traf ins Schwarze.

»Von wem bin ich gesehen worden?«, wollte Gerry Adler wissen.

»Spielt jetzt keine Rolle«, gab Gächter gelassen zurück. »Unsere Kollegen haben in allen Büros gefragt. Und da sind doch ein paar ganz interessante Dinge zutage gekommen … Um Viertel nach zehn ist Joe Keller hier in diesem Büro erschienen. Er sagt, da sei Herr Lohmann schon tot gewesen.«

»Muss er ja sagen.« Gerry Adler hatte sich wieder gefangen.

»Also, Sie waren auf dem Korridor …«

»Ich musste mal pinkeln gehen. Ist das strafbar?«

Gächter ging nicht darauf ein. »Sie waren gleichberechtigte Geschäftspartner, stimmt doch, oder?«

»Stimmt. Fünfzig-fünfzig. Bis zu einem Betrag von 50000 Mark konnte allerdings jeder alleine entscheiden. Alles andere mussten wir gemeinsam beschließen.«

»Da hat’s natürlich manchmal Streit gegeben.«

»Nie!«, sagte Adler.

»Ein Herz und eine Seele?«, fragte Gächter, Sarkasmus in der Stimme.

»So könnte man sagen.«

Der Kommissar wandte sich wieder Corinna Lohmann zu: »Existiert eigentlich eine Lebensversicherung?«

»Da hab ich mich noch nicht drum gekümmert«, antwortete sie knapp.

»Es gibt zwei«, sagte Gerry Adler.

Gächter starrte ihn nur fragend an.

»Eine zugunsten seiner Ehefrau und eine auf Gegenseitigkeit zwischen ihm und mir. So einen Laden muss man doch absichern.«

»Wie hoch?«, fragte Gächter.

»500000. Er hätte sie bei meinem Ableben bekommen. Jetzt kriege ich sie.«

»Wie schön für Sie!«

»Ein Motiv, nicht wahr? Das meinen Sie doch.«

Gächter nickte nachdrücklich: »Und Ihr Alibi, das Sie beide sich gegenseitig geben, zerreißt ein guter Staatsanwalt in weniger als fünf Minuten in der Luft.«

Corinna schnappte: »Wollen Sie etwa im Ernst unterstellen, Herr Adler und ich …«

»Echauffieren Sie sich nicht, Gnädigste«, sagte Gächter und steckte sich eine seiner selbstgedrehten Zigaretten in den Mundwinkel. »Wir bemühen uns, alles zu beweisen.«

Damit verließ er die beiden.

– 6 –

Als Gächter vor dem Bürogebäude in sein Auto stieg, startete Mascha das Motorrad, auf dem sie, ein Bein weit ausgestellt, versteckt zwischen zwei Autos saß. Die Dämmerung hatte schon begonnen. Gächter fuhr mit Licht. Mascha schaltete den Scheinwerfer noch nicht ein.

Eine Viertelstunde später eilte Gächter durch die Bahnhofshalle. Die junge Frau blieb ihm auch hier auf den Fersen. Wenn man sie gefragt hätte, warum sie dem Polizeibeamten folgte, hätte sie zu diesem Zeitpunkt noch keine Antwort gewusst.

Patrick war elf Jahre alt und stolz darauf, dass er die Bahnreise von Wuppertal bis Stuttgart ganz alleine bewältigt hatte. Im Zug hatte ein älterer Mann mit ihm Mau-Mau gespielt, später hatte er die Schaffnerin auf ihrer Tour durch die Waggons begleiten dürfen, und gegen Ende der Reise trug er sogar die Mütze des Zugführers und durfte die Fahrkarten kontrollieren. Patrick war ein aufgeweckter, freundlicher Junge. In seinem Fall hatte es sich bewährt, dass die Eltern wenig an ihm herumerzogen hatten und ihn von allem Anfang an sehr selbständig aufwachsen ließen. Der Junge hatte strubbelige blonde Haare und große blaue Augen, die staunend alles Neue aufzunehmen schienen. Er trug Jeans, Turnschuhe und einen Anorak. Seine Habseligkeiten hatte er in einem Rucksack.

Gächter schloss seinen Neffen in die Arme. Und weil er zu Hause nichts zu essen hatte, gingen sie in die Bahnhofswirtschaft. Mascha glaubte, Vater und Sohn zu beobachten, so vertraut erschienen die beiden miteinander.

