Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Dieses E-Book enthält komplexe Grafiken und Tabellen, welche nur auf E-Readern gut lesbar sind, auf denen sich Bilder vergrössern lassen. Wie gaben Menschen früher ihr Berufswissen weiter? Wie hat sich das System der Schweizerischen Berufsbildung entwickelt? Nach einem leicht lesbaren Überblick, der die Entwicklung von den Zünften bis Anfang des 21. Jahrhunderts nachzeichnet, werden in einem zweiten Teil Themen wie etwa die kaufmännische Ausbildung, die landwirtschaftliche Berufsbildung oder die Entwicklung der Fachhochschulen aus den Technika vertieft betrachtet. Ein Standardwerk, geschrieben von einem Praktiker, der sich seit Jahrzehnten mit der Berufsbildung befasst. Es löst die vor über 30 Jahren geschriebene erste Fassung der immer noch verwendeten "Entwicklung" ab.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 300
Veröffentlichungsjahr: 2020
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Emil Wettstein
Berufsbildung
Entwicklung des Schweizer Systems der Berufsausbildung
ISBN Print: 978-3-0355-1675-3
ISBN E-Book: 978-3-0355-1676-0
1. Auflage 2020
Alle Rechte vorbehalten
© 2020 hep Verlag AG, Bern
hep-verlag.ch
Nach über 30 Jahren hat Emil Wettstein sein im Jahr 1987 bei Sauerländer erschienenes Buch über die Entwicklung der Berufsbildung überarbeitet und durch Ausführungen über die jüngste Geschichte ergänzt. In diesen 30 Jahren hat die Schweizer Berufsbildung eine ihrer schwierigsten Phasen durchlebt, als nach der Lehrstellenkrise in den 1990er-Jahren eine Kantonalisierung der Berufsbildung drohte. Sie hat mit dem neuen Bundesgesetz von 2002 aber auch eine Aufwertung erfahren, die zum nationalen und internationalen Erfolg der letzten Jahre geführt hat.
Die Überarbeitung der Ausgabe von 1987 war wichtig, um die letzten Entwicklungsetappen nachzuzeichnen und auch einige Aspekte aus der Vergangenheit neu zu beleuchten. Möglich wurde dies auch dank wissenschaftlicher Untersuchungen zur Geschichte der Berufsbildung, die ab den 1990ern durchgeführt wurden und dank denen nun ein breiteres wissenschaftliches Fundament für die Rekonstruktion der Geschichte der Berufsbildung in der Schweiz zur Verfügung steht.
Die Notwendigkeit und Dringlichkeit dieser Neufassung des Werks von Emil Wettstein rühren aber auch daher, dass erkannt wurde, wie wichtig es ist, die historische Dimension zu berücksichtigen, wenn man verstehen will, wie die Berufsbildung in der Schweiz im Detail funktioniert. Bei der Aufgliederung ihrer Komplexität kommt man nicht um die historischen Faktoren herum, denn nur mit ihnen lassen sich einige Besonderheiten des Schweizerischen Berufsbildungssystems erklären.
Die Anerkennung der Berufsbildung kontrastiert jedoch auch stark mit dem Nichtwissen vieler Akteure über ihre Vergangenheit, denn historische Aspekte wurden lange ignoriert oder ins Anekdotische verklärt. Wer von den Akteurinnen und Akteuren der Berufsbildung kennt schon die Jahreszahl des ersten Berufsbildungsgesetzes und wie viele können die damals schwierigen jahrzehntelangen Verhandlungen zwischen der Politik und Wirtschaft schildern, bis schliesslich und endlich das erste Schweizer Berufsbildungsgesetz 1930 verabschiedet und 1933 in Kraft gesetzt werden konnte. Damit war der entscheidende Wendepunkt erreicht: Das duale System und die öffentlich-private Partnerschaft, die richtigerweise so gepriesen werden, festigten sich und etablierten sodann ein Gleichgewicht, das grosso modo heute noch besteht.
Die Sichtweise auf die Geschichte der Berufsbildung begann sich zu ändern, und es ist kein Zufall, dass historische, rechtliche und systemspezifische Aspekte der Berufsbildung in den letzten Jahren in die Curricula der Ausbildung von Berufsbildungsverantwortlichen Eingang gefunden haben.
Anderseits haben die jüngsten internationalen Erfolge des Schweizer Modells ein verstärktes Interesse für deren geschichtliche Hintergründe hervorgerufen. Bei der Begegnung mit Expertinnen und Experten aus anderen Ländern, die das Schweizer System kennenlernen möchten, zeigt es sich, dass der historische Ansatz bei der Darstellung oft unverzichtbar ist. In den Gesprächen mit ausländischen Partnern tauchen oft auch interessante Fragen auf: Wie konnte die Schweiz ein duales Berufsbildungsmodell entwickeln? Warum sind die Schweizer Unternehmen bereit, sich so stark für die Berufsbildung junger Menschen zu engagieren? Diese Fragen können nur beantwortet werden, wenn man einen Blick zurück in die eidgenössische Vergangenheit wagt.
Diese Vergangenheit reicht – wie Emil Wettstein in seinem Buch sehr schön nachzeichnet – bis weit ins Mittelalter zurück, als die Zünfte für das Erlernen eines Berufs die Lehre einführten.
Die Vergangenheit zeigt aber auch, welche Fortschritte nach scheinbar geringfügigen Entscheidungen und vielen Kompromissen erzielt werden konnten. So ist schliesslich um die Jahrhundertwende von 1900 aus der traditionellen Lehre der Zünfte das duale System entstanden, das wir heute kennen.
Das überarbeitete Buch von Emil Wettstein bietet somit eine solide Grundlage, die viele Eigenheiten des Schweizer Berufsbildungssystems begreiflich machen und dabei helfen kann, dessen heutige Funktionsweise besser zu verstehen. Es enthält eine Vielzahl präziser und klar dargestellter Informationen in einer eingängigen Textstruktur. Ergänzend wird eine umfassende Liste mit Dokumenten angeführt, anhand deren Interessierte die angesprochenen Themen im Internet weiter vertiefen können.
Wir wünschen diesem Buch anhaltenden Erfolg und vor allem, dass das Wissen über die Entwicklung der Berufsbildung auch bei den verschiedenen Akteurinnen und Akteuren stärker ins Bewusstsein rückt. Denn dies ist unerlässlich, wenn wir das Schweizer System besser verstehen und so auch besser lenken sowie an die Herausforderungen der Zukunft anpassen wollen.
Stephan Campi
Nationaler Leiter Ausbildung
Eidgenössisches Hochschulinstitut für Berufsbildung EHB
«Berufsbildung − Entwicklung des Schweizer Systems» besteht aus drei Teilen:
Die ersten 40 Seiten vermitteln einen Überblick über die Entwicklung. Für manche Leserinnen und Leser wird dies bereits genügen. Ergänzt wird dieser Überblick auch eine Zeittafel (hier und hier) in der Vorgänge in der Berufsbildung wichtigen Ereignissen in Gesellschaft, Wirtschaft und Politik gegenüber gestellt werden. Hinweise führen zu Vertiefungen der Themen im zweiten Teil.
