Beste Freundin - Niemand lügt so gut wie du - Claire Douglas - E-Book
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Beste Freundin - Niemand lügt so gut wie du E-Book

Claire Douglas

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Beschreibung

Mit ihren Thrillern stürmt sie regelmäßig die Bestsellerlisten. Unfassbar atmosphärisch, unvergleichlich spannend – Erfolgsautorin Claire Douglas ist ein Garant für Pageturner erster Güte.

Sie war deine beste Freundin. Jetzt ist sie eine Mörderin.


Als Kinder waren Jess und Heather die allerbesten Freundinnen. Sie teilten alles miteinander. Bis ein einziger Tag ihre Freundschaft unwiderruflich zerstörte. Jahre später kehrt Jess in ihre idyllische Heimatstadt an der Küste Englands zurück. Dort soll sie die Berichterstattung zu einem brutalen Doppelmord übernehmen. Doch als Jess erfährt, dass Heather die Hauptverdächtige ist, ist sie fassungslos. Kann ihre beste Freundin von damals eine eiskalte Mörderin sein? Jess beginnt zu recherchieren und stellt mit Grauen fest, dass alle Hinweise zu dem Tag führen, den sie für immer aus ihrem Leben streichen wollte. Der Tag, an dem Heathers Schwester spurlos verschwand und sie alle ins Unglück stürzte …

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CLAIREDOUGLAS arbeitete 15 Jahre lang als Journalistin, bevor sich ihr Kindheitstraum, Schriftstellerin zu werden, erfüllte. Ihre packenden Thriller »Missing«, »Still Alive« und »Vergessen« waren in England und Deutschland ein riesiger Erfolg und machten sie zur gefeierten Bestsellerautorin. Mit »Beste Freundin« erscheint jetzt bereits ihr vierter Thriller bei Penguin. Claire Douglas lebt mit ihrem Ehemann und ihren beiden Kindern in Bath, England.

Außerdem von Claire Douglas lieferbar:

Missing. Niemand sagt die ganze Wahrheit. Thriller.

Still Alive. Sie weiß, wo sie dich findet. Thriller.

Vergessen. Nur du kennst das Geheimnis. Thriller.

Besuchen Sie uns auf www.penguin-verlag.de und Facebook.

Claire Douglas

Beste Freundin

Niemand lügt so gut wie du

Aus dem Englischen von Ivana Marinović

Die englische Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel Then She Vanishes bei Penguin UK, London.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Copyright © 2019 by Claire Douglas

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2021 by

Penguin Verlag,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlag: Favoritbüro

Umschlagmotiv: © Lane V. Ericksonn / © EmanuelePansecco / © Nejron Photo / © Maximillian cabinet / © Media Whalestock / © riekephotos / © Ewelina Wachala / shutterstock

Redaktion: Christine Neumann

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad-Aibling

ISBN 978-3-641-25034-8V002

www.penguin-verlag.de

Für meinen Dad,

dafür, dass er mich ermutigte, meinen Traum zu verfolgen.

Prolog

März 2012

Ich fühle mich ganz ruhig, als ich der Sonne dabei zusehe, wie sie über der Reihe eiscremefarbener Häuser aufgeht. Gar nicht, wie ich mir vorgestellt habe, dass ein Mensch sich fühlt, der im Begriff steht, einen Mord zu begehen. Weder bin ich nervös, noch schwitzen meine Handflächen. Nicht einmal mein Herz rast. Da ist kein Adrenalin, das durch meine Adern rauscht. Jedenfalls noch nicht. Vielleicht kommt das später noch. Doch jetzt, in diesem Moment, bin ich erfüllt von einer Art Frieden. Als hätte alles, was bisher in meinem Leben geschehen ist, an ebendiesen Punkt geführt. Es gibt kein Zurück.

Doch nun – welches Haus?

Es sind allesamt georgianische Bauten, wunderschön, groß und elegant, mit ihren perfekt proportionierten Fenstern und bogenförmigen Eingangstüren. Sie erinnern mich an eine Kinderbuchillustration, einige hoch und schmal, andere quadratisch und gedrungen. Sie sind der rauen, windgepeitschten See und dem kleinen Hafen mit der Handvoll Fischerboote zugewandt, die nun, da Ebbe herrscht, auf dem schräg abfallenden Sand festsitzen. Perfekte Ferienbehausungen, selbst außerhalb der Saison. Sogar an einem kalten, böigen Märztag wie diesem.

Babyblau, zartes Apricot, blasses Rosa, Buttercreme. Welches?

Und da sehe ich es. Ein strahlend weißes mit kobaltblau gestrichenen Fensterrahmen, geradezu zwergenhaft zwischen den größeren, anmutigeren Häusern zu seinen beiden Seiten. Es ist der West-Ham-United-Aufkleber im Eck des obersten Fensters ganz rechts, der mich darin bestätigt.

Das ist das Haus.

Ich greife nach der Schrotflinte im Fußraum, genieße ihr Gewicht in meinen Händen, ihre Macht, und zum ersten Mal verspüre ich einen Schauer der … der was? Angst? Nein, keine Angst. Denn noch nie habe ich mich weniger ängstlich gefühlt. Was dann? Kontrolle? Ja, genau das ist es. Endlich habe ich das Gefühl vollkommener, absoluter Kontrolle.

Ich steige aus dem Wagen. Der Wind hat aufgefrischt. Fast klemme ich den Zipfel meines Schals in der Tür ein. Es ist, als hätten es die Elemente auf mich abgesehen. Um mich aufzuhalten.

Es ist kurz nach 6.30 Uhr. Die Straße ist still, die Vorgärten ordentlich getrimmt, eine Reihe schwarzer Abfalltonnen wurde für die Müllabfuhr nach draußen gerollt. Eine wurde vom Wind umgestoßen, ihr Inhalt ist auf dem Boden verstreut und bedeckt den Asphalt mit Kartoffelschalen, leeren Bohnendosen und feuchtem Küchenkrepp. Zu meiner Linken kann ich lediglich einen einsamen Strandspaziergänger mit Hund ausmachen, eine schwarze Silhouette in der Ferne. Viel zu weit draußen, um mich zu sehen. Und das, was ich gleich tun werde.

Ich hebe die Schrotflinte auf Augenhöhe und gehe schnurstracks auf das weiße Haus zu; die Zuversicht steigt mit jedem meiner Schritte. Alles hat eine geradezu unwirkliche Qualität angenommen, als befände ich mich in einem Computerspiel. Vor der Haustür angelangt, bleibe ich stehen. Ich drücke den Abzug, gebe einen einzelnen Schuss ab, und das Schloss zersplittert. Der Krach wird mit Sicherheit die Nachbarn und Bewohner alarmieren. Ich sollte besser schnell machen.

Ich trete die Tür auf und marschiere in einen engen Flur. Die Treppe liegt geradeaus; ich haste die Stufen hinauf, alle meine Sinne hellwach. Oben befindet sich eine Tür. Ich stoße sie auf und sehe einen Mann, der sich aus dem Bett hievt. Untenrum trägt er eine gestreifte Pyjamahose, sein gewaltiger Bauch hängt über den Bund. Er hat eine dicke Goldkette um den Hals und struppiges graues Haar, das seine Brust bedeckt. Der Gewehrschuss muss ihn geweckt haben. Er ist schon älter, Ende fünfzig, mit schütterem Haar und breiten Schultern. Als er mich in der Tür erblickt, versucht er aufzustehen, sein Mund offen hängend, die Stirn gerunzelt. »Was zur …?« Bevor er Zeit hat, seinen Satz zu beenden, richte ich den Lauf auf seinen Kopf, drücke den Abzug und schaue fasziniert zu, wie sein Blut die altmodische gestreifte Regency-Tapete hinter ihm vollspritzt. Er sackt rücklings auf die Daunendecke, befleckt sie mit Rot, die Augen immer noch geöffnet.

Ich wende mich zum Gehen. Eine Frau versperrt mir den Weg. Sie ist noch älter als der Mann und hat weiße Zuckerwattelocken. Sie trägt ein geblümtes Nachthemd. Zuerst ist sie sprachlos; ihre Augen weiten sich bei meinem Anblick, als sie mich erkennt. Und da kreischt sie los. Ich bringe sie mit einer Kugel in die Brust, deren Wucht sie die Treppe hinunterpurzeln lässt wie eine Stoffpuppe, zum Schweigen. Sie bleibt in einem schlaffen Haufen unten liegen; ich steige ganz ruhig über sie hinweg, um zu gehen. Irgendwo im Haus kann ich einen Hund bellen hören, vielleicht in der Küche. Nur ein paar Sekunden zögere ich. Dann marschiere ich zur Haustür hinaus.

Ein junger Kerl in Leggins rollt im Garten nebenan gerade seine Mülltonne raus. Als er mich bemerkt, weicht sämtliche Farbe aus seinem Gesicht, sein Kiefer klappt hinunter. Ich muss wie wahnsinnig aussehen mit meinem ungewaschenen Haar und den zerknitterten Klamotten. Sein Anblick wirkt beinahe komisch. Ich beachte ihn nicht weiter, steige in den Wagen und werfe das Gewehr auf den Rücksitz.

Als ich davonfahre, kann ich den Leggins-Typen in meinem Rückspiegel sehen. Er hat ein Handy ans Ohr gepresst und gestikuliert wild. Ich glaube, ich höre noch einen Schrei, obwohl das auch die Möwen sein könnten, die sich auf der Mauer drängen, mit ihren starren kleinen Augen, die mir nachschauen, mich verurteilen.

