Liebste Tochter – Du lügst so gut wie ich - Claire Douglas - E-Book
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Liebste Tochter – Du lügst so gut wie ich E-Book

Claire Douglas

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Beschreibung

Eine Familie voller Lügner. Doch nur einer ist ein Mörder.

Schon lange ist Saffys Verhältnis zu ihrer Mutter Lorna mehr als schwierig. Doch ein grausiger Fund führt die beiden Frauen wieder zusammen: Auf dem alten Anwesen der Familie, im Garten des Hauses, werden bei Renovierungsarbeiten die Leichen zweier Menschen entdeckt. Alle Hinweise deuten auf einen vor Jahren begangenen Doppelmord hin. Der Fund sorgt in der idyllischen Kleinstadt mitten in England für Aufsehen. Während die Journalisten das Haus belagern, bleibt Saffy nichts anderes übrig, als die Recherchen selbst in die Hand zu nehmen. Was ist vor all den Jahren wirklich geschehen? Ist sie bereit, das dunkelste Geheimnis ihrer Familie ans Licht zu bringen?

»Gänsehaut garantiert.« Sunday Times

Nach den sensationellen Erfolgen »Beste Freundin« und »Schönes Mädchen« garantiert Bestsellerautorin Claire Douglas wieder einen fulminanten Pageturner.

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Seitenzahl: 562

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Claire Douglas arbeitete 15 Jahre lang als Journalistin, bevor sich ihr Kindheitstraum, Schriftstellerin zu werden, erfüllte. Ihre packenden Thriller Missing, Still Alive, Vergessen, Beste Freundin und Schönes Mädchen waren in England und Deutschland ein riesiger Erfolg und machten sie zur gefeierten Bestsellerautorin. Mit Liebste Tochter erscheint jetzt bereits ihr sechster Thriller bei Penguin. Claire Douglas lebt mit ihrem Ehemann und ihren beiden Kindern in Bath, England.

Außerdem von Claire Douglas lieferbar:

Missing. Niemand sagt die ganze Wahrheit. Thriller.

Still Alive. Sie weiß, wo sie dich findet. Thriller.

Vergessen. Nur du kennst das Geheimnis. Thriller.

Beste Freundin. Niemand lügt so gut wie du. Thriller.

Schönes Mädchen. Alle Lügen führen zu dir. Thriller.

Claire Douglas

Liebste Tochter

Du lügst so gut wie ich

Thriller

Aus dem Englischen von Ivana Marinović

Die Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel The Couple at No. 9 bei Penguin.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright © 2021 der Originalausgabe by Claire Douglas

Copyright © 2023 der deutschsprachigen Ausgabe by Penguin Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Christine Neumann

Umschlaggestaltung: Favoritbüro

Covermotiv: ©Trevillion Images/Shelley Richmond, Stephen Mulcahey; ©Shutterstock/Evannovostro, Andrey Yurlov, Zachary L. Gross, Tomas Klema, 1234zoom, Sergii Figurnyi

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-27680-5V001 

www.penguin-verlag.de

Für Elizabeth Lane, Rhoda Douglas und June Kennedy

TEIL EINS

1 Saffy, April 2018 

Ich bin gerade im Vorgarten und reiße das Unkraut raus, das an den Rändern der Einfahrt hervorsprießt wie zu groß geratene Spinnen, als ich Schreie höre. Tiefes, kehliges Gebrüll. Die Bauarbeiter sind im Garten hinter dem Haus mit dem Bagger zugange. Schon den ganzen Morgen hat der Wind das Gewummer wie einen nagenden Kopfschmerz zu mir rübergetragen, während ich die Rosenhecke unter dem Wohnzimmerfenster stutzte. Doch jetzt ist es verstummt. Das allein reicht aus, damit mein Puls beschleunigt und Snowy – Großmutters kleiner Westie, der neben mir liegt – seine Ohren spitzt. Unwillkürlich bricht mir zwischen den Schulterblättern der Schweiß aus, und ich drehe mich zum Cottage um. Ist etwas Schlimmes passiert? Vor meinem geistigen Auge erscheinen abgetrennte Gliedmaßen und hervorquellendes Blut, völlig im Kontrast zu dem blauen Himmel und dem strahlenden Sonnenschein, und mir wird furchtbar flau. Selbst zu meinen besten Zeiten hatte ich keinen besonders robusten Magen, aber jetzt, in der vierzehnten Schwangerschaftswoche, leide ich auch noch unter Morgenübelkeit – nun ja, genau genommen nicht nur morgens, sondern auch mittags und abends.

Ich erhebe mich mit Schlammflecken auf den ausgebeulten Knien meiner Jeans, die nach wie vor meine gewohnte Größe hat, auch wenn sie am Bund mittlerweile etwas enger sitzt. Auf der Innenseite meiner Wange nagend, schelte ich mich für mein Zögern. Snowy erhebt sich ebenfalls mit aufgestellten Ohren und stößt ein einzelnes Kläffen aus, als einer der Bauarbeiter – Jonty, der junge, gut aussehende – hastig ums Haus biegt. Er rennt auf mich zu, und mein Blick bleibt an den dunklen Schweißflecken unter seinen Achseln hängen, während er wie wild mit seiner Mütze durch die Luft wedelt und seine sandfarbenen Locken im Takt seiner Schritte mithüpfen.

Scheiße, gleich wird er mir sagen, dass es einen Unfall gegeben hat. Ich kämpfe gegen den Drang an, in die entgegengesetzte Richtung davonzulaufen, schirme jedoch stattdessen meine Augen vor der Sonne ab, die über dem Strohdach des Cottages auf uns niederbrennt. Jonty selbst scheint nicht verletzt, doch als er näher kommt, kann ich den Ausdruck von Schock auf seinem sommersprossigen Gesicht sehen.

»Ist jemand verletzt?«, rufe ich, wobei ich versuche, mir meine Panik nicht anhören zu lassen. O Gott, ich werde einen Krankenwagen rufen müssen. Ich habe in meinem Leben bisher noch nie die 999 gewählt. Und ich komme mit Blut so gar nicht klar. Als ich klein war, wollte ich Krankenschwester werden, allerdings hatte es sich damit erledigt, als ich ohnmächtig wurde, nachdem meine beste Freundin vom Fahrrad gestürzt war und sich dabei das Knie aufgeschlagen hatte.

»Nein, das nicht. Tut mir leid, Sie zu stören, aber …«, er ist außer Atem, doch die Worte sprudeln nur so aus ihm hervor, »… wir haben da etwas gefunden. Sie sollten besser kommen. Schnell!«

Ich lasse meine Gartenhandschuhe ins Gras fallen und folge ihm, mit Snowy an den Fersen, um das Cottage herum, wobei ich überlege, worum es sich handeln könnte. Vielleicht ein Schatz? Ein Relikt aus der Vergangenheit, das in einem Museum ausgestellt werden könnte? Aber das Gebrüll … Das klang nicht nach Freudenschreien nach einem kostbaren Fund, sondern vielmehr entsetzt.

Ich wünschte, Tom wäre hier. Ich fühle mich nicht wohl damit, die Arbeiter zu beaufsichtigen, während er im Büro ist – ständig wollen sie irgendwas von mir wissen und erwarten, dass ich Entscheidungen treffe, von denen ich befürchte, dass sie falsch ausfallen. Abgesehen davon war ich noch nie besonders gut darin, entschieden aufzutreten. Mit unseren vierundzwanzig ist es gerade mal drei Jahre her, dass Tom und ich noch an der Uni waren. Das alles hier – der Umzug von unserer Wohnung in Croydon nach Beggars Nook, einem pittoresken Dorf in der grünen, hügeligen Landschaft der Cotswolds, in das Cottage mit Waldblick – kam so unerwartet. Eine Art Überraschungsgeschenk.

Jonty führt mich direkt in den hinteren Garten. Vor der Ankunft der Bauarbeiter hatte er einen idyllischen Anblick geboten, mit seinen üppig grünenden Sträuchern, dem duftenden, sich um die Spaliere rankenden Geißblatt und dem in der Ecke angelegten Steingarten voller samtiger Stiefmütterchen in all ihrer rosa-violetten Pracht. Nun steht da ein hässlicher orangefarbener Bagger, umgeben von einem riesigen aufgeworfenen Erdwall. Die anderen beiden Bauarbeiter – Darren, ein Mittdreißiger mit Hipsterbart, der, seiner selbstbewussten Haltung nach, der Boss ist, und Karl, ungefähr in meinem Alter und so stämmig wie ein Rugbyspieler – starren, die Hände in die Hüften gestemmt, die klobigen Stiefel halb in der Erde versunken, in das Loch runter, das sie ausgehoben haben. Ihre Köpfe schnellen ruckartig hoch, als ich sie erreiche. Beide tragen einen geschockten Ausdruck im Gesicht, aber in Karls Augen meine ich auch noch eine Art aufgeregtes Funkeln auszumachen. Ich folge seinem Blick, und da bemerke ich ein elfenbeinfarbenes Etwas, das wie zerbrochenes Porzellan aus der dunkeln Erde herausragt. Unwillkürlich bücke ich mich und greife nach Snowys Halsband, um ihn davon abzuhalten, in die Grube hinabzuwetzen.

»Beim Graben sind wir da auf … etwas gestoßen«, erklärt Darren, die Arme vor seinem dreckverschmierten T-Shirt verschränkend.

»Was ist das?«, frage ich. Snowy spannt sich unter meiner Hand, weshalb ich den Griff noch einmal verstärke.

»Ein Skelett«, erwidert Darren düster.

