Perfect Crime - Wenn niemand dir glaubt - Claire Douglas - E-Book

Perfect Crime - Wenn niemand dir glaubt E-Book

Claire Douglas

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Beschreibung

Sie alle haben ein Geheimnis. Doch nur einer würde dafür morden.

Als erfolgreiche Autorin kennt Emilia menschliche Abgründe nur aus ihren eigenen Büchern. Bis zu dem Tag, an dem ein schreckliches Unglück ihr wohlbehütetes Leben in der Londoner Vorstadt aus der Bahn wirft. Der Vorfall stammt unverkennbar aus ihrem aktuellen Thriller. Doch wie kann das sein? Nur eine Handvoll Menschen kennt den Inhalt ihres unveröffentlichten Krimis und kommt als Täter infrage. Emilia beginnt auf eigene Faust zu ermitteln und muss mit Grauen feststellen, dass jeder in ihrem Umfeld Geheimnisse hütet – die Freundin, der sie alles anvertraut, der Vater, der immer an ihrer Seite war. Und sogar ihr Ehemann, neben dem sie jeden Abend friedlich einschläft. Emilia weiß, dass alle lügen. Doch wer von ihnen trachtet nach ihrem Leben?

Englands Thriller-Königin Claire Douglas ist zurück. Nach den Nummer-1-SPIEGEL-Bestsellern Beste Freundin und Girls Night nun ihr neuestes Meisterwerk. Unfassbar atmosphärisch, unvergleichlich spannend – unerwartete Wendungen und Twists bis zur allerletzten Seite.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 460

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Claire Douglas arbeitete 15 Jahre lang als Journalistin, bevor sich ihr Kindheitstraum, Schriftstellerin zu werden, erfüllte. Ihre packenden Thriller Missing, Still Alive, Vergessen, Beste Freundin und Schönes Mädchen waren in England und Deutschland ein riesiger Erfolg und machten sie zur gefeierten Bestsellerautorin. Mit Liebste Tochter und Girls Night schaffte sie es zuletzt bis an die Spitze der SPIEGEL-Bestsellerliste. Claire Douglas lebt mit ihrem Ehemann und ihren beiden Kindern in Bath, England.

Claire-Douglas-Thriller in der Presse:

»Ein fesselnder Pageturner.« Crime Monthly über Perfect Crime

»Ein Thriller mit vielen Wendungen, der Sie atemlos zurücklassen wird.« Woman’s Own über Perfect Crime

»›Beste Freundin‹ ist nicht weniger als feine, brillante Spannungsliteratur.« Brigitte über Beste Freundin

»Ein Familiendrama um unerwiderte Liebe und Geschwisterneid – mit einigen überraschenden Wendungen!« Freundin über Schönes Mädchen

Außerdem von Claire Douglas lieferbar:

Missing. Niemand sagt die ganze Wahrheit. Thriller.

Still Alive. Sie weiß, wo sie dich findet. Thriller.

Vergessen. Nur du kennst das Geheimnis. Thriller.

Beste Freundin. Niemand lügt so gut wie du. Thriller.

Liebste Tochter. Du lügst so gut wie ich. Thriller.

Girls Night. Nur eine kennt die ganze Wahrheit. Thriller.

www.penguin-verlag.de

Claire Douglas

Perfect Crime

Wenn niemand dir glaubt

Thriller

Aus dem Englischen von Ivana Marinović

Die Originalausgabe erschien 2023  unter dem Titel The Woman Who Lied bei Michael Joseph.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung des urheberrechtlich geschützten Inhalts dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Copyright © 2023 der Originalausgabe by Claire Douglas

Copyright © 2025 der deutschsprachigen Ausgabe by

Penguin Verlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

[email protected](Vorstehende Angaben sind zugleich Pflichtinformationen nach GPSR)

Redaktion: Hanne Hammer

Umschlaggestaltung: Favoritbuero

Umschlagabbildungen: Shutterstock.com (Paul Aniszewski, Nejron Photo, Stone36),

Trevillion Images (Buffy Searl, Yolande de Kort)

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-30587-1V001

www.penguin-verlag.de

Für Ty – auf die nächsten zwanzig Jahre!

Prolog Mai 2022 

Ein Schweißfilm glänzt auf Anthony Haddocks Oberlippe, das Haar klebt dem Detective Constable feucht in der Stirn, seine Krawatte sitzt schief. Er hat violette Ringe unter den Augen, und sein Hemd ist zerknittert. Emilia muss ähnlich erschöpft aussehen – sie hat gestern Nacht kein Auge zugetan. Sie kann sich nicht einmal erinnern, ob sie sich heute früh das Haar gebürstet hat (die Zähne sind jedenfalls ungeputzt), und sie steckt immer noch in den Klamotten vom Vortag.

