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330 anerkannte Ausbildungsberufe gibt es aktuell in Deutschland - und rund 17.400 Studiengänge: eine fatale Entwicklung für das duale Ausbildungssystem, Exportschlager von Portugal bis Lettland. Rächt sich nun, dass die Politik noch immer die Erhöhung der Akademikerquote anstrebt - und die Berufsschulen einfach vergessen hat? Katharina Blaß und Armin Himmelrath sind sich sicher: Die Bedeutung der Berufsschulen wird seit Jahrzehnten unterschätzt, ihre Leistungen werden hartnäckig ignoriert. Dabei bieten Alltag und Praxis der häufigsten Schulform heute schon Antworten auf viele der aktuell diskutierten Herausforderungen unseres Schulsystems. Die Autoren skizzieren die aktuelle Lage deutscher Berufsschulen und sprachen mit Lehrern, Ausbildern und Auszubildenden. Sie zeigen bestehende Defizite auf, die vor allem der langen Vernachlässigung dieser Schulform geschuldet sind. Und sie begründen, warum die Berufsschulen zu echten Reformlaboren für notwendige Veränderungen unserer Bildungs- und Ausbildungslandschaft werden könnten - wenn alle den Mut und den Willen dazu aufbrächten.
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Veröffentlichungsjahr: 2016
Ausgebremst, in der Öffentlichkeit fast völlig übersehen und in der schulpolitischen Debatte ohne echte Stimme – so nehmen nicht nur betroffene Lehrerinnen und Lehrer, sondern auch Schüler und Eltern die heutige Rolle der Berufsschulen wahr. Diese Bildungseinrichtungen, den Zahlen nach übrigens die verbreitetste Schulform in Deutschland, könnte man mit etwas Zynismus fast schon als Phantomschulen bezeichnen, über die kaum jemand spricht, obwohl sie erheblich zum Funktionieren des weiterführenden Schulbereichs beitragen. Wer genauer hinschaut, erkennt schnell: Die berufsbildenden Schulen bieten in ihrer Vielfalt ein nahezu unerschöpfliches Reservoir an guten pädagogischen Ideen und praxisorientierter Allgemeinbildung, an nachhaltigen Unterrichtsmodellen und individueller, gelebter Bildungsdifferenzierung. Sie bieten Antworten auf viele der aktuell diskutierten Herausforderungen des Schulsystems – nicht flächendeckend und überall, aber doch in bemerkenswerter Vielfalt.
Andererseits aber wird diese Erfahrungsressource beim Umgang mit aktuellen Herausforderungen viel zu wenig abgerufen. Berufsschulen könnten ein Motor für die Schul- und Bildungslandschaft sein – wenn sie sich denn ihrer Stärken bewusst würden und diese offensiv nach außen kommunizierten. Zahlreiche Beispiele für zukunftsweisende Konzepte und Projekte stellen wir in diesem Band beispielhaft vor. Und sie alle zeigen: Berufsschulen sind längst Ideengeber, weil sie …
… die große Herausforderung Diversität und Integration unterschiedlichster Schülerinnen und Schüler längst bewältigen,
… das Schwarz-Weiß-Denken zwischen dualer Ausbildung einerseits und akademischem Werdegang andererseits bereits heute wirksam durchbrechen,
… wie keine andere Schulform individualisieren und differenzieren und durch ihre modulartige Struktur auf unterschiedlichste Bildungsbedürfnisse von Schülern reagieren können.
Als Schulen sollen sie, so schreibt es das Grabler Wirtschaftslexikon, von Berufsschulpflichtigen oder -berechtigten besucht werden, die sich in der beruflichen Ausbildung befinden oder ihre Schulpflicht (bis zum vollendeten 18. Lebensjahr oder nach einer Ausbildung) noch nicht erfüllt haben. Als Lernort in der dualen Berufsbildung soll die Berufsschule allgemeine und fachliche Lerninhalte unter besonderer Berücksichtigung der Anforderungen der Berufsausbildung vermitteln – sie ist also, zumindest der Idee nach, gleichberechtigter Partner auf diesem berufspraktisch orientierten Ausbildungsweg. Sie ist traditionell nach Fachrichtungen unterteilt in kaufmännisch-verwaltende, gewerblich-technische, hauswirtschaftlich-pflegerische, landwirtschaftliche und bergbauliche Berufsschulen. Ihre Vielfalt nicht nur in Anzahl, Fachrichtungen, Stundenplangestaltung und individueller Förderung der einzelnen Schülerinnen und Schüler ist nahezu unüberschaubar in Deutschland.