»Von … einem Tier?«

Darren wechselt einen Blick mit seinen Kollegen. Beherzt, beinahe als bereite es ihm Vergnügen, tritt Karl nach vorne, wobei er trockene Bröckchen Erde aufwirbelt. »Das sieht mir eher nach einer Hand aus …«

Erschrocken weiche ich zurück. »Sie wollen sagen … es stammt von einem Menschen?«

Darren sieht mich mitleidig an. »Ich glaube schon. Sie sollten besser die Polizei rufen.«

2

Als Tom zwei Stunden später vor dem Haus eintrifft, gehe ich unablässig in unserer engen Küche auf und ab. Mit den rustikalen Einbauschränken und den von pausbäckigen Schweinchen und Schafen gezierten Wandfliesen wirkt sie wie ein Relikt aus den 80er-Jahren. Irgendwie haben wir es geschafft, unseren Eichentisch aus der alten Wohnung darin unterzubringen, auch wenn wir so nur zwei der vier Stühle ranstellen konnten. Nicht lange nach unserem Einzug im Februar haben wir uns mit dem Architekten, einem kleinen Mittsechziger mit lichter werdendem Haar, der einen guten Ruf in der Gegend genießt, zusammengesetzt, um den Anbau an der Hausrückseite zu planen: Die Küche soll über die gesamte Breite des Cottages erweitert und zudem mit modernen, stahlgerahmten Glasschiebetüren versehen werden, die direkt in den weitläufigen Garten führen. Ehrlich gesagt hat mich das von meiner Schwangerschaft abgelenkt, die mich immer noch nervös macht, obwohl ich den ersten Ultraschall hinter mir habe und anscheinend alles in Ordnung ist. Trotzdem belasten mich jede Menge Was-wenn-Fragen. Was, wenn ich eine Fehlgeburt habe? Was, wenn es nicht richtig wächst oder zu früh kommt oder ich eine Totgeburt habe? Was, wenn ich nicht damit zurechtkomme, wenn das Baby auf der Welt ist, oder an einer postnatalen Depression leide?

Die Schwangerschaft war nicht geplant. Zwar hatten Tom und ich sporadisch darüber gesprochen – als etwas, das möglicherweise nach einer Heirat in Betracht käme –, aber abgesehen davon waren wir mit unserer jeweiligen Karriere beschäftigt gewesen und damit, Geld zurückzulegen, um eine eigene Wohnung anzahlen zu können. Kinderkriegen und Heiraten, das war etwas für später. Wenn wir richtige Erwachsene wären. Aber dann hatte ich mir einen Magen-Darm-Virus eingefangen und nicht daran gedacht, zusätzliche Vorsichtsmaßnahmen zu treffen. Und dieser eine Ausrutscher hat hierzu geführt. Ein Baby. Ich würde also jung Mutter werden, wenn auch nicht ganz so jung wie meine eigene Mum damals.

Snowy fläzt ausgestreckt in seinem Hundebett neben dem Ofen, den Kopf auf den Pfoten abgelegt, und sieht mir dabei zu, wie ich auf und ab schreite. Von dem Bleiglasfenster aus habe ich das Geschehen hinter dem Haus im Blick. Ein weißes Zelt, das die Hälfte der Rasenfläche einnimmt, wurde im Garten aufgebaut, und Polizisten sowie Männer in forensischen Ganzkörperanzügen gehen ein und aus; außerdem ein weiterer Beamter, der eine Kamera um den Hals hängen hat. Rings um das Zelt wurde neongelbes Absperrband gespannt, das leicht in der Brise flattert. TATORT BETRETEN VERBOTEN ist über die gesamte Länge gedruckt, was mir jedes Mal, wenn mein Blick darauf fällt, Übelkeit beschert. Es mag ja wie eine Szene aus einem Fernsehkrimi ausschauen, aber allein das Band ruft mir die Realität des Ganzen vor Augen.

Ich war überrascht (und tatsächlich auch ein bisschen stolz), wie schnell ich, nach dem ersten Schock, die Dinge in die Hand genommen und geregelt bekommen habe. Erst die Polizei angerufen und dann, nachdem wir unsere Aussagen getätigt hatten, die Bauarbeiter nach Hause geschickt und ihnen mitgeteilt, dass ich Bescheid geben würde, wann sie die Arbeit wieder aufnehmen könnten – obwohl mein Herz die ganze Zeit über nicht aufhören wollte wie wild zu klopfen. Danach rief ich Tom in seinem Londoner Büro an, und er versprach, er würde gleich den nächsten Zug nach Hause nehmen.

Ich höre, wie Tom seine Lambretta in der Einfahrt parkt; so einen Roller hatte er sich schon immer gewünscht, und als wir hergezogen sind, hat er sich ein gebrauchtes Modell gegönnt, um damit zum Bahnhof und zurück zu gelangen. Das ist allemal billiger, als sich zwei Autos zu leisten, und das gesparte Geld fließt in den Ausbau unseres Hauses.

Ich höre die Haustür zufallen. Tom kommt in die Küche geeilt, wobei ihm die Sorge ins Gesicht geschrieben steht. Er hat seine Brille auf, die trendige mit dem schwarzen Rahmen, die er sich gekauft hat, als er vor knapp über einem Jahr seinen neuen Job in der Finanzabteilung eines IT-Unternehmens begann. Er fand, sie würde ihm was Seriöseres verleihen. Sein sandblonder Pony fällt ihm ins Gesicht, und er wirkt leicht zerknautscht in dem Leinenhemd und Sakko über der Jeans. Es spielt keine Rolle, was er trägt, er schafft es immer noch, wie ein Student auszusehen. Er hat diesen gewissen Londoner Geruch an sich haften – nach Abgasen und U-Bahnen, Latte macchiato to go und den teuren Düften anderer Menschen. Snowy umkreist unsere Beine, und Tom bückt sich, um ihn geistesabwesend zu tätscheln, aber seine Aufmerksamkeit bleibt auf mich gerichtet.

»Meine Güte, was für ein Schock! Geht es dir gut? Und das Baby?«, fragt er, als er sich wieder aufrichtet.

»Es ist alles in Ordnung. Uns geht es gut«, erwidere ich, die Handflächen schützend über meinen Bauch gelegt. »Die Polizei ist immer noch da draußen. Sie haben mich und die Arbeiter befragt, und nun haben sie auch noch ein Absperrband angebracht und ein Zelt aufgebaut.«

»Mist.« Sein Blick wandert an mir vorbei zu dem Geschehen vor dem Fenster, und für einige Sekunden verdüstert sich seine Miene. Dann wendet er sich wieder an mich. »Haben sie dir denn schon etwas sagen können?«

»Nein, nicht wirklich. Nur dass es sich um ein menschliches Skelett handelt. Wer weiß, wie lange es da schon liegt? So wie ich das sehe, könnte es genauso gut aus dem Mittelalter stammen.«

»Oder aus der Römerzeit«, meint er mit einem zaghaften Lächeln.

»Genau. Wahrscheinlich lag es schon hier, bevor Skelton Place überhaupt erbaut wurde. Und das war …« Ich runzle die Stirn, da es mir nicht mehr einfallen will.

»1855.« Natürlich weiß er das. Tom muss etwas nur einmal lesen, um es sich zu merken. Bei Quizshows ist er immer der Erste, der eine Frage beantwortet; außerdem recherchiert er auf seinem Handy ständig irgendwelche Daten und unnütze Fakten. Er ist das Gegenteil von mir: ruhig, pragmatisch. Niemals reagiert er über. »Das sieht trotzdem nach einer ernsten Sache aus«, sinniert er und betrachtet wieder die Szenerie im Garten.

Ich folge seinem Blick. Mittlerweile ist ein Beamter mit zwei Spürhunden eingetroffen. Gehen sie etwa davon aus, noch mehr Überreste zu finden? Mein Magen verkrampft.

Tom wendet sich mit ernstem Tonfall an mich. »Das ist nicht gerade das, was wir erwartet haben, als wir aufs Land gezogen sind.« Es folgt ein kurzer Moment der Stille, bevor wir in albernes Kichern ausbrechen.

»O Gott«, sage ich, als ich mich wieder gefasst habe. »Eigentlich ist es echt unangebracht zu lachen. Immerhin ist da jemand gestorben.«

Was uns gleich wieder loskichern lässt.

Wir werden von einem Räuspern unterbrochen. Als wir uns umdrehen, sehen wir eine Polizistin in der Tür zum Garten stehen. Es ist eine Art Stalltür, deren obere Hälfte aufgeklappt ist, sodass es aussieht, als würde sie in dem Holzrahmen ein Puppenspiel geben. Sie betrachtet uns wie zwei ungezogene Schulkinder. Snowy kläfft in ihre Richtung los.

»Schon gut«, beruhigt Tom ihn flüsternd.

»Tut mir leid zu stören«, beginnt die Beamtin, die allerdings kein bisschen ausschaut, als täte es ihr leid. »Ich hatte geklopft.« Sie drückt die untere Hälfte der Tür auf und tritt über die Schwelle.

»Kein Problem«, erwidert Tom. Er lässt Snowy los, der sofort auf die Polizistin zuflitzt, um an ihrer Hose zu schnüffeln. Sie wirkt etwas genervt, während sie ihn mit ihrem Bein wegschiebt.

»Police Constable Amanda Price«, stellt die Beamtin sich vor. Sie ist geschätzt fünfzehn Jahre älter als wir, mit einem dunklen Bob und auffallend blauen Augen. »Könnten Sie mir nur kurz bestätigen, dass Sie die Hauseigentümer sind? Tom Perkins und Saffron Cutler?«

Theoretisch ist zwar meine Mutter die Besitzerin, aber ich möchte die Sache nicht verkomplizieren.