Erst da fange ich unkontrolliert zu zittern an. Ich komme nicht ganz dahinter, ob es das Adrenalin ist oder die Erkenntnis, dass es definitiv kein Zurück mehr gibt für mich. Für uns.

Das ist erst der Anfang.

1Jess

BRISTOL & SOMMERSET HERALD

Dienstag, 13. März 2012

DOPPELMORD ERSCHÜTTERT VERSCHLAFENEN KÜSTENORT

von Jessica Fox

Mordermittlungen nach dem Fund zweier Leichen in einem Cottage in Tilby, Somerset.

Gestern früh um kurz nach sieben Uhr wurde die Polizei zu einem Strandhaus in der Shackleton Road gerufen. Beim Betreten fanden die Beamten zwei Tote vor, bei denen es sich um den Geschäftsmann Clive Wilson (58) sowie seine Mutter, Deirdre Wilson (76), handelte. Beide wurden augenscheinlich erschossen. Das Anwesen wurde umgehend abgeriegelt. Polizei wie Forensiker brachten den gesamten Tag am Tatort zu.

Eine dritte Person, die 32-jährige Heather Underwood, wurde kaum eine halbe Meile entfernt bewusstlos auf dem Gelände eines Wohnmobilparks aufgefunden. Sie hatte sich selbst eine Schusswunde in die Brust zugefügt und befindet sich zurzeit in kritischem Zustand im Krankenhaus.

Detective Chief Inspector Gary Ruthgow, leitender Ermittler der Avon & Sommerset Police, teilte mit, die Beamten seien von Rettungssanitätern zu dem Strandhaus gerufen worden. Er bestätigte, dass die Polizei bezüglich der Todesfälle nach keiner weiteren Person suche. »Dies hier ist eine kleine Stadt«, sagte er, »und ich möchte jeden, der über zweckdienliche Informationen verfügt, die uns bei den Ermittlungen weiterhelfen könnten, dringend darum bitten, sich bei uns zu melden.«

Die Anwohner des gut situierten Straßenzugs, der aus einem exklusiven Boutique-Hotel, festen Wohnsitzen sowie Feriendomizilen besteht, zeigen sich schockiert und betrübt ob der schrecklichen Morde.

Ich lehne mich in meinem Sessel zurück und lese den Artikel noch einmal durch. Redaktionsschluss ist in zwanzig Minuten. Ich habe beinahe eine Stunde gebraucht, um nur fünf Absätze zu schreiben. Wenn ich den Text nicht bald abschicke, wird er es nicht auf die morgige Titelseite schaffen, und mein Nachrichtenredakteur Ted wird mir »eigenhändig die Rübe abreißen« (einer seiner Lieblingssprüche und immer nur im Spaß geäußert).

Ich blicke aus dem Fenster auf die Dächer von Bristol. Von hier oben kann ich sowohl die Turmspitze der Kathedrale als auch die herrschaftlichen Gebäude sehen, die sich um die weitläufige Rasenfläche des College Green gruppieren. Das Meer aus bunten Schirmen, welche die Bürgersteige bedecken und sich wie ein großes Ganzes zu bewegen scheinen, zeigt mir unmissverständlich, dass es regnet. Der Verkehr schiebt sich stockend über die Park Street, und ein Doppeldeckerbus stößt eine dichte Qualmwolke aus, während er sich wie ein unfitter Läufer den Hügel hochquält.

Seit ich mich heute Vormittag mit DCI Ruthgow unterhalten habe, kriege ich das Interview nicht mehr aus dem Kopf. Seine Worte nagen unentwegt an mir. Ich lechze förmlich nach einer Zigarette, aber ich traue mich nicht, den Schreibtisch zu verlassen, bevor ich diese Story nicht abgegeben habe. Ich blicke zu Jack, meinem Rauchkumpanen, rüber. Er ist über seinen Computer gebeugt und hackt auf seine Tastatur ein, den Telefonhörer zwischen Schulter und Kinn geklemmt. Als er meinen Blick spürt, hebt er den Kopf und zieht eine alberne Grimasse, während er in beschwichtigendem Tonfall in den Hörer sagt: »Ja, doch, das verstehe ich durchaus, Madam. Nein, mir war nicht bewusst, dass sie dieses Foto Ihres Katers benutzen würde … Da stimme ich Ihnen zu, äußerst unangemessen angesichts seines viel zu frühen Ablebens … Mhmm, ja, zugegebenermaßen nicht unbedingt Fluffys Schokoladenseite, aber … Nein, ich fand nicht, dass er darauf dick aussah.«

Ich kann mir ein Grinsen nicht verkneifen, dann wende ich mich meinem PC zu und gehe die Worte auf dem Bildschirm noch einmal durch, wobei ich versuche, den Gedanken zu verdrängen, der mich nicht loslässt, seit ich vorhin mit DCI Ruthgow gesprochen habe. Doch er will nicht weichen.

Ist das meine Heather?

Tilby ist ein kleiner Ort – ich muss es wissen, ich bin schließlich dort aufgewachsen. Und diese Heather Underwood ist im selben Alter wie die Heather, mit der ich zur Schule ging. Die Heather, die mal meine beste Freundin war. Wir verloren uns aus den Augen, als wir die Schule verließen, aber eine Zeit lang – gute zwei Jahre tatsächlich – waren wir unzertrennlich gewesen. Soweit ich mich erinnere, gab es nur einen Wohnmobilpark in Tilby, und der gehörte Heathers Familie. Der Nachname ist ein anderer – damals war sie noch eine Powell –, doch es wäre ein zu großer Zufall, wenn es eine andere Heather wäre, wenn auch nicht ausgeschlossen. Heather ist kein besonders ungewöhnlicher Name. Ich blättere in meinem Notizbuch zurück, versuche, meine Steno zu entziffern. Ja, in unserem Interview bestätigt Ruthgow, dass Heather Underwood, nachdem sie zwei Menschen umgebracht hatte, zu ihrem Campingplatz zurückkehrte, wo sie auch mit ihrem Mann und ihrem kleinen Sohn wohnte, und versuchte, sich das Leben zu nehmen.

Heather wollte Tilby immer verlassen. War es möglich, dass sie nach all den Jahren noch an derselben Adresse wohnte?

»Hast du das denn immer noch nicht fertig, Jess?«

Ich drehe mich um und sehe Ted, der sich über mich beugt; sein Atem riecht nach Kaffee und Zigaretten, überdeckt von einem schwachen Hauch Minze. Er fährt sich mit einer Hand über den Bart, der die Farbe eines Tabakflecks hat, dieselbe wie sein Haupthaar.

»Doch. Ich wollte es gerade abschicken.«

»Gut.« Er späht auf meinen Bildschirm. »Bist du nicht in Tilby zur Schule gegangen?«

»Ja schon.« Ich kann mich zwar nicht erinnern, es ihm erzählt zu haben, aber natürlich steht es in meinem Lebenslauf. Der Mann ist wie ein Bluthund.

»Du bist ungefähr im gleichen Alter, oder? Hast du das Mädchen gekannt?«

Ich hole Luft. »Ich … Tatsächlich bin ich mir nicht ganz sicher. Ich war zwar mal mit einer Heather befreundet, aber …« Aber die Heather, die ich kannte, wäre niemals zu so etwas in der Lage gewesen, möchte ich sagen. Die Heather, die ich kannte, war lieb, ruhig, nett. Sie nahm sich immer so viel Zeit für andere Menschen. So wie für die alte, etwas demente Dame, der wir regelmäßig im Tante-Emma-Laden ums Eck begegneten: Heather half ihr immer nach Hause, wenn klar war, dass sie sich gerade nicht mehr an den Weg erinnern konnte. Oder sie stibitzte Decken von zu Hause, um sie dem obdachlosen Mann zu schenken, der in der Unterführung schlief, wenn es kalt war. Sie war immer höflich und wohlerzogen, dachte daran, sich bei den Busfahrern und Ladenbesitzern zu bedanken, während ich es in meinem Eifer, die Süßigkeiten zu verputzen oder an mein Ziel zu gelangen, gerne vergaß.

Und doch hatte sie auch eine andere Seite an sich. Ich erinnere mich noch an das letzte Mal, als ich sie sah: die grünen Augen lodernd, die Fäuste an ihren Seiten geballt. Es war das einzige Mal überhaupt, dass ich sie zornig sah. Ich hatte Angst vor ihrer urplötzlichen Unvorhersehbarkeit, wie vor einem Pferd, das ich für sanftmütig gehalten hatte und das nun bockte und drohte, sich aufzubäumen. Aber das war gegen Ende unserer Freundschaft, als alles komplett schieflief und sie wütend auf die Welt war. Auf mich. Und es war nur verständlich.

Ich habe die letzten Jahre versucht, nicht über Heather nachzudenken, doch nun steigt ein Bild von ihr in meinem Kopf auf wie eine Spiegelung im Wasser, die allmählich klarer wird und an Schärfe gewinnt. In einem langen wallenden Rock und Doc-Martens-Stiefeln auf dem Rasen herumwirbelnd und zu »Charlotte Sometimes« von The Cure mitsingend … das Klimpern zahlloser Armreife, die von ihren Handgelenken baumeln … im Galopp auf ihrem schwarzen Pony Lucky, wobei ihr langes dunkles Haar über ihrem Rücken flattert.

Ich nehme einen tiefen Atemzug. Ich brauche echt eine Kippe.