Im zweiten Teil werden 33 Themen vertieft behandelt − soweit dies im beschränkten Umfang möglich ist. Wer noch mehr zum jeweiligen Thema erfahren will oder an den Quellen der Aussagen interessiert ist, beachte die blauen Vermerke, zum Beispiel [1999b] oder [BMS]. Sie beziehen sich auf den Materialband, den dritten Teil des Werkes.
Der Materialband existiert ausschliesslich als PDF-File. Er kann kostenlos von www.hep-verlag.ch/berufsbildung heruntergeladen oder mittels Suchmaschinen unter dem Begriff «Berufsbildung Entwicklung – Materialienband» gesucht werden. Er besteht in erster Linie aus meinem elektronischen «Zettelkasten» mit über 1000 chronologisch geordneten Einträgen, die mittels Volltextsuche über die erwähnten Vermerke, zum Beispiel [1999b] oder über Schlagworte wie [BMS], gefunden werden können. Weiter enthält der Materialband auch das Literaturverzeichnis für alle drei Teile des Werkes.
«Berufsbildung − Entwicklung des Schweizer Systems» ist ein Sachbuch, keine wissenschaftliche Publikation. Ich bin nicht Historiker, sondern ein Praktiker, der sich seit fast fünf Jahrzehnten mit der Berufsbildung befasst. Das Buch beruht in erster Linie auf Literaturrecherchen (siehe den «Zettelkasten»), ergänzt durch Gespräche mit Fachleuten, die aus ihrer Erfahrung berichtet haben.
Ich habe versucht, die Entwicklung im 19. und 20. Jahrhundert darzustellen, endend mit der Umsetzung der 2002 beschlossenen Version des Berufsbildungsgesetzes. Neuere Ereignisse habe ich nur ausnahmsweise erfasst – in der Meinung, die Bedeutung einer Entwicklung könne erst nach einiger Zeit eingeschätzt werden.
Lorenzo Bonoli wurde mir vom EHB als wissenschaftlicher Begleiter zur Seite gestellt. Ich danke ihm herzlich für seine Mitarbeit. Mein Dank geht ebenfalls an meine Gesprächspartnerinnen und -partner, insbesondere an Philipp Gonon, Heinz Ochsenbei, Peter Sigerist und René Zihlmann, an den Lektor, Christian de Simoni, und an den Verlag, der auch dieses Buch wieder mit Engagement und Sachkenntnis aufgelegt hat.
Emil Wettstein, im März 2020
Vorwort des Herausgebers
Zu diesem Buch
Abkürzungen
Zeittafel
Übersicht über die Entwicklung
Anfänge der Berufsbildung
Zünfte − Blütezeit und Niedergang
Konkurrenzfähigkeit durch Qualifizierung der Arbeitenden
Basisausbildung als Voraussetzung für die Berufsbildung
Zwei Wege der beruflichen Grundbildung
Zwei Systeme im Wettbewerb
Kaufmännische Berufsbildung
Landwirtschaftliche Berufsbildung
Kompetenzen für Kantone und Bund
Vollzug der neuen Gesetzgebung
Berufliche Grundbildung als einer von mehreren Qualifizierungswegen
Die Berufsschulen entwickeln sich
Berufliche Grundbildung in der Industrie
Weiterbildung wird zum Thema
Erste Revision des Berufsbildungsgesetzes
Lehrerbildung
Begabtenförderung
Zweite Revision des BBG – der abgebrochene Aufbruch
«Nicht-BIGA-Berufe»
Sekundarstufe II und Tertiärstufe
Berufsbildung an Hochschulen
1980er- und 1990er-Jahre
Bundesverfassung: Bildungsraum Schweiz statt Gewerbeförderung
Dritte Revision des Berufsbildungsgesetzes
Umsetzung der neuen Bestimmungen
Vertiefung
01 Ausbildungsverhältnisse in den Zünften − Vorläufer der Berufslehren
02 Entwicklung der Volksschule
03 Berufsbildung wird zum Thema der Politik − erste Bundesbeschlüsse
04 Kantonale Lehrlingsgesetze
05 Das erste Bundesgesetz zur Berufsbildung
06 Erste Revision 1963
07 Zweite Revision 1978
08 Bundesverfassung: Von der Gewerbeförderung zum «Bildungsraum Schweiz»
09 Dritte Revision 2002
10 Vollzug der Gesetzgebung − Steuerung der Berufsbildung
11 Lehrstellenmarkt und Nachwuchsförderung
12 Kaufmännische Aus- und Weiterbildung
13 Landwirtschaftliche Berufsbildung
14 Ausbildung in der Industrie
15 Nichtärztliche Gesundheitsberufe
16 Monopolberufe
17 Frauen in der Berufsbildung
18 Leistungsstarke und Leistungsschwache
19 Berufliche Grundbildung für Erwachsene
20 Von der Mustersammlung zum Museum für Gestaltung
21 Berufs- und Fachschulen – Vorläufer und Gründungen im 18. und 19. Jahrhundert
22 Berufsschulen − Entwicklungen im 20. Jahrhundert
23 Ziel und Inhalt des Berufsschulunterrichts
24 Professionalisierung der Lehrpersonen in Berufsschulen
25 Berufsmittelschule – Berufsmaturität
26 Modernisierung – IKT als Herausforderung für die Berufsbildung
27 Betriebslehre versus Lehrwerkstätte in der gewerblich-industriellen Berufsbildung
28 Berufliche Grundbildung als Teil der Sekundarstufe II
29 Tertiärstufe: höhere Berufsbildung
30 Tertiärstufe: Hochschulen
31 Weiterbildung
32 Berufsbildung für Migrantinnen und Migranten
33 Berufs-, Studien- und Laufbahnberatung
Blick zurück – Konstanten und Veränderungen
Verzeichnis der Abbildungen
Verzeichnis der Grafiken
Verzeichnis der Tabellen
AAM
Arbeitsmarktliche Massnahmen
AB
Amtliches Bulletin der Bundesversammlung
AfZ
Archiv für Zeitgeschichte
AS
Amtliche Sammlung der Bundesgesetze und Verordnungen
ASM
Arbeitgeberverband der schweizerischen Maschinen und Metallindustrie
BAR
Schweizerisches Bundesarchiv
BdBR
Bericht des Bundesrates über seine Geschäftsführung im Jahre ….
