Besichtigung eines Unglücks - Gert Loschütz - E-Book

Besichtigung eines Unglücks E-Book

Gert Loschütz

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Beschreibung

Im Dezember 1939 kommt es vor dem Bahnhof von Genthin zum schwersten Zugunglück, das sich jemals auf deutschem Boden ereignet hat. Zwei Züge prallen aufeinander, zahlreiche Menschen sterben. In einem davon sitzt Carla, die schwer verletzt überlebt. Verlobt ist sie mit Richard, einem Juden aus Neuss, aber nicht er ist ihr Begleiter, sondern der Italiener Giuseppe Buonomo, der durch den Aufprall ums Leben kommt. Das Ladenmädchen Lisa vom Kaufhaus Magnus erhält den Auftrag, der Verletzten, die bei dem Unglück alles verloren hat, Kleidung zu bringen. Aber da gibt Carla sich bereits als Frau Buonomo aus. Was versucht sie zu verbergen? Von diesem mysteriösen Vorfall erfährt viele Jahre später Lisas Sohn Thomas Vandersee, dem die Mutter zugleich ihre eigene Liebes- und Unglücksgeschichte erzählt. Kann er Carlas Geheimnis ergründen? Hängt es womöglich mit seiner eigenen Familie zusammen? Vor dem Hintergrund einer historischen Katastrophe erzählt der Romancier Gert Loschütz eine große, unter die Haut gehende Geschichte von Liebe und Verrat.

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Seitenzahl: 341

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Inhalt

[Cover]

Titel

Motto

1. Vier Sekunden

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

2. Carla und Richard

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

3. Das Violinenfräulein

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

4. Aus den Notizheften

5. Carla

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

Nachbemerkung

Zitatnachweis

Autorenporträt

Kurzbeschreibung

Impressum

Woher weiß ich das. Woher mag ich das wissen. (…) Es ist nicht an dem, dass es so gewesen ist, weil ich es so brauche; nur, dass ich anders es nicht erkennte.

Uwe Johnson: Heute Neunzig Jahr

Besichtigung eines Unglücks

1. Vier Sekunden

1

»Nicht deine Zeit.«

Das sei doch nicht meine Zeit, sagte Yps, als ich mit der Zusammenschrift schon begonnen hatte, beugte sich aus dem Bett und angelte nach ihrem Pulli, der vom Sessel gerutscht war, setzte sich auf und zog ihn mit einer raschen Bewegung über den Kopf. Ihre Kleider waren über das ganze Zimmer verteilt, die Hose kringelte sich auf dem Boden, die Jacke hing über dem Stuhl, die Schuhe lagen umgekippt neben der Tür. Sie sammelte alles ein, ging ins Bad, und kurz darauf hörte ich ihre Schritte auf der Treppe, das Klappen der Haustür.

Früher Abend, noch nicht dunkel, im Hof flammte das Licht auf. Ich zog den Bademantel an und ging ins vordere Zimmer. Der Himmel auf der anderen Parkseite war von einem tiefen Rot, zwischen den Bäumen ein Glitzern und Strahlen. Die Balkontür stand auf … trat hinaus und sah Yps auf dem Uferweg. Eine Stunde zuvor war sie, unterwegs zu einem Termin in Mitte, vorbeigekommen, auf einen Sprung (wie sie es nannte), und an mir vorbei in die Wohnung gestürmt. Als ich ins Balkonzimmer kam, sah ich sie am Schreibtisch stehen. Sie beugte sich über die Papiere, die dort lagen, die Berichte, Akten, Artikel, Fotos, und sagte:

»Nicht deine Zeit.«

Und als wir im Bett lagen, wiederholte sie den Satz. Y, Yps oder Ypsilon … Kürzel, das seine Entstehung dem Umstand verdankt, dass sie glücklich verheiratet ist und ihr Mann auf keinen Fall wissen darf, dass sie in meine Wohnung kommt, um Verrat an ihm zu üben … das wäre sein Tod, sagte sie, als wir einmal darüber sprachen, und schaute so betrübt, dass ich nicht wusste, ob sie es ernst meinte oder ob es nicht einer ihrer den Ernst streifenden Witze war … das wäre sein Tod … konnte und kann vom Betrug aber nicht lassen, sondern kommt, wenn sich die Gelegenheit bietet, vorbei. Und schleppt, wenn sie weiß, dass ich unterwegs bin, auch andere an.

Bevor sie hinter den Büschen verschwand, drehte sie sich um, hob die Hand. Und ich winkte zurück.

Nicht meine Zeit, aber an meine heranreichend, weshalb ich (anders als die jüngere Yps) beim Lesen der Akten sogleich den Sandweg sehe, der an Lisas Haus vorbeiführt, um die Wiese herum, die knatternden Autos, die nachmittags fast leeren Straßen und die noch nicht gänzlich aus dem Gebrauch gekommenen Pferdefuhrwerke. Ich höre das Knirschen der eisenbeschlagenen Räder und spüre den warmen Geruch der Strohballen, die bis weit über den Wagenrand hinaus übereinandergeschichtet sind. Oder den schwarzen Geruch des Kanals. Ich stehe auf der Brücke und sehe die mit Kohle, Sand oder Kies beladenen Schleppzüge, die ein kleines Beiboot hinter sich herziehen, höre den Klang des Signalhorns, den Schlag der Glocke.

Alles taucht wieder auf: die im Stollen der unterirdischen Munitionsfabrik gefundenen und auf die Schienen der Kleinbahn gelegten Patronen, die ausgemergelten Männer mit dem zusammengerollten und unterm Stumpf mit einer Sicherheitsnadel festgesteckten Hosenbein, das Klacken der sich vom Pflaster abstoßenden Krücken … die Freude beim Radfahren im Sommer und die Furcht vor der Dunkelheit im Winter, die Nachtfurcht. Die Furcht vorm Verlorengehen.

Hat sie mich nicht im Bahnsteigdurcheinander hochgehoben und in die ihr aus einem Zugfenster entgegengestreckten Hände fremder Leute gegeben, weil es ohne mich leichter war, sich zur Wagentür durchzuzwängen? Sah ich sie nicht im Gewoge der Köpfe und Schultern untergehen, so dass ich beim Anrucken des Zugs glauben musste, sie sei zurückgeblieben, während ich in immer schnellerer Fahrt von ihr fortgerissen wurde? Hüpfte mein Herz nicht vor Freude, wenn ich sie am Gangende auftauchen sah … wie sie sich mit einer ungewohnten, nur durch ihre Furcht um mich erklärbaren Ruppigkeit durch die Leute kämpfte? Ging es nach Magdeburg? Nach Berlin? Zum Begabten? Oder zur Tante, der Lederarmfrau?