»Ja«, bestätigt Tom mit einem Blick zu mir. »Das ist unser Cottage.«

»Also gut«, sagt PC Price. »Ich befürchte, dass wir hier etwas länger brauchen werden. Haben Sie jemanden, wo Sie die heutige Nacht beziehungsweise das Wochenende unterkommen können?«

Ich denke an Tara, die zurzeit in London wohnt, und an meine Schulfreundin Beth in Kent. Toms Freunde leben entweder in Poole, wo er ursprünglich herkommt, oder in Croydon. »Wir wohnen hier erst seit Kurzem und haben in der Gegend noch keine Freunde«, antworte ich, wobei mir wieder einmal bewusst wird, wie isoliert wir hier in diesem Dorf mitten im Nirgendwo sind.

»Wohnen Ihre Eltern in der Nähe?«

Tom schüttelt den Kopf. »Meine sind in Poole, und Saffys Mum lebt in Spanien.«

»Mein Vater wohnt zwar in London«, ergänze ich, »aber er hat nur eine Einzimmerwohnung.«

Sie kräuselt die Stirn, als seien das alles Informationen, auf die sie verzichten kann. »Dürfte ich Ihnen dann ein Hotel vorschlagen, nur bis Sonntag? Die Polizei übernimmt die Kosten für die Unannehmlichkeiten. Nur für die Zeit, bis der Fundort gesichert und die Bergung der Überreste abgeschlossen ist.«

Bei den Worten »Fundort« und »Überreste« wird mir sofort wieder übel.

»Wann können wir die Bauarbeiten fortsetzen?«, will Tom wissen.

PC Price seufzt, ganz so, als läge diese Frage fern. »Ich fürchte, Sie werden den Garten hinter dem Haus erst wieder benutzen können, wenn die Ausgrabung beendet und das Skelett geborgen wurde. Sie werden sich gedulden müssen, bis Sie vom SOCO hören. Der Scene of Crime Officer – der Kollege von der Spurensicherung«, erklärt sie, als wir sie verdutzt anstarren.

»Also gehen Sie womöglich von einem Verbrechen aus?«, frage ich, wobei ich Tom einen besorgten Blick zuwerfe. Er versucht, mir ein beruhigendes Lächeln zu schenken, doch es gerät zu einer Grimasse.

»Nun, ja, wir haben menschliche Überreste gefunden«, erwidert sie, als wäre ich total unterbelichtet, offeriert darüber hinaus aber keine weiteren Informationen, und ich habe den Eindruck, dass es zwecklos wäre nachzuhaken.

»Wir sind erst seit ein paar Monaten hier«, schiebe ich hinterher, da ich das Gefühl habe, mich erklären zu müssen – nur für den Fall, dass diese strenge Polizistin denkt, wir könnten etwas damit zu tun haben, etwa so, als würde es zu unseren Gewohnheiten gehören, Leichen in unserem Garten zu verbuddeln. »Das Skelett könnte schon seit Jahren hier liegen … vielleicht schon seit Jahrhun…« Der Ausdruck auf ihrem Gesicht lässt mich verstummen.

Sie presst die Lippen aufeinander. »Ich bin momentan nicht befugt, Ihnen Weiteres zu sagen. Die Spurensicherung hat einen forensischen Anthropologen angefordert, um final zu bestätigen, dass es sich um menschliche Knochen handelt. Wir werden Sie auf dem Laufenden halten.«

Ich muss an die Hand denken, die Karl angeblich gesehen hat. Das klang nicht so, als ob es viel Anlass zum Zweifel gäbe.

Ein paar Sekunden herrscht betretenes Schweigen, bevor sie sich anschickt zu gehen. Nur um gleich wieder stehen zu bleiben, als wäre ihr plötzlich noch etwas eingefallen. »Oh, und wenn Sie bitte das Haus innerhalb der nächsten Stunde verlassen könnten.«

Wir blicken ihr hinterher, wie sie in den Garten, in diese grausige Welt der Forensik, hinaustritt, und ich muss die Tränen zurückdrängen. Stumm greift Tom nach meiner Hand, als hätte selbst er die Fähigkeit verloren, tröstende Worte zu finden.

Urplötzlich realisiere ich, dass all das hier wirklich passiert. Unser Traumheim, unser wunderschönes Cottage, ist jetzt ein Schauplatz des Verbrechens.

Zum Glück ist im Stag & Pheasant, dem Dorfgasthaus, noch ein Zimmer frei, und auch Hunde sind erlaubt. Wir laufen mit zwei Reisetaschen bepackt ein, wobei Tom darauf besteht, beide zu tragen, während ich Snowy an die Leine nehme. Seit unserem Umzug nach Beggars Nook sind wir nur einmal hier im zugehörigen Pub gewesen, und zwar letzten Monat zum Sonntagslunch. Tatsächlich waren wir angenehm überrascht von den in einem geschmackvollen Blassgrün gestrichenen Wänden, der rustikalen Einrichtung und den köstlichen hausgemachten Speisen. Als die Owens es vor fünf Jahren übernommen hatten, war es anscheinend einer umfassenden Renovierung unterzogen worden.

Die Wirtin, Sandra Owens, sieht uns fragend an. »Sind Sie nicht die neuen Besitzer vom Cottage oben in Skelton Place?«, erkundigt sie sich, als wir an der Bar stehen bleiben.

Ich weiß nicht, was ich darauf antworten soll. Sobald die Geschichte publik wird, wird sie sich im ganzen Dorf herumgesprochen haben.

»Ja, wir sind bei der Renovierung auf ein paar Schwierigkeiten gestoßen«, erklärt Tom freundlich, aber unverbindlich. »Also dachten wir, es sei das Beste, ein paar Nächte woanders unterzukommen, bis sich alles erledigt hat.«

»Aber natürlich«, erwidert Sandra, auch wenn sie nicht ganz überzeugt wirkt. Sie ist Ende fünfzig und mit dem dezent gesträhnten Bob und dem eleganten Wickelkleid eine attraktive Erscheinung. Es wird nicht lange dauern, bis sie die Wahrheit erfährt, aber keiner von uns beiden hat Lust, es ihr heute Abend unter die Nase zu reiben. Die Müdigkeit macht sich bereits bemerkbar, dabei ist es noch nicht einmal neunzehn Uhr, und draußen ist es noch hell. Trotzdem möchte ich mich einfach nur im Bett verkriechen.

Sie zeigt uns ein kleines, gemütliches Doppelzimmer, von dessen hinterem Fenster man den Ausblick auf den Wald genießen kann. »Frühstück ist zwischen sieben Uhr dreißig und zehn«, erklärt sie, bevor sie sich verabschiedet und geht.

Tom bleibt neben dem Tisch mit dem Teezubehör stehen, und sein Blick wandert durch das Fenster zu den Bäumen in der Ferne. »Ich kann das alles nicht glauben«, sagt er mit dem Rücken zu mir.

Ich strecke mich auf dem Bett aus – es ist ein wunderschönes Himmelbett mit einer gesteppten Tagesdecke in dunklen Blautönen. Unter normalen Umständen wäre das hier der reinste Luxus für uns. Wir hatten seit Ewigkeiten keinen Urlaub mehr, und die letzten Monate ging unser gesamtes Geld für den Umbau drauf, aber unser Aufenthalt hier wird von den Ausgrabungen hinter dem Cottage überschattet. Jedes Mal, wenn ich daran denke, wird mir buchstäblich schlecht.

Snowy hüpft neben mich aufs Bett, legt seinen Kopf auf meinen Schoß und schaut mit seinen braunen Hundeaugen zu mir auf.

»Ich kann nicht glauben, dass wir aus unserem eigenen Haus geschmissen wurden«, murmle ich, Snowys Kopf streichelnd. Dann ziehe ich meine Strickjacke enger um mich. Es ist kühl geworden, aber vielleicht ist es auch nur der Schock.

Tom schaltet den kleinen Plastikwasserkocher an und gesellt sich dann zu uns aufs Bett. Die Matratze ist weicher als unsere daheim. »Ich weiß. Aber es wird alles gut«, beruhigt er mich, zu seinem gewohnten Optimismus zurückfindend. »Bald schon werden wir mit dem Umbau weitermachen können, und alles wird wieder ganz normal.«

Ich kuschle mich an ihn und wünschte, ich könnte ihm glauben.

Wir widerstehen dem Drang, am Cottage vorbeizulaufen. Stattdessen verbringen wir das Wochenende entweder im Gasthaus oder mit ausgedehnten Spaziergängen durch das Dorf und den Wald.

»Wenigstens habe ich so mal ein Wochenende frei«, meint Tom am Samstag, während er meine Hand nimmt und wir über den Dorfplatz schlendern. Seit unserem Einzug hat er schon so viel an dem Cottage gemacht: den abgewetzten Teppich von der Treppe entfernt, das Wohn- und Schlafzimmer in einem freundlichen Taubengrau gestrichen, die Dielen geschliffen. Als Nächstes möchte er die Tapete in dem kleinen Schlafzimmer entfernen, um es einzurichten, bevor das Baby kommt, ein Vorhaben, das er bis zu meinem Ultraschall in der zwölften Woche aufgeschoben hatte, um das Schicksal nicht unnötig herauszufordern.