»Ich möchte Ihnen noch einmal mein aufrichtiges Beileid aussprechen«, sagt Haddock ernst. Sein großer Adamsapfel wölbt sich unter dem hageren Hals, wenn er schluckt. Sie kann den Blick nicht davon abwenden und gräbt die Fingernägel in ihre Handflächen, um nicht zu weinen. Im Grunde kann sie ihm nichts vorwerfen, diesem Mann in dem zerknitterten kurzärmligen Hemd, das ihm das Aussehen eines Sechstklässlers gibt. Sie hätte mehr insistieren sollen, als sie letzten Monat bei ihm vorstellig wurde, dann säßen sie jetzt vielleicht nicht hier, in diesem stickigen, beengten Raum, und das am bisher heißesten Tag des Jahres.

Sie verlagert ihr Gewicht auf dem Stuhl, der Rock klebt unangenehm an der Rückseite ihrer Oberschenkel. Das Notizbuch, das sie auf Anraten von Police Constable Clayton benutzt hat, seit alles seinen Anfang nahm, liegt zwischen ihnen auf dem Tisch. Ihre fünfzehnjährige Tochter, Jasmine, hat es ihr erst im Januar zum Geburtstag geschenkt, um darin ihre neue Buchidee zu skizzieren, ihren ersten nicht zu einer Reihe gehörenden Roman. Auf der Vorderseite prangt eine Kaskade bunter, immer kleiner werdender Schmetterlinge, und Emilia fand immer, dass das Büchlein für Erneuerung stand, für eine Veränderung. Eine Weiterentwicklung. Und doch war es nie dazu gekommen, seinen Zweck zu erfüllen. Stattdessen enthält es all die abartigen Ereignisse, die sich in den letzten Monaten zugetragen haben. Die makabren Echos bereits geschriebener Geschichten. Und jetzt einen Mord. An jemandem, den sie geliebt hat.

»Wir tun alles, was in unserer Macht steht, um den Verantwortlichen zu fassen.« Ein paar Sekunden schweigt er, ohne die blassen Augen von ihr zu lösen, dann sagt er: »Und Sie sind sicher, dass es jemand ist, den Sie kennen?« DC Haddock senkt den Blick auf die Liste von Namen, die sie ihm gerade gegeben hat.

»Ja. Ich bin sicher.« Sie wünschte ja, sie läge falsch, aber sie weiß, dass dem nicht so ist. »Nur meine engsten Freunde und meine Familie haben Ihr letztes Kapitel gelesen – abgesehen von meiner Lektorin natürlich. Das Buch ist noch nicht erschienen. Und einiges von dem, was passiert ist, vor allem in den letzten Wochen … nun ja, es kommt aus diesem Manuskript.«

Haddock nickt bedächtig, die schmalen Lippen zusammengepresst. Er sagt nichts. Das muss er nicht. Sein Schweigen spricht Bände.

Denn ihr, Emilia Ward, Bestsellerautorin der beliebten Krimireihe um Detective Inspector Moody, läuft die Zeit davon. Am Ende von Ihr letztes Kapitel lässt sie ihre geliebte Hauptfigur, DI Miranda Moody, sterben. Wenn das Muster so weitergeht, wenn, wer auch immer dahintersteckt, sich an die Geschichte hält, bedeutet das, dass nur noch ein großes Ereignis im Manuskript nicht eingetreten ist.

Detective Inspector Moodys Tod.

Und damit der ihre.

Teil eins

1 März 2022 

Emilia sitzt im Bus nach Hause, blickt aus dem Fenster in den bewölkten Himmel und denkt gerade, dass sie zu viel zu Mittag gegessen hat, als es passiert.

Ein Aufflammen blitzender Lichter, ein Aufheulen von Sirenen, dann rast auch schon ein Polizeiwagen vorbei, unmittelbar gefolgt von zwei weiteren.