BbA
Bundesgesetz über die berufliche Ausbildung 1930
BBG
Bundesgesetz über die Berufsbildung
BBT
Bundesamt für Berufsbildung und Technologie
Bbl
Bundesblatt
BdBR
Bericht des Bundesrates über seine Geschäftsführung für das Jahr …
BfS
Bundesamt für Statistik
BIGA
Bundesamt für Industrie, Gewerbe und Arbeit
BiVo
Bildungsverordnung
Blätter
Blätter für den Zeichenunterricht, später: Schweizerische Blätter für den Gewerbeunterricht, Schweiz. Blätter für beruflichen Unterricht, Folio Berufsbildung
BMS
Berufsmittelschule
BOG
Betrieblich organisierte Grundbildung
BRB
Bundesratsbeschluss
BSL
Berufs-, Studien- und Laufbahnberatung
CBT
Computer Based Training
CSFP
Conférence suisse des offices de formation professionnelle
DBK
Deutschschweizerische Berufsbildungsämter-Konferenz
EBA
Eidgenössischer Berufsausweis (Abschluss nach zweijähriger Lehre)
ECTS
European Credit Transfer System
EDK
Schweizerische Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren
EFHK
Eidgenössische Fachhochschulkommission
EFZ
Eidg. Fähigkeitszeugnis (Abschluss nach 3- oder 4-jähriger Lehre)
EHB
Eidgenössisches Hochschulinstitut für Berufsbildung
eidg.
eidgenössisch
ESTV
Systematische Rechtssammlung
EVD
Eidgenössisches Volkswirtschaftsdepartement
FHSG
Fachhochschulgesetz
FBS
Fortbildungsschulen
Fortschritt
Zeitschrift der kaufm. Vereine
GDK
Schweizerische Gesundheitsdirektorenkonferenz
gew.
gewerblich
HLS
Historisches Lexikon der Schweiz
HBLS
Historisch-Biographisches Lexikon der Schweiz
HFKG
Hochschulförderungs- und -koordinationsgesetz
IEDK
Innerschweizer Erziehungsdirektorenkonferenz
INSOS
Nationaler Branchenverband der Institutionen für Menschen mit Behinderungen
KBSB
Schweizerische Konferenz der Leiterinnen und Leiter der Berufs- und Studienberatung
MEM
MEM-Industrie: Maschinen-, Elektro- und Metallindustrie
NZN
Nationalzeitung
NZZ
Neue Zürcher Zeitung
PTT
Post, Telegraf und Telefon (Vorgänger von Swisscom und Die Post)
RRB
Regierungsratsbeschluss
SAZ
Schweizerische Arbeitgeberzeitung
SBFI
Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation
SBG
Schweizerischer Gewerkschaftsbund
SBK
Schweizer Berufsverband der Pflegefachfrauen und Pflegefachmänner
SDBB
Schweizerisches Dienstleistungszentrum Berufsbildung | Berufs-, Studien- und Laufbahnberatung
SDK
Schweizer Direktorenkonferenz
SGG
Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft
SGV
Schweizerischer Gewerbeverein, später Schw. Gewerbeverband
SIBP
Schweizerisches Institut für Berufspädagogik
SKV
Schweizerischer kaufmännischer Verein, später Schweizerischer kaufmännischer Verband
SLJV
Schweizerische Landjugendvereinigung
SLZ
Schweizer Lehrerinnen- und Lehrer-Zeitung
SMV
Schweizerischer Milchwirtschaftlicher Verein
SOG
Schulisch organisierte Grundbildung
SRK
Schweizerisches Rotes Kreuz
SSA
Schweizerisches Sozialarchiv
SVB
Schweizerischer Verband für Berufsberatung
SVBL
Schweizerischer Verband für Berufsberatung und Lehrlingsfürsorge (früherer Name des SVB)
SVBU
Schweizerischer Verband für beruflichen Unterricht
SVGU
Schweizerischer Verband für gewerblichen Unterricht, später SVBU
SZKB
Schweizerische Zeitschrift für kaufmännisches Bildungswesen
Stat. JB
Statistisches Jahrbuch
TA
Tages-Anzeiger
TAM
Tages-Anzeiger-Magazin
üK
Überbetriebliche Kurse (früher Einführungskurse genannt)
VDK
Schweizerische Konferenz der kantonalen Volkswirtschaftsdirektoren
VR
Volksrecht (Tageszeitung)
WBK
Kommission für Wissenschaft, Bildung und Kultur des Ständerats bzw. des Nationalrats
ZHAW
Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften
Bedeutung der Farben
Politik, die BB indirekt betreffend
Gesellschaft – Technik – Wirtschaft
Berufsbildung
1700 v. Chr.
Rechtliche Vorschriften zur Berufsbildung in Babylonien. [–1700a]
1350
Dreigliederung des Handwerks in Lehrlinge, Gesellen, Meister wird üblich. [1350a]
1680
Zünfte gewinnen an Macht.
18. Jh.
Alte Eidgenossenschaft: Staatenbund mit 13 herrschenden Städten und Orten sowie Untertanenland.
1751
Gründung einer Zeichenschule in Genf, aus der sich die École des beaux-arts entwickelt, eine der ersten Fachschulen. [1751a]
1780
Gründung einer Zeichenschule in Zürich, Vorläuferin der gewerblichen Fortbildungsschulen. [1780a]
1798–1803
Besetzung durch die Truppen Napoleons. Ausrufung der Helvetik, eines zentralistisch organisierten Einheitsstaates.
1798
Abschaffung der Zünfte.
19. Jh.
Industrialisierung erstarkt > Veränderung der wirtschaftlichen, politischen und sozialen Verhältnisse.
1803–1830
Mediationszeit – Wiener Kongress – Restauration.
1816–1817
Letzte grosse Hungersnöte in Europa als Folge einer Naturkatastrophe.[1818a]
1817
In Genf wird die erste Fachschule eröffnet. [1817a]
Mitte1820er
Erstarken der liberalen Kräfte. Ihre Anliegen: Bundesstaat, Freiheit Rechtsgleichheit, Volksbildung, Gewaltentrennung.
Ab 1830er
Eisenbahnen und Liberalismus führen zu ruinösem Konkurrenzkampf.[1830b]
1830er
In vielen Kantonen wird die allgemeine Schulpflicht eingeführt.
1847
Sonderbundskrieg (Bürgerkrieg).
1848
Erste Bundesverfassung: Bundesstaat mit eingeschränkter Autonomie der Kantone.
1850er
Erste landwirtschaftliche Fachschulen entstehen, die sich halten können.
1855
Das Polytechnikum (heute ETH) wird eröffnet. [1855a]
1861
Erste «Vereine junger Kaufleute» entstehen und verbreiten sich rasch. [1861b]
1882
Eröffnung des Gotthardtunnels, Basis für internationalen Handel.
1874
Revision BV (Handels- und Gewebefreiheit, Volksschulunterricht).[1874a]
1874
Eröffnung des Technikums Winterthur. [1874c]
1876
«Grosse Depression», dann Stagnation bis in die 1880er-Jahre.
1877
Revision Fabrikgesetz: Verbot von Kinderarbeit. Altersgrenze: 14 Jahre.
1879
Gründung Schweizerischer Gewebeverband, treibende Kraft in der Berufsbildung.
1882
Ablehnung des «eidgenössischen Schulvogts» in der Volksabstimmung.[1882c]
1884
Bundesbeschlüsse: Förderung der Berufsbildung. [1884a]
ab 1886
Gründung von Fachschulen für Milchwirtschaft und landwirtschaftlichen Spezialberufen. [1886k]
1890
Der Kt. Neuenburg erlässt als erster Kanton ein Berufsbildungsgesetz. [1890b]
1890er
Diskussion: Öffentliche Lehrwerkstätten oder Meisterlehre?