Die Bilder kommen von weit her und gehören zum Angstvorrat, dem sich nachts mit weit aufgerissenem Maul über mich stülpenden Schrecken … da ist sie, die schwarze aus der Dunkelheit auftauchende, stets feucht schimmernde Walze des Lokomotivkessels, da sind sie, die mannshohen, vom Gestänge vorwärtsgeschobenen Räder, die sich durch die Rauch- und Wasserdampfschwaden bohrenden Scheinwerfer, das Zischen, Knirschen und Stampfen, das Funkengespeie und Eisengequietsche, das Rattern und Klappern, das mich nach solchen Fahrten bis in den Schlaf hinein verfolgende Schlagen der Räder.

Und der Ort dazu, der Bahnhof, dieser eine … so oft habe ich ihn, seiner ansichtig werdend, fotografiert, dass sich mit den in Schubladen, Kisten, Kartons aufbewahrten Bildern ganze Ausstellungen bestücken ließen, immer wieder habe ich fast automatisch die Kamera hochgerissen und zwei, drei Fotos geschossen, wann immer ich herkam, im Frühsommer, wenn sich mir das Gebäude halb verdeckt von den in Blüte stehenden Kastanienbäumen zeigte, im Herbst, wenn das Laub schon braungesprenkelt an den Zweigen hing, im Winter, auch bei Regen oder Schnee, und nicht nur vom Vorplatz aus oder dem mit Bäumen gesäumten Straßenstück, sondern auch von den Bahnsteigen, selbst aus dem fahrenden Zug, als er noch nicht wieder dort hielt, sondern den Bahnhof durchquerte, als Interzonenzug, immer hob ich (obwohl bei Strafe verboten) die Kamera und drückte den Auslöser … auch wenn ich mir sagte, du hast das längst, du brauchst das nicht mehr, konnte ich der Versuchung nicht widerstehen, oder besser dem Zwang, denn das war es ja, ein Zwang. Wenn schon die hierher gehörenden Menschen verschwunden waren, sollte doch wenigstens der Ort bleiben, und wenn der Ort nicht bleiben konnte, musste doch die Erinnerung an sein Aussehen bewahrt werden, die Bühne, auf der sie sich bewegt hatten, nicht selten war ja dieses eigenartige, früher (in meiner Kindheit) bis unter das Dach vor Betriebsamkeit brummende, heute dem Verfall anheimgegebene Gebäude das letzte, was sie von der Stadt sahen, dieser aus unerfindlichen Gründen ochsenblutrot angestrichene Hauswürfel, der inzwischen so eingedunkelt ist, dass er fast schwarz erscheint. Das Dach ist flach und trägt eine Anzahl kleiner Türme, die Schornsteine sein können oder Lüftungsrohre oder Reste einer einst burgähnlichen Befestigung, im Dunkeln vor allem, wenn man bloß den Gebäudeumriss sieht, kommt ihm etwas Arabisches zu, fast fühlt man sich an ein Haus in der Medina von Tanger erinnert, nur dass es nicht blendendweiß ist, sondern von dieser düsteren Farbe.

Hier also, im ersten Stock dieses damals schon dunkelrot angemalten Hauswürfels, lagen die Dienstzimmer des mir aus den Akten entgegentretenden Personals, des Bahnhofsvorstehers Jentzsch und des Reichsbahnassistenten Kruse sowie die ihrer Mitarbeiter und (nicht vergessen) das der Magdeburger, das ihnen für ihre Untersuchung zur Verfügung gestellte Eckzimmer … die Magdeburger, sagten die ständig hier beschäftigten Reichsbahner, wenn sie Heinze und Wagner meinten, die zur Klärung der Unfallursache aus Magdeburg hergesandten Beamten, die Kriminalen, sagte Kruse … der Dicke und die Bohnenstange, lästerte Lebrecht, der Mann im Stellwerk, bis ihm das Lästern verging, in diesem Gebäude also.

2

Zwei Tage vor Heiligabend, zwölf Grad minus, 0 Uhr 53. Die Stadt, die Dörfer in tiefem Schlaf. Kein Mond, keine Sterne, der Himmel bedeckt, ein wenig Schnee.

Dann der harte metallische Schlag, Eisen auf Eisen, das Kreischen der sich ineinander bohrenden Wagen, das Knirschen der sich stauchenden Bleche, das Krachen und Splittern zerberstenden Holzes. Alles in eins. Mit einer solchen Gewalt, dass es im Umkreis von zehn Kilometern zu hören ist, in der Stadt, in den umliegenden Dörfern, Vorwerken, Gehöften. Die Leute schlafen und schrecken aus dem Schlaf hoch. Dann wieder Stille. Noch tiefere Stille.

Der 21. Dezember 1939 ist ein Donnerstag. Schon vom frühen Morgen an herrscht auf dem Potsdamer Bahnhof in Berlin ein dichtes Gedränge, das bis in die späten Nachtstunden hinein anhält. Am 1. September haben die deutschen Truppen Polen überfallen, das Land befindet sich im Krieg, und das heißt, dass alle Züge, die nicht gebraucht werden, um den Betrieb aufrechtzuerhalten, für militärische Zwecke abgezogen wurden. Räder müssen rollen für den Sieg. Und fehlen jetzt. Die früher in den Wochen um Weihnachten herum eingesetzten Sonderzüge stehen nicht mehr zur Verfügung, während gleichzeitig mehr Leute unterwegs sind als in der Friedenszeit. Und so ist es, zumal die Fahrpläne auch noch zusammengestrichen wurden, kein Wunder, dass es immer wieder zu Verspätungen kommt.

Am späten Abend verlassen zwei Züge den Bahnhof, der Schnellzug D 10 in Richtung Köln und der Schnellzug D 180 in Richtung Neunkirchen, und zwar im Abstand von einer halben Stunde. Der D 10 fährt pünktlich um 23 Uhr 15 ab. Und der D 180, ebenfalls pünktlich, um 23 Uhr 45. Aber keiner wird sein Ziel erreichen. Denn 68 Minuten danach, in der ersten Morgenstunde des 22. Dezember 1939 – genau um 0 Uhr 53 – kommt es 90 Kilometer weiter westlich, im Bahnhof von Genthin, zur größten Katastrophe, von der die deutsche Eisenbahn jemals betroffen wurde und die dennoch, für eine Weile zumindest, beinahe völlig aus dem Gedächtnis verschwunden war.

Der D 180 prallt mit voller Geschwindigkeit auf den D 10. 196 Menschen sterben am Unfallort, beziehungsweise in den Tagen danach. Und hunderte werden verletzt.

Als ich ein Bild davon bekam, wie sich die Sache zugetragen hatte, sah ich das Haus vor mir, in dem das Mädchen, das Lisa damals war, mit ihrer Mutter lebte, und nahm an, dass sie ebenfalls wach geworden ist.