Diese Ausdifferenzierung und Vielfalt ist – einerseits – eine Stärke der berufsbildenden Schulen und ein Ausdruck ihrer Lebendigkeit. Sie ist – andererseits – aber auch ihre große Schwäche: Berufsschulen werden nicht als einheitliches System wie etwa das Gymnasium wahrgenommen, sondern agieren häufig in Vereinzelung und damit gewissermaßen unter dem Radar der (fach-)öffentlichen Wahrnehmung. Hinzu kommt, dass sie in der Debatte um den sogenannten »Akademisierungswahn« an den Rand gedrängt werden, weil es um den scheinbaren Gegensatz zwischen Abitur und Studium auf der einen und betrieblicher Ausbildung auf der anderen Seite geht; für die Berufsschulen bleibt in diesem Streit nur die Rolle als Anhängsel der dualen Ausbildung. Und diese Rolle am Rand der Wahrnehmung wird von den Akteuren allzu oft widerspruchslos akzeptiert.
Tatsächlich lässt sich bei den Bildungsentscheidungen seit einigen Jahren eine brisante Entwicklung beobachten, bei der immer mehr junge Menschen aus unterschiedlichen – nicht nur persönlichen, sondern auch dem System geschuldeten – Motiven lieber zur Hochschule gehen, als Stationen der beruflichen Bildung zu durchlaufen. Diesen Trend sehen viele Experten sehr kritisch. »Der Akademisierungstrend gefährdet das Bildungssystem: Wenn die akademische Bildung so hohe Anteile erreicht hat, verbleiben für die berufspraktischen Ausbildungsgänge nur noch schulschwache Jugendliche. Damit gerät die Berufsbildung in ein soziales Stigma, sie wird zum Bildungsweg der Schwachen und ›Dummen‹«, sagt der Schweizer Ökonom und Autor Rudolf H. Strahm in seinem Werk »Die Akademisierungsfalle« (Strahm 2014, S. 6). Er bezieht sich in seiner Argumentation vor allem auf eine »bildungspolitische Fehlentwicklung, die junge Menschen unter dem Diktat von Bologna an den Bedürfnissen des Arbeitsmarkts vorbei ausbildet – und gleichzeitig andere Qualitäten des Menschen vernachlässigt, etwa die Qualifizierung der praktischen Intelligenz oder die emotionale Intelligenz, die Zuverlässigkeit, die Exaktheit und das Verantwortungsbewusstsein. Nicht nur Individuen, sondern ganze Volkswirtschaften stecken in der Akademisierungsfalle fest.« Befürworter der Akademisierung sagen, dass die Entwicklung von ihren Kritikern für viele Missstände verantwortlich gemacht wird, die jedoch an anderer Stelle zu beheben seien. Jugendliche sollten ihren Bildungsweg nach wie vor frei wählen können, und angesichts der Erstsemesterzahlen und der sehr guten Bildungs- und Berufschancen nach einem Studium sei ein Studium für junge Menschen offensichtlich attraktiver als eine Ausbildung. Für die Befürworter der Akademisierung ist die logische Konsequenz, dass die Hochschulfinanzierung neu gedacht werden und massiv in die akademische Lehre investiert werden sollte, um die Chancengerechtigkeit weiter gewährleisten zu können.
Der Philosoph und Kulturpolitiker Julian Nida-Rümelin ist einer der bekanntesten Akademisierungskritiker. Er warnt in seinem Werk »Der Akademisierungswahn« vor einer Herabwürdigung und Vernachlässigung des dualen Ausbildungssystems. In der Debatte um Akademisierung des deutschen Bildungssystems geht es um Grundsatzfragen der Berufswahrnehmung. Nida-Rümelin selbst spitzt die zentrale Debatte zur Akademisierung so zu: »Es geht um eine Frage, die das ganze Bildungssystem berührt: Soll die Universität eine Vielzahl von Berufen aufnehmen und sie akademisieren? Und soll dann das Gros der Studierenden nach drei Jahren von der Universität abgehen, wie es die Bologna-Reform mit ihren Bachelorstudiengängen vorsieht? Oder wollen wir die besondere Stärke des deutschen Bildungssystems erhalten?« (Nida-Rümelin 2014, S. 227).
Seine »These des Akademisierungswahns« kann in drei Aussagen zusammengefasst werden: »Es ist falsch, Jugendlichen zu suggerieren, dass sie auf ihrem Bildungsweg gescheitert sind, wenn sie nicht die Hochschulreife erreichen und dann ein Studium aufnehmen. Auch ist es falsch, Studienberechtigte für die Aufnahme eines Ausbildungsberufes zu kritisieren. Der generelle Trend, immer mehr Berufsausbildungsgänge zu Hochschulstudiengängen umzubilden, ist falsch. Wachsende Studierendenzahlen bei sinkenden Jahrgangsstärken durch den demografischen Wandel bedeuten ein – unbeabsichtigtes – Abwracken der nichtakademischen Berufsbildung im dualen System« (Nida-Rümelin 2014, S. 15ff.).