1891
Bundesbeschluss: Förderung der kommerziellen Bildung. [1891a]
1895
Bundesbeschluss: Förderung der Ausbildung des weiblichen Geschlechts. [1895a]
1908
Ergänzung der BV: Gewerbeartikel (Art. 34ter) – Basis der Berufsbildungsgesetze.
1912
Revision des OR: Ergänzung mit Bestimmungen zum Lehrverhältnis.
1914–1918
Erster Weltkrieg.
1920er
«Scientific Management» von F. W. Taylors.[1895d]
1929
Börsencrash NY, Great Depression in den USA, Beginn Weltwirtschaftskrise.
1930
Erlass des Bundesgesetzes über die berufliche Ausbildung. (BbA 1930)
1939–1945
Zweiter Weltkrieg.
1951
Gesetz zur Förderung der Landwirtschaft. Regelt die landwirtschaftliche Berufsbildung. [1951a]
1957
«Sputnikschock».[1957e]
Ab 1959
Forcierte Nachwuchsförderung. Gründung von Mittelschulen und Technika. [1959e]
1963
Erste Revision des Berufsbildungsgesetzes, in Kraft ab 1965. [1963a]
1968
Aufbruch der Jugend. Neue Jugendkultur: Beatles u. a.[1968a]
1968
Die ersten Berufsmittelschulen nehmen ihren Betrieb auf. [1968h]
1973
Jom-Kippur-Krieg → Ölschock → Rezession.[1973g]
1974
Lehrstellenmangel, Lehrstellennachweise [1974d; 1975i]
1974
Dieter Mertens prägt den Begriff «Schlüsselqualifikationen»[1974g]
1976
Kantone beauftragen SRK mit der Ausbildung in den Gesundheitsberufen. [1976e]
1977
Das erste Berufsinformationszentrum (BIZ) wird eröffnet. [1977g]
1978
Zweite Revision des Berufsbildungsgesetzes, in Kraft ab 1980. [1978a]
1981
BV wird ergänzt: Gleichstellung von Mann und Frau. Gesetz folgt 1995.
1991
IBM lanciert den «PC», IKT beginnt die Büros zu durchdringen.
1982
Erste Volksinitiative zur BB wird eingereicht, 1986 vom Volk abgelehnt. [1982a]
1983
Die «Swatch» wird lanciert. – Neuer Aufschwung in der Uhrenindustrie.[1983h]
1985
Innert zehn Jahren (1985–95) geht die Zahl der Lehrlinge um 22 Prozent zurück.
1985
20 Lektionen Informatik für alle Lehrlinge obligatorisch. [1985a]
1987–1991
Beginn neuer Rezession, Ostblock bricht zusammen, Entwicklung des World Wide Web.
1990–1996
Weiterbildungsoffensive [1980b]
1991
Rezession setzt ein und dauert bis 1999.
1992
Pflege: Neues Ausbildungskonzept mit zwei Ausbildungsniveaus. [1992c]
1993
Die Berufsmatura wird eingeführt. [1993i; 1998b]
1995
Bundesgesetz über die Fachhochschulen (FHSG) wird verabschiedet. [1995a]
1996–1997
«Lehrstellennot» [1996a], Berufsbildungsbericht [1996d], parlament. Vorstösse
1997
Lehrstellenbeschlüsse I und II [1997a; 1999c], Lehrstellenbarometer [1997c]. Fachhochschulen nehmen ihren Betrieb auf, revidiert 2004. [1997f; 2004d]
1998
Bundesamt für Berufsbildung und Technologie (BBT) ersetzt BIGA. [1998e]
1999
Revision der BV: Ausweitung des Kompetenzbereichs des Bundes. [1999a] Die «Lehrstellen-Initiative» wird eingereicht, 2003 vom Volk abgelehnt. [1999f]
2001
Swissair Grounding. 9/11 Terroranschläge in New York.
2002
Dritte Revision des Berufsbildungsgesetzes, in Kraft ab 2004. [2002a]
2005
Die «Passerelle» öffnet Zugang zu den Universitäten. [2003b]
2006
Revision der BV: Berufsbildung als Teil des «Bildungsraumes Schweiz». [2006a]
2011
Das Hochschulförderungs- und -koordinationsgesetz wird verabschiedet.[2011b]
2014
Das Bundesgesetz über die Weiterbildung (WeBiG) wird verabschiedet.[2014]
Seit es Kulturen gibt, stehen die Menschen vor der Frage, wie sie das Wissen und Können, das ihre Kultur ausmacht, an die nächste Generation weitergeben. Sie stehen vor der Frage, wie sie dem Nachwuchs beibringen können, wie man jagt, wie man Nahrung zubereitet und Musik macht, wie man Werkzeuge, Gefässe, Schmuck herstellt, wie man kämpft, heilt, handelt und Götter gnädig stimmt. Nach und nach entwickelten sie diesbezüglich eine gewisse Tradition: Verfahren zur Vermittlung des für das Leben notwendige Wissen und Können waren entdeckt.
Ein erstes Zeugnis von intentionaler Berufsbildung sind Regelungen in einem Gesetzeswerk der Babylonier. [–1700] Im römischen Reich existierten bereits zwei Formen von beruflicher Grundbildung, Berufslehren in Betrieben und schulorganisierte Berufsbildungen in Fachschulen. [66]
Die häufigste Form war – und ist heute noch – die Vermittlung während der Ausführung der jeweiligen Arbeit. Ein kleiner aber nach und nach wachsender Teil erwirbt das nötige Wissen und eventuell auch die erforderlichen Fertigkeiten und Verhaltensweisen in Gruppen von Lernenden, angeleitet durch eine Fachperson.
Im Mittelalter erfolgt intentionales (absichtliches) Lehren und Lernen in unseren Breitengraden in Klöstern, an den Höfen von Adligen, an Universitäten und Akademien sowie in Zusammenschlüssen von Handwerkern und Händlern, den sog. Zünften. [900a; 1100a; 1231a; 1460b]
Die ersten Zeugnisse, wie die Mitglieder von Zünften ihren Nachwuchs ausbildeten (und unliebsame Konkurrenz verhinderten), stammen aus dem 12. Jahrhundert. Es wird festgelegt, wer ausbilden darf (nur «Meister»), wer als Lehrling in Frage kommt (meist nur ehelich geborene Knaben aus der Stadt), wie lange die Ausbildung bis zum ersten Abschluss dauert (oft drei Jahre), wie der Erfolg der Ausbildung gemessen wird (Lehrstück), wie die Weiterbildung erfolgt (Wanderschaft), wer einen eigenen Betrieb führen darf und vor allem: wer all diese Regeln festlegt. [1350a]
Viele der Regeln dienen nicht nur der Qualifizierung des Nachwuchses, sondern auch der Sicherstellung eines ausreichenden Einkommens durch Vermeidung von Wettbewerb. In vielen Gegenden und Branchen dürfen bestimmte Tätigkeiten nur in Städten und nur von Zunftmitgliedern ausgeübt werden. Alle Mitglieder einer Zunft haben die gleichen Produkte und Dienstleistungen anzubieten und zu den gleichen Preisen zu verrechnen.