Sie denkt sich nichts dabei. Wieder mal ein Unfall. Das ist sie gewohnt. Das ist schließlich London, um Viertel vor fünf an einem Freitagnachmittag, der übliche Feierabendverkehr zum Wochenende. Sie lehnt sich auf ihrem Sitz zurück und rätselt, wie sie am besten den Bund an ihrem Rock lockern könnte. Sie hätte nicht Ja sagen sollen zu dem Apfelstreuselkuchen mit Vanillesauce. Die Ausgabe der Grazia, die sie sich gekauft hat, bevor sie in den Bus an der Kensington High Street gestiegen ist, lugt aus der Tasche zu ihren Füßen. Aber die Fahrt zieht sich, und sie fühlt sich so eingepfercht, dass sie die Zeitschrift, aus Furcht, ihr könnte übel werden, nicht herausgeholt hat.

Die ältere Dame mit dem orange gemusterten Kopftuch neben ihr hat einen Langhaardackel auf dem Schoß. Als der Bus tuckernd zum Stehen kommt und die ausgestoßenen Auspuffgase durch den Fensterspalt hereinziehen, schnaubt sie ungeduldig. Mit ärgerlicher Miene dreht sie sich zu Emilia: »Gleich wird Rigsby Pipi machen müssen.«

Der Hund blickt aus bekümmerten braunen Augen zu Emilia hoch. Sie schenkt der Frau ein aufmunterndes Lächeln, beugt sich aber rasch vor, um ihre Tasche hochzunehmen, sodass sie zwischen ihrem Oberschenkel und dem Fenster klemmt – nur für den Fall, dass Rigsby beschließt, seine Blase auf ihrer geliebten Mulberry-Henkeltasche zu entleeren.

Sie sind jetzt auf der Kew Road. Bald müssten sie Key Gardens passieren, doch aufgrund des U-Bahn-Streiks ist auf den Straßen mehr los als sonst. Und so sitzt sie in diesem Bus fest, mit dem penetranten Geruch der Fleischpastete in der Nase, die ein junger Kerl vor ihr verschlingt, und der drohenden Aussicht, dass der Dackel neben ihr uriniert. Dabei kann sie es kaum erwarten, Elliot von ihrem Treffen mit ihrer Lektorin zu erzählen. Sie hat ihn beim Verlassen des Restaurants kurz angerufen, um ihn daran zu erinnern, Wilfie von der Schule abzuholen, hatte aber nicht die Zeit, ihm alles zu erzählen.

Heute früh war sie noch so nervös gewesen; erst hatte sie ihren Lieblings-Leoprint-Schal nicht finden können und dann vergessen, wo sie die Hausschlüssel hingelegt hatte.

»Du schaffst das«, sagte Elliot, als sie endlich aufbruchbereit war. Er drückte ihr einen Kuss auf die Wange, um ihren Lippenstift nicht zu verschmieren. »Sei einfach ehrlich. Sie wird es schon verstehen. Es geht immerhin um deine Karriere.«

Und ehrlich ist sie gewesen – bis zu einem gewissen Grad jedenfalls. Ihre Lektorin, Hannah, erblasste unter dem Make-up, als Emilia ihr gestand, dass sie ihre Hauptfigur in dem Band, an dem sie gerade schreibt – dem zehnten in der Reihe –, sterben lassen wolle. Hannah ist fast im achten Monat schwanger, und Emilia hatte schon Angst, sie würde frühzeitige Wehen bei ihr auslösen. Ihre grazilen Finger klammerten sich fest um ihr Limonadenglas, während Emilia ihr erklärte, dass sie einen ganz neuen Thriller schreiben wolle, dass sie das Gefühl habe, DI Miranda Moodys Geschichte sei vorbei. Sie gestand ihr nicht, dass dieses Buch eines der schwierigsten für sie gewesen war, dass sie irgendwann daran gezweifelt hatte, ob sie je in der Lage sein würde, sich eine Handlung zu überlegen, die gut genug wäre.

Hannah hatte einen Moment gebraucht, um zu antworten. Schließlich, mit angespannter Stimme, sagte sie: »Die Moody-Reihe hat sich allein in Großbritannien über zwei Millionen Mal verkauft. Das ist ein gewaltiges Risiko.«

Das war Emilia klar, natürlich war es das. Und es machte ihr Angst. Aber sie hatte das Gefühl, dass der Zeitpunkt richtig war. Zehn Bücher in zehn Jahren, und die Arbeit an Ihr letztes Kapitel war ein einziger Kampf gewesen.

Das Mittagessen endete mit einer Art Friedensabkommen: Emilia würde ihr die erste Manuskriptfassung, in der Detective Moody starb, rüberschicken, und Hannah würde sich anschauen, ob die Geschichte so funktionierte. Wenn nicht, würde Emilia das Ende abändern, sich eine Auszeit von der Reihe nehmen und an etwas anderem schreiben, aber eine Rückkehr von Detective Moody für die Zukunft offenhalten.