Ihr Zimmer lag nach hinten, zum Hühnerhof und den sich daran anschließenden Gärten. Sie wird aus dem Schlaf geschreckt und, ohne Licht einzuschalten, ans Fenster getreten sein.

Wie in allen Wintern dort, an die ich mich erinnere, werden die Scheiben gefroren gewesen sein, ein Eisblumenfeld. Sie brachte den Mund ans Glas, hauchte dagegen, zog den Hemdsärmel über den Handballen und wischte darüber … aber nichts, nur der Umriss der Kirche, die mit ihrem breiten Turm hinter den Gärten gluckengleich zwischen den Bäumen hockte, weshalb sie, noch immer im Dunkeln, ins Treppenhaus tappte, barfuß über die kalten Fliesen hinüber zur Stube. Sie zog den Vorhang zurück, öffnete das Fenster, stieß den Laden auf, aber auch hier nichts, was den Lärm erklärt hätte, nur die igluförmige Holzmiete, die ihr Vater (schon schwerkrank) im Sommer aufgeschichtet hatte, dahinter, jenseits der Wiese, der Saum des Kiefernwalds, durch den es zu den Feldern hinausging, ein dicker, wie mit einem schwarzen Marker gezogener Strich.

Seltsamerweise sehe ich sie allein, nie mit ihrer Mutter, die nebenan schlief, in der angrenzenden Kammer, die so schmal war, dass die Ehebetten nicht nebeneinander hineinpassten, sondern (wie angekoppelte Wagen) hintereinander stehen mussten, mit den Längsseiten an der Wand. Auch sie muss wach geworden sein, blieb aber liegen. Warum? Weil sie nichts sah? Oder war das erst später? Nach dem Krieg? Als sie, wenn Lisa zur Arbeit ging, für mich sorgte? In dieser Zeit konnte sie nur noch hell und dunkel unterscheiden und blickte, wenn ein fremdes Geräusch an ihr Ohr drang, nicht auf, sondern unter sich, als horchte sie in sich hinein und als sei dort, in ihrem Inneren, die Erklärung für das Gehörte zu finden.

Lisa schloss das Fenster, und da jetzt nur noch das Ticken der Wanduhr da war, das später neben ihrem Geigenspiel zum beherrschenden Geräusch dieses Zimmers für mich wurde, legte sie sich wieder hin, um erst am Morgen auf dem Weg zur Arbeit zu erfahren, was geschehen war.

Auch in dieser Nacht, denke ich jetzt, stand der Notenständer neben dem Fenster, nicht in der Wohnstube, wie später, als wir allein dort wohnten, sondern in dem zum Hühnerhof hin gelegenen Raum, der dann mein Zimmer wurde, während Lisa nach dem Tod ihrer Mutter nach vorn zog, in die vormals als Elternschlafzimmer genutzte Kammer.

Was mich angeht, so hörte ich zum ersten Mal Mitte der neunziger Jahre davon.

Nachdem ich für ein Reisemagazin einen Beitrag über die Straße der Romanik geschrieben hatte (in dem die Stadt notgedrungen nur eine untergeordnete Rolle spielte), erhielt ich Post von einem Herrn Weidenkopf, den ich nicht kannte. Er schrieb, der Text habe ihm gefallen, und da er den biographischen Angaben entnehme, dass ich aus Genthin stammte, erlaube er sich, mich auf ein Ereignis hinzuweisen, das weitgehend in Vergessenheit geraten sei: das große Zugunglück von 1939.

Als ich die Blätter auseinanderfaltete, die in dem Umschlag steckten, sah ich, dass es sich um einen Aufsatz handelte, der zu Beginn der Achtziger in der Zeitschrift Der Eisenbahnfreund, Erfurt, erschienen war, acht schon beinahe vergilbte Blätter, keine Kopien, sondern aus dem Heft herausgetrennte Originale. Die im Text abgedruckten Fotos zeigten ein Bild der Verwüstung. Der zweite Zug war mit einer solchen Wucht auf den ersten geprallt, dass sich die Wagen übereinander geschoben hatten. Ein Wagen ragte steil in die Luft, während sich ein anderer in die Erde zu bohren schien.

Am Ende seines Briefs erwähnte Weidenkopf, dass er selbst aus Genthin stamme und in den Dreißigern das Realgymnasium in der Großen Schulstraße besucht habe. Beim Lesen meines Namens sei ihm ein Mädchen eingefallen, das ein oder zwei Klassen unter ihm war, eine Lisa Vandersee, die nach der Mittleren Reife abgegangen sei und eine Lehre in einem Kaufhaus begonnen habe.

»Darf ich fragen, ob Sie mit ihr verwandt sind? Und wenn, was aus ihr geworden ist?«

Ich bedankte mich für den Aufsatz, teilte ihm mit, dass Lisa Vandersee meine Mutter sei und in Berlin lebe.

Worauf ich einen zweiten Brief erhielt, in dem er mir Grüße auftrug und schrieb, dass er sie als ein hochgewachsenes Mädchen in Erinnerung habe, das, wann immer er ihm auf der Straße begegnete, einen Geigenkasten dabei hatte.

Es gingen noch ein paar Briefe zwischen uns hin und her. Und jedes Mal lag ihnen etwas anderes bei: ein Foto des Realgymnasiums aus dem Jahr 1934, ein alter Bierdeckel mit dem Aufdruck Genthiner Bier, das hektographierte Exemplar einer von ihm verfassten Stadtgeschichte, auf deren Deckblatt das Stadtwappen prangte: die in der Luft schwebende Jungfrau Maria, barfüßig, das Kind auf dem Arm.

Er war (erfuhr ich nach und nach) Anfang der Fünfziger in den Westen gegangen und dort über seiner Sehnsucht nach der Kanalstadt zum Sammler und Heimatforscher geworden. Ein Heimatforscher ohne Heimat, der unter anderen Umständen Briefmarken oder Erstdrucke gesammelt hätte, so aber seine Sammel- und Forscherleidenschaft auf seinen Geburtsort gerichtet hatte.

»Mein Archiv«, schrieb er, »ich lege Ihnen etwas aus meinem Archiv bei.«

Doch anstatt mich darüber zu freuen, merkte ich, wie sich etwas in mir verschloss. War es möglich, dachte ich, dass er in mir eine verwandte Seele sah, jemanden, den er durch seine Geschenke dazu verpflichten konnte, dereinst seine Nachfolgerschaft anzutreten? Ich lebte noch in Italien und hatte nicht die geringste Lust, mich in eine Rolle drängen zu lassen, und schon gar nicht in die des Heimatforschers. So kam es, dass meine Briefe immer kürzer wurden.

»Vielen Dank«, schrieb ich zurück. »Vielen Dank.«

Bis unsere Korrespondenz ganz einschlief. Mit der Zeit vergaß ich ihn, und wenn ich doch einmal an ihn dachte, dann wie an einen längst Verstorbenen. Doch dann kam wieder ein Brief.