Dies geht lange gut (aus Sicht der Zunftmitglieder), doch nach und nach entwickeln sich ausserhalb der Zünfte neue Technologien (etwa die Herstellung von Farben in chemischen Prozessen), neue Materialien werden bekannt (Kartoffeln, Glas, Gussstahl u. a.), neue Formen, Betriebe zu führen (Einsatz der doppelten Buchhaltung), neue Methoden, Güter über grosse Distanzen auszutauschen (z. B. Wagen mit Achsen aus Eisen). [1740a]
Abbildung 1 Eine Spengler-Werkstatt um 1800. Handwerkliche Arbeit erfolgte meist in Hausgemeinschaften, umfassend die Familie des Lehrmeisters, Gesellen und Lehrlinge (Was willst du einmal werden? Bilder aus dem Handwerkerleben. Berlin 1880)
Vor allem aber werden handwerkliche Verfahren immer mehr durch Arbeitsteilung optimiert und die Arbeitenden von Maschinen unterstützt. Die neuen Manufakturen und Fabriken treiben die nach herkömmlichen Methoden arbeitenden Handwerker in den Ruin [1819a]. Im 18. Jahrhundert fällt das Zunftsystem überall in Europa zusammen. [1776a]
In der Schweiz beginnt diese Entwicklung mit der Ablösung der alten Eidgenossenschaft durch die Helvetik 1798. Die Handels- und Gewerbefreiheit wird in Ansätzen mit der ersten Bundesverfassung 1848 und als Grundrecht mit derjenigen von 1874 realisiert. [1848a; 1874a]
Mehr zu den Zünften in Kapitel 01
Mit der Auflösung der Zünfte verschwindet die Sicherung des Nachwuchses, also die Ausbildung von Handwerkern und Händlern. Neue Transportmittel und die Entstehung grosser Unternehmen, die den Willen und die Kraft haben, neue Märkte zu erschliessen, führen zum Anwachsen des überregionalen, später des internationalen und ab dem Aufkommen von Dampfschiffen (ab 1860) auch des interkontinentalen Handels. Ab 1850 ist Weizen aus den USA billiger zu haben als einheimischer, sodass die Landwirte vom Ackerbau auf Vieh- und Milchwirtschaft umstellen müssen. Die industrielle Herstellung von Bekleidung und anderen Gütern führt zum Niedergang vieler Gewerbebetriebe. [1850c; 1850d]
In den 1880er-Jahren verlangt das Gewerbe vom Bund, mittels Zollschranken Importe abzuwehren um die einheimische Produktion von Gewerbe und Landwirtschaft zu schützen. Damit sind die Industrie und der Grosshandel nicht einverstanden, weil sie um ihre Exportmöglichkeiten fürchten. 1884 einigt man sich darauf, statt Zollschranken zu errichten die Qualifizierung der Arbeitenden zu fördern und so die internationale Konkurrenzfähigkeit des Gewerbes sowie der Land- und Milchwirtschaft zu heben. Mit zwei Bundesbeschlüssen wird die Ausrichtung von Beiträgen an die Kosten von beruflichen Bildungsanstalten in Gewerbe und Landwirtschaft, die berufliche Weiterbildung und die Ausbildung von Lehrkräften für berufliche Schulen ermöglicht. Diese Unterstützung wird durch weitere Bundesbeschlüsse 1891 auf die Ausbildung von jungen Kaufleuten und 1895 auf diejenige «des weiblichen Geschlechts» ausgeweitet.
Vertiefung des Themas in Kapitel 03
Konkurrenzfähigkeit über berufliche Qualifizierung verbessern – das ist nur möglich, wenn die Qualifizierung auf einem Mindestmass an Kulturtechniken, insbesondere an Lesen, Schreiben und Rechnen, aufbauen kann und damit auf dem Schulbesuch der Kinder. [1750a]
Abbildung 2 Albert Anker, im Kanton Bern wohnhaft, malte «Die Dorfschule» 1848 (Kunstmuseum Basel)
Mit der Revision der Bundesverfassung 1874 werden die Kantone verpflichtet, für einen «genügenden Primarunterricht» zu sorgen, der obligatorisch zu besuchen ist. Die einen betrachten einen sechsjährigen Besuch der «Elementarschule» als «genügend», andere verlangen als Minimum die Ergänzung durch weitere zwei oder drei Jahre Teilzeitunterricht (ein bis drei Tage pro Woche), woraus sich nach und nach die «Fortbildungsschulen» entwickeln. [Fortbildungsschulen]
Die Umsetzung des Schulobligatoriums stösst in manchen Regionen auf Widerstand, in andern Regionen entwickelt sich langsam die Einsicht, dass für die Vorbereitung auf Berufsbildung und Erwerbsleben zusätzlich zur Primarschule eine Ergänzung von zwei oder drei Jahren vorteilhaft ist. [1882g] Neben den bereits bestehenden Gymnasien als Vorbereitung auf Akademien und Hochschulen entstehen «Industrieschulen», «Kunstschulen», «Handelsschulen», deren Unterstufen nach der Primarschule, also ab dem Alter von 12 Jahren, besucht werden können und die auf Berufslehren und höhere Schulen, z. B. höhere Handelsschulen, vorbereiten.
Das Schulsystem ist Thema von Kapitel 02
Die Bundesbeschlüsse haben offen gelassen, wie die Berufsbildung zu gestalten ist. Man beschliesst, an bestehenden Strukturen und Praktiken anzuknüpfen. Von alters her [66a] gibt es dazu zwei Wege:
Der eine Weg ist die Ausbildung durch Mitarbeit, beim Gewerbe realisiert als Berufslehre, in der Industrie bis ins 20. Jahrhundert meist als Anlernung. In der Landwirtschaft geschieht sie durch die Tätigkeit auf dem elterlichen Hof, in der «kommerziellen Bildung» durch Volontariate im Handel, bei vielen jungen Frauen durch Mitarbeit im elterlichen Haushalt oder in fremden Haushalten.
Wovon ist die Rede?
Der Begriff «Berufliche Grundbildung» wurde mit dem BBG 2002 eingeführt, nachdem im BBG 1978 von «Grundausbildung» die Rede war. Wie im nebenstehenden Kapitel ausgeführt wird, versteht man darunter Berufslehren und Ausbildungen in Lehrwerkstätten und Fachschulen, soweit sie zu einem ersten anerkannten berufsqualifizierenden Abschluss führen, in der Regel zum eidg. Fähigkeitszeugnis (EFZ) oder zum eidg. Berufsattest (EBA).