Als wir schließlich am Sonntag nach dem Mittagessen wieder zurückkehren, die Taschen zu unseren Füßen abgestellt und abwartend, so, als wären wir Gäste in unserem eigenen Zuhause, verlässt mich die Vorfreude. Noch immer parken Polizeiautos und Vans in unserer Einfahrt. Ein Beamter informiert uns, dass sie bis zum Ende des Tages mit der Ausgrabung fertig sein sollten und wir uns bis dahin im Cottage, jedoch nicht im Garten, aufhalten dürften. Ich frage mich, ob sie auch das Innere des Hauses durchsucht haben. Die Vorstellung, dass die Polizei unsere Sachen durchwühlt haben könnte, gefällt mir ganz und gar nicht. Als ich Tom gegenüber mein Unbehagen äußere, versichert er mir, dass sie uns in diesem Fall Bescheid gegeben hätten.

Den Rest des Nachmittags verkriechen wir uns im Wohnzimmer. »Was die Nachbarn wohl denken?«, überlege ich laut, während ich am Fenster stehe und an meinem entkoffeinierten Schwarztee nippe. Ich denke an Jack und Brenda, das ältere Ehepaar von nebenan. Eine Hecke schirmt ihr Grundstück von unserem ab, aber sie sind definitiv diese Art Nachbarn, die sich gern hinter den Vorhang klemmen und spionieren; und als Clive, der Architekt, die Baugenehmigung für den Ausbau der Küche beantragte, legten sie sofort Widerspruch ein.

Vor unserer Einfahrt hat sich eine kleine Menschentraube versammelt, die nur teilweise von den Polizeifahrzeugen verdeckt wird.

»Ich wette, das sind Journalisten«, bemerkt Tom über meine Schulter hinweg. »Vielleicht solltest du deinen Dad anrufen und ihn um Rat bitten.«

Mein Dad ist Chefreporter bei einer überregionalen Boulevardzeitung. Grimmig nicke ich. Ich fühle mich schutzlos preisgegeben, ganz so, als hätte jemand das Dach von unserem Haus gerissen. »Das ist ein Albtraum«, murmle ich und drehe den Kopf zu ihm.

Ausnahmsweise kommt von Tom keine Beschwichtigung. Vielmehr schaut er ernst drein, und ein Muskel an seinem Kiefer zuckt, während er aus dem Fenster starrt und schweigend einen Schluck von seinem Kaffee nimmt.

Etwas später rufe ich Dad an, um seinen Rat einzuholen. »Du hast nicht zufällig Lust, deinem alten Herrn ein Exklusivinterview anzubieten?«, witzelt er.

Ich lache. »Ich weiß doch selbst nichts! Vielleicht stellt sich ja heraus, dass die Knochen uralt sind.«

»Nun, für den Fall, dass dem nicht so ist, muss ich dich wohl warnen: Sobald die Polizei bestätigt, dass ein Verbrechen vorliegt und sie die sterblichen Überreste identifiziert haben, wirst du dich vor lauter Presse nicht mehr retten können.«

»Meinst du, wir sollten ausziehen?« Doch schon, als mir die Worte über die Lippen kommen, ist mir klar, dass ich keine Ahnung habe, wohin wir gehen könnten. Ein Hotel können wir uns nicht leisten. Ich wünschte, Dad würde in unserer Nähe wohnen. Oder Mum – aber sie ist noch weiter weg.

»Nein. Nein, lasst das lieber. Seid einfach nur vorbereitet, das ist alles. Und solltest du irgendwas brauchen – Infos oder Tipps –, dann gib Bescheid.« Aufgrund der Geräuschkulisse aus Telefongeklingel, Gesprächen und genereller Hektik im Hintergrund weiß ich, dass er gerade in der Redaktion ist.

»Werdet ihr auch jemanden herschicken?«

»Ich schätze, wir greifen vorerst auf eine Nachrichtenagentur zurück. Aber falls du mal mit der Presse reden solltest, dann denk an mich, ja? Im Ernst, Saffy, solltest du dir bei irgendwas unsicher sein – egal ob Polizei oder Journalisten –, dann melde dich zuerst bei mir.«

»Danke, Dad«, sage ich und fühle mich schon viel ruhiger. Mein Vater hatte schon immer die Fähigkeit, mir ein Gefühl von Sicherheit zu vermitteln.

Am nächsten Morgen baut die Polizei das Zelt ab, entfernt das Absperrband, und Tom und ich starren voller Entsetzen auf das riesige klaffende Loch, das im Garten zurückgeblieben ist. Es ist viermal so groß als jenes, das die Bauarbeiter hinterlassen hatten. Tom bittet seinen Chef, ein paar Tage von zu Hause arbeiten zu können, die wir damit verbringen wollen, den verbliebenen Journalisten, die sich noch immer vor der Einfahrt herumdrücken, aus dem Weg zu gehen.

Und dann, am Mittwoch – der Tag, an dem Tom ins Büro fährt –, ruft die Polizei an.

»Ich fürchte, ich habe keine guten Nachrichten«, verkündet der Detective, dessen Name mir sofort wieder entfällt, in schroffer Tonlage.

Während ich warte, versteift mein Körper.

»Es wurden zwei Leichen gefunden.«

Fast fällt mir das Telefon aus der Hand. »Zwei Leichen?«

»Ich fürchte, ja. Sämtliche Knochen wurden geborgen, und die Forensiker konnten feststellen, dass es sich bei einem Skelett um einen Mann, bei dem anderen um eine Frau handelt. Darüber hinaus konnten wir, basierend auf der Knochenbildung und Skelettreife, das Alter ermitteln. Die Opfer waren zwischen dreißig und fünfundvierzig Jahre alt.«

Übelkeit steigt in mir auf; ich kriege kein Wort raus.

»Leider«, fährt er fort, »starb das weibliche Opfer infolge stumpfer Gewalteinwirkung auf den Hinterkopf. Wir sind immer noch dabei herauszufinden, wie der Mann zu Tode kam. Die fortgeschrittene Skelettierung der Leichen macht dies allerdings schwierig. Bei dem weiblichen Opfer war es aufgrund der Schädelfraktur um einiges offensichtlicher.«

Ich schließe fest die Augen, während ich versuche, es mir nicht vorzustellen. »Das … das ist ja schrecklich.« Ich kann es kaum fassen. »Sind … sind Sie sicher, dass es keine weiteren Leichen gibt?«

Plötzlich überkommen mich Visionen, wie der gesamte Garten umgewühlt und dabei ein Massengrab freigelegt wird, und die Vorstellung lässt mich erschauern. Andere »Häuser des Schreckens«, wie die Presse sie gern reißerisch bezeichnet, kommen mir in den Sinn – die spektakuläre 25 Cromwell Street und die White House Farm. Wird unser Cottage einen genauso berüchtigten Ruf bekommen? Werden wir für immer hier festsitzen, weil es uns dann niemand mehr abkaufen wird? Mein Herzschlag beschleunigt, und ich schlucke, während ich versuche, mich auf das zu konzentrieren, was der Detective sagt.

»Wir hatten Leichenspürhunde vor Ort, daher sind wir uns recht sicher, dass es keine weiteren Überreste gibt.«

»Wie … wie lange liegen die Leichen schon dort?«

»Das können wir noch nicht endgültig sagen. Der Boden in Ihrem Garten ist recht alkalisch, weshalb ein Teil der Kleidung und Schuhe erhalten geblieben ist, aber wir denken nicht früher als 1970 und, ausgehend von der Zersetzung, nicht später als 1990.«

Eine Gänsehaut überzieht meinen gesamten Körper. Zwei Menschen wurden in meinem Haus ermordet. In meinem kleinen, idyllischen Cottage. Alles um mich herum nimmt plötzlich eine dunkle, unwirkliche Tönung an.

»Natürlich müssen wir uns mit sämtlichen Personen unterhalten, die das Haus zwischen 1970 und 1990 bewohnt haben«, fährt der Detective fort. »Und ich fürchte, als ehemalige Besitzerin des Grundstücks werden wir uns auch mit Mrs. Rose Grey unterhalten müssen.«

Der Raum um mich herum verschiebt sich.

Rose Grey ist meine Großmutter.

3 Mai 2018

Ich kann nicht aufhören, über die Leichen nachzudenken. Sie spuken mir durch den Kopf, wenn ich mit Snowy seine tägliche Gassirunde im Dorf mache, wenn ich mit Tom fernsehe und auch wenn ich in dem Zimmerchen mit der hässlichen 70er-Jahre-Blumentapete auf der Vorderseite des Cottages, das ich als Büro nutze, an einem Projekt arbeite.

Es dauerte natürlich nicht lang, bis sich die Neuigkeit im Dorf verbreitet hatte, und obwohl seit der Ausgrabung zehn Tage verstrichen sind, stellen die Leute immer noch Spekulationen an. Zwar dürften ihnen die neuesten Informationen zu den Todesumständen der Opfer nicht bekannt sein, doch als ich vorhin im Tante-Emma-Laden war, hörte ich, wie die alte Mrs. McNulty sich mit einer ihrer genauso betagten Freundinnen – einer gebeugten Frau mit Kopftuch, die einen karierten Einkaufstrolley vor sich herschob – darüber ausließ. »Also, ich kann mir nicht vorstellen, dass die Turners was damit zu tun haben«, meinte die. »Sie haben dort Jahre gewohnt. Mrs. Turner war ein ganz verhuschtes Ding.«

»Obwohl«, Mrs. McNulty senkte ihre Stimme, wobei ihre Knopfaugen vor Aufregung funkelten, »gab es da nicht diesen Vorfall vor ein paar Jahren? Mit seinem Neffen und irgendwelchen gestohlenen Waren?«

»Oh ja, daran kann ich mich noch erinnern. Und sie sind ja wirklich etwas überstürzt fortgezogen«, erwiderte die Frau mit Kopftuch. »Wann war das noch mal genau? Vor zwei Jahren? Ich habe gehört, sie sollen das Cottage in einem ziemlich üblen Zustand hinterlassen haben.« Sie senkte ihre Stimme. »Angeblich waren es Messies. Obwohl der Garten immer nett anzusehen war. Mrs. Turner hat gerne Blumen gepflanzt.«

»Und jetzt sind diese jungen Leute hier aufgetaucht.«

»Ich habe gehört, dass sie das Cottage umsonst bekommen haben. Anscheinend ein Erbe.«

»Manchen Leuten kommt das ganz recht.«

Ich spürte, wie mir die Hitze in die Wangen schoss. Rasch stellte ich die Dose mit gebackenen Bohnen zurück ins Regal und verließ den Laden, bevor sie mich bemerken konnten.