Als Gächter eine gute Stunde später mit dem Jungen in seiner Wohnung an der Gänsheide verschwand und Mascha den Namen des Kommissars an der Klingelleiste gelesen hatte – offenbar wohnte er im vierten Stock –, fuhr sie mit ernstem und entschlossenem Gesicht davon.

 

Bienzle sah aus, als ob er weiße Masern hätte. Den ganzen Abend hatte er auf der Bockleiter gestanden und die Decken des Schlafzimmers und seines künftigen Arbeitszimmers geweißt. Hannelore war zuvor schon mit dem Wohnzimmer fertig geworden. Nun stieg Bienzle ächzend von der Leiter. Er spürte sein Kreuz nicht mehr, und eine bleierne Müdigkeit saß in seinen Knochen. Aber er genoss es, wie er auch die Müdigkeit nach einer langen Wanderung über die Schwäbische Alb genoss, obwohl er danach die Beine einzeln mit den Händen ins Auto heben musste.

Hannelore kam mit einem Tablett herein und stellte es auf dem Tapeziertisch ab. Ripple mit Kartoffelsalat, Senf und sauren Gurken. Dazu zwei Flaschen Bier. Sie zogen sich zwei Hocker heran und stöhnten unisono, als sie sich darauf sinken ließen.

Hannelore sagte: »Sollen wir die nächsten Tage nicht doch lieber hierbleiben und weitermachen?«

Bienzle schüttelte den Kopf. »Bis zum Einzug sind’s noch sechs Wochen, da können wir uns doch zwischendurch so eine kleine Wandertour genehmigen.«

Hannelore machte ein bedenkliches Gesicht. Wenn sie etwas zu bewältigen hatte, nahm sie es immer sofort in Angriff und ließ nicht locker, bis sie es geschafft hatte. Hinterher konnte man sich’s dann immer noch gutgehen lassen. Nur dass sie meistens hinterher gleich wieder eine neue wichtige Aufgabe hatte.

Aber diesmal ließ Bienzle nicht mit sich reden. »Wir fahren morgen. So war’s ausg’macht!«

 

Mascha kam tief in Gedanken nach Hause. Jürgen saß alleine in der Gemeinschaftsküche der WG.

»Was Neues?«, fragte er, als Mascha die Kühlschranktür öffnete, eine Flasche Milch herausnahm und gleich an den Mund setzte, um daraus zu trinken.

Sie schüttelte nur den Kopf und fragte: »Wo sind die anderen?«

»Bei dem Holly-Konzert auf dem Killesberg. Die Nina jobbt da und kann die andern alle reinschleusen … Für lau!«

»Und du?«

Jürgen feixte. »Ich hab gedacht, dass ich hier gebraucht werde …« Und lauernd setzte er hinzu: »Damit du nicht so alleine bist.«

»Son Quatsch«, sagte Mascha und ging aus dem Zimmer.

Nach ein paar Sekunden stand Jürgen auf und folgte ihr. Als er die Tür zu ihrem Zimmer aufstieß, hatte sich Mascha auf die Matratze am Boden geworfen und ihr Gesicht in den Armen vergraben. Jürgen blieb an den Türbalken gelehnt stehen und sagte: »Also ehrlich, das hätt ich dem Joe nicht zugetraut, dass er den Lohmann allemacht!«

Mascha hob den Kopf. »Er war’s auch nicht … bestimmt nicht!«

»Aber jetzt wird er erst mal ’ne Weile fehlen, was?« Jürgen kniete sich dicht neben Mascha auf die Matratze, fasste ihr in den Nacken und kraulte sie am Haaransatz.

Sie wischte seine Hand weg. »Lass das! Spinnst du?«

»Ich hab bloß nie was mit dir gemacht, weil Joe ’n Freund ist. Aber jetzt …« Er fasste erneut in Maschas Nacken, nun aber sehr viel fester, und zog das widerstrebende Mädchen an sich.

»Jürgen, hör auf«, schrie sie wütend.

»Jetzt komm – du willst das doch auch. Du brauchst das doch. Und auf den Joe kannst du garantiert nicht warten. Der kriegt lebenslänglich, und das heißt wenigstens zwölf Jahre!«

Jürgen versuchte sie zu küssen und fasste nach ihren Brüsten. Mascha schnellte hoch. Sie hatte plötzlich ein Messer in der Hand, das unter dem Kopfende der Matratze gelegen haben musste. Auch sie kniete jetzt. Ihre Augen funkelten. Jürgen starrte sie ungläubig an.