Abbildung 3 Die «Sanitätsfachschule» um 1930, damals eine der Abteilungen der heutigen Technischen Fachschule Bern, bis 2014 bekannt unter dem Namen «Lehrwerkstätten der Stadt Bern» [1888a] (TFB, 2013)
Die Neuerung, die sich bei diesem Ansatz durchsetzt, besteht in der Ergänzung der praktischen Ausbildung in den Betrieben durch begleitenden berufskundlichen Theorieunterricht, wie ihn Sonntags-, Zeichen- und Handwerkerschulen in Ansätzen seit Jahrzehnten anbieten. [1751a; 1751c; 1780a] Mit den Bundesbeschlüssen wird er ab 1884 die Aufgabe von Fortbildungsschulen: Viele der allgemeinen Fortbildungsschulen, bei denen es um Repetition und Vertiefung der Basisausbildung ging, entwickeln sich weiter zu berufsorientierten Schulen, den gewerblichen, landwirtschaftlichen, kommerziellen und hauswirtschaftlichen Fortbildungsschulen.
Der andere Weg ist die schulische Ausbildung in Fachschulen, Ackerbauschulen, Lehrwerkstätten, Handelsschulen, Töchterschulen. Erste Fachschulen entstehen in Genf 1817 (Graveurschule) und 1824 (Uhrenmacherschule), Ackerbauschulen ab 1806 in Kreuzlingen, private Handelsschulen bereits im 18. Jahrhundert.
Die Attraktivität von Fachschulen im 19. Jahrhundert hat viel mit der hohen Qualität französischer (kunst-)gewerblicher Produkte zu tun. Im Streben nach Macht und Reichtum fördert Frankreich bereits im 17. und 18. Jahrhundert die Wirtschaft und präsentiert deren Produkte ab 1851 an «Weltausstellungen» dem Publikum aus dem In- und Ausland. [Ausstellungen] Besucher aus der Schweiz müssen feststellen, dass französische Produkte den eigenen qualitativ überlegen sind. Dies führt zur Frage nach der Ausbildung französischer Facharbeiter. Es stellt sich heraus, dass dazu in den vorangegangenen Jahrzehnten verschiedene «Écoles des Arts et Métiers» gegründet worden sind.
Wie gesagt − die Bundesbeschlüsse legen nicht fest, wie die berufliche Qualifizierung erfolgen soll. Im Gewerbe entwickelte sich in den 1890er-Jahren eine rege Diskussion, ob dem schulischen Weg via Vollzeitausbildungen an Fachschulen und Lehrwerkstätten oder eher dem betrieblichen Weg im Lehrbetrieb mit begleitendem Theorieuntericht an berufsorientierten Fortbildungsschulen den Vorzug gegeben werden soll. Nach Studienreisen und verschiedenen «Enquêtes» [1882a] fordern 1887 massgebende Mitglieder des Schweizerischen Gewerbevereins die Einrichtung von Lehrwerkstätten zur Hebung der Konkurrenzfähigkeit des einheimischen Handwerks. 1895 wird aber zugunsten der Meisterlehre entschieden: Der Schweizer Gewerbeverein beschliesst, die Einrichtung von Lehrwerkstätten nur noch als Ergänzung zur Meisterlehre zu unterstützen, beispielsweise wenn es an fähigen Meistern zur Ausbildung des Nachwuchses fehlt. Als Grund für den Entscheid zuungunsten der Lehrwerkstätten werden die grossen Kosten dieser Einrichtungen für die Öffentlichkeit und die Lehrlinge selbst erwähnt.
Die Diskussion um den besseren Weg zur Vermittlung einer beruflichen Grundbildung flackert immer wieder etwas auf, wobei sich die Argumente nicht stark verändern. In den 1970er-Jahren, als die Berufslehre heftig kritisiert wird und es an Lehrstellen mangelt, wird die Diskussion um die beiden Wege zum Inhalt emotionaler Debatten zwischen «links» und «rechts». In politischen Vorstössen, die in mehreren Volksinitiativen gipfeln, wird die Ergänzung der von den Arbeitgebern dominierten Betriebslehre durch staatlich geregelte und finanzierte Lehrwerkstätten gefordert. Das Stimmvolk lehnt diese Forderungen durchwegs ab.
Inzwischen erstarkt − unbesehen von der grossen Politik − eine neue Entwicklung: In der Westschweiz ist ab 1967 von einer «formation mixte entreprise-école» die Rede. Im Kanton Genf wird 1969 die «apprentissage combiné» gesetzlich geregelt. Bundesrat Brugger erwartet 1971 «die Weiterentwicklung der Meisterlehre zur ‹kombinierten Lehre›». Bei der Revision 1978 ist von der Ablösung des dualen Systems durch ein «triales» die Rede. (Bundesrat 1977, 683)
Mehr zu Berufs- und Fachschulen im 18. und 19. Jh. in Kap. 21, zu Berufsschulen im 20. Jh. in Kap. 22
Für die Industrie ist die kombinierte Lehre nichts Neues: In der Industrie werden seit Jahrzehnten ein oder zwei Jahre (betriebsinterne) Lehrwerkstätte mit zwei bis drei Jahren Lernen in der Produktion kombiniert. 1978 werden die im BBG 1963 erstmals erwähnten «Einführungskurse» obligatorisch erklärt, jedoch mit der Möglichkeit, sich davon zu befreien (Art. 16 BBG 1978). In den 1990-er Jahren entstehen zuerst in Genf, später auch im Tessin und in der Deutschschweiz Einrichtungen, in denen im ersten Lehrjahr Theorie und Praxis vermittelt wird, bevor die Lernenden dann ihre Ausbildung in einem Betrieb fortsetzen. [Basislehrjahr] Anderseits lassen manche öffentlichen Lehrwerkstätten die Lernenden im letzten Lehrjahr in Betrieben arbeiten.
Die berufsorientierten Fortbildungsschulen werden Anfang des 20. Jahrhunderts in Berufsschulen umbenannt und 2004 in Berufsfachschulen. Da es in diesem Buch in erster Linie um die Entwicklung im 20. Jahrhundert geht, verwende ich meist den Begriff «Berufsschule» Wt
Kurz − es kommt zu Mischformen zwischen der klassischen Meisterlehre und der schulisch organisierten Ausbildung. Im BBG 2002 wird festgehalten, dass die Betriebslehre «in der Regel» an drei Lernorten stattfindet: Berufsschule, Lehrbetrieb und einem «dritten Lernort», in dem nicht Aufträge der Kunden die Strukturierung des Lernens bestimmen, sondern didaktische Überlegungen.
Aus dem «Nebeneinander» oder sogar «Gegeneinander» ist ein «Miteinander» im Entstehen, allerdings nur auf der didaktischen Ebene. Faktoren wie die Bestimmung der Zahl der Ausbildungsplätze und damit der Bildungsmöglichkeiten der Jugendlichen bleiben klar in der Hand der Lehrbetriebe.