Nun schnappe ich mir meine über der Stuhllehne hängende Strickjacke – heute ist es schon kühler, die Sonne hat Mühe, durch die Wolken zu dringen –, und ich beuge mich runter zu Snowys Schlafplatz, um ihn auf seinen flauschigen Kopf zu küssen. »Bis später, der Herr.«

Wie jeden Donnerstag mache ich auch heute früher Feierabend, um Großmutter zu besuchen. Kurz überkommt mich das schlechte Gewissen, weil ich wegen der Journalistenmeute vor unserem Haus letzte Woche meinen Besuch bei ihr habe ausfallen lassen. Und doch wird der heutige Donnerstag nicht wie alle anderen. Denn wenn ich heute Gran gegenübersitze, werde ich mich fragen, was sich vor all den Jahren zugetragen hat. Wie kam es dazu, dass zwei Menschen starben und in ihrem Garten vergraben wurden?

Meine ausgelatschten gelben Chucks knirschen auf der gekiesten Einfahrt, als ich zu meinem Mini Cooper eile. Ich trage eine Jeans-Latzhose mit hochgekrempelten Hosenbeinen. Nun, da mein Bauch an Umfang zulegt, ist das eindeutig die bequemere Alternative. Ich bin in der sechzehnten Woche und habe ein kleines Bäuchlein bekommen. Wobei es weniger so aussieht, als sei ich schwanger, sondern vielmehr aufgebläht. Meine dunklen Locken habe ich mit einem passenden gelben Samthaargummi zurückgebunden. Meine Mum rümpft angesichts meiner Sammlung von Samthaargummis immer die Nase. »Die sind einfach so … achtzigermäßig«, sagt sie dann und verdreht die Augen. »Ich kann nicht glauben, dass die Dinger wieder in Mode sind.«

Ich habe sie seit dem Weihnachtsfest nicht mehr gesehen, und selbst das ist wegen ihres ungehobelten Mackers, Alberto, nicht gut gelaufen. Die Wochen sind wie im Flug verstrichen, und ich habe ihr immer noch nicht erzählt, dass sie bald Oma wird. Jedes Mal, wenn ich daran denke, es ihr zu sagen, stelle ich mir ihre Enttäuschung vor.

Als ich mich hinters Steuer setze, fällt mir ein Mann in der Gasse auf; er wird zum Teil durch unsere vordere Gartenmauer verdeckt und blickt zum Cottage. Er ist stämmig gebaut, mit dem Gesicht einer Bulldogge, vielleicht Mitte, Ende fünfzig, und trägt eine Jeans und eine Wachsjacke. Als er mich bemerkt, entfernt er sich. Hat er Fotos von unserem Haus geschossen? Es muss sich um einen weiteren Journalisten handeln. Die meisten scheinen vorerst aufgegeben zu haben – zumindest, solange es keine neuen Informationen gibt. Aber hin und wieder taucht trotzdem ein ungebetener Gast auf wie das Unkraut in meinem Vorgarten. Als wir am Samstag gerade aufbrachen, um mit Snowy Gassi zu gehen, sprang uns in der Einfahrt ein Journalist in den Weg und schoss ein Foto von uns. Tom wurde stinkwütend und beschimpfte den Kerl, der zu seinem Wagen zurückwuselte.

Ich biege aus der Einfahrt und fahre langsam los, wobei ich darauf achte, genug Abstand zu halten, damit er sich nicht in die Hecke drücken muss, doch als ich an ihm vorbeikomme, starrt er mich mit einem so eindringlichen Blick an, dass ich regelrecht erschrecke. Im Rückspiegel beobachte ich noch, wie er in ein schwarzes Auto steigt, das ein Stück den Hügel runter vor der Hausnummer acht parkt.

Gestern erst kam Tom von der Arbeit nach Hause und erzählte, er habe in einer Ausgabe der Sun, die jemand in der U-Bahn hatte liegen lassen, einen Artikel über die Leichen im Garten gesehen. Er war mit einer sensationslüsternen Schlagzeile betitelt, die natürlich auf die Ähnlichkeit von »Skelette« und »Skelton Place« anspielte; darunter das Foto, das der Reporter am Samstag von unseren erschrockenen Gesichtern geschossen hatte. »O Gott, Tom«, entfuhr es mir panisch. »Sie werden noch behaupten, wir wären Wiltshires Antwort auf Fred und Rosemary West!«

Woraufhin er herzhaft lachte. »Nein, werden sie nicht. Ihre Serienmorde haben sich vor mindestens dreißig Jahren ereignet. Da waren wir noch nicht mal auf der Welt.«

Aber meine Großmutter schon.

Ich verdränge den fremden Mann aus meinen Gedanken, während ich den Hügel hinab und dann am Stag & Pheasant vorbeifahre. Stattdessen denke ich wieder einmal, wie friedlich doch Beggars Nook mit seinen wunderschönen alten Gebäuden aus dem hier typischen sandfarbenen Naturstein ist. Ich überquere den Dorfplatz, wobei ich den Blick über das Marktkreuz, die hübsche Kirche, den Tante-Emma-Laden, ein Café sowie die einzige Boutique am Ort schweifen lasse, die Kinkerlitzchen, Karten und trutschige überteuerte Klamotten verkauft. Alles zu Fuß vom Cottage erreichbar, in einer Senke gelegen und vom Wald mit seinen mächtigen Eichenbäumen, die in den weiten Himmel emporragen, umgeben. Es vermittelt den Eindruck, als sei das Dorf vom Rest der Welt verborgen. Ich überquere die Brücke und folge der schmalen kurvenreichen Straße, die zu beiden Seiten von niedlichen Steinhäusern gesäumt wird, bis ich die Farm an ihrem Ende erreiche. So anders als das zugebaute, urbane Croydon. So ruhig und sicher. Oder zumindest dachte ich das. Jetzt bin ich mir da nicht mehr so gewiss.

Die Morde müssen passiert sein, bevor Großmutter das Cottage in den Siebzigern kaufte. Ich weiß, dass sie es nach ihrem Umzug nach Bristol über Jahrzehnte vermietet hatte – dieses Detail haben wir erst kürzlich erfahren, als sie in ein Pflegeheim kam. Mum und ich waren beide ziemlich überrumpelt, denn soweit wir wussten, hatte Gran immer nur eine Immobilie besessen: Ihr Reihenhaus aus rotem Backstein im Stadtteil Bishopston in Bristol, in dem Mum aufgewachsen ist und wo ich alle meine Sommerferien verbracht habe. Gran, die, bevor sie an Demenz erkrankte, für ihr Leben gern backte und sich um ihre Pflanzen kümmerte, war eine besonnene, pragmatische Frau, die nie ihre Stimme erhob. Ganz im Gegensatz zu Mum, die schnell mal überkochte und mit ihrer Meinung nicht hinterm Berg hielt, auch wenn sie mittlerweile etwas ruhiger geworden ist. Jene Sommer bei Gran, in ihrem Haus in Bristol mit dem großen Garten und der daran angrenzenden Kleingartensiedlung, waren für mich das Größte, eine Auszeit von meiner Mum und den Dramen, die sie auf Schritt und Tritt zu begleiten schienen.

Ich liebte Grans dicken schwarzen Labrador, Bruce, mit den grauen Schnurhaaren (Mum wollte uns nie ein Haustier gönnen. Sie meinte, es würde zu sehr stinken, aber in Grans Haus roch es nie komisch), außerdem ihre altmodischen, gemütlichen Sofas mit den weißen Schonbezügen auf den Armlehnen, die Gran jede Woche frisch wusch und stärkte. Die Karamellbonbons, die sie in einer Dose oben im Wohnzimmerschrank aufbewahrte, und den Garten mit dem Maschendrahtzaun, der ihn von den Nachbarn abgrenzte. Dann den warmen muffigen Geruch des Gewächshauses mit den Tomatenpflanzen. Es war so beruhigend, Großmutter dabei zu beobachten, wie sie die Pflanzen darin umhegte und leise mit ihnen sprach, um sie in ihrem Wachstum zu bestärken. Ich liebe meine Mum von ganzem Herzen, aber sie war – und ist noch immer – ein Energiebündel, so überbordend und selbstdarstellerisch veranlagt, mit ihren bunten Klamotten und der ausgeprägten Persönlichkeit, dass sie zuweilen eine erschöpfende Wirkung auf mich hat. Ich habe schon immer eher eine Verbundenheit mit Großmutter gespürt, da wir beide die freie Natur lieben, gleichzeitig aber einen Hang dazu haben, uns zu verkriechen, und das Alleinsein den Menschenmassen vorziehen.