»Heute möchte ich Ihnen zwei Fotos schicken, die vor ein paar Wochen in Saalfeld entstanden sind.«

Das eine zeigte ein Gewirr von Gleisen, ein Bahngelände, auf dem alte Dampfloks abgestellt waren, eine Art Friedhof für Lokomotiven. Das andere ihn selbst, einen alten Herrn (er musste an die neunzig sein), der einen Stock in der Hand hielt und mit allen Anzeichen des Triumphs auf eine Zahl deutete.

»01 531! Erinnern Sie sich? Die Unglückslok hatte die Betriebsnummer 01 158. Nach dem Unfall wurde sie repariert und war, wie ich herausfand, bis in die Siebziger hinein in Betrieb. Nach einer Generalüberholung, 1964, hat sie eine neue Nummer erhalten: 01 531. Voila, ich stehe also vor jener Lok, die mich in jener Unglücksnacht aus dem Schlaf gerissen hat.«

Und dann folgte jenes, wie ich heute weiß, wohlberechnete Postskriptum.

»Im Übrigen wurde sie später auf der Strecke Magdeburg – Potsdam eingesetzt, so dass nicht auszuschließen ist, dass dieselbe Lokomotive auch dem Zug vorgespannt war, der Sie und Ihre Frau Mutter von Genthin weggebracht hat.«

Nein, ausgeschlossen war es nicht, aber doch ziemlich unwahrscheinlich. Aber sind Zufälle das nicht immer? Ich holte den Artikel wieder hervor, und, tatsächlich, auf der letzten Seite stand:

»Aus 01 158 wurde 01 531.«

Damit fing es an. Mit Weidenkopfs Bemerkung über die Lok. Oder ging es da schon um die vier Sekunden, die in dem Artikel erwähnt wurden?

»Hätte der Mann im Stellwerk das Haltesignal vier Sekunden später gegeben, wäre es nicht zum Unglück gekommen.«

Um dieses Was wäre, wenn?

Am Abend schrieb ich zwei Briefe. Den einen an Weidenkopf, um ihm für den Hinweis zu danken. Den anderen ans Landesarchiv von Sachsen-Anhalt. Und kaum eine Woche danach kam die Antwort. Ein Dr. Herter teilte mir mit, dass sich im Bestand des Landesarchivs zwei Akten befänden, die ich einsehen könne, die eine läge im Magdeburger Kriminalarchiv, die andere im Archiv der Reichsbahn.

»Diese müssten Sie allerdings selbst auswerten.«

Ja, es ging um dieses Was wäre, wenn. Eben noch ist es so. Und gleich darauf ist es ganz anders. Eben noch ist alles in Ordnung. Und im nächsten Moment versinkt es im Chaos. Und dazwischen liegt ein falscher Handgriff, die Winzigkeit von vier Sekunden.

Oder ein Brief: »Lisa, warum bist du da und nicht hier?«

»Es geht doch nicht«, hatte sie mit Bleistift an den Rand geschrieben. Der Brief lag im Kreutzer, der neben Bériots Violinschule eine Weile ihre Bibel war. Das Papier war so dünn, dass es sich an die Seiten geschmiegt hatte und beim Umblättern mit umgeschlagen wurde. Deshalb war es mir, als ich bei Beginn der Zusammenschrift die Noten aus dem Karton nahm und neben den Schreibtisch legte, nicht aufgefallen. Ihre Schrift war so winzig, dass ich eine Weile brauchte, um sie zu entziffern. Aber es war ihre Schrift, daran gab es keinen Zweifel.

»Es geht doch nicht«, hatte sie an den Rand geschrieben. »Es geht doch nicht, Liebster.«

Aber dann ging es doch.

Der Aufsatz im Eisenbahnfreund stammt von einem Herrn Bothe aus Bad Saarow am Scharmützelsee und beschäftigt sich vor allem mit der Rolle, die Erich Wernicke, der Lokführer des D 180, bei dem Unglück spielte. Er hatte mehrere Signale überfahren und war in dem Prozess, der im Sommer 1940 in Magdeburg stattfand, zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt worden, zu Unrecht, wie Bothe meinte. Seiner Meinung nach handelte es sich um ein faschistisches Willkürurteil. So nannte er es.

Er schildert den Lokführer, der zum Zeitpunkt des Unglücks 51 Jahre alt war, als einen verantwortungsvollen Mann, dem in seinem langen Berufsleben kein einziger Fehler unterlaufen sei. Er habe sich nicht das Geringste zu Schulden kommen lassen und sei, was ebenfalls für ihn sprach, weder Mitglied der Nazipartei noch einer ihrer Gliederungen gewesen.

Hätte so jemand, fragt er, leichtfertig sein Leben und das der ihm anvertrauten Menschen aufs Spiel gesetzt? Nein, unmöglich. Wenn er die Signale überfahren habe, müsse es einen Grund geben, der nicht in seiner Person liege.

Wenn ich den Autor richtig verstand, sah er ihn im Wetter. Das sei das Entscheidende gewesen: Die Verteilung der warmen und kalten Luftströme. Es habe eine Inversionswetterlage vorgelegen, die verhinderte, dass die Rauchgase aus dem Schornstein der Lok nach oben abzogen. Sie seien an den Windleitblechen vorbeigeführt worden, in das offene Führerhaus eingedrungen und hätten zu einer Kohlenmonoxidvergiftung des Personals geführt.

Wernicke und Krollmann, sein Heizer, seien beim Überfahren der Signale betäubt, wenn nicht gar bewusstlos gewesen, weshalb sie das Geschehen nicht mitbekommen hätten. Daraus leitet Bothe ab, dass Wernickes Urteil wie das des ebenfalls angeklagten Krollmann auf Freispruch hätte lauten müssen.

Heißt das: Der Zug raste führerlos durch die Nacht? Als Bild abgegriffen, als realer Vorgang ein Alptraum, der den Reisenden, wüssten sie um die Gefahr, in der sie schweben, den Angstschweiß auf die Stirn triebe. Aber sie wissen es ja nicht, sie sitzen in der überschaubaren Sicherheit ihres Abteils, dösen vor sich hin, blättern in einem Buch oder schauen auf die Landschaft hinaus.

3

Am Vormittag Yps, die einen Katalog mit den für ihren Konzern angekauften Bildern vorbeibringen wollte und erst, als sie vor meiner Tür stand, merkte, dass sie ihn im Auto liegengelassen hatte. Brachte sie, um den Katalog in Empfang zu nehmen, zurück. Da sie in Zeitnot war, schlug sie es mir nicht ab.