Berufslehre versus Lehrwerkstätte – siehe Kapitel 27
Die Entwicklung der kaufmännischen Berufsbildung unterscheidet sich stark von derjenigen der gewerblich-industriellen, um die es bisher in erster Linie ging. Treibende Kraft Ende des 19. Jh. sind nicht Arbeitgeberverbände, sondern die Kaufleute selbst. Sie bilden ab 1861 lokale «Vereine junger Kaufleute», deren wichtigste Aufgabe das Angebot von Weiterbildungsmöglichkeiten ist. [1861b]
Vom Bund ab 1891 unterstützt, entwickeln sich daraus die kaufmännischen Fortbildungsschulen, ab 1930 kaufmännische Berufsschulen genannt, ab 2002 kaufmännische Berufsfachschulen und im Volksmund immer «KV-Schulen». Sie werden auch heute noch in vielen Kantonen von kaufmännischen Vereinen («KV») getragen, aber von der öffentlichen Hand finanziert wie andere Berufsschulen.
Ziel der Bildungsbemühungen der «jungen Kaufleute» ist letztlich der soziale Aufstieg in den unteren Mittelstand, genauer in die Schicht der Angestellten. (König, Siegrist 1981, 214) Entsprechend hiess die Ausbildung ja bis 2003 «kaufmännischer Angestellter/kaufmännische Angestellte» und nicht «Kaufmann» bzw. «Kauffrau».
Wie in andern Bereichen der Berufsbildung gibt es zwei Wege der Grundbildung: Der betrieblich organisierte Weg besteht aus der praktischen Ausbildung (früher im ungeregelten Volontariat), begleitet vom Besuch der kaufmännischen Berufsschule. [1882f] Als schulischer Weg entstehen im 19. Jahrhundert in den meisten Städten drei Jahre dauernde «höhere Handelsschulen», die sich an Jugendliche ab 15 Jahren richten. [Handelsschulen] Viele von ihnen werden Abteilungen von Kantonsschulen und nennen sich «Handelsmittelschulen» oder «Töchterschulen». Bis 2003 bereiten sie auf ein in der Bundesgesetzgebung definiertes Diplom vor, einige Zeit auch auf eine kaufmännische Maturität. Heute endet eine erfolgreiche Ausbildung bei beiden Wegen mit dem Fähigkeitszeugnis Kauffrau/Kaufmann EFZ, allenfalls ergänzt durch eine kaufmännische Berufsmaturität. [BMS]
Die Dominanz der Arbeitnehmer, vertreten durch den Schweizerischen Kaufmännischen Verein (heute KV-Schweiz) und die von ihnen geführten Schulen bleibt bis Ende des 20. Jahrhundert erhalten, was sich neben der Trägerschaft der Schulen und der Konzeption der Abschlussprüfungen in der Konzentration der Ausbildung auf eine theorielastige berufliche Allgemeinbildung zeigt, ohne die in Industrie und Gewerbe übliche präzise Definition der praktischen Ausbildung. Die für einzelne Branchen (Reisebüros, Notariate, Textilhandel etc.) notwendigen Berufskenntnisse werden im Rahmen von Kursen (heute im Rahmen der überbetrieblichen Kurse) vermittelt. Dies erlaubt den Verzicht auf die Definition unterschiedlicher kaufmännischer Berufe, wie sie beispielsweise in Deutschland üblich ist.
Abbildung 4 Büro des Verbandes Schweizerischer Kosumvereine Basel, um 1912. Frauen ziehen in Büros ein -- zur Bedienung der Schreibmaschinen, die um die Jahrhundertwende populär werden (SSA, Gretler) [1900l]
Anfang des 20. Jahrhundert trennt sich die Ausbildung des Detailhandels von derjenigen der Kaufleute. [1912h] Der Detailhandel entwickelt aber ein ähnliches Ausbildungssystem: Die Ausbildungsrichtungen unterscheiden sich durch die Vermittlung einer spezifischen «Warenkunde» statt durch die Definition unterschiedlicher Berufe.
Kaufmännische Aus- und Weiterbildung – vgl. Kapitel 12
Im 18. Jahrhundert beginnen Intellektuelle sich für die Weiterentwicklung der Landwirtschaft zu interessieren. Es entstehen erste, aber vorerst kurzlebige Bildungsinstitutionen. Die ersten heute noch existierenden landwirtschaftlichen Fachschulen werden in den 1850er-Jahren gegründet. In Winter- oder in Jahreskursen vermitteln sie jungen Bauern theoretisches und teilweise auch praktisches Wissen. Bald bereiteten sie auch auf den Eintritt in die landwirtschaftliche Abteilung des Polytechnikums vor. [Landwirtschaft]
Das Interesse der Bauern hält sich aber in Grenzen, bildet doch die Abwesenheit junger Kräfte auf dem Hof während zwei bis drei Wintern oder ein bis zwei Jahren ein grosses Hindernis, wenn auch die ab 1884 fliessende Unterstützung der Schulen durch den Bund wenigstens die Schulkosten reduziert.
Ab Mitte des 19. Jahrhundert werden in vielen Kantonen Fortbildungsschulen eingerichtet, siehe hier. In ländlichen Regionen entwickelt sich ein Teil davon zu landwirtschaftlichen FBS, die wie die gewerblichen ab 1884 vom Bund unterstützt werden. Erste Elemente sind aber mancherorts auch bereits Inhalte der Oberstufe der Volksschule, parallel zum hauswirtschaftlichen Unterricht für Mädchen.
Wie der Schweizerische Gewerbeverband die praktische Ausbildung durch die Propagierung von Lehrverträgen und Lehrabschlussprüfungen fördert, so propagiert der Schweizerische Landwirtschaftliche Verband ab den 1920er-Jahren eine landwirtschaftliche Berufslehre. Während Jahrzehnten umfasst diese Grundbildung zwei Stufen (siehe hier):
• zwei Jahre Tätigkeit auf verschiedenen Bauernhöfen, den Besuch einer landwirtschaftlichen FBS, die «Lehrlingsprüfung», anschliessend
• den Besuch des Jahreskurses oder von zwei Winterkursen, gefolgt von der Fähigkeitsprüfung.
Es entwickelt sich auch eine höhere Berufsbildung (Betriebsleiterkurse, Agro-Techniker) und Studiengänge an Fachhochschulen.
Zu beachten: «Bildung» wird im landwirtschaftlichen Bildungswesen breiter gefasst als in anderen Bereichen der Berufsbildung: Das Vereinsleben wird gefördert, und Beratung wird als Bildungsmassnahme aufgefasst, Forschungsstationen und Mustergüter werden ins Bildungswesen einbezogen. [1946h]
Neben der Aus- und Weiterbildung für Landwirte entstehen auch für landwirtschaftliche Spezialberufe, insbesondere für milchwirtschaftliche Berufe, ab 1886 Fachschulen und später auch Berufslehren. Ab 1914 entstehen zudem weitere, in erster Linie hauswirtschaftlich orientierte Ausbildungsgänge für Bäuerinnen, vgl. hier. 2002 wurde der ganze Bereich dem Berufsbildungsgesetz unterstellt und strukturell der gewerblich-industriellen Berufsbildung angepasst.