Ted gibt ein Schmatzen von sich, während er auf Höhe meines Ohrs auf seinem Kaugummi herumkaut, und erinnert mich so daran, dass er immer noch neben mir steht. »Tja, dann schwingst du deinen Hintern wohl besser nach Tilby«, sagt er mit seinem Essexer Akzent. Er lebt schon seit Jahren in Bristol, hat es jedoch nie geschafft, sich den West-Country-Tonfall anzueignen. Obwohl er mich, wenn er ein paar Drinks zu viel intus hat, gerne mit meinem aufzieht. »Und nimm Jack mit. Check ab, ob es die Heather ist, die du von der Schule kanntest. Sie ist nicht bei Bewusstsein, daher kann die Polizei sie noch nicht unter Anklage stellen.«

Mit anderen Worten: Wir können drucken, was wir wollen, bis sie das Heft in die Hand nehmen.

Ted zeigt nicht oft Anzeichen von Aufregung oder guter Laune – und auch keine andere Emotion, abgesehen von seiner chronischen Grummeligkeit. Außer er hatte ein paar Bier zu viel, dann schimmert sein Humor durch wie ein schwacher Sonnenstrahl unter einer grauen Wolke. Meistens trägt er eine gehetzte Miene zur Schau, und wenn er nicht gerade raucht oder Kaffee trinkt, kaut er hektisch Kaugummi, wobei sein Kinn auf Hochtouren mahlt. Doch nun erstrahlen seine kleinen blauen Augen in einem seltenen Anflug von Vorfreude, als wäre er ein Pitbull, dem eine dicke Scheibe Fleisch winkt.

»Ich wollte gerade in das Wählerverzeichnis schauen, um herauszufinden, ob sie immer noch bei Margot und Leo wohnt.«

»Mach dir darum jetzt mal keinen Kopf. Selbst wenn sie nicht die Heather ist, die du kanntest, musst du trotzdem vor Ort sein. Alle interviewen, mit denen sie zusammengewohnt hat. Beschreiben, wo genau sie sich erschossen hat. Alles schön untermalen. Du kennst ja das Programm.«

In der Tat, das tue ich. Ich könnte es im Schlaf abspulen. Doch früher, als ich noch in London arbeitete, kannte ich die beteiligten Menschen nie. Falls es sich nun um meine alte Freundin Heather handelt … Ich schüttle den Kopf, verbiete meinen Gedanken, dorthin abzudriften. Ich muss das Ganze wie jeden anderen Job angehen.

Ich erhebe mich, ziehe meinen Schaffellmantel von der Sessellehne und kuschle mich dankbar hinein. Er ist schwer und warm (es ist immer so furchtbar kalt hier drin, die Heizung funktioniert selten mal richtig). Ich habe den Mantel im Secondhandladen auf der Park Street gefunden, wo ich die meisten meiner Klamotten kaufe; er hat die Farbe von Karamell mit einem zotteligen beigen Kragen und Ärmelaufschlägen. Jack hängt immer noch am Telefon, also schreibe ich ihm rasch eine Notiz, dass wir uns draußen treffen.

»Netter Mantel, Jess!«, ruft unsere Empfangsdame Sue, als ich an ihr vorbeieile und mein Notizbuch in die Umhängetasche stopfe. Sie ist Ende fünfzig, hat einen grauen Kurzhaarschnitt und funkelnde Augen, die sich an den Winkeln kräuseln, wenn sie lacht. Sie ist wie so eine reizende, knuffige Tante, die mich immer »das Mädel« nennt, sich nach meinem Leben und meinem Freund erkundigt, so als wollte sie indirekt »meine Jugend« mit mir durchleben, obwohl ich mit meinen einunddreißig Jahren wohl kaum als sonderlich jung durchgehe. An manchen Tagen fühle ich mich sogar sehr, sehr alt. Und sehr, sehr erschöpft. So wie heute.

»Danke!«, rufe ich zurück und ziehe auf dem Weg Richtung Tür die Kippen aus meiner Hosentasche. »Hab ihn für ein Schnäppchen im BS8 abgestaubt.«

»Und dein neuer Pony gefällt mir auch«, fügt sie hinzu. Ich berühre ihn verlegen, obwohl ich weiß, dass er mein Gesicht vorteilhaft umrahmt und meinen stumpfen Bob etwas weicher macht; außerdem bildet das helle Blond einen schönen Kontrast zu meinen schokoladenbraunen Augen. »Sehr Debbie Harry.«

Ich tue ihr Kompliment mit einem Lachen ab, obwohl ich mich insgeheim freue, und verspreche, ihr einen Kaffee mitzubringen (die Maschinenplörre im Büro schmeckt nach Plastik); dann schiebe ich mich mit der Schulter voran durch die Tür, eile die Treppe runter und raus auf die Park Street.

Unsere Redaktionsräume befinden sich in einem roten Backsteingebäude direkt über einem Zeitschriftenladen. Wir arbeiten hier nur zu sechst: zwei Fotofritzen, zwei Reporter – will heißen ich und eine Volontärin namens Ellie –, Ted und Sue. Unser Hauptsitz befindet sich in einem Gewerbegebiet ein paar Meilen außerhalb der Stadt. Wir basteln hier unsere Ausgabe zusammen und leiten alles an die Korrektoren im Hauptquartier weiter. Jack und ich witzeln oft, dass unsere Redaktion das Büro ist, wo der Bodensatz hingeschickt wird: die Angestellten, die sie nicht loswerden, aber auch nicht bei sich in der Hauptredaktion abhängen haben wollen. Ich kapiere nicht, was Jack getan haben soll, um das zu rechtfertigen. Wie könnte jemand ihn nicht mögen? Ich sage ihm immer, dass er nur hier gelandet ist, weil er als Letzter kam. Sobald ein Fotograf das Hauptquartier verlässt (und es ist beeindruckend, wie hoch die Personalfluktuation dort ist, wie schnell sie von Bord springen, um sich zu einer Tageszeitung wie der Bristol Daily News zu retten), wird Jack fort sein, bevor er »Digitalkamera« sagen kann. Dass unser anderer Fotograf, Seth, je woanders hingehen wird, bezweifle ich hingegen stark. Er ist weit übers Rentenalter hinaus.

Ich darf gar nicht daran denken, wie ich ohne Jack zurechtkommen sollte. Mir ist klar, dass es irgendwann passieren wird. Jack tut zwar so, als ob dem nicht so wäre, doch unter seiner locker-flockigen Fassade ist er durchaus ambitioniert. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis er das alles hier hinter sich lässt. Ich hingegen bin glücklicher in unserer kleinen Redaktion, weit weg von neugierig lauernden Augen und Ohren. Außerdem ist Ted ein guter Chef. Trotz seiner grummeligen Art hat er Vertrauen und überlässt es uns, unsere eigenen Entscheidungen zu treffen (außerdem geht er nachmittags meistens heimlich etwas früher, um sich in den Pub um die Ecke zu verdrücken). Ich persönlich will nicht draußen in einem seelenlosen Industriegebiet festsitzen. Ich mag es, dass ich auf die Park Street rausspazieren kann. Ich liebe das Gewusel und die Geschäftigkeit, die Läden, die Cafés, die Straßenmusiker. Es erinnert mich an London. Ganz zu schweigen davon, dass ich von meiner Wohnung zu Fuß zur Arbeit gehen kann.

Mir wurde eine zweite Chance gegeben, und dafür werde ich Ted immer dankbar sein. Er hat mich eingestellt, als es sonst niemand wollte.

Wir haben unseren eigenen Eingang: eine schlichte, in die Backsteinmauer eingelassene blaue Tür. Es gibt kein Schild, keinen Hinweis darauf, dass dahinter eine Zeitungsredaktion am Werk ist. Manchmal verkriecht sich ein Obdachloser unter einer schmutzigen Decke unter dem Vordach. Er heißt Stan. Ich bringe ihm öfter mal einen Kaffee mit, wenn ich einen für Sue hole. Heute ist er nicht da, nur eine leere zusammengeknüllte Foster’s-Bierdose in der Ecke und der schwache Geruch nach Urin. Ich stelle mich in den Türrahmen und zünde eine Kippe an, inhaliere den Rauch tief.

Der Regen hat immer noch nicht aufgehört. Er ist fein und nieselig. Ich mag Regen. Habe ich schon immer gemocht – je schwerer, desto besser. Wie er riecht; das Geräusch, das er macht, wenn er in die Gullys gluckert; das Rauschen, wenn Autoreifen durch die Pfützen pflügen. Noch schöner, wenn er von Blitz und Donner begleitet wird. Die meisten Leute finden es seltsam, doch Heather empfand genauso wie ich. Ich erinnere mich an den Klang, wenn er auf das Aluminiumdach der Scheune im Wohnmobilpark ihrer Eltern trommelte. Wir liebten die Scheune mit dem Dachboden, wo sie das Heu für die Pferde aufbewahrten. Sie hatten so viel Land, hektarweise Grund. Es war die Idee ihres Onkels Leo gewesen, einen Teil der Felder als Stellplatz für Camper herzurichten. Damals stahlen wir uns mit unseren Zeichenblöcken in die Scheune, zogen uns die karierten, von gelben Hundehaaren des alten Familienlabradors Goldie übersäten Wolldecken über die Knie, um Stunden damit zu verbringen, den Teich und den Brunnen in ihrem Garten zu zeichnen oder die Mobilheime auf dem Feld dahinter, den Streifen Meer, der lockend in der Ferne glitzerte. Ihr Haus war unglaublich: fünf Schlafzimmer und ein gemütliches Wohnzimmer, das sie den »Bau« nannten. So viel größer und eindrucksvoller als das beengte Cottage mit den niedrigen Decken, das Mum und ich uns teilten. Auch wenn Heathers Haus keineswegs chic oder vornehm war. Es war eingelebt, mit altmodischen Möbeln, geschliffenen Originalholzdielen und karierten Decken, die über den Lehnen abgewetzter Sofas lagen – ganz anders als das makellose, wenn auch karg möblierte Häuschen mit den zwei Schlafzimmern unterm Dach, das wir bewohnten.