Gran gab mir das Gefühl, normal zu sein, als ich zugab, dass ich lieber zu Hause blieb und EastEnders schaute, als rauszugehen und mit den anderen Kindern in der Straße zu spielen. Für sie war es in Ordnung, dass ich nicht ständig herumrannte und laut war. Als Kind sagte meine Mutter mir immerzu, dass ich »zu still« und »zu schüchtern« sei, fragte mich: »Warum gehst du nicht raus und mischst dich unter die anderen Mädels aus deiner Klasse, statt dich immer nur an eine Freundin zu halten?« Aber Mum ist eben eine überaus gesellige Person, die mit einer Leichtigkeit von einem Grüppchen Menschen zum nächsten flattert, um die ich sie stets beneidet habe, obwohl ich es mir für mich selbst gar nicht wünsche. Und so kam es, dass ich mir in meiner Jugend unbeholfen und uninteressant vorkam und nie wusste, was ich sagen sollte. Bis ich an der Uni Tom kennenlernte. Tom gab mir das Gefühl, ich selbst sein zu dürfen, außerdem bemerkte ich, dass ich in seiner Gegenwart durchaus witzig und unterhaltsam sein konnte.

Als ich mich Bristol nähere, nimmt der Verkehr stetig zu. Das Pflegeheim, in dem Großmutter untergebracht ist, liegt an einer zweispurigen Schnellstraße in einer Ortschaft namens Filton.

Es war vor knapp einem Jahr, als mir langsam dämmerte, dass etwas mit ihr nicht stimmte. Es fing ganz harmlos an. Großmutter war schon immer etwas vergesslich gewesen und fragte dann Dinge wie »Nanu, hast du vielleicht meine Tasche gesehen?« oder »Wo habe ich bloß meine Brille hingetan?« – das Ganze mit ihrem bodenständigen Cockney-Akzent, den sie nie abgelegt hat, obwohl sie London bereits mit Mitte zwanzig verlassen hatte. Sie war immer ein so unabhängiger, anpackender Mensch gewesen. Noch zu Beginn des letzten Jahres war sie körperlich dazu in der Lage gewesen, in den Zug zu steigen und mich in Croydon zu besuchen, wobei sie sich, mit Snowy im Schlepptau, den Weg mithilfe einer Karte suchte – sie besaß außerdem ein altmodisches Handy und ein abgegriffenes Straßenverzeichnis, das sie immer in der Handtasche mitführte. Sie lehnte es ab, sich von mir oder Tom am Bahnhof abholen zu lassen, obwohl wir es ihr permanent anboten.

Das erste Zeichen waren die zwei Geburtstagskarten, die ich im Abstand von nur wenigen Tagen von ihr bekam – als habe sie ganz vergessen, dass sie mir die erste bereits geschickt hatte. Als sie ein paar Monate später länger bei uns zu Besuch war, machte sie bereits einen vergesslichen Eindruck. Ständig entfiel ihr Snowys Name, und sie versäumte es, ihn zu füttern und mit ihm Gassi zu gehen, sodass ich sie daran erinnern musste oder es selbst übernahm. Und dann, nachdem sie bereits ein paar Tage bei uns verbracht hatte, drehte sie sich abends beim Fernsehen zu mir und Tom und fragte: »Nanu, ist das andere Pärchen schon gegangen?« Woraufhin ich es mit der Angst zu tun bekam, denn da war kein anderes Pärchen gewesen. Gran war den ganzen Abend mit uns auf dem Sofa gesessen. Es brach mir das Herz, als ich begriff, dass Gran zuweilen keine Ahnung mehr hatte, wer Tom war, wer ich war, da sich ihr Gedächtnis ein- und ausklinkte wie ein Radio mit schlechtem Empfang.

Bei besagtem Besuch war schon offensichtlich, dass es Großmutter schwerfiel, sich um Snowy zu kümmern, darum bot ich an, ihn bei mir zu behalten, womit sie einverstanden war. Ich weinte hinter meiner Sonnenbrille, während ich dabei zusah, wie Großmutter, ihren Rollkoffer hinter sich herziehend, ohne ihren geliebten Hund in den Zug stieg, und ich kam vor Sorge nicht zur Ruhe, bis sie später anrief, um Bescheid zu geben, dass sie sicher zu Hause angekommen war.

Aber nur drei Tage später rief Gran mich panisch an, weil sie ihren Hund verloren hätte, woraufhin ich sie sanft daran erinnern musste, dass Snowy nun bei mir und Tom lebte.

Der letzte Vorfall, der den Ausschlag dazu gab, dass ich schließlich Mum anrief und ihr davon erzählte, war, als mich Esme, eine von Großmutters Nachbarinnen, kontaktierte.

»Es geht um deine Gran, Liebes«, sagte sie. »Sie hat einen leeren Topf auf der heißen Herdplatte stehen gelassen. Es war reines Glück, dass ich zufällig bei ihr vorbeigeschaut habe – sie hätte sonst das ganze Haus abfackeln können.«

Als ich Mum meine Bedenken gestand, nahm sie schnurstracks einen Flieger aus Spanien und brachte Großmutter zum Arzt. Danach ging alles ganz schnell – Mum wusste eben, wie man die Dinge anpackte, sie war einfach ein entscheidungsfreudiger Mensch –, und so fanden wir für Großmutter eine private Pflegeeinrichtung unweit ihrer Nachbarschaft in Bristol, jenem Haus mit dem Schrebergarten, das in meiner Erinnerung immer auch mein Zuhause bleiben wird.

Ich biege auf den Parkplatz vor dem riesigen grau gemauerten gotischen Gebäude namens Elms Brook, der dafür sorgt, dass es sich eher wie ein herrschaftlicher Ruhesitz als ein Pflegeheim anhört. Obwohl Mum meinte, es habe sich einst um eine Irrenanstalt mit vergitterten Fenstern gehandelt. Aber heute wirkt es freundlich, dieses Elms Brook, und es rangiert im mittleren Preissegment, sodass wir es bezahlen können. Ich muss einen Kloß im Hals runterschlucken, als ich daran zurückdenke, wie es sich angefühlt hat, Grans Habseligkeiten zusammenzupacken und ihr Haus auszuräumen.

Es war letzten November gewesen, während einer ihrer klareren Phasen, als Großmutter mir und Mum von dem Cottage erzählt hatte. Es war das erste Mal, dass wir überhaupt von seiner Existenz hörten.

»Es läuft auf deinen Namen, Lorna«, hatte Gran geflüstert, sich dabei in ihrem Ohrensessel nach vorne gebeugt und Mums Hand festgehalten. »Ich habe es schon vor zehn Jahren auf dich übertragen lassen.« Ich war ganz baff von Großmutters Weitblick. Indem sie das Haus auf meine Mutter überschrieben hatte, würde es nicht verkauft werden müssen, um ihre Pflege zu finanzieren.

Als Mum und ich danach vor dem Pflegeheim standen, um uns zu verabschieden, blickte Mum, die in ihrem dünnen knallorangefarbenen Mantel bibberte, mich an und sagte: »Ich wusste ja schon immer, dass meine Mutter ein ausgefuchstes Ding ist und ihr Geld gut verwahrt. Sie muss das Cottage als Anlage gekauft haben.« Sie blies sich in die hohlen Hände. »Wie auch immer, ich will es jedenfalls nicht. Es gehört dir, wenn du es möchtest. Ich weiß, dass du es hasst, in der Stadt zu leben.« Ich war regelrecht schockiert gewesen, denn ausnahmsweise einmal hatte ich das Gefühl, dass meine Mutter mich tatsächlich verstand.

»Aber du hast es doch noch nicht einmal gesehen«, protestierte ich.

»Was will ich mit einem Cottage am Arsch der Welt?«

Aus ihrer Sicht fand ich das durchaus nachvollziehbar. Ein Cottage auf dem Land wäre zu öde für meine Mum. Nein, sie brauchte Sonnenschein und Sangria und exotische Männer, die kaum älter waren als ich.

Mum flog kurz darauf nach San Sebastián zurück, ohne dem Cottage auch nur einen Besuch abzustatten. Das Häuschen hätte sie nicht weniger jucken können. Was mir das schlechte Gewissen nahm, das Angebot angenommen zu haben. Ein Haus für lau. Ohne Hypothek. Es bescherte uns jene finanzielle Freiheit, die Tom und ich im Leben nie für möglich gehalten hätten – und schon gar nicht mit Mitte zwanzig. Es bedeutete, dass ich meinen Job in Croydon aufgeben und freiberuflich, inmitten einer idyllischen Landschaft, arbeiten konnte. Ein Traum wurde wahr.

Aber jetzt überdenke ich besagtes Gespräch neu. Vor zehn Jahren also hat Gran die Besitzurkunde auf den Namen meiner Mutter übertragen. Warum? Aus rein finanziellen Überlegungen heraus? Um die Erbschaftssteuer zu umgehen? Oder weil sie wusste, dass sich dort ein Mord ereignet hatte?

Aber nein, das ist doch lächerlich. Ausgeschlossen, dass Gran irgendwas davon geahnt haben könnte. Das weiß ich so, wie ich auch weiß, dass ich schwarzen Kaffee und Erdnussbuttersandwiches, die samtigen Stellen hinter Snowys pelzigen Ohren und den Geruch von frisch gemähtem Gras liebe.

Ich hole tief Luft und umklammere das Lenkrad, um mich innerlich zu wappnen. Bei meinen Besuchen kann ich nie im Voraus sagen, auf welche Großmutter ich treffen werde. Manchmal erkennt sie mich, manchmal behandelt sie mich, als wäre ich eine der Pflegerinnen, und das ist jedes Mal so, als würde ich sie von Neuem verlieren.