Sie parkt nie in meiner Straße, sondern immer vorm Schloss, und nach Möglichkeit so, dass ihr Auto von anderen Autos verdeckt wird, also nahe am Zaun, damit Lennart es, falls er vorbeikommen sollte, nicht sofort sieht. Und nun zeigten wir uns zusammen auf der Straße. Bot ihr an, vorzulaufen, aber das fand sie albern. Vormittag ist ohnehin nicht seine Zeit, vormittags ist er in der Klinik. Wenn er auf dem Spandauer Damm vorbeifährt, dann am frühen Abend.

Am Nachmittag mit dem Rad zum Zeitungsarchiv, das in einem der ehemaligen Lagerhäuser im Westhafen untergebracht ist. Mir ging das Bild nicht aus dem Kopf: die bewusstlos im Führerstand liegenden Männer. Und wollte selbst sehen, was an der Theorie von der Inversionswetterlage dran war.

Als ich hinkam, lagen die zu dicken Folianten gebundenen Zeitungen, die ich vor einer Woche bestellt hatte, auf einem kleinen Eisenwagen. Ich schob ihn zu einem freien Tisch und nahm sie herab. Doch als ich sie aufschlug, sah ich, dass in keiner einzigen Zeitung ein Wetterbericht stand. Der Wetterbericht war als Rubrik, die dem Feind Informationen für seine Kriegsführung liefern konnte, aus den Blättern verschwunden. Aber dann fand ich doch etwas, eine Meldung im Nachrichtenteil:

»Die angekündigte Verschärfung der Kältewelle, die seit vier Tagen über Deutschland und den Nachbargebieten liegt, ist nun eingetreten. Während in der Innenstadt bis zu 14 Grad minus gemessen wurden, meldeten einige Außenbezirke in den späten Nachmittagsstunden bereits 16 und sogar 18 Grad minus.«

Nennenswerte Folgen habe der scharfe Frost bisher nicht gehabt. Insbesondere seien die sonst üblichen Verkehrsstörungen bei der Eisenbahn und beim Straßenverkehr ausgeblieben. Dagegen habe der Verkehr auf allen märkischen Wasserstraßen eingestellt werden müssen. Bei dem gegenwärtig herrschenden strengen Frost, heißt es weiter, seien die zum Verkauf angebotenen Fische oft hart gefroren, was ihrer Güte jedoch keinen Abbruch tue, vorausgesetzt, dass sie langsam aufgetaut und weder auf den warmen Herd noch in heißes Wasser gelegt würden.

Der letzte Wetterbericht stammte vom 1. September 1939, dem Tag des Überfalls auf Polen, dem ersten Kriegstag. Danach rückte an seine Stelle die Rubrik »Wann wird verdunkelt?«, in der die Zeiten des Sonnenuntergangs und Sonnenaufgangs genannt wurden.

Mit Kriegsbeginn wurde die allgemeine Verdunklung angeordnet. Aber da offenbar keiner wusste, wie sie zu handhaben war, schreibt die Berliner Zeitung vom 2. September: »Es ist so, dass nicht nur die Leuchtreklamen zu verschwinden haben, sondern auch die Wohnungen so zu verdunkeln sind, dass kein Lichtschein ins Freie tritt.«

Außerdem sei es verboten, in den S-Bahnen Zigaretten anzuzünden, da die Helligkeit der aufschießenden Flamme nach außen dringe. Die Vorhänge in den Zügen müssten, soweit vorhanden, geschlossen werden.

Am Donnerstag, dem 21. Dezember 1939, ging die Sonne um 15 Uhr 48 unter und am nächsten Morgen um 8 Uhr 9 auf.

Damit lässt sich sagen, dass sich das Unglück ungefähr in der Mitte zwischen Sonnenuntergang und Sonnenaufgang ereignete. Manche Zeitungen melden auch die Zeiten des Mondes. An diesem Donnerstag ging der Mond am Mittag um 12 Uhr 50 auf und am nächsten Morgen um 3 Uhr 20 unter.

Das heißt, die Sichel des Neumonds, denn es war Neumond, stand, wenn auch meistens von Wolken verdeckt, den ganzen Nachmittag über am Himmel.

Ich erinnere mich an solche Tage.

Die Häuser ducken sich unter der Kälte, ein dünner Rauchfaden steigt aus dem Schornstein. Die Kähne sind weniger am Ufer vertäut als daran fest gefroren. In den Stuben brennt von morgens bis abends Licht, vor den unteren Fensterdritteln hängen Wolldecken gegen den Luftzug. Tagelang steht der Essensgeruch in der Wohnung, nistet sich in den Haaren ein, im Pullover. Auf den zwischen Haus und Straße in den Schnee getrampelten Pfad wird am Morgen braune Asche gestreut, die im Laufe des Tags unter den Schuhen wieder ins Haus getragen wird. Die Menschen huschen mit kleinen, wie in der Kälte geschrumpften Gesichtern herum. Aber meistens ist niemand zu sehen.

Kein Winter wie aus dem Reiseprospekt, sondern ein dunkler, bedrückender, nach hinten verlegter Totensonntag.

So ein Tag also. Aber nirgends, an keiner Stelle, ein Hinweis auf eine Wetterlage, die geeignet gewesen wäre, die Handlungsfähigkeit der Männer im Führerstand herabzusetzen. Sie waren, als sie zu Verursachern des dann Katastrophe genannten Unfalls wurden, bei vollem Bewusstsein. Und haben auch bei der auf Grund ihrer Verletzungen erst Wochen später erfolgten Vernehmung keinen einzigen Grund angeführt, der einen Zweifel daran zuließe.

4

Es gibt drei Orte, die man sich merken muss.

Die Blockstelle Belicke, rund sechs Kilometer östlich von Genthin, ein zweistöckiges Haus mit drei großen Fenstern, von denen man den herannahenden Zug ebenso wie die beiden Signale im Blick hat, das Vor- und das Hauptsignal.

Den Streckenposten 89, eine Schrankenwärterbude zwischen Belicke und Genthin.

Und schließlich das Stellwerk Genthin Ost, eingangs des Bahnhofs, gelegen am Übergang nach Mützel, einem kleinen Dorf, zu dem eine mit groben Feldsteinen gepflasterte Straße hinausführt, daneben ein schmaler, im Sommer von Gras überwachsener Sandweg.

Diese drei Orte tauchen in allen Berichten über das Unglück auf. Jeder von ihnen spielt in der Geschichte eine Rolle. Das ist sicher. Während sonst fast nichts sicher ist.

In der Blockstelle Belicke hat an diesem Abend der Weichenwärter Friedrich Ackermann Dienst, ein sechzigjähriger Mann, der die anderthalb Kilometer von seinem Wohnort Kaderschleuse mit dem Rad zurücklegt.