Heather versuchte damals, mir das Reiten beizubringen. Sie legte eine Engelsgeduld an den Tag, während sie mich Runde um Runde auf ihrem Pony Lucky über die Koppel führte und ich mich bemühte, den Dreh rauszubekommen. Sie erzählte mir dann lustige Geschichten von ihren eigenen Missgeschicken, so wie das eine Mal, als sie glaubte, ihr Gehvermögen eingebüßt zu haben, nachdem eines der Pferde sie abgeworfen hatte. »Ich hab ja so ein Drama abgezogen«, gestand sie kichernd. »Lag da mitten auf der Wiese und behauptete steif und fest, gelähmt zu sein. Mein Trainer sagte mir einfach nur, ich solle mit dem Gejammer aufhören und mich wieder aufs Pferd schwingen.« Heathers Liebesmühe zum Trotz fand ich nie Gefallen am Reiten. Ich verbrachte lieber Zeit damit, das Pony zu striegeln und seinen Schweif zu flechten.

Heather unterhielt einen ganzen Tierzirkus in dieser Scheune: eine Ziege, die sie mal gerettet hatte, Hühner, eine zahme Ratte. Sie verbrachte Zeit mit jedem ihrer Schützlinge, pflegte sie mit solcher Liebe und Fürsorge, dass ich lediglich mit einer Mischung aus Bewunderung und Neid zuschauen konnte. Meine Mutter hatte mir nie erlaubt, Haustiere zu haben, da sie eine Bürde seien, doch Heathers Mum, Margot, freute sich für ihre Tochter, all diese Tiere um sich zu haben. Die Powells hatten sogar einen Pfau, der über die Wiese stolzierte und mit seinem prächtigen Federkleid angab. Manchmal, wenn auch schuldbewusst, wünschte ich mir, dass meine Mum mehr wie ihre wäre.

Ich versuche immer noch, mir ebendieses nette, vernünftige Mädchen als erwachsene Frau vorzustellen, die in ein Haus spaziert und zwei Menschen abknallt.

Tilby ist nur fünfzehn Meilen entfernt. Jack und ich werden nicht lange brauchen, um hinzufahren und uns Gewissheit zu verschaffen. Wenn er denn mal auftaucht. Ich habe meinen Wagen vor meiner Wohnung in der Welsh Back geparkt. Von hier aus sind das keine zehn Minuten zu Fuß.

Ich nehme einen weiteren tiefen Zug von der Zigarette und fühle mich sofort ruhiger. Ich habe sonst alles aufgegeben, was nicht gut für mich war: London, die Daily Tribune, die Alkoholexzesse, die gelegentlichen Freizeitdrogen, das ständige Umziehen und Zusammenleben mit diversen Mitbewohnern. Aber das hier kann ich nicht aufgeben. Das eine oder andere Laster brauche auch ich.

Ich stoße den Rauch langsam aus. Eine ältere Dame mit Plastikhaarnetz wirft mir einen missbilligenden Blick zu, als sie vorbeiwatschelt. Unbeirrt qualme ich weiter, bis nur noch der Stummel übrig ist. Warum braucht Jack so ewig?

Tilby Manor Caravan Park. Der Name ploppt ungebeten in meinem Kopf auf. So hatten die Powells den Campingplatz genannt. Ich hatte es ganz vergessen. Ich erinnere mich noch, wie sehr ich es liebte, dort zu sein. Wir verbrachten ganze Tage damit, zu zeichnen oder in einem der leeren Mobilheime »Haus« zu spielen oder Heathers großer Schwester und ihrem Freund hinterherzuspionieren. Es war idyllisch, richtig malerisch. Ich verbrachte mehr Zeit bei ihr zu Hause als bei mir.

Bis unsere Kindheit 1994 auf brutale Weise vorzeitig beendet wurde.

Danach kehrte ich nur noch wenige Male zu ihrem Haus zurück, und unsere Freundschaft, die einst so stark gewesen war, fing an brüchig und schwach zu werden wie eine Strähne meines mittlerweile übermäßig behandelten Haars. Als wir dann unseren Schulabschluss machten, waren wir nur noch Bekannte, die ein Hallo murmelten, wenn sie einander im Korridor über den Weg liefen.

Falls diese Frau, diese Mörderin, jene Heather ist, die ich von der Schule kannte, könnte die Story meine Karriere befördern und mich beruflich wieder ins Spiel bringen – was ich dringend nötig hätte, nach dem, was bei der Tribune passiert ist. Ich weiß so viel über sie und ihre Familie. Zu viel.

Aber ist es wirklich das, was ich will? Und um welchen Preis?

2Jess

Wir flitzen in meinem mintgrünen Nissan Figaro über die Autobahn; Jack wirkt etwas unbehaglich auf dem Beifahrersitz. Er war gezwungen, sich leicht schräg hinzusetzen, damit er seine Beine überhaupt reinbekam, und das, obwohl er den Sitz so weit wie möglich nach hinten geschoben hat. Seine Kameratasche liegt auf seinem Schoß, und er umschließt sie mit den Armen wie einen geliebten Welpen.

Ich kläre ihn kurz über die ganze Geschichte auf, werfe beiläufig ein, dass ich früher mal eine Heather aus Tilby kannte. Er lässt sich nicht täuschen. Dazu kennt er mich zu gut. Ich konzentriere mich voll und ganz auf die Straße, um der Sorge in seinen Augen auszuweichen. »Das muss sie gewesen sein, nicht wahr? Willst du, dass ich auf meinem Handy nachsehe? Ich kann das Wählerverzeichnis abrufen. Nachschauen, wer dort gemeldet ist.«

Ich schüttle nachdrücklich den Kopf. »Sie muss es nicht zwingend sein. Das würde so gar nicht zu ihr passen.« Ich bin nicht sicher, ob ich versuche, ihn zu überzeugen oder mich. »Außerdem bringt es nichts nachzuschauen. Wir sind ohnehin gleich da.« Ich schiebe das Unausweichliche vor mir her.

»Aber du sagtest, du hättest sie seit euren Teenie-Jahren nicht gesehen. Menschen ändern sich. Es könnte doch etwas passiert sein, das sie zu einer Mörderin werden ließ.«

Ich zucke die Achseln, so als könnte es mir nicht weniger egal sein, während ich mich darauf konzentriere, die leise Stimme in meinem Kopf zu ignorieren, die sagt: Erinnerst du dich noch, was sie dir erzählt hat? Es war ein Geheimnis, von dem du versprochen hast, es nie einer Menschenseele zu verraten. Doch wenn du es verraten hättest, wäre es womöglich nie passiert. Ich schüttle mich innerlich. Ich war vierzehn. Das war vor beinahe zwanzig Jahren. Wie kann ich mir sicher sein, dass mein Erinnerungsvermögen mich nicht trügt?

Jack rutscht auf dem Sitz herum. »Ich bin froh, dass ich aus dem Büro rauskomme. Ganz im Ernst, wenn Mrs. Hodge noch einmal anruft und sich über die Fotos aufregt, die ich von Fluffy gemacht habe …«

Ich kichere. »Fluffy? Echt jetzt?«

»Es war nachrichtentechnisch eben ein ruhiger Tag.« Er grinst, dann verlagert er wieder die Position und verzieht das Gesicht. »Ich leide hier echt Qualen. Will’s nur gesagt haben.«

»Wie groß bist du eigentlich?«, frage ich lachend, als ich auf die linke Spur wechsle. Die Abfahrt nach Tilby ist in Sicht.

»Knapp einen Meter sechsundneunzig, und das meiste davon besteht aus Beinen.« Er hebt eine Augenbraue, als wolle er mich herausfordern, ihm zu widersprechen. Nicht dass ich das vorhätte. Es stimmt, er besteht praktisch nur aus Armen und Beinen.

»Verglichen mit mir bist du quasi ein Riese.« Ich bin mindestens dreißig Zentimeter kleiner.

»Ja, nun, meine imposante Größe ist etwas von Nachteil, wenn ich dazu gezwungen bin, in einem Playmobil-Auto mitzufahren«, sagt er mit einem belustigten Funkeln in den Augen.

Ich verpasse ihm einen kräftigen Klaps auf seinen knochigen Schenkel. »Und was, bitte schön, schlägst du vor, soll ich fahren? Einen Firmen-BMW oder -Mercedes? Das nächste Mal darfst du gerne den Bus nehmen.« Doch ich lächle dabei. Jack ist einer meiner Lieblingsmenschen. Irgendwie scheint es, als könne ihn nie was runterziehen. Fünf Jahre jünger als ich, sprüht er vor Energie und Leben, hat immer einen Witz oder dummen Spruch auf Lager. Als er letzten Sommer bei der Zeitung anfing, wurden wir über unsere gemeinsame Schwäche für Kippen und Kraftwerk schon bald dicke. Zu der Zeit hatte ich erst wenige Monate bei der Herald gearbeitet. Mittlerweile ist er einer meiner engsten Freunde in Bristol. Eigentlich ist er mein einziger Freund in Bristol, neben meinem Lebensgefährten Rory natürlich.