Als ich aus dem Auto steige, bemerke ich einen schwarzen lang gestreckten Wagen auf der Straße, der im Vorbeifahren sein Tempo stark drosselt. Ich kann es zwar nicht mit Gewissheit sagen, aber er sieht genauso aus wie das Auto, das vorhin in der Nähe vom Cottage geparkt hatte. Das Gesicht des Fahrers ist mir zugewandt, als es im Leerlauf an mir vorbeirollt. Es ist ein Mann, aber ich kann seine Gesichtszüge nicht ausmachen. Ist es der Typ von vorhin? Wird er ebenfalls auf den Parkplatz biegen? Doch dann beschleunigt das Auto wieder und fährt weiter die Straße runter. Einen Augenblick lang starre ich ihm hinterher und frage mich, ob ich mir grundlos einen Kopf mache oder doch Anlass zur Sorge habe.

4

Gran sitzt im Aufenthaltsraum am großen Erkerfenster, das den Blick auf die gepflegte Grünanlage eröffnet, vor ihr ein Beistelltisch und ein freier Sessel. Die Sonne ist durch die Wolken gebrochen, ihr Licht fällt sanft durch die Gardinen ins Innere und lässt die Staubpartikel wie kleine Himmelskörper um ihren Kopf herumtänzeln. Mein Herz zieht sich vor lauter Liebe so heftig zusammen, dass mir die Tränen in die Augen schießen. Sie hier so zu sehen, weckt in mir den sehnsüchtigen Wunsch, in die Vergangenheit zu reisen, so, wie es einst war: Gran, die in ihrer kleinen Küche herumwuselt und uns eine Tasse Tee nach der anderen macht, schwarz und kräftig wie Melasse; oder im Gewächshaus, wo sie meinem jugendlichen Ich zeigt, wie man Radieschen aussät.

Jetzt ist ihr Kopf nach vorne geneigt. Jegliche Fülle ist aus ihrem Gesicht verschwunden, die Haut an ihren Wangen ist schlaff und lässt die Knochen darunter hervortreten. Ihr schneeweißes Haar – früher mal ein wunderschönes Kupferrot, wenn auch aus der Tube, wie sie gerne behauptete – ist aufgebauscht und hat die Textur von Watte. Sie schiebt die Teile eines Puzzles auf dem Tisch umher. Für einen Augenblick versetzt es mich zurück in meine Kindheit, als wir abends in einträchtigem Schweigen dasaßen, während draußen die Sonne unterging, und gemeinsam über einem Puzzle knobelten.

Eine Weile stehe ich so in der Tür und schaue einfach nur zu. Im Raum ist es zu warm, und es riecht muffig nach Bratensoße und verkochtem Gemüse. Der Teppich mit seinen rot-goldenen Schnörkeln ist so einer, den man auch in altmodischen Gästehäusern am Meer finden würde.

»Rose hat heute einen guten Tag«, verkündet eine Stimme hinter mir. Es ist Millie, eine der Pflegerinnen und meine liebste Angestellte hier. Millie ist ein paar Jahre jünger als ich und hat das netteste Gesicht und das breiteste Lächeln, das mir je untergekommen ist. Sie hat kurzes stacheliges Haar, und beide Ohren werden bis über die Hälfte von Piercings geziert.

»Oh, das freut mich sehr. Ich habe einige Neuigkeiten für sie.«

Millie zieht eine Augenbraue hoch. »Ooh. Ich hoffe gute?«

Verlegen berühre ich meinen Bauch und nicke. Ich möchte nicht an diese andere Sache denken. An die schlechte Nachricht. Die Leichen.

Millie drückt aufmunternd meine Schulter und geht dann weiter, um einem älteren Herrn zu helfen, der versucht, sich aus seinem Sessel zu erheben. Ich bahne mir den Weg zum anderen Ende des Raumes, an ein paar Bewohnern vorbei, die sich um den Fernseher versammelt haben, sowie dem alten Mann, der weiter hinten eine auf dem Kopf stehende Zeitung liest.

Als ich auf sie zutrete, hebt Gran den Kopf, und für einen Augenblick steht ihr die Verwirrung ins Gesicht geschrieben. Ich muss meine Enttäuschung runterschlucken. Sie erkennt mich nicht. Also ist heute wohl doch kein guter Tag.

Ich lasse mich auf dem Sessel gegenüber nieder. Die Rückenlehne ist so hoch, dass ich das Gefühl habe, auf einem Thron zu sitzen. »Hi, Granny, ich bin’s, Saffy.«

Einige Sekunden sagt Großmutter nichts und fährt damit fort, die Puzzleteile hin- und herzuschieben, auch wenn sie noch gar nicht mit dem Bild begonnen hat. Die Schachtel ist am Tischrand aufgestellt. Auf der Vorderseite prangt das Bild eines schwarzen Labradorwelpen, umgeben von Blumen. »Lass uns zuerst die Rahmenteile finden«, sagte sie früher immer, während ihre von der Gartenarbeit wettergegerbten Hände flink die passenden Stücke zusammensuchten. Heute ist kein methodisches Vorgehen erkennbar, stattdessen bewegt Gran die Teile nur ziellos mit ihren knorrigen, runzligen Fingern umher.

»Saffy. Saffy …«, murmelt sie, ohne mich anzuschauen. Doch dann schießt ihr Kopf in die Höhe, und die Erkenntnis blitzt in ihren Augen auf. »Saffy! Du bist es. Du bist mich besuchen gekommen. Wo hast du gesteckt?« Ihr gesamtes Gesicht erstrahlt, und ich beuge mich vor, um ihre zerbrechliche Hand zu streicheln. Sie ist fünfundsiebzig, aber seit sie ins Heim gekommen ist, sieht sie viel älter aus.

Ich weiß, dass ich nicht lange habe, bis Grans Geist sich wieder in andere Zeiten verabschiedet. Es überrascht mich immer wieder, an wie viel sie sich aus der Vergangenheit erinnert, während sie meist nicht einmal mehr sagen kann, was sie zum Frühstück hatte.

»Gran, ich bin schwanger. Ich bekomme ein Baby«, sage ich, unfähig, mir die Freude und Angst nicht anhören zu lassen.

»Ein Baby. Ein Baby. Wie wunderbar. Was für ein herrliches Geschenk.« Sie umklammert meine Hände, ein bisschen zu fest. »Du Glückspilz von einem Mädchen. Freut …« Ihre Augen werden trübe, und ich sehe ihr an, dass sie Mühe hat, ihre Erinnerungen abzurufen. »Freut Tim sich auch?«

»Tom. Und ja, er ist überglücklich.«

Gran war vor der Demenz ganz in Tom vernarrt gewesen. Wann immer sie ihn sah, konnte sie ihn gar nicht genug verwöhnen. Sie schickte ihm gern kleine Carepakete: selbst gebackenen Kuchen, einen selbst angesetzten Schlehenschnaps, Rhabarber, den sie im Garten angebaut hatte, da sie wusste, dass er ihn liebte, ich hingegen nicht. »Du musst ihn gut umsorgen«, bläute sie mir ein. Das ist so eine Generationensache, rief ich mir dann in Erinnerung. Den Ehemann bei Laune zu halten. Obwohl ich mich nicht erinnern konnte, dass Großmutter je einen Mann gehabt hatte. Mein Großvater starb, noch bevor Mum geboren wurde.

Grans Miene verdüstert sich. »Victor war nicht glücklich. Oh, nein, er war ganz und gar nicht glücklich.«

Victor? Ich habe sie nie zuvor einen Victor erwähnen hören. Sie hat mir mal erzählt, dass der Name meines Großvater William gewesen sei – nicht dass sie je über ihn sprach. Selbst Mum wusste nicht viel über ihn. Aber ich will Großmutters Fluss nicht unterbrechen, indem ich sie mit Fragen löchere, also warte ich schweigend ab.

»Er wollte dem Baby wehtun«, sagt sie, und ihr Gesicht zieht sich gequält zusammen.

»Tom würde so etwas nie tun«, sage ich rasch, um sie auf andere Gedanken zu bringen. »Tom ist so ein netter Mensch. Du magst Tom, weißt du noch?«

Ihr Gesicht entspannt sich wieder. »Oh, ja. Tom ist ein reizender Junge. Und er weiß ein herzhaftes Frühstück zu schätzen.«

Ich lächle. Großmutter machte Tom immer ein komplettes englisches Frühstück mit Spiegelei, Bohnen und Würstchen, wenn wir über Nacht bei ihr blieben. »Ja, das stimmt.«

Wie soll ich nur das Thema mit den Knochen der beiden Toten im Garten ansprechen? Soll ich es überhaupt ansprechen? Vielleicht ist es besser, es fürs Erste bleiben zu lassen. Dann aber denke ich an die Polizei, die sie in absehbarer Zeit befragen wird, da sie die Besitzerin des Cottages war, auch wenn sie seit langer Zeit Mieter darin wohnen hatte. Wenn ich ihr vorab davon erzähle, wird es sie vielleicht weniger schockieren, wenn die Polizei sie deswegen aufsucht.

»Und … wir lieben das Cottage in Skelton Place wirklich«, beginne ich vorsichtig,

Ihr Gesicht verdunkelt sich. »Skelton Place?«

»Ja, das Cottage, Gran. In Beggars Nook?«

»Du wohnst in dem Cottage in Skelton Place?«

»Ja. Mum wollte in Spanien bleiben. Du weißt ja, wie sie ist. Sie liebt die Sonne. Also sind Tom und ich dort eingezogen. Das war wirklich großzügig von dir …« Natürlich habe ich ihr das alles bereits mehrmals gesagt.