Mascha fuhr ihn an: »Jetzt hör mal zu, du … Ich liebe Joe … ich lieb ihn mehr, als du dir das überhaupt vorstellen kannst. Ich würde Joe nie betrügen. Nicht mit dir und auch sonst mit keinem. Für Joe würd ich alles tun. Verstehst du? Alles. Für Joe stech ich dich auch ab! Und jetzt raus hier. Raus! Raus! Raus!«

Tatsächlich machte sie ein paar gefährliche Bewegungen mit dem Messer in Richtung auf Jürgens Brust. Der sprang auf und rannte hinaus. Sie hörte ihn die Treppe hinunterpoltern, dann fiel die Haustür ins Schloss. Mascha warf sich auf die Matratze und fing hemmungslos an zu weinen.

 

Gächter brachte Patrick zu Bett. Der Junge bestand darauf, dass sein Onkel Günter ihm eine Gutenachtgeschichte erzählte – eine Kriminalgeschichte natürlich; denn für ihn war der Onkel ein Held, der die bösen Verbrecher reihenweise und stets im Alleingang zur Strecke brachte. Gächter hatte gegen diese Legende nie etwas gesagt. Im Gegenteil: Seine Geschichten untermauerten Patricks hohe Meinung von seinem Onkel Kriminalkommissar. Mit glühenden Backen und großen Augen hörte der Junge auch jetzt wieder zu, als Gächter ihm erzählte, wie er erst vor zwei Jahren eine internationale Geldwäscherbande dingfest gemacht hatte. Ganz allein … na gut, sein Kollege Bienzle war ihm ein bisschen zur Hand gegangen, aber im Grunde war es wieder einmal ein grandioses Ein-Mann-Unternehmen gewesen. Patricks Vorstellung freilich, dass er mit Onkel Günter in den nächsten Tagen und Wochen gemeinsam auf Verbrecherjagd gehen könne, würde sich wohl nicht erfüllen. Kerstin, Gächters derzeitige Freundin, war bereit, sich um den Jungen zu kümmern, wenn Gächter keine Zeit hatte. Ein bisschen enttäuscht war Patrick schon, aber er war andererseits ja auch einsichtig. Und so schlief er am Ende doch einigermaßen zufrieden ein.

 

Mascha hatte sich gefangen. Sie war jetzt auf dem Weg durch die Räume der Wohngemeinschaft, durchsuchte Schubladen und Schränke, hob umgestülpte Töpfe hoch und durchwühlte die Betten. Sie kam in Jürgens Zimmer. An den Wänden hingen Plakate mit Trucks, Bilder von Wüsten-Rallyes, das große Foto eines Formel-1-Boliden. Ein anderes großes Foto zeigte Jürgen und Joe, wie sie breit grinsend vor einem besonders exotischen LKW standen. Auch Jürgens Zimmer durchforschte Mascha systematisch. Endlich fand sie, was sie suchte: die Waffe, von der Jürgen am Morgen gesprochen hatte. Es war ein ziemlich schwerer Revolver. Mit der Waffe in der Hand ging sie hinaus, kehrte aber gleich wieder zurück, begann erneut zu suchen und fand die Patronen für den Revolver in einem Schuh, der noch in einem Karton verpackt war. Schließlich nahm sie aus einer Schublade einen Autoschlüssel, Jürgens Ersatzschlüssel, und ging aus dem Raum.

 

Hannelore und Bienzle verabschiedeten sich vor dem Haus in der Ludwigstraße. Noch hatte jeder seine eigene Wohnung, und eigentlich waren in diesem Augenblick beide ganz froh darüber. Dabei hatten sie exakt die gleichen Wünsche: nach Hause kommen, heiß baden, noch ein Glas Wein trinken, danach sofort ins Bett und alle viere von sich strecken. Auf keinen Fall aber noch darauf achten müssen, wie man auf den anderen wirkte.

– 7 –

Zwei Menschen taten in dieser Nacht kein Auge zu: Mascha Niebur und Joe Keller. Joe saß auf der Pritsche seiner Zelle im Untersuchungsgefängnis. Er hatte die Beine eng angezogen und die Arme um sie geschlungen. Unverwandt sah er zu dem vergitterten Fenster hinauf, durch das ein diffuses Licht hereinfiel, das irgendwelche weit entfernten Straßenlampen spendeten. Was, wenn sie ihn hier einsperrten und nie wieder hinausließen? Er war zweiundzwanzig Jahre alt. Gefängnisse kannte er von innen, aber er war nie länger als ein paar Wochen drin gewesen. Doch auch an diese kurzen Zeiten erinnerte er sich mit Grauen. Zwölf Jahre, das war das Geringste, was man für einen Mord absitzen musste. Zwölf Jahre! Dann war er vierunddreißig. Die Verzweiflung würgte ihn. Seine Jugend würde zwischen diesen Mauern förmlich verdampfen. Er würde das nicht aushalten, eher wollte er Schluss machen.