Jack verdreht seinen Hals wie eine elegante Giraffe, um besser durch die Windschutzscheibe sehen zu können. »Wo sind wir hier?«, fragt er, als ich am Kreisverkehr rechts abfahre. »Ich dachte, wir fahren an den Strand.« Jack stammt aus Brighton, aber vor neun Monaten ist er mit seinem Lebensgefährten Finn, einem Polizisten, in eine Wohnung in Fishponds gezogen. Ich weiß, dass er das Leben am Meer vermisst.

»Der Wohnmobilpark, wo Heather Underwood aufgefunden wurde, liegt eine halbe Meile landeinwärts«, erkläre ich. »Um an den Strand zu gelangen, muss man im Kreisverkehr links abfahren.« Ich bin seit über einem Jahrzehnt nicht mehr in Tilby gewesen, seit meine Mum wieder heiratete und nach Spanien zog, doch an den Weg erinnere ich mich.

Die Adresse, die Ted mir gegeben hat, ist die Cowship Lane Nummer 36. Früher achtete ich nicht sonderlich auf die Straßennamen; ich war schließlich vierzehn, als ich das letzte Mal bei Heather war. Und überhaupt nahm ich ständig irgendwelche Abkürzungen. Ich musste querfeldein über Wiesen und Felder voller Kuhfladen und hohem Gras stapfen, um von mir zu ihr zu gelangen. Trotzdem weiß ich, dass es der Name ihrer Straße ist, weil ich mich erinnere, wie wir uns darüber lustig machten und sie im Spaß »Cowshit Lane« nannten.

Die Straße wird immer schmaler, und ich kann die vertrauten Wegmarkierungen sehen: die Kirche am Eck, wo Heather und ich gerne die Grabsteine zeichneten; der Horsehoe Pub mit seiner pseudomittelalterlichen Fassade im Tudorstil (einen Sommer verbrachten wir damit, uns davor herumzudrücken und ihrem Onkel Leo und seiner heißen neuen Freundin nachzuspionieren); die Reihe identischer Cottages mit dem Spielplatz gegenüber. Ich zeige auf die Nummer 7. »Da haben ich und meine Mutter gewohnt«, sage ich, und mir wird unerwarteterweise schwer ums Herz. Ich habe Mum viel zu lange nicht mehr gesehen.

»Oh, sind sie nicht herzallerliebst? Die sehen ja aus wie kleine Spielzeughäuser«, sagt Jack und drückt sich die Nase an der Scheibe platt. Jack ist das, was meine Mutter einen »feinen Schnösel« nennen würde. Er selbst ist in einem stattlichen, weitläufigen Haus mit Meerblick aufgewachsen und spricht vornehmstes Englisch – keine Spur von provinziellem Akzent. Er hat eine Privatschule besucht und fährt winters zum Skifahren in die Berghütte seiner Eltern. Seine Mutter ist Rechtsanwältin und sein Vater Teilhaber in irgendeiner großen Firma. Doch auf Jack hat das nicht abgefärbt. Sein Kommentar über das Häuschen, in dem ich aufgewachsen bin, ist kein bisschen arrogant oder herablassend gemeint. Er sagt die Dinge einfach nur so, wie er sie sieht. »Sie haben unheimlich viel Charakter, oder?«

»Ja. Aber du bei deiner Größe müsstest permanent gebückt rumlaufen, wenn du in einem davon leben würdest«, merke ich an.

Als wir die Hauptstraße entlangfahren, drossle ich das Tempo. Mittlerweile gibt es da einen Costa Coffee und die Filiale einer großen Buchhandelskette. Die Bäckerei der Greggs hingegen ist immer noch da – Heather und ich legten früher unser Taschengeld zusammen, um uns auf dem Heimweg von der Schule eins von ihren leckeren Würstchen im Schlafrock zu holen. Der Außenbereich des Ladens wurde mit einer Markise und ein paar regengesprenkelten Bistrotischen aufgepeppt; einen der Stühle hat sicher der Wind umgeworfen. Der Gateway-Supermarkt ist durch einen Co-op ersetzt worden. Und dann kommen wir am Uhrenturm vorbei. Er ist kleiner, als ich ihn in Erinnerung hatte, und befindet sich auf einer dreieckigen Grünfläche zwischen einer Straßengabelung. Es ist der Ort, an dem ich mit den meisten anderen Jugendlichen von Tilby abhing, wenn wir keinen Bock hatten, die zehn Minuten zum Strand zu laufen. Doch das war nach Heather – als ich versuchte, den tiefen Riss zu füllen, den sie in meinem Herzen hinterlassen hatte, indem ich mein Hauptinteresse auf Cider und Jungs verlegte. »Scheiße!«, entfährt es mir, als ich von einem Lastwagen angehupt werde und rasch die Spur wechseln muss. »Das ist ja mittlerweile alles Einbahnstraße …« Ich biege scharf links auf eine schmale Schotterpiste ab. »Das ist die Cowship Lane. Halt Ausschau nach Nummer sechsunddreißig.«

Die meisten Häuser sind frei stehend und von Land umgeben. Bei einigen handelt es sich um Bungalows, bei anderen um umgebaute Ställe und Scheunen. Dann, gegen Ende des Weges, auf einem riesigen Eckgrundstück mit dem fernen Meer im Hintergrund, erblicke ich es, und unwillkürlich krampft sich mein Magen zusammen.

Es ist das Haus aus meinen Erinnerungen.

Heute hängt ein riesiges Schild am Einfahrtstor, auf dem Tilby Manor Caravan Park prangt. Ich bin mir sicher, dass sie es damals noch nicht hatten.

Obwohl ich tief in meinem Inneren gewusst habe, dass es meine Heather war, verspüre ich dennoch eine niederschmetternde Traurigkeit, als ich in die gewundene gekieste Zufahrt mit dem vertrauten Steinhaus vor mir biege. Alles kommt wie in einer Flutwelle zu mir zurück: die langen Sommerabende … der Duft des Heus, der in meiner Nase kitzelte und mich zum Niesen brachte … das Glitzern des Teichs … die Staubkörnchen, die im verblassenden Sonnenlicht des Stalls herumschwebten … Ich weiß, dass man vom Elternschlafzimmer auf der Rückseite des Hauses das Meer sehen kann; das Zimmer ihrer Schwester hatte Blick auf den Rasen vor dem Haus und Heathers auf das Campinggelände in einiger Entfernung. Für eine kurze Zeit in meinem Leben war dies hier wie ein zweites Zuhause gewesen.

Ich schlucke den Kloß in meinem Hals runter und parke neben einem zerbeulten Landrover. Hinter dem Haus, auch wenn man es von hier nicht sieht, liegt der Wohnmobilpark – ein etwa zwei Morgen großes Feld, das früher etwa acht feste Caravans beherbergte und außerdem Platz für zehn mobile Wohnwagen bot. Rechts vom Wohnhaus befindet sich die Scheune, in der wir damals abhingen. Jetzt ist es von der Polizei mit Absperrband abgesteckt worden, das sich an einer Stelle gelöst hat und im Wind flattert. Ist es dort geschehen? Ist das der Ort, an dem Heather versucht hat, sich zu erschießen? Ich bin vor Entsetzen wie gelähmt.

Es ist nichts Neues, sage ich mir. Ich habe das alles schon gesehen: eine Familie, die in Leichensäcken hinausgetragen wird, nachdem der Vater sie alle und dann sich selbst erschossen hat, weil er verschuldet war; der blutbefleckte Asphalt nach einem Terrorangriff vor Madame Tussaud’s; ein im Wald errichtetes Zelt, nachdem eine vermisste Jugendliche tot aufgefunden wurde. Bei jeder Geschichte musste ich meiner seelischen Gesundheit zuliebe Distanz wahren. Aber das hier. Das ist anders. Hier geht es um Heather.

Ich schalte den Motor aus und blicke starr geradeaus, meine Hände umklammern das Lenkrad. Die Eingangstür befindet sich seitlich am Haus. Doch von hier kann ich das Erkerfenster des Wohnzimmers sehen. Ich erinnere mich an den Raum. Heather und ich kuschelten uns im Winter unter Decken dort ein, während der Geruch der brennenden Holzscheite und die Asche uns in der Nase juckten. Ich hole tief Luft. Ich kann beinahe den Geruch heraufbeschwören, das Gefühl wohliger Behaglichkeit. Da steht eine Frau am Fenster, teilweise verdeckt von den zarten Gardinen. Ihr Gesicht liegt im Schatten, doch am Sitz ihres Haars mit dem vertrauten Knoten im Nacken sowie der Form ihres langen, eleganten Halses und der kantigen Nase weiß ich, dass es Heathers Mum ist, Margot.

»Also?«, fragt Jack und dreht sich zu mir. Als ich nichts erwidere, fügt er sanft hinzu. »Die Todesschützin. Es ist deine einstige Freundin, stimmt’s?«

Ich nicke und blinzle die Tränen weg, bevor er sie bemerken kann. Er würde mich gnadenlos damit aufziehen. Tränen passen nicht zu meinem Image als abgebrühte Journalistin. Jack sagt oft, ich wäre hart wie Stahl. Ich glaube, er bewundert das.