Er nimmt nicht den Weg über die Chaussee, den ich als Kind öfter gefahren bin, sondern einen Schleichweg, der das letzte Stück an den Schienen entlangführt und im Herbst von Holz- und Pilzsammlern benutzt wird. Der Weg ist so schmal, dass er absteigen muss, wenn ihm jemand entgegenkommt. Oder der andere müsste einen Schritt in den Wald hineintun. Aber die Wahrscheinlichkeit, dass ihm jemand begegnet, ist gering. Es ist schon dunkel, als er losfährt, es ist kalt, die Erde gefroren, und es fällt, wie ich jetzt weiß, ein wenig Schnee.

Links die Schienen, rechts der Wald.

Er wird kurz vor sechs bei der Blockstelle angekommen sein, noch ein paar Worte mit seinem Kollegen gewechselt haben. Und nachdem dieser gegangen ist, bleibt er allein. Sein Dienst dauert zwölf Stunden, bis zum nächsten Morgen um sechs.

Anders als bei der Blockstelle Belicke, die ein Steinbau ist, handelt es sich bei dem Streckenposten 89 lediglich um eine mit Teerpappe und Wellblech abgedichtete Holzbude, die direkt an den Schienen liegt und an deren Seite unübersehbar die Zahl 89 prangt. Auffällig der breite gemauerte Schornstein, der von dem flachen Dach aufragt. Der Bahnübergang, an dem die Bude steht, ist auf dem Bild, das ich gesehen habe, nicht zu erkennen, nur ein paar kahle Bäume, ein Telegrafenmast und die nach hinten wegführenden Schienen.

Auch Otto Wustermark hat seinen Dienst abends um sechs angetreten, er endet wie bei Ackermann am nächsten Morgen um sechs. Und wie Ackermann wird er die Strecke von Genthin, seinem Wohnort, zum Posten 89 mit dem Rad zurückgelegt haben.

Was noch? In der Ecke ein Eisenofen, auf dem eine Blechkanne mit Kaffee steht. Ein Stuhl, ein Tisch, das Streckentelefon, mit dem sich die Verbindung zu den benachbarten Posten und zum nächsten Bahnhof herstellen lässt. Auf einem Brett an der Wand: das Signalhorn, die Handlampe und eine Reihe von Knallkapseln, die sogenannten Petarden, die ebenso wie das Signalhorn und die Handlampe immer griffbereit liegen müssen.

So ungefähr hat man sich die Bude 89 vorzustellen.

Die Knallkapseln oder Petarden sind Explosivkörper, die bei Gefahr im Abstand von dreißig Metern auf die Schienen gelegt und durch das darüber rollende Rad ausgelöst werden. Sie sind akustische Signale, die dem Lokführer bedeuten: Sofort halten! Laut Handbuch der Eisenbahn von 1931 ist bei ihrer Anwendung Vorsicht geboten.

Am Stellwerk Genthin Ost, kurz GO, führt außen eine Eisentreppe hoch. Es ist ein richtiges Haus, solide gebaut, mit großen, zur Strecke hin gelegenen Fenstern, die eine Art Erker bilden. Von dort oben hat man sowohl den Bahnhof im Blick als auch die ein- und ausfahrenden Züge.

Auf Adolf Lebrecht, der an diesem Abend dort Dienst hat, lastet eine größere Verantwortung als auf Ackermann und Wustermark. Deshalb dauert seine Nachtschicht auch nicht zwölf, sondern nur acht Stunden, von zehn Uhr abends bis morgens um sechs. Er ist fünfundfünfzig Jahre alt und lebt – wie Wustermark – in Genthin. Auch er benutzt für den Weg zur Arbeit gewöhnlich das Rad. An diesem Abend aber ging er (die Kälte, der Schnee) zu Fuß.

Als er die Eisentreppe erreicht, taucht, eben von seinem Rundgang zurück, Kurt Zeuner aus der Dunkelheit auf. Er ist für die Schneewache eingeteilt und hat dafür zu sorgen, dass die Weichen nicht einschneien; er muss sie mit dem Besen abfegen oder notfalls, wie manchmal bei Verwehungen und starkem Frost, mit den Händen freilegen.

Die beiden reden ein paar Worte miteinander. Dann steigen sie die Treppe hoch. Zeuner lässt Lebrecht, dem Älteren und Ranghöheren, den Vortritt. Als sie die Tür öffnen, schlägt ihnen die Wärme entgegen. Zeuner zieht seinen Mantel aus, wirft ihn auf die Bank und reibt sich die Hände, während Lebrecht, wie immer, zuerst in den Erker tritt, um einen Blick auf die Strecke zu werfen.

An diesem Abend, in dieser Nacht bekommen Ackermann und Wustermark die Lokomotive, die den Unglückszug zieht, zweimal zu sehen. Das erste Mal, als sie, unterwegs von Braunschweig nach Berlin, gegen 20 Uhr 20 mit dem D 33 an ihnen vorbeifährt, das zweite Mal, als sie mit dem D 180 zurückkommt, wenige Minuten, bevor es geschieht.

Während Lebrecht, der um 20 Uhr 20 noch zu Hause vorm Radio sitzt, sie nur einmal sieht, und zwar erst, als es zu spät ist, um sie danach immer zu sehen. Anfangs nur nachts oder beim Betreten eines dunklen Zimmers, dann auch draußen im Hof, auf der Straße, im Hellen. Beim Schneeschippen im Winter, beim Rechen des Sandwegs vorm Haus im Sommer; beim Blick in den Stall, in den schwarz glänzenden Augen der Kaninchen – immer sieht er die beiden Scheinwerferschlitze aus der Dunkelheit auftauchen, unerwartet, bösartig, völlig unbegreiflich.

*

Wernicke und Krollmann, beide aus Magdeburg. Wernicke aus Sudenburg, Krollmann aus Buckau. Von keinem ist eine Beschreibung überliefert, nur diese fleischlosen Sätze, mit denen sie die Schuldvorhaltungen abzuwehren versuchten, und doch kommt es mir vor, als sei Wernicke, der Ältere, zugleich der Größere gewesen, ein massiger Mann, der mit seiner Gewalt den Heizer beiseitezuschieben pflegte, ein Polterer mit glattrasiertem Gesicht, in dessen Nackenfalten Ablagerungen von Ruß zu finden waren, egal, wie gründlich er sich auch wusch, wie viel Seife er auch auf den Lappen gab, wie fest er auch rieb … um die Falten zu glätten, beugte er den Kopf vor, schrubbte dann den Nacken, aber wenn er den Kopf wieder hob, entstanden die Falten erneut, und damit war auch der Dreck wieder da. Zwei schwarze Rußstreifen zwischen drei roten Fettrollen.