Mehr zur landwirtschaftlichen Berufsbildung in Kapitel 13
Ab 1884 fördert der Bund die Berufsbildung, siehe hier. Über eine Steuerungsmöglichkeit verfügt er mangels einer Grundlage in der Verfassung aber nicht, ausser indem er die Ausrichtung von Beiträgen an Bedingungen knüpft. In die Lücke springen einerseits die Kantone und anderseits die damals neu entstandenen Verbände der Unternehmer und der Arbeiter. [Verbände]
Abbildung 5 An der landwirtschaftlichen Meisterprüfung 1945 wird auch das Wissen über die Zugleistungen der Kühe geprüft, denn sie hatten einen hohen Stellenwert als Arbeitstiere in der Landwirtschaft (Archiv für Agrargeschichte, Bern)
Der Schweizerische Gewebeverband, gegründet 1879, fördert die berufliche Ausbildung durch Studien zu einschlägigen Fragen, durch die Entwicklung von Musterverträgen und die Propagierung der Lehrabschlussprüfung. [1879b] Gewerkschaften und der Schweizerische Gewerkschaftsbund, gegründet 1880, [1858a] versuchen in den Verhandlungen zum Abschluss von Tarifverträgen auf die Berufsbildung einzuwirken, insbesondere bezüglich des Schutzes der Lernenden.
Kantonale Gesetzgebung: Kapitel 04
Beginnend 1890 mit dem Kanton Neuenburg erlassen die meisten Kantone Gesetze zum Schutz der jugendlichen Arbeitnehmer − und damit der Lehrlinge − und nach und nach auch Bestimmungen zur Gestaltung der Berufslehren. Sie regeln Ausbildungsinhalt und -dauer und führen Obligatorien bezüglich des Besuchs des beruflichen Unterrichts während der Arbeitszeit und zur Durchführung der Lehrabschlussprüfungen ein.
Mit der Revision des Obligationenrechts 1912 treten erste Bestimmungen auf Bundesebene in Kraft: Das Obligationenrecht (Teil des Zivilgesetzbuches) enthält seither Bestimmungen zum Lehrvertrag im Rahmen der Regelungen verschiedener Arbeitsverträge.
Bereits 1908 erhielt der Bund auch die Kompetenz, «über das Gewerbewesen einheitliche Vorschriften aufzustellen». Das Volk stimmte einer diesbezüglichen Ergänzung der Bundesverfassung zu und entsprach damit einer langjährigen Forderung des Gewerbeverbands. [1908a] Aber erst 1930 erlässt er – als erster (weil vergleichsweise am wenigsten umstrittener) Teil der Gewerbegesetzgebung – das «Bundesgesetz über die berufliche Ausbildung» (BbA). Es legt fest, dass ein schriftlicher Lehrvertrag zu unterzeichnen ist, dass die Lernenden neben der Ausbildung in Betrieben fachlichen Unterricht besuchen und gegen Schluss der Lehre die Lehrabschlussprüfung ablegen müssen. Es sieht neben der beruflichen Grundbildung bereits die Meisterprüfung vor, erste Angebote der höheren Berufsbildung. Der Gültigkeitskreis des Gesetzes bleibt aber auf das Gewerbe beschränkt, weil es auf dem Gewerbeartikel der Verfassung fusst. Immerhin bekommt es dank einer breiten Auslegung des Begriffs «Gewerbe» auch Gültigkeit für Industrie, Handel und später zusätzlich für einen Teil des Dienstleistungssektors.
Entstehung und Inhalt des ersten Bundesgesetzes zur Berufsbildung: Kapitel 05
Die land- und milchwirtschaftliche Berufsbildung wird, wie oben dargelegt, ab 1951 in einem Gesetz zur Förderung der Landwirtschaft geregelt. Die Kompetenz zur Regelung der Ausbildung von Berufen des Sozial- und Gesundheitswesens sowie der Kunst erhält der Bund erst bei einer weiteren Revision der Bundesverfassung 1999, siehe hier.
Wegen der Wirtschaftskrise kann das 1930 beschlossene Berufsbildungsgesetz erst 1933 in Kraft treten. 1929 ist das Bundesamt für Industrie, Gewerbe und Arbeit (BIGA) geschaffen worden, dessen Sektion Berufsbildung für den Vollzug des Gesetzes zuständig ist. Es hat seine Kräfte aufzuteilen: Der Kampf gegen die Arbeitslosigkeit hat in den 1930er-Jahren hohe Priorität, denn die Wirtschaft leidet unter der grössten Depression des Jahrhunderts. Erstmals versucht man, sie auch mit Aus- und Weiterbildung von Stellenlosen zu bekämpfen. Umschulungsmassnahmen, z. B. zur Ausbildung von Konfektionsschneiderinnen und Maurern, bewähren sich nicht. [1932b] Viel Erfolg haben die sog. Berufslager, Ausbildungsstätten in Verbindung mit Unterkunftsmöglichkeiten, z. B. das Berufslager für arbeitslose Metallarbeiter in der Hard bei Winterthur, eröffnet 1935. Ihr Ziel ist der Erhalt und der Ausbau erworbener Kompetenzen. 1936 finden über 200 Kurse mit gegen 7000 Teilnehmenden statt. [1935f; 1936d]
Der Depression folgt schon bald der Zweite Weltkrieg. Wieder muss der Vollzug des Berufsbildungsgesetzes im BIGA gegenüber anderen Prioritäten zurückstehen. Immerhin – bis Kriegsende sind Ausbildungs- und Prüfungsreglemente für 154 Berufe genehmigt, womit etwa 90 Prozent aller Lehrverhältnisse erfasst werden [1953a]. 475 gewerbliche, kaufmännische und Handelsschulen bieten beruflichen Unterricht an, hauswirtschaftliche Bildung findet an 1100 Schulen statt.
Bis 1950 erlassen 24 Kantone Einführungsgesetze, Basis für den Aufbau der nötigen Behörden bei den Kantonen. Ihre Koordinationsorgane, die DBK und die CRFP, werden nach und nach von Erfahrungsaustauschgruppen der Amtschefs zu aktiven Koordinationsorganen. Nachdem anfänglich vor allem der Schweizer Gewerbeverband den Bund bei Vollzugsaufgaben wie der Gestaltung von Lehrverträgen und der Organisation von Abschlussprüfungen unterstützte, übernehmen nun die kantonalen Behörden und ihre Koordinationsorgane viele dieser Aufgaben.
Trotzdem − es dauert bis in die 1950er-Jahre, bis genehmigte Ausbildungs- und Prüfungsreglemente für 98 Prozent der Ausbildungsverhältnisse bestehen. Auch die Entwicklung von Normallehrplänen für die Berufsschulen verzögert sich bis weit in die 1940er-Jahre hinein.
Mehr zum Vollzug und zur Finanzierung in Kapitel 10
Hat sich die Zahl der Lehrverhältnisse seit 1933 nur wenig entwickelt, so beginnt sie ab 1942 zu steigen und verdoppelt sich innert 20 Jahren siehe Grafik 1