»Scheiße«, presst er leise hervor, aber ich bemerke ein Blitzen in seinen Augen. Natürlich findet er das hier aufregend – fände ich ja auch, wenn ich an seiner Stelle wäre. Wenn es jemand anders wäre. Irgendwer. Aber doch nicht sie. Nicht Heather. Jack hofft, dass genau das unsere Eintrittskarte wird, und ich hatte denselben Gedanken. Doch es könnte sich auch als Hemmnis erweisen. Womöglich bin ich der letzte Mensch, den Margot sehen will. Ich könnte es ihr nicht verübeln. Ich erinnere mich noch gut an ihre letzten Worte vor all den Jahren am Telefon, ihren ätzenden, anklagenden Tonfall, die einst freundliche Stimme spröde und gepresst. Ich umklammere das Lenkrad fester, unfähig, mich zu rühren, unsicher, welche Reaktion ich zu erwarten habe.

Jack öffnet die Beifahrertür, und bevor er aussteigt, dreht er sich zu mir um. »Na dann, komm. Worauf wartest du?« Er mustert mich, sein Blick wird weicher. »Jetzt sag mir nicht, dass du nervös wirst? Dass du wirklich ein menschliches Lebewesen bist, Jessica Fox.« Ich weiß, dass er mich nur aufzieht, aber er ist der Wahrheit näher, als er ahnt. Normalerweise, wenn ich einer Aufgabe wie dieser gegenüberstehe – Angehörige von Todesopfern befragen, Promis oder in Ungnade gefallenen Politikern nachstellen –, verstecke ich mich hinter meiner journalistischen Fassade. Doch Margot kannte mich, bevor ich Journalistin wurde. Sie kennt mein wahres Ich. Es wird sein, als stünde ich nackt vor ihr. Ich werde nichts haben, wohinter ich mich verstecken könnte.

Ich nehme einen tiefen Atemzug und folge Jack. Er hat seine Kameratasche quer über die Brust gehängt, doch er sieht immer noch verdächtig nach Paparazzo aus. »Vielleicht solltest du kurz hier warten. Ich will Margot nicht verschrecken.« Ich habe sie als geradlinige, robuste Frau kennengelernt, freundlich und fürsorglich, so wie Heather, doch auf den ersten Blick könnte man sie für brüsk und sehr nüchtern halten. Ein wenig einschüchternd gar.

Jack hebt gutmütig die Schultern. »Klar, wie du meinst. Ich werde im Wagen warten.«

Ich reiche ihm die Schlüssel und schenke ihm ein dankbares Lächeln in der Hoffnung, dass Margot uns noch nicht erblickt hat.

Langsam gehe ich um das Haus herum zur Eingangstür. Es hat sich nicht viel geändert – selbst die Tür ist noch im selben Olivgrün gestrichen –, ich kann den Brunnen in einiger Entfernung sehen, die Hecken, welche die Felder und den Wohnmobilpark dahinter verbergen. Und in diesem Augenblick stelle ich mir vor, dass ich wieder vierzehn bin, nach Heather rufe. Beinahe erwarte ich, das leise Bellen von Goldie zu hören, und verspüre ein Ziehen in meinem Herzen. Sei nicht so weich, ermahne ich mich. Das ist eine Ewigkeit her.

Ich klopfe an die Tür und warte; mein Herz wummert, obwohl ich mich innerlich dafür schelte, so eine Memme zu sein. Ich brauche jetzt eine Kippe, aber ich weiß, dass das unprofessionell wäre. Oh, jetzt komm schon, Margot. Öffne die Tür. Ich weiß, dass du da bist.

Und endlich, nach einer gefühlten Ewigkeit, geht die Tür auf, und da steht sie – in einer regenfesten Wachsjacke und cremefarbenen Reithose, mit wütender Miene, die Arme vor der Brust verschränkt. Ihr einst kohlrabenschwarzes Haar ist von weißen Strähnen durchzogen, ihre Augen sind von Falten umkränzt, die Haut an ihrem Hals schlaff. Sie muss erst Ende fünfzig sein, sieht jedoch älter aus, wettergegerbter, obgleich sie immer noch eine bemerkenswerte Erscheinung ist. Groß und schlank, mit einem markanten roten Lippenstift, der um die Ränder eine Nuance dunkler ist. Ihre grünen Augen mustern mich, aber ich kann ihr ansehen, dass sie mich nicht erkennt. »Ich möchte nicht mit Ihnen reden«, fährt sie mich an. »Lassen Sie uns in Ruhe. Ich habe es bereits der anderen gesagt, und Ihnen sage ich dasselbe: Wenn Sie noch einmal herkommen, rufe ich die Polizei.«

Ich hebe meinen Blick und sehe ihr in die Augen. »Margot«, sage ich leise. »Ich bin’s. Jessica Fox. Heathers Freundin von früher.«

Und da, mit einem blitzartigen Ausdruck des Erkennens, erbleicht sie. In diesem Moment kann ich sehen, dass sie mit sich ringt, ob sie mir die Tür vor der Nase zuschlagen soll oder nicht.

3Margot

Das Knirschen von Reifen auf dem Kies veranlasst Margot, zum Fenster zu gehen. Erst macht ihr Herz einen kleinen Satz, da sie denkt, dass es Adam und Ethan sind, die heimkommen. Aber nein. Statt ihrer schwarzen Familienlimousine steht da ein kleiner Wagen, der aussieht wie der Nachbau eines der Spielzeugautos ihres Enkels. Sie sieht zwei Personen aussteigen. Eine zierliche junge Blondine und einen schlaksigen Burschen mit einer Kameratasche um. Sie scheinen eine kurze Diskussion zu führen, dann steigt der Bursche wieder in den Wagen.

Margot verspürt innerlich einen dieser Zornausbrüche, die häufiger geworden sind, seit es passiert ist. Verdammtes Journalistenpack. Sie hat die Schnauze gestrichen voll. Sie hat bereits einen Haufen von ihnen zum Teufel gejagt. Sie kann sie nicht ausstehen. Sie sind wie Krähen, wie sie sich auf die Überreste anderer Leute Elend stürzen. Was für eine Sorte Mensch würde einen Job wie diesen wählen? Gott sei Dank sind Adam und Ethan noch nicht zu Hause. Das hier können sie im Moment nicht gebrauchen – nicht, wenn sie sich gerade mit der Möglichkeit auseinandersetzen müssen, die Ehefrau und Mutter zu verlieren. Sie weist sich selbst zurecht. Nein. Sie darf nicht negativ denken. Heather wird nicht sterben. Sie wird wieder gesund werden. Margot hat bereits eine Tochter verloren, und sie wird sicher nicht noch eine weitere verlieren. So grausam kann Gott nicht sein.

Falls es eine Reporterin ist, wird sie ihr schon gründlich den Marsch blasen.

Ihre Wut treibt sie aus dem Zimmer und den Flur entlang. Sie reißt die Haustür auf. Die hier ist jünger als die Letzte und schwimmt förmlich in einem Mantel, der aussieht, als wäre er von einem Lama abgezogen worden.

O ja, Margot genießt den Anschiss, den sie ihr verpasst. Es fühlt sich gut an, etwas von ihrem Zorn abzulassen. Doch dann blickt die junge Frau zu ihr auf, ihre großen Rehaugen werden ganz sanft, und sie sagt: »Margot. Ich bin’s. Jessica Fox. Heathers Freundin von früher.« Und Margots Herz sackt in sich zusammen. Jessica. Die Jessica. Sie erinnert sich noch, wie ihre Tochter nach Jessicas Verrat schluchzend in ihrem Bett lag. Margot hielt Heather damals in den Armen, während ihre Tochter versuchte, das alles zu verstehen. Ganz besonders nach all dem, was sie durchgemacht hatte, nach der Trauer um ihren Vater und dem Verlust von Flora. Es war kaltherzig und gefühllos von ihr gewesen. Margot hat ihr das nie verziehen.

»Dann bist du jetzt also Journalistin?«, fragt sie stattdessen und verschränkt die Arme so vor ihrer Brust, dass ihre Missbilligung hoffentlich deutlich wird. Es ist nicht weiter überraschend, denkt sie, als sie die Frau taxiert, die vor ihr steht. Jessica war vierzehn, als sie sie das letzte Mal sah; sie saß mit ihrer neuen Clique am Uhrenturm herum, trank Alkohol und führte sich auch sonst wie ein kleines Flittchen auf, ständig am Hals irgendeines Jungen hängend. Margot war damals so wütend, dass sie Jessica zu Hause anrief und für ihr Verhalten Heather gegenüber zur Rede stellte. Rückblickend ist sie nicht stolz darauf. Jessica war damals schließlich nur ein Kind.

Jessica zögert. »Ja, bin ich … aber das ist nicht der einzige Grund, warum ich hier bin.«

Margot verdreht die Augen. Natürlich ist es das! Warum sonst sollte sie herkommen?

Jessica entgeht es offensichtlich nicht, denn sie schiebt rasch hinterher: »Ich wollte auch sagen, wie leid es mir tut. Wegen der …« Sie schluckt, und für einen kurzen Moment meint Margot zu sehen, wie ein Tränenfilm Jessicas Augen überzieht. Aber nein, sie muss sich irren, denn Jessica Fox hat kein Herz. »… wegen der Art und Weise, wie ich Heather damals behandelt habe.«

»Dafür, dass du sie im Stich gelassen hast«, stellt Margot klar. Lasst uns die Sache wenigstens beim Namen nennen. »Und das, nachdem sie ihren Vater verloren hatte. Und ihre Schwester.«

Jessica nickt, wobei ihr der unordentliche Pony in die Stirn fällt. Die Geste verleiht ihr etwas Verletzliches, und unerwarteterweise fühlt Margot sich an Heather erinnert. »Ja«, sagt Jessica mit leiser Stimme. »Ich habe sie schlimm behandelt, das weiß ich. Ich war noch ein Kind, und ich war dumm und egoistisch. Ich dachte damals nicht an Heathers Gefühle. Ich dachte nur …«

Jessica muss ihren Satz nicht beenden. Margot weiß ganz genau, was sie vor all den Jahren gedacht haben muss. Sie wollte von Heather und all ihrem Unglück fortkommen. Vielleicht glaubte sie ja, es sei ansteckend.