Mascha ging auf Strümpfen durch die WG. Alle schliefen noch fest. Auch aus Jürgens Raum hörte man ein gleichmäßiges Schnarchen. Mascha verließ die Wohnung und stieg leise die Treppe hinunter. Ein paar Monate noch, dann würden sie den alten Schuppen wohl abreißen. Er gehörte Lohmann, jetzt wahrscheinlich Gerry Adler. Die beiden waren damit einverstanden gewesen, dass Joe und seine Truppe hier einzogen. Umso schneller war der Kasten heruntergewohnt. An Renovierung war ohnehin kaum zu denken. Schade, dass man den Arschlöchern nur in die Hände arbeiten würde, wenn man den Kasten anzündete, dachte Mascha.

Auf dem Hof zog sie ihre Schuhe an, die sie bis hierher in den Händen getragen hatte, und sah noch mal an der Fassade hinauf. Mit etwas Phantasie konnte man sich ausmalen, dass das einmal ein schönes Haus gewesen war, irgendwann vor dem Krieg oder vor den Kriegen – Mascha kannte sich da nicht so aus. Sie zog Jürgens Ersatzautoschlüssel aus der Tasche und schloss den aufgemotzten Mazda auf, der im Hof neben dem Abschleppwagen geparkt war.

Als sie losfuhr, schob sie eine Kassette in den Rekorder. »Born to be wild.« Dieser abgefuckte alte Song passte zu Jürgen.

 

Patrick kam aus dem Haus, in dem Günter Gächter wohnte. Der Junge schlenkerte eine leere Leinentasche in der rechten Hand und sprach laut vor sich hin: »Drei Brezeln, drei Brötchen und eine große Schneckennudel!« Er machte ein paar Wechselschritte, ging dann ein Stück mit dem Fuß auf dem Bordstein und mit dem andern im Rinnstein und skandierte erneut: »Drei Brezeln, drei Brötchen und eine große Schneckennudel.«

Plötzlich stoppte ein Auto neben ihm. Mascha sprang heraus und packte ihn.

»Ey, was ist denn los?«, schrie Patrick.

Mascha fuhr ihn an: »Still, und mach jetzt bloß keinen Scheiß!«

Sie hielt ihm Jürgens Waffe an den Kopf und zerrte ihn zu dem Mazda. Weit und breit war außer den beiden niemand zu sehen. Mascha stieß Patrick auf den Rücksitz des Wagens, drückte den Knopf runter und schlug die Tür zu. Patrick wollte den Knopf wieder hochziehen, aber da war Mascha schon im Wagen und haute ihm den Lauf des Revolvers auf die Finger. Patrick schrie vor Schmerzen auf.

»Ich hab dir gesagt, du sollst keinen Scheiß machen«, herrschte Mascha ihn an.

Beim Versuch, den Motor zu starten, starb er ihr zweimal ab. Patrick presste die Lippen aufeinander. Das musste mit Onkel Günter zu tun haben. Und er war sich ganz sicher, dass diese Frau keine Chance gegen ihn hatte. Endlich sprang der Motor an, und Mascha fuhr mit quietschenden Reifen los.

 

»Und? Wo ist dein Neffe?« Kerstin wirbelte herein, küsste Günter Gächter auf den Mund und stellte eine Tasche auf die Anrichte in der Küche. »Ich hab Brezeln, Brötchen und Schneckennudeln gekauft.«

Gächter schaute auf die Uhr. »Er müsste längst wieder da sein. Ich hab ihn nur schnell zum Bäcker geschickt.«

»Zum Bäcker Lang unten an der Ecke? Da war ich grade, aber ich hab keinen Jungen gesehen.«

Gächter spürte plötzlich eine seltsame Leere im Kopf. Unvermittelt brach ihm der Schweiß aus. »Und auf der Straße?«

»Keine Menschenseele.«

Gächter schnappte sich seine Jacke und rannte aus der Wohnung.