Nida-Rümelin kommt zu dem Schluss: »Der durch die Verunsicherung in Deutschland ausgelöste Anpassungsdruck an vermeintliche und tatsächliche internationale Bildungstrends droht eine der Stärken des deutschen Bildungssystems, das duale System, und generell die berufliche Bildung langfristig zu ruinieren.« Und er fährt fort: »Es gibt unterschiedliche Talente und Interessen.« Es gelte der gleiche Respekt vor allen Talenten: »Jede Begabung ist gleichwertig, eine Elektrotechnikerin verdient die gleiche Anerkennung wie ein Professor oder ein Manager oder eine Erzieherin« (Nida-Rümelin 2014, S. 247ff.).
Das vorliegende Buch will sich in der Debatte um Akademisierung weder auf die Seite der Skeptiker noch auf die der Befürworter schlagen, sondern zeigt einen dritten, einen weiterführenden Weg. Wir nehmen die unter anderem von Nida-Rümelin aufgezeigten Missstände zum Anlass, eine Zukunftsperspektive für die Berufsschulen vor dem Hintergrund der vorhandenen Veränderungen im Bildungssystem aufzuzeigen. Und wir belegen, dass weder der ausschließlich eine noch der ausschließlich andere Weg zukunftsweisend sein wird, sondern die Durchmischung, die Kooperation beider Seiten, letztlich: der Brückenschlag zwischen Lehre und Studium, der auf der Arbeit der Berufsschulen aufbaut und auf ihre Kreativität und Professionalität angewiesen ist. Es geht um die zwingende Entwicklung einer Durchlässigkeit der hochschulischen und beruflichen Bildung, deren Kombination miteinander und eine für jeden individuell wählbare Berufsbiografie – mit und ohne Abitur, je nach Veranlagung. In dieser Öffnung, im Ermöglichen individualisierter Entscheidungen und ganz persönlicher Bildungszugänge, liegt das große Potenzial der Berufsschulen – und damit auch ihr möglicher Beitrag zu einer Attraktivitätssteigerung des dualen Ausbildungssystems. Wer mit der Entscheidung für eine berufliche Ausbildung nicht mehr automatisch eine Schulform mit vermeintlich reduziertem Bildungsanspruch besucht, verzichtet auch nicht auf die Option eines später doch noch möglichen Studiums. Und genau darum geht es uns: den schon jetzt hohen Bildungsanspruch berufsbildender Schulen herauszustellen, die Nachhaltigkeit ihrer Konzepte zu verdeutlichen und sie herauszuholen aus der Nische ihrer Phantomexistenz, in die sie geraten sind, weil sich niemand mehr richtig auskennt, viele Schulen vor sich hin unterrichten und bei Reforminitiativen gern vergessen werden. Die Berufsschule kann viel, und sie hat ein enormes Potenzial – nur scheint es leider manchmal so, als würden das nicht einmal ihre Befürworter richtig wahrnehmen.
Abschließend noch eine Anmerkung zur Begrifflichkeit: Weil in 16 Bundesländern jeweils eigene Berufsschulsysteme mit ganz unterschiedlichen Institutionenbezeichnungen und Bildungswegen existieren, reden wir hier verallgemeinernd von »Berufsschulen« oder »berufsbildenden Schulen« – wohl wissend, dass damit mancherorts ganz spezifische Schulformen gemeint sind.
Köln und Hamburg, im März 2016
»Ars sine scientia nihil est«, die Kunst ist nichts ohne die Wissenschaft. Das wussten schon die Kirchenbauer Mitte des 12.Jahrhunderts: Nachdem diverse Bauten eingestürzt waren, wurden für Dombaumeister, aber auch für Handwerker wie Steinmetze schriftliche didaktische Standardisierungen geschaffen, die man als frühe Qualitätssicherungsinstrumente betrachten kann (Lipsmeier 2014, S.7). Der Bildungsforscher Antonius Lipsmeier vertritt damit die These, dass eine Diskussion um die Qualität beruflicher Bildung krisenevoziert ist: Veränderung entsteht erst dann, wenn der Leidensdruck groß genug ist. So zog auch die Lehrlingsbewegung, eine soziale Protestbewegung von Auszubildenden des dualen Ausbildungssystems zwischen 1968 und 1972, eine Debatte über die Qualität des Ausbildungssystems nach sich. Im Fahrwasser der Bewegung entstand 1969 das erste Berufsbildungsgesetz.
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