»Warum jetzt?«, will Margot wissen. »Weil Heather im Krankenhaus liegt und beschuldigt wird, zwei Menschen umgebracht zu haben? Es ist schon eine verdammt heiße Story, das muss ich dir lassen.«

Jessica tritt sichtlich verlegen von einem Bein auf das andere. »Ich war fortgezogen. Ich wohne erst seit knapp einem Jahr wieder in der Gegend.«

»Und du kamst nicht auf die Idee, früher vorbeizuschauen? Dir war nicht danach, dich etwas eher zu entschuldigen?«

Jessica öffnet den Mund, doch es kommen keine Worte raus. Was soll sie auch schon sagen?, denkt Margot. Wo ist ihre Verteidigung? Dann, schließlich, erwidert sie: »Das ist Jahre her, Margot.«

Auf einmal hat Margot genug von diesem Gespräch. Sie will nicht in Jessicas große braune Augen schauen, will nichts empfinden für das Mädchen, das vor ihr steht.

Sie richtet sich zu ihrer vollen Größe auf und kann förmlich spüren, wie sich ihr Herz verhärtet. »Ich habe dir nichts mehr zu sagen.« Bevor Jessica noch ein Wort vorbringen kann, schließt Margot die Tür entschlossen vor ihrer Nase. Dann lehnt sie sich mit hämmerndem Herzen dagegen. Sie legt sich die Hand auf die Brust und atmet tief durch.

»Margot.« Sie hört Jessicas Stimme durch die Tür. »Die Presse wird nicht eher ruhen, bis du deine Seite der Geschichte zum Besten gibst. Würdest du da nicht lieber mit mir reden? Mit jemandem, den du kennst? Wenn du mir ein Exklusivinterview gibst, werden sie von dir ablassen. Margot? Margot, bitte, denk einfach darüber nach.« Sie hört den Briefkastendeckel hinter sich klappern, als Jessica etwas hindurchschiebt. Margot zählt bis zehn, bevor sie sich umdreht und es aufhebt. Es ist eine Visitenkarte. Margot reißt sie entzwei und schmeißt sie in den Papierkorb.

Aus der Sicherheit ihres Wohnzimmers schaut Margot zum Fenster hinaus und wartet, bis Jessica fortgefahren ist; dann erst geht sie nach oben und entledigt sich ihrer Reitkluft. Als sie wieder unten ist, schließt sie das Haus ab und rennt beinahe schon zum Land Rover, als würden die Reporter sich hinter den Büschen und Hecken ringsum versteckt halten, bereit, sich mit ihren Mikrofonen und Kameras auf sie zu stürzen. Doch außer ihr ist niemand da. Im Moment ist nur eines ihrer Mobilheime belegt, von ihrem Langzeitmieter Colin. Er tauchte vor fünf Monaten auf, an dem Wochenende, als die Uhren zurückgestellt wurden, und ist seitdem nicht wieder gegangen. Nicht dass sie sich beschweren würde. Er spricht nicht viel, aber er bezahlt rechtzeitig, und das ist zumindest ein Verdienst, wenn auch nur ein kleiner. Sie vermutet, dass er einsam ist. Ausnahmsweise ist sie dankbar, dass keine Saison herrscht. Normalerweise kümmert sich Adam um den Campingplatz, doch verständlicherweise wäre er der Aufgabe momentan nicht gewachsen. Der arme Mann ist außer sich vor Sorge. Genau wie sie. Denn alles, woran sie denken kann, ist, was auf Heather zukommt, wenn sie endlich aufwacht. Sie weigert sich zu denken, falls sie aufwacht. Sie weiß, dass Heather aus hartem Holz geschnitzt ist.

Zu dieser Tageszeit braucht Margot knapp über eine halbe Stunde, um zu dem Krankenhaus nach Bristol zu fahren. Sie versucht, die Rushhour möglichst zu meiden, und die Intensivstation ist von zehn bis zwanzig Uhr durchgehend geöffnet. Sie parkt, dann geht sie die zehn Minuten vom Parkhaus zum Krankenhausempfang zu Fuß. Es ist erst vier Tage her, dass Heather eingeliefert wurde, doch Margot hat bereits das Gefühl, sich zu sehr an die Eingangshalle gewöhnt zu haben, die sie an einen Flughafen erinnert mit seinen vielen Lädchen und Cafés und diesem seltsamen Geruch … eine Mischung aus Chemikalien, Kaffee und Gemüsesuppe.

Als sie am Freitag das erste Mal hier eintraf – nicht lange nachdem Adam sich bei ihr gemeldet hatte, um ihr von dem lebensverändernden Telefonanruf zu berichten, den er von der Polizei bekommen hatte –, fragte Margot sich, ob sie sich je zurechtfinden würde in diesem Labyrinth aus Fluren und Gängen. Andererseits war sie vor Schock und Furcht wie betäubt gewesen. Alles in ihrem Kopf schrie, dass es nicht wahr sein konnte, dass ihre Tochter zu einem solch entsetzlichen Verbrechen nicht fähig sei. Warum? Warum sollte sie so etwas tun? Es ergab keinen Sinn, nicht, wo sie doch alles hatte, wofür es sich zu leben lohnte. Ein hübsches Zuhause, einen Ehemann, der sie unterstützte, und einen wunderbaren kleinen Sohn. Nein, da musste ein Irrtum vorliegen. Sie hatte mit Adam ausgemacht, sich im Foyer zu treffen, und die beiden wankten Richtung Heathers Zimmer wie die Überlebenden einer Katastrophe. Und dann sah sie, dass kein Irrtum vorlag. Die Frau, die da verloren im Bett lag, an so viele Geräte angeschlossen, dass sie sich fragte, wie überhaupt jemand in ihre Nähe kommen könnte, war wirklich ihre Tochter.

Es war Sheila, ihre gute Freundin und Pferdepflegerin, die Heather im Stall auffand. Sie war um Viertel nach acht vorbeigekommen, um die Pferde zu füttern und zu striegeln. Zu diesem Zeitpunkt hatte Heather schon mindestens eine Stunde bewusstlos dort gelegen. Es war ein Wunder, dass sie nicht an Ort und Stelle gestorben war. Margot war verreist, auf einem Yoga-Retreat mit ihrer Freundin Pam – etwas, was sie noch nie zuvor getan hatte –, und hätte erst später an jenem Tag zurückkommen sollen.

Adam weinte, als sie sich an jenem Tag im Krankenhaus trafen, und sie war wie gebannt von den Tränen, die in seinem dichten braunen Bart versickerten. Sie hatte Adam schon zuvor weinen sehen – als er Heather heiratete und als Ethan zur Welt kam –, doch das waren Tränen des Glücks gewesen. Nicht das hier. Er erzählte ihr, dass er nicht zu Hause gewesen war, als Heather auf sich geschossen hatte, weil er Ethan zur Kita gebracht hatte und danach einen Freund besuchen war. Margot fand das merkwürdig. Adam und Heather brachten Ethan nie vor acht Uhr in die Kita. Sie merkte ihm an, dass er etwas verheimlichte, wollte jedoch nicht weiter nachbohren. Es war nicht der richtige Zeitpunkt. Sie war sich durchaus bewusst, dass es bei den beiden schon eine Weile nicht besonders toll lief, wollte sich jedoch nicht einmischen, indem sie zu viele Fragen stellte. Immerhin wusste sie selbst, wie es zuweilen in einer Ehe laufen konnte. Sie hatte mit Keith, Gott hab ihn selig, genug Probleme gehabt.

Als sie sich Heathers Zimmertür nähert, verlangsamt Margot ihre Schritte. Wie immer verkrampft sich ihr Magen, sobald sie den Wachposten der Polizei davor stehen sieht. Heute ist es jemand Neues. Eine Frau diesmal. Unangebrachterweise schießt ihr der Gedanke durch den Kopf, wie maskulin die Beamtin in dieser wenig schmeichelhaften dunkelblauen Stoffhose und den schwarzen Arbeitsschuhen ausschaut. Die Polizistin blickt zu Margot auf und lächelt. Ein kurzes, professionelles Lächeln. Sie ist jung, jünger noch als Heather, mit blassem Teint und rotbraunem Haar, das im Nacken zu einem Pferdeschwanz gebunden ist. Sie erhebt sich, um Margot vorbeizulassen. Margot muss den Drang unterdrücken, die Polizistin zurechtzuweisen. Warum sind Sie hier?, will sie schreien. Wie bitte soll Heather ein Risiko darstellen, wenn sie doch verdammt noch mal bewusstlos ist? Aber sie tut es nicht, natürlich nicht, denn diese Frau ist eine Beamtin, und Margot wurde von ihrem strengen Vater, einem Stadtrat, dazu erzogen, Autoritäten zu respektieren. Stattdessen zerrt sie den Riemen ihrer Handtasche zurecht und schiebt sich durch die Tür ins Zimmer.