Großmutter fängt wieder damit an, die Puzzleteile ziellos herumzuschieben, und ich befürchte schon, sie ist mir wieder entglitten. Ich muss etwas sagen, und zwar rasch, bevor sie sich in ihr Inneres zurückzieht.

»Na ja, das ist jetzt etwas seltsam … Wir haben angefangen, den Garten wegen des Anbaus umzugraben, und dabei haben wir … zwei Leichen entdeckt.«

Großmutters Kopf schnellt hoch. »Leichen?«

»Ja, Großmutter. Im Garten begraben.«

»Tote Menschen?«

»Ähm … ja.« Was sonst als Menschen?

»In Skelton Place?«

Ich nicke nachdrücklich. »Von einer Frau und einem Mann.«

Großmutter starrt mich so lange an, dass ich Angst bekomme, sie sei in einer Art katatonischen Zustand verfallen. Doch dann schimmern Tränen in ihren Augen, als würde sie sich an etwas erinnern. Plötzlich packt sie meine Hand, wobei sie einige Puzzleteile zu Boden fegt. »Ist es Sheila?«, fragt sie wispernd.

Sheila? »Wer ist Sheila, Gran?«

Ruckartig reißt sie ihre Hände weg, wobei sich ein trüber Schleier über ihre Augen legt wie bei einem grauen Star. Sie sieht aus wie ein verängstigtes Kind, während sie in ihrem Sessel zusammenzuschrumpfen scheint. »So ein böses kleines Mädchen. Das ist es, was sie alle gesagt haben. Ein böses kleines Mädchen.«

»Wer? Wer ist ein böses kleines Mädchen?«

»Ja, das haben sie alle gesagt.«

Ich muss das Thema wechseln. Gran darf sich nicht aufregen. Ich beuge mich vor und sammle die Puzzleteile vom Teppich auf. »Der Garten hier ist wunderschön«, sage ich, als ich mich wieder aufrichte und an Großmutter vorbei aus dem Fenster blicke. »Schaffst du es immer noch, jeden Tag rauszugehen?« Großmutters Gedächtnis mag auf dem Rückzug sein, doch körperlich ist alles mit ihr in Ordnung.

Aber Gran murmelt weiter etwas von Sheila und einem bösen kleinen Mädchen.

Ich greife über den Tisch und schließe ihre knorrige Hand zwischen meine. »Gran, wer ist Sheila?«

Großmutter hört auf zu murmeln und sieht mich unmittelbar, mit geschärftem Blick an. »Ich … weiß nicht …«

»Die Polizei wird demnächst mit dir reden wollen, aber nur, weil du die Besitzerin des Cottage warst und …«

Panik huscht über Großmutters Gesicht. »Die Polizei?« Sie schaut wild um sich, als könnte sie direkt hinter ihr stehen.

»Ist schon gut. Sie werden dir nur ein paar Fragen stellen wollen. Kein Grund zur Sorge. Das gehört zum Prozedere, einfach damit sie es abhaken können.«

»Ist es Lorna? Ist Lorna tot?«, fragt sie entsetzt.

Ich muss schlucken, weil ich mich schlecht fühle. »Nein. Nein, Gran. Mum ist in Spanien. Weißt du nicht mehr?«

»Böses kleines Mädchen.«

Sanft lasse ich ihre Hand los und lehne mich in meinem Sessel zurück, während Gran erneut vor sich hin murmelt. Heute werde ich nichts mehr aus ihr herausbekommen. Ich hätte die Leichen niemals erwähnen dürfen. Das war nicht umsichtig von mir. Natürlich weiß sie nichts über die Skelette. Warum sollte sie auch? Stattdessen beuge ich mich wieder vor und helfe Großmutter, einträchtig schweigend, bei dem Puzzle, wie wir es getan haben, als ich noch ein Kind war.

Die Ränder zuerst.

5 Theo

Theo hält in der Einfahrt und parkt seinen alten Volvo neben dem schwarzen Mercedes seines Vaters, der aussieht wie ein Leichenwagen. Wie in einem Horrorfilm ragt das alte, weitläufige Haus über ihm auf, verdunkelt die Sonne und lässt ihn frösteln. Er hasst diesen Ort. Schon immer. Seine Freunde fanden es beeindruckend, wenn sie ihn besuchten, was selten vorkam – er versuchte, sie, so gut es ging, davon fernzuhalten –, doch ihm ist das deprimierend graue Gemäuer mit den hässlichen Wasserspeiern, die vom Dach hinabäugen, als würden sie sich gleich auf einen stürzen, nach wie vor nicht ganz geheuer. Das Haus ist viel zu groß für einen allein lebenden alten Mann. Theo kapiert nicht, warum sein Dad sich weigert, es zu verkaufen. Er bezweifelt, dass er aus sentimentalen Gründen daran festhält. Vielmehr wohl, weil es ein Statussymbol ist. Theo hat nie das Bedürfnis verspürt, mit seinem Besitz zu protzen. Nicht dass er im materiellen Sinn viel sein Eigen nennen würde, aber das ist ohnehin nicht die Skala, an der er seinen Selbstwert misst. Noch etwas, das sein Dad nicht versteht.

Er betritt die riesige Eingangshalle mit der Holztäfelung und der geschwungenen Freitreppe, die er seit dem Tod seiner Mutter inständig hasst, genauso wie die ausgestopften Hirschköpfe an der Wand. Als Kind bekam er davon Albträume. Er atmet den wohlvertrauten Geruch von Holzrauch und Bohnerwachs ein. Sein Dad hat eine Haushälterin, Mavis, die alle paar Tage vorbeischaut, um hier zu putzen und zu waschen, aber sie ist erst morgen früh wieder da.

»Dad! Ich bin’s Theo!«, ruft er.

Es kommt keine Antwort, also eilt er die Treppe hoch zum Arbeitszimmer, das sich auf der Vorderseite des Hauses befindet, wobei die Gummisohlen seiner Turnschuhe auf dem gebohnerten Holz quietschen. Sein Vater verbringt viel Zeit in seinem Büro, auch wenn Theo nur mutmaßen kann, was er darin treibt. Immerhin ist er seit Jahren im Ruhestand.

Als er die Tür öffnet, kann er sofort spüren, dass sein Vater eine seiner Phasen hat, die Wut strahlt regelrecht von ihm aus. Sein breites Gesicht mit der vertrauten flachen Nase, die Theo von ihm geerbt hat, ist geröteter als sonst. Sogar die kahle Stelle auf seinem Scheitel ist angelaufen und lugt rosarot unter den verbliebenen dünnen weißen Haarsträhnen hervor.

Wenn er so drauf ist, ist sein Dad ein richtiger Arsch. Tatsächlich findet er, dass sein Vater die meiste Zeit über ein Arsch ist, selbst wenn er sich einmal nicht wie ein verzogenes Kind, sondern wie der sechsundsiebzigjährige pensionierte Facharzt benimmt, der er eigentlich ist. Er fragt sich, was ihn jetzt schon wieder aufgebracht hat. Dazu bedarf es freilich nicht viel. Vermutlich hat Mavis eine seiner Golftrophäen an die falsche Stelle zurückgestellt. Theo ist froh, dass er nicht mehr mit ihm zusammenleben muss.

Er ist nur vorbeigekommen, um nach ihm zu schauen. So, wie er es jede Woche tut. Auch wenn sein Vater keineswegs der beste Dad, oder der beste Ehemann, gewesen ist, verspürt er dahin gehend doch eine Verpflichtung. Und er weiß, dass seine Mum es sich gewünscht hätte. Theo ist für seinen Vater alles, was ihm von seiner Familie geblieben ist. Und manchmal, wenn sein Dad vergisst, sich wie ein Vollidiot zu benehmen, in seinen verletzlicheren Momenten, wie etwa, wenn sie nebeneinander auf dem Sofa einen Film anschauen und er einschläft – wobei sein Gesicht so friedlich und zugleich so alt aussieht mit dem auf seiner Brust ruhenden Kinn –, da überkommt ihn ein Gefühl der Zuneigung für ihn. Doch bald schon wacht sein Vater auf und verwandelt sich wieder in sein mürrisches, forderndes Ich zurück, und die Zuneigung, die Theo nur Sekunden zuvor verspürt hat, verpufft.

Trotz alledem versucht Theo, nicht allzu hart mit seinem Vater ins Gericht zu gehen. Ihm ist bewusst, dass der Verlust seiner Frau – Theos Mutter – vor vierzehn Jahren verheerend für ihn war. Caroline Carmichael, mit ihrer Lebhaftigkeit, ihrer fürsorglichen Art, war erst fünfundvierzig, als sie starb. Sie zu verlieren, hat eine klaffende Lücke in ihrem Leben hinterlassen. Nicht dass sein Vater irgendwelche Gefühle einräumen würde. Verletzlichkeit zu zeigen, ist seiner Meinung nach eine Schwäche. Er zieht es vor, seine Emotionen hinter einer schroffen Fassade zu verbergen. Trotzdem hat er Theo, wenn auch widerwillig, immer Respekt abgenötigt. Er ist ein brillanter Mann. Außergewöhnlich intelligent und in seinem Feld äußerst begabt. Selbst heute noch, nach seiner Pensionierung, verfasst er Artikel für medizinische Fachpublikationen.

Theo räuspert sich. Sein Dad ist so damit beschäftigt, Schubladen zuzuknallen, Schranktüren zu öffnen und sie wieder zu schließen, dass er ihn zunächst gar nicht hört. Theo muss das Prozedere mehrmals wiederholen, bevor sein Dad aufschaut.

»Was willst du?«