Der Bus hat sich immer noch nicht von der Stelle bewegt, und Emilia kann nichts sehen bis auf den sich stauenden Verkehr vor ihnen. Sie überlegt, ob sie den Rest der Strecke zu Fuß gehen soll – von hier aus sind es nur zwanzig Minuten –, doch falls der Busfahrer sich weigert, sie rauszulassen, wird sie unter den Blicken der anderen beschämt an ihren Platz zurückkehren müssen.

Plötzlich geht mit einem saugenden Geräusch die Flügeltür vorne auf, und ein Polizist steigt ein. Augenblicklich verstummen die Fahrgäste, wechseln fragende Blicke. Die Frau neben ihr beugt sich nach rechts, um einen Blick durch den Gang nach vorne zu werfen, dann dreht sie sich wieder zu Emilia um und blafft: »Was tut der denn hier?« Ganz so, als würde Emilia das wissen.

»Vielleicht informiert er den Busfahrer, dass es einen Unfall gab«, erwidert sie höflich. »Oder dass die Straße gesperrt ist.«

Der Polizist steigt wieder aus, und der Fahrer erhebt sich, um sich an die Fahrgäste zu wenden. Sein Gesicht ist gerötet, die Jacke spannt über dem riesigen Bauch. »Tut mir leid, meine Herrschaften«, beginnt er, »aber ich fürchte, die Straße runter gab es einen ernsten Zwischenfall. Leider müssen Sie hier aussteigen.«

Die Leute fangen an zu stöhnen und zu fluchen. Der Kerl vor ihr stopft die Reste seiner Fleischpastete in die Papiertüte zurück. Ihre Sitznachbarin schnaubt vernehmlich und schimpft über die Unannehmlichkeit. Immerhin kann Rigsby jetzt pinkeln, denkt Emilia, als sie der Frau dabei zusieht, wie sie den Hund vorsichtig im Gang absetzt, als wäre er aus Glas. Emilia kann es kaum erwarten, den Bus zu verlassen, bleibt jedoch geduldig sitzen, während alle anderen aufspringen und sich nach vorne durchschieben. Ihr Handy klingelt, gerade als sie auf den Bürgersteig tritt.

»Hey, Jas«, meldet sie sich. Der Wind hat aufgefrischt, und Emilia muss ihre Lederjacke fester um sich ziehen; sie wünschte, sie hätte einen wärmeren Mantel angezogen. Vor ihr drängen sich die Leute aus dem Bus, und sie kommt nicht an ihnen vorbei. Rigsby hat derweil sein Beinchen an dem nächstbesten Laternenpfahl gehoben.

»Wo bist du? Wilf führt sich auf wie die totale Nervensäge, und Elliot lässt ihn einfach, außerdem sollte Dad mich abholen, aber er ist spät dran, und ich kann meine Highwaist-Jeans nirgends finden.«

Emilia atmet tief durch und legt das Handy ans andere Ohr. »Die müsste im Trockner sein … Ich bin schon auf dem Heimweg, aber ich glaube, es hat irgendeinen Unfall gegeben.«

»Einen Unfall?« Da ist Angst in der Stimme ihrer Tochter. Unter aller Patzigkeit und allen Pubertätshormonen verbirgt sich ein sensibles, besorgtes Mädchen.

»Alles gut«, beruhigt Emilia sie. »Ich bin nicht darin verwickelt, aber wir mussten den Bus verlassen.«

»Kann Elliot dich nicht abholen?«

Emilia blickt die Straße runter. Die Autos stehen in beiden Richtungen Stoßstange an Stoßstange. Irgendwer hupt, worauf ihr sofort die Hutschnur hochgeht. Warum tun Menschen das? Das wird den Verkehr auch nicht beschleunigen. Sie bahnt sich einen Weg um die herumstehende Menschentraube und verfällt in einen energischen Schritt, wobei ihre Absätze über den Bürgersteig klappern. »Nein, es ist ja nicht weit, und die Straßen sind komplett dicht. Es geht schneller, wenn ich laufe.« Sie zögert. »Ich dachte, dein Vater wollte dich direkt von der Schule abholen.«

Jasmine schnaubt in den Hörer. »Angeblich ist ihm was dazwischengekommen, also hab ich den Bus genommen. Er meinte, er würde mich stattdessen um sechs zu Hause abholen.«