Krollmann dagegen: ein Leichtgewicht mit flatternden Hosen, die von einem viel zu langen Gürtel am Rutschen gehindert wurden. Täglich fanden sich in der ihm von seiner Frau mitgegebenen Messingbüchse neben den Broten drei Pferdefleisch-Buletten, von denen eine für Wernicke bestimmt war, dazu ein Gläschen Mostrich aus Bautzen und, sommers, zwei aufgeschnittene Äpfel.

Sein Platz im Führerhaus war links. Wenn er nicht mit dem Feuer beschäftigt war, hatte er (insbesondere beim Rangieren, bei Fahrten mit dem Tender voran oder beim Bahnhofsdurchqueren) die linke Streckenseite im Auge zu behalten. Er stand am linken Fenster, Wernicke am rechten; beide achteten auf die Signale. Wer ihre Stellung zuerst aufnahm, rief sie dem anderen zu, und dieser wiederholte den Ruf, sobald er sie ebenfalls erkannte.

So war es vorgeschrieben.

Sie fuhren seit einem Vierteljahr zusammen, werden sich aber schon vorher gekannt haben. Tach, Wernicke! Tach, Krollmann! Jeder tippte an den Schirm seiner Mütze und ging weiter. Jetzt waren sie zusammengespannt. Ja, so kann man es nennen. Nirgends aber ein Hinweis darauf, dass sie darüber hinaus Umgang pflegten, auch privat. Sie fuhren zusammen und gingen danach ihrer Wege. Wernicke kehrte nach Sudenburg zurück, Krollmann nach Buckau.

Am Tag davor, dem vorm Unglück, endete ihr Dienst abends gegen acht. Ihre Unterkunft lag auf dem Gelände des Rangierbahnhofs. Nachdem sie sich gewaschen und umgezogen hatten, knöpften sie ihre Joppe zu, schlugen den Kragen hoch, klemmten die Tasche unter den Arm und traten auf die Straße hinaus.

Nach Sudenburg brauchte Wernicke ungefähr eine Stunde. Gegen neun kam er zu Hause an, schloss die Tür auf und stieg zu seiner Wohnung hinauf. Ich kenne das Haus. Nach meinem ersten Besuch im Archiv bin ich hingefahren und in der Wolfenbüttelerstraße, in der er wohnte, auf und ab gegangen, es war ein dreistöckiges Gebäude mit zwei übereinanderliegenden Erkerzimmern, von denen das obere zur Wernickeschen Wohnung gehört haben muss.

Was dann geschah, klingt in der Protokollsprache, in die seine Aussage übersetzt wurde, so: Ich habe Abendbrot gegessen und mich noch etwas mit meiner Familie unterhalten. Nachdem die 22-Uhr-Nachrichten im Radio zu Ende waren, habe ich mich zu Bett gelegt. Ich habe bis acht Uhr gut durchgeschlafen. Ich bin dann aufgestanden, habe gefrühstückt und bin zu Fuß wieder nach meiner Dienststelle gegangen, wo ich um elf Uhr ankam und Krollmann traf.

Es ist der Tag, an dem in Berlin vierzehn und in den Außenbezirken sechzehn bis achtzehn Grad minus gemessen werden. Und an dem die Sonne am Nachmittag um 15 Uhr 48 untergeht, während der Mond schon seit 12 Uhr 50 am Himmel steht.

Der Tag verlief, wie im Dienstplan vorgesehen: Fahrt nach Braunschweig, Herausdrücken des Zugs aus dem Bahnhof, Aufnahme von Kohle und Wasser, Reinigen des Feuers und Besanden der Lok. Anschließend Fahrt zur Untersuchungsgrube, um die Lok auch von unten zu revidieren.

Nachdem auch das erledigt war, gingen sie zu ihrer im Betriebswerk gelegenen Unterkunft. Krollmann machte sich lang (wie er sagte), Wernicke setzte sich an den Tisch und füllte Reparaturzettel aus. Das war nichts Besonderes. Das hieß nicht, dass ihm etwas aufgefallen wäre, was die Fahrtüchtigkeit der Lok beeinträchtigt hätte. Was er festhielt, waren kleinere Schäden, wie sie jederzeit auftraten, Undichtigkeiten, die sich nur im kalten Zustand der Maschine beseitigen ließen. Um sie nicht zu vergessen, notierte er sie auf verschiedene Zettel und legte sie in eine Mappe.

»Danach hab ich mich noch eine Viertelstunde lang gemacht.«

Auch er benutzte diesen Ausdruck.

Am frühen Abend Fahrt nach Berlin, wo sie, bei Einhaltung des Fahrplans, um 20 Uhr 21 hätten ankommen sollen, aber da ihre Abfahrt von Braunschweig ohne ihre Schuld mit großer Verspätung erfolgte, passieren sie um diese Zeit herum gerade das Stellwerk Genthin Ost, die Bude 89 und die Blockstelle Belicke.

Normale Fahrt. Gute Sicht, kein Nebel.

Nach ihrer Ankunft am Potsdamer Bahnhof wieder die obligatorischen Arbeiten: Reinigen der Maschine, Wasser und Kohle nehmen. Als Letztes fahren sie die Lok auf die Drehscheibe und bringen sie in die neue Fahrtrichtung: Westen.

Danach gehen sie zu ihrer Unterkunft, eine langgestreckte Holzbaracke.

Beim Nehmen der Kohle passiert etwas, worüber Krollmann später in aller Ausführlichkeit reden wird: Sie erhalten keine Lagerkohle, sondern frische aus der Lore, und zwar westfälische.

»Meistens ist die Lagerkohle so ausgetrocknet, dass sie nicht denselben Heizwert besitzt wie frische. Westfälische Kohle ist die beste, noch besser als die schlesische, die stückereicher und härter ist und deshalb ebenfalls schnell verbrennt. Ich weiß genau, dass wir westfälische Kohle erhalten haben.«

Am Nachmittag im Archiv, als ich Krollmanns Äußerungen zum ersten Mal las, glaubte ich, es sei die Begeisterung für seinen Beruf, die ihn so ausführlich über die Kohle sprechen ließ, bis mir klar wurde, dass sie Teil seiner Verteidigungsstrategie waren. Er wollte sagen, dass er wegen der schnell verbrennenden Kohle keine Zeit hatte, auf die Signale zu achten. Er konnte von seinem Führerstandfenster aus nicht, wie vorgeschrieben, die Strecke im Auge behalten, sondern musste Kohle nachwerfen.

Die schnell und hell brennende.

Die Lok steht jetzt in Fahrtrichtung im Schuppen, das heißt, mit der Spitze in Richtung Genthin, mit dem Tender zum Bahnhof, in dem zur selben Zeit, zu der sie ihre Brote auspacken, die beiden anderen ihre Maschine vor den Zug spannen. Die beiden anderen? Ernst und Stuck, Lokführer und Heizer des D 10, die, nähme man das Entsetzliche sportlich, die andere Mannschaft bildeten.