Ein paar Minuten später stürmte Gächter in die Bäckerei. »Entschuldigen Sie bitte«, rief er schon von der Schwelle her, aber eine stämmige Schwäbin fuhr ihm gleich in die Parade:

»Nix da. Mir wartet au scho lang gnueg!«

»Ich will ja nur schnell fragen, ob ein kleiner Junge da war … Er sollte drei Brezeln, drei Brötchen und eine Schneckennudel kaufen.«

Die Bäckersfrau wandte sich jetzt erst um. »Ach, Sie sind’s, Herr Gächter. Noi, a Bub ist in der letzten halben Stund net da gwesen.«

»Sind Sie ganz sicher?«, fragte Gächter, obwohl er schon wusste, dass sich an dem, was die Bäckersfrau gesagt hatte, nichts ändern würde.

Eine Kundin meldete sich: »I stand ja au scho bald a halbe Stund da, und ich hab au koi Kind g’seha!«

»Hano, also a halbe Stund ist aber stark übertrieben«, protestierte die Bäckersfrau ärgerlich.

»Danke!«, rief Gächter in den Raum und rannte wieder hinaus.

»So a g’schuckter Kerle!«, sagte eine der wartenden Frauen.

 

Bienzle hob Hannelores Koffer in den Wagen. Wie immer war er auf die Minute genau pünktlich gewesen, und wie immer hatte Hannelore gejammert, dass er schon so früh kam. Aber sie hatte sich dann doch sehr beeilt.

Der Himmel hatte sich am Morgen aufgeklärt. Nur noch vereinzelte weiße Wolkenfetzen segelten Richtung Osten. Die Sonne wärmte zwar nicht mehr sehr, immerhin hatten sie schon Ende September, aber es versprach, ein schöner Tag zu werden.

Als sie losfuhren, begann Bienzle zu singen: »Bunt sind schon die Wälder, gelb die Stoppelfelder, und der Herbst beginnt.«

Und Hannelore fiel ein: »Bunte Blätter fallen, graue Nebel wallen, kühler weht der Wind.«

Es war Bienzles Lieblingslied, und er behauptete stur, Mozart habe es für den zweiten Satz, Romanze, seines C-Dur-Klavierkonzertes verwendet. Eine Beobachtung, auf die vor ihm keiner gekommen war, nicht einmal ein Musikwissenschaftler.

Hannelore schaute zu ihm hinüber. Wenn man ihn so dabei ansah, wie er sich seines Lebens freuen konnte, verblassten all die Erinnerungen an seine raubauzige Art, die er sonst oft zeigte.

 

Just zur gleichen Zeit hastete Günter Gächter in zunehmender Panik durch die Straßen und Gassen und in die Hofeingänge seines Viertels. Immer lauter rief er nach Patrick. Aber der Junge antwortete nicht.

Als Gächter die vier Treppen zu seiner Wohnung hinaufstieg, hoffte er noch, der Bub könnte inzwischen zurückgekommen sein und schon mal gemütlich mit Kerstin sein Frühstück begonnen haben. Er stürmte in die Wohnung. Von der Küche her hörte er Kerstins Stimme:

»Da seid ihr ja endlich …«

Gächter erschien unter der Küchentür. »Er ist weg!«

Kerstin drehte sich um. »Wie weg …?«

Gächter hob verzweifelt die Arme und ließ sie wieder fallen. »Weg. Spurlos verschwunden!«

»Das kann doch nicht sein …«

»Was soll das heißen: Das kann nicht sein?«, blaffte Gächter zurück. »Er war nicht beim Bäcker, niemand hat ihn auf der Straße gesehen, ich hab alles abgesucht. Keine Spur von Patrick.«

»Wahrscheinlich ist er in die falsche Richtung gegangen, und jetzt hat er sich irgendwie verlaufen«, sagte Kerstin und schlüpfte in ihren Mantel. »Komm, wir ziehen noch mal los. Wir finden ihn schon.«

Auch Gächter klammerte sich an diese Hoffnung.

– 8 –

Der Mazda bog von einer schmalen, mit Schlaglöchern übersäten Asphaltstraße in eine Hofeinfahrt zu einem ehemaligen Fabrikgelände, das schon vor Jahren aufgegeben worden war. Die Fenster waren alle zerbrochen, die eisernen Fensterkreuze zum Teil herausgerissen oder verbogen. Ein Backsteinkamin bröckelte vor sich hin. Das bunte Laub war von den böigen Herbstwinden der letzten Tage gegen die brüchigen Backsteinmauern getrieben worden und hatte sich an den Kanten zu kleinen Wällen aufgehäuft.