Emilia stellt sich vor, wie ihre Tochter gerade die Augen verdreht. Sie weiß, dass Jasmine eine komplizierte Beziehung zu Jonas hat. »Okay, ich mach so schnell ich kann. Und deine Jeans …«

»Ich weiß, ich weiß, im Trockner, hast du schon gesagt«, unterbricht ihre Tochter sie nun etwas besser gelaunt, was Emilias Stimmung sofort hebt. Sie macht sich Sorgen um Jasmine. Die ganzen Lockdowns haben sich ungut auf ihre seelische Gesundheit ausgewirkt, obwohl Elliot tolle Arbeit geleistet und ihr sehr geholfen hat, da er als Jugendlicher selbst unter starken Ängsten gelitten hatte. Jasmine war sozial schon immer etwas gehemmt, aber die Rückkehr an die Schule nach der neunten Klasse gestaltete sich für sie besonders herausfordernd, und anfangs hatte sie Mühe, sich einzufinden.

»Falls du schon fort bist, wenn ich zurückkomme, hab eine schöne Zeit bei deinem Vater, wir sehen uns Sonntag. Hab dich lieb.«

»Ich dich auch«, sagt Jasmine und legt auf.

Emilia lässt das Handy in ihre Jackentasche gleiten und beschleunigt ihre Schritte. Sie würde gerne zu Hause sein, bevor Jasmine aufbricht. Sie denkt an ihren Ex-Mann, Jonas, und dessen Frau, Kristin – ihre einstige Freundin –, daran, wie sie mit ihrer Tochter einen auf glückliche Familie machen. Irgendwie hat sie es Jasmine zuliebe geschafft, ein gutes Verhältnis zu Jonas aufrechtzuerhalten, auch wenn es nicht immer einfach war. Weitaus schwieriger findet sie es, Kristin zu vergeben.

Emilia schultert ihre Tasche und wünscht, sie hätte ihre flachen Stiefel angezogen. Als sie gerade in eine Seitenstraße einbiegen will, bemerkt sie ein Stück weiter einen Polizisten in einer gelben Warnweste, der den Verkehr umleitet, sowie zwei Feuerwehrfahrzeuge und mehrere Streifenwagen, die die Straße blockieren. Sie fragt sich, was wohl geschehen ist.

»Keine Ahnung, was los war, aber da war überall Polizei«, sagt Emilia etwas später zu Elliot, als sie in der weiträumigen offenen Küche das Abendessen zubereiten. Mit dem hellen Parkettboden, den marmornen Arbeitsflächen und den marineblauen Schränken ist es ihr absoluter Lieblingsraum im Haus. Zudem ist es der Mittelpunkt für ihre Familie, ein Ort, an dem sie alle zusammenkommen. Bei ihrem Einzug vor vier Jahren war das noch ein ferner Wunschtraum gewesen, doch nach fünf Monaten Umbauarbeiten, um die Küche zu erweitern und aufzupolieren, wurde sie letztes Jahr gerade rechtzeitig zu Weihnachten fertig.

»Hättest du nicht deine Polizistenfreundin fragen können – diese wie heißt sie noch mal?« Was Namen angeht, ist ihr Mann furchtbar. Jeder ist entweder die Wie-heißt-sie-noch-mal oder der Dingsda.

»Louise. Hätte ich schon, aber sie ist bei der Kriminalpolizei, daher bezweifle ich, dass sie was gewusst hätte.« Sie bückt sich, holt automatisch vier Teller aus dem Schrank und stellt sie auf die Arbeitsfläche; dann fällt ihr ein, dass Jasmine bei ihrem Vater ist, und sie stellt einen wieder zurück. Sie mag es nicht, wenn Jasmine nicht da ist. Das Haus fühlt sich ohne sie zu groß und zu leer an. Elliot hat ihr erzählt, Kristin sei vorbeigekommen, um sie abzuholen, da Jonas nicht wusste, wann er es aus dem Büro schaffte. Was Emilia sofort geärgert hat. Jonas sieht Jasmine nur alle zwei Wochen – das Mindeste, was er da tun kann, ist, dass er rechtzeitig Feierabend macht.