Ihr Zug wird von Gleis 2 abfahren.

Der Zug von Wernicke und Krollmann von Gleis 1.

Bis zur Abfahrt von Ernst und Stuck, die zuerst auf die Strecke gehen, bleiben noch fünfundzwanzig Minuten.

Dies ist der Moment, in dem die Abläufe ineinanderzugreifen beginnen. Keiner weiß es, die Katastrophe ist noch nicht sichtbar. Aber für einen Moment sind alle, die daran teilhaben werden, am selben Ort versammelt.

*

Der Potsdamer Bahnhof ist der älteste der Stadt. Gelegen am Endpunkt der Strecke nach Potsdam, die 1838 eröffnet und 1846 bis nach Magdeburg weitergeführt wurde, war es zunächst ein beinahe ländlich anmutendes Gebäude von den bescheidenen Ausmaßen eines märkischen Gutshauses, an dessen Stelle zwischen 1868 und 1872 ein neues errichtet wurde. Ein Prachtbau, der mit seinen klassizistischen Säulen, Bögen und Ornamenten von außen eher an ein Museum oder Theater erinnerte als an einen Bahnhof. Und doch war er genau das. Ein Kopfbahnhof mit zwei Mittelgleisen und acht Zugängen in der Bahnsteigmitte und an beiden Seiten, über dem sich ein Glasdach wölbte.

Die drei Schalterhallen befinden sich im Zwischengeschoss. Die Wände sind weiß gefliest, und das Abschlussgesims besteht aus roten und schwarzen Keramiksteinen. Die Treppenwände sind aus poliertem Muschelkalk. Die trichterförmigen Lampen hängen an langen Kabeln von den quer durch die Halle gespannten Stahlverstrebungen. Die Wartebänke stehen mit der Rückenlehne zu den Absperrgittern. In den Rundbögen über dem Ausgang hängen Reklametafeln für Boenicke-Zigarren, an einer Säule das lachende Gesicht des Sarottimohren. Ein Mann schiebt einen mit Milchkannen beladenen Karren vorbei.

Betrachtet man die Fotos lange genug, kann man das Stimmengewirr hören, die gellenden Pfiffe, das Knacken der Lautsprecher, bei dem die Leute in der Halle wie auf Befehl den Kopf heben, um ihn beim Ausbleiben der Durchsage wieder sinken zu lassen.

Am späten Abend kommen zwei Leute die Saarlandstraße herauf, eine junge Frau und ein etwas älterer Mann, der einen breitkrempigen Hut trägt, weshalb das ihm nachgesagte südländische Aussehen noch nicht zu erkennen ist. Erst im Abteil, nach Ablegen der Sachen, wird man das schwarze, straff nach hinten gekämmte Haar bemerken, den etwas dunkleren Teint, der in dem funzligen Abteillicht noch dunkler wirkt und neben dem die helle Haut der jungen Frau noch heller, fast weiß erscheint.

Jetzt aber sind sie nur zwei, die mit hochgeschlagenem Kragen und zusammengezogenen Schultern der Kälte zu entrinnen versuchen. Sie eilen am Haus Vaterland vorbei (in dem an diesem Abend die Kapelle Rudi Paetzold spielt) und steigen die Bahnhofstreppe mit den weiß gestrichenen, in der Dunkelheit leuchtenden Stufenkanten hinauf.

In der Linken trägt die junge Frau einen kleinen braunen Pappkoffer, über ihrer Schulter hängt eine rotbraunlederne Handtasche. Es sind die beiden in der Akte Nr. 779 erwähnten Gepäckstücke. Trotz des darin gefundenen Ausweises und der auf den Namen Carla Finck lautenden Reichskleiderkarte wird es dem Beamten der Ermittlungs- und Fundsachenstelle, zu dem sie am nächsten Tag gebracht werden, nicht gelingen, sie jemandem zuzuordnen. Er wird Koffer und Tasche auf eine Liste setzen, aber nicht wissen, wie sie in den Zug gelangt sind. Eine Weile wird es aussehen, als hätten sie die Reise allein angetreten. Während es mit dem Gepäck ihres Begleiters kein Problem geben wird. Sein Name, Giuseppe Buonomo, wird schon auf der ersten in der Volksstimme abgedruckten Opferliste stehen und mir sofort ins Auge springen.

Zehn Minuten nachdem die beiden die Bahnhofshalle betreten haben, verlassen Wernicke und Krollmann ihre Unterkunft.

Sie schrauben die Thermosflaschen zu, drücken den Deckel auf die Brotdosen und stellen sie in die Tasche, nehmen ihre Joppen vom Haken neben der Tür und machen sich auf den Weg. Obwohl es verboten ist, gehen sie quer über die Gleise. Wernicke vorweg, Krollmann hinterher. Als er nach oben schaut, merkt er, dass es zu schneien begonnen hat, nicht viel, aber doch so, dass er spürt, wie sich die Schneekristalle auf seiner Haut niederlassen. Da er weiß, dass der Ruß mit dem Schmelzwasser einen schmierigen Schmutzfilm bildet, der sich in die Poren frisst, wischt er mit dem Ärmel über die Stirn, die Augen.

Daran wird er sich im Krankenhaus erinnern. Das meiste hat er vergessen oder behauptet es zumindest, aber an diese für den Unfall unwichtige Armbewegung wird er sich erinnern.

Die Gleise, die Schwellen, auf die sie die Füße zu setzen versuchen, der tanzende Schnee, die zum Schutz vor den englischen Fliegern oben mit Blenden versehenen Signale, vom Bahnhof her das Hallen der Lautsprecherdurchsagen. Dann der dunkle Umriss des Schuppens, in dem sie dreißig Minuten zuvor ihre Lok abgestellt haben.

Der 21. Dezember ist der erste Ferientag, von Nachmittag an gelten die um fünfzig Prozent verbilligten Weihnachtsrückfahrkarten, was der Grund für den Andrang sein mag, der an diesem Tag herrscht.

Der D 10 besteht aus neun Wagen, wobei es sich bei dem letzten um den kurz vor der Jahrhundertwende gebauten Packwagen handelt, dessen Wände aus Holz sind; für Reisende nach Düsseldorf und Köln führt er einen Schlafwagen der 1. und 2. Klasse, das Abteil des Zugführers befindet sich in der Wagenmitte.

Der Zug, dessen Plätze an diesem Abend zur Gänze besetzt sind, hat eine Länge von 203,7 Metern, was für die Berechnung des Bremswegs eine Rolle spielen wird. Besonders die Wagen der 3. Klasse sind so überfüllt, dass sich die Leute noch in den Gängen und Vorräumen drängen. Und irgendwo dort werden sich die beiden aufgehalten haben, die junge Frau und der südländisch aussehende Mann, in einem Wagen der 3. Klasse.