Es ist, wie immer, die Stille, die ihr zuerst entgegenschlägt. Das einzige Geräusch kommt vom Piepen der Monitore. Heathers langes dunkles Haar wurde gebürstet, und abgesehen von ihrem bleichen Gesicht, das sein sonst so gesundes Strahlen eingebüßt hat, weist nichts darauf hin, dass sie um ihr Leben kämpft. Sie wirkt friedlich, als würde sie schlafen. Es gibt keine offensichtlichen Anzeichen von Wunden oder Verletzungen, keine sichtbaren Blutergüsse oder Verbände. Dennoch weiß Margot, dass unter dem obligatorischen Krankenhemd Heathers Brust und Schulter fest bandagiert sind, dass es da einen rasierten Fleck auf ihrem Hinterkopf gibt mit einer zwölf Zentimeter langen Wunde, die nun säuberlich vernäht und mit Gaze bedeckt ist.

Margot lässt ihre Tasche auf den Boden fallen, setzt sich neben ihre Tochter und nimmt ihre Hand. Die linke. Diejenige, die sie benutzt hat, um zwei unschuldige Menschen zu töten. Diejenige, die sie benutzt hat, um die Flinte auf ihre eigene Brust zu richten. Das Geschoss ist durch ihre rechte Brust gedrungen und hat glücklicherweise knapp ihr Herz und die Arterien verfehlt, doch bei dem darauf folgenden Sturz schlug sie sich den Kopf auf. Ironischerweise war es die Kopfverletzung, nicht der Schuss, wegen der ihre Tochter ins Koma fiel. Diese Information – mitgeteilt von einem ernst dreinblickenden Facharzt bei Heathers Einlieferung – gibt Margot Hoffnung. Es bedeutet, dass Heathers Selbstmordversuch nicht ernst gemeint war. Sie hätte sich in den Kopf schießen können, hätte sie wirklich sterben wollen, oder unter ihr Kinn. Das Mädchen hatte schließlich von Kindesbeinen an mit Gewehren zu tun gehabt. Bevor sie herzogen, hatten sie einen Bauernhof in Kent besessen. Heather weiß, wie man Schusswaffen richtig bedient, sagt sie sich. Und sie weiß, was zu tun ist, um zu töten.

Die Schrotflinte selbst gehörte Margot; sie wurde meist zum Tontaubenschießen verwendet und in einem Schuppen in einem Spezialschrank unter Verschluss gehalten, obwohl Adam sie sich hin und wieder lieh, um jagen zu gehen. Sie sind beide Mitglieder eines Schützenvereins etwa zwei Meilen entfernt, obwohl Heather nie wirklich Interesse daran gehabt hat. Die Lizenz hätte erneuert werden müssen. Vielleicht hätte sie die Flinte loswerden sollen. Schusswaffen, so schien es, brachten ihrer Familie nichts als Unglück.

Vier Tage. Es sind jetzt vier Tage, dass ihre geliebte Heather sich in diesem Zustand befindet. Die Ärzte haben sie gewarnt: Je länger sie im Koma verweilt, desto unwahrscheinlicher ist eine vollständige Genesung. Sie führt Heathers Hand an ihre Wange – die Haut ihrer Tochter ist immer noch so zart, so weich. O bitte, wach auf, bitte … bitte, fleht sie stumm.

Margots Blick fällt auf die Alles-über-mich-Tafel an der Wand. Das Krankenhaus verteilt sie an alle Intensivpatienten, damit ihre Familien etwas haben, wo sie Fotos oder andere potenziell nützliche Informationen aufhängen können. Adam hat Heathers Lieblingsradiosender aufgeschrieben – Absolute 90s – und ein paar Fotos drangeheftet. Es zerreißt Margot jedes Mal das Herz, wenn sie die Bilder anschaut. Da ist eines von Heather mit breitem Lächeln im Gesicht, auf dem sie kurz nach der Entbindung den neugeborenen Ethan in den Armen hält. Dann ein anderes von Adams und Heathers Hochzeit vor zehn Jahren. Heather sieht so schön, so jung und unschuldig aus in dem schlichten, jedoch eleganten Brautkleid. Das Haar hochgesteckt, das Gesicht von geringelten Strähnchen umrahmt. Adam – groß, dunkel, grüblerisch – steht neben ihr in einem Anzug, der einen Tacken zu klein aussieht. Sie haben jung geheiratet. Zu jung, dachte Margot damals, aber sie waren so verliebt – sie strahlten förmlich vor Liebe. Dann, nach Jahren des vergeblichen Versuchens, kam Ethan, ihr innig geliebtes Wunschbaby, zur Welt. Heather litt – leidet … sie ist immer noch am Leben, sie ist immer noch da – an polyzystischen Ovarien, was eine Befruchtung erschwert. Und nach Ethans Geburt verlief das Leben auch nicht perfekt. In den Wochen, die auf die traumatische Geburt folgten, verfiel Heather in eine postpartale Depression und hatte Schwierigkeiten zurechtzukommen. Doch allmählich wurde es besser. Zumindest hatte sie das geglaubt.

Was hast du dir dabei gedacht, mein Schatz?, fragt sie sich zum zigsten Mal, die Hand ihrer Tochter immer noch in ihrer. Warum hast du diese zwei Menschen umgebracht?

Ich kann Stimmen hören. Sind sie echt oder in meiner Einbildung? Ich kann sie nicht ganz fassen. Jedes Mal, wenn ich denke, ich habe ein Wort oder einen Satz verstanden, verschwinden sie wieder, sodass ich sie nicht zu greifen bekomme, wie Seifenblasen, die direkt vor mir zerplatzen. Ich kann mich an das Gewicht der Flinte erinnern, ihren Knall, als der Schuss sich löste. Die Medikamente sind zu stark. Sie ziehen mich immer wieder nach unten, halten mich davon ab, mich zu erinnern, bewahren mich vor dem Schmerz. Und ich will mich nicht erinnern. Denn ich glaube, ich habe jemanden getötet.

5 Jess

Es ist spät und bereits dunkel, als ich Feierabend mache.

Nachdem ich heute Nachmittag von Margot zurückgekommen war, parkte ich den Nissan in der Tiefgarage unter meiner Wohnung und kehrte in die Redaktion zurück, während Jack mir den ganzen Weg über das Ohr abnagte, wie wir das Anwesen der Powells observieren könnten und dass Ted sicher enttäuscht von uns sein würde. Mich auf die Lauer legen ist etwas, was ich in der Vergangenheit getan hätte. Unter diesen Umständen fühlt es sich jedoch einfach nicht richtig an. Nun, da ich weiß, dass es sich bei der Mörderin um meine Heather handelt, frage ich mich, ob ich nicht zu nah dran an der Sache bin, um der Story gerecht zu werden. Sofort verscheuche ich den Gedanken. Es könnte mir genauso gut zum Vorteil gereichen. Ich kann diese Gelegenheit nicht verstreichen lassen. Nach allem, was bei der Tribune vorgefallen ist, brauche ich diese Story.

Es regnet immer noch, als ich die Innenstadt durchquere und Richtung Fluss laufe, wobei der Wind an meinem Schirm zerrt. Die Straßenlichter spiegeln sich in den Pfützen. Ein paar Stammgäste strömen in den Llandoger Trow Pub, als ich daran vorbeikomme, doch sobald ich rechts am Flussufer abbiege, wird es ruhiger und dunkler; die Leute werden weniger, da sie den Weg zum Pub oder Restaurant an einem Montagabend bei diesem Wetter nicht auf sich nehmen wollen. Schon bald bin ich allein.

Zu dieser Jahreszeit ist es trister hier. Die Bäume sind noch immer kahl, von Wind und Regen gepeitscht, und das eine Boot, das im späten Frühjahr und Sommer als Café fungiert, liegt nun deprimierend leer da. Doch allein in der Dunkelheit spazieren zu gehen, hat mich noch nie gestört, und an der Welsh Back wird sie noch dichter. Das Ufer wird schon bald von den Gebäuden verdeckt, die links und rechts von mir aufragen; es mangelt hier an Straßenlaternen, und die Pflastersteine sind glitschig vom Regen.

Und da höre ich es.

Jemand ruft meinen Namen.

Jess-i-ca.

Ich drehe mich um, doch da ist niemand. Ich muss es mir eingebildet haben. Es war der Wind, der zwischen den Gebäuden hindurchjagt, nichts weiter.

Ich beschleunige meine Schritte, meine Hand um den Griff des Regenschirms schließt sich fester. Es ist nicht mehr weit bis zu meiner Wohnung. Die anderen Gebäude hier – größtenteils Büros mit vereinzelt eingestreuten Wohnblöcken dazwischen – wirken vollkommen verlassen. Es gibt nicht mal Autos, die sich die Straße hinunterverirren. Es ist erst neunzehn Uhr. Eigentlich nicht mal spät.

Jess-i-ca.

Als ich es erneut höre, bleibe ich stehen, wirble herum – Angst mischt sich mit Wut –, doch weit und breit keine Menschenseele zu sehen. Ich weigere mich loszurennen, zu zeigen, dass ich verängstigt bin. Ich bin müde, es war ein langer Tag. Das ist alles, nichts weiter. Dennoch senke ich den Regenschirm und schließe ihn; es ist mir egal, dass mein Haar durchnässt wird. Im Zweifelsfall kann ich ihn als Waffe benutzen. Ich laufe so schnell ich kann weiter, ohne wirklich zu rennen.