Sie dreht sich um und mustert Elliot, wie er am Herd steht. Der weiche Kaschmirpullover spannt über seinen breiten Schultern und unterstreicht seine schlanke Taille und die gebräunte Haut. Sie hat sich die Jahre über immer wieder gefragt, ob er Kristin genauso einfach erlegen wäre wie Jonas, wenn sie ein Auge auf ihn geworfen hätte. Er ist so anders als ihr Ex, nicht nur, was das Äußere angeht – dunkelhaarig und stämmig, wohingegen Jonas drahtig und blond ist –, sondern auch was die Persönlichkeit betrifft. Jonas hat immer schon gern geflirtet; er gefällt sich in der Vorstellung, dass andere Frauen ihn attraktiv und charmant finden, will, dass alle ihn mögen, ist stets der Mittelpunkt jeder Party, der Letzte, der das Pub verlässt, und ständig mit irgendwelchen neuen Kumpeln unterwegs. Elliot ist ehrlich, zuweilen sogar brutal ehrlich (einmal, als sie sich das Haar ein paar Nuancen dunkler gefärbt hatte, sagte er ihr, sie sähe aus wie Morticia Addams), und drückt sich meist vor geselligen Events; aber dafür weiß sie bei ihrem zweiten Mann, woran sie ist.

Elliot schlendert zum Fernseher im Sitzbereich der Wohnküche rüber; sein Spiegelbild erscheint in den Terrassentüren, die in den dunklen Garten hinausführen. Er schnappt sich die Fernbedienung, die Wilfie auf dem grauen Leinensofa liegen gelassen hat. »Vielleicht kommt es ja in den Nachrichten.« Mit einem Lächeln dreht er den Kopf zu ihr herum, während er die Fernbedienung auf den Fernseher richtet, und plötzlich quillt ihr Herz über vor Liebe für ihn. Elliot ist ein guter Mann. Ein verlässlicher Mann. Und er ist nicht eitel. Als Schriftstellerin verdient sie deutlich mehr als er, doch ihn stört das kein bisschen. Es war ihr Geld, mit dem sie sich diese weiß getünchte viktorianische Villa mit fünf Schlafzimmern in einer der besten Straßen von Richmond Hill leisten konnten. Jonas musste leise fluchen, als er sie das erste Mal sah.

Sie rührt im Wok und betrachtet zufrieden, wie das Hähnchen und die Paprika hübsch vor sich hin brutzeln; trotz ihres üppigen Mittagessens knurrt bei dem Geruch ihr Magen.

»Dad! Darf ich Adventure Time gucken?« Ihr achtjähriger Sohn, Wilfie, kommt mit dem PlayStation-Controller in den Händen aus dem Spielzimmer hereingeplatzt und hüpft von einem Bein aufs andere – ein einziges Energiebündel mit dem dunklen welligen Haarschopf seines Vaters.

»Einen Moment, kleiner Mann«, sagt Elliot. »Ich muss nur kurz die Nachrichten checken – Mum hat auf dem Heimweg was Interessantes gesehen, und wir wollen nur …« Aber Wilfie ist schon wieder fort. Elliot zieht die Augenbrauen in Emilias Richtung hoch, und sie lacht. Es ist ein Dauerwitz zwischen ihnen, dass ihr Sohn keine fünf Sekunden still stehen kann, außer um zu essen oder zu schlafen. Sobald es ans Essen geht, kommt er nämlich ganz nach ihr.

»Abendessen ist so gut wie fertig!«, ruft sie ihm nach, auch wenn keine Antwort kommt. Sie lässt ihn nur an die PlayStation, weil heute Freitagabend ist. Und das nutzt er offenbar bis zum Letzten aus – seit sie heimgekommen ist, hat er sich kaum blicken lassen.

»Warte mal … ich glaube, das ist es«, sagt Elliot und kommt, den Blick weiter auf den Bildschirm gerichtet, zu ihr zurück.

Sie schaltet den Wok aus, um sich an seine Seite zu stellen, und er legt einen Arm um ihre Schultern. Mit ihren eins achtundfünfzig kommt sie sich winzig vor neben seinen über eins achtzig.

EILMELDUNG wird auf dem Bildschirm eingeblendet, bevor eine elegant gekleidete Nachrichtensprecherin mit einem tadellosen blonden Bob eine Ansage zu mehreren Aufnahmen macht, die den Eingang zu Kew Gardens und das Polizeiaufgebot davor zeigen.

»Heute Nachmittag kam es zu einem ernsten Zwischenfall in den Londoner Kew Gardens. Die Polizei musste Besucher der Parkanlage evakuieren und die Kew Road unmittelbar vor der beliebten Touristenattraktion aus Furcht vor einem Terrorangriff weiträumig absperren. Gegen sechzehn Uhr fünfundzwanzig ging beim Personal des botanischen Gartens ein anonymer Hinweis ein, dass eine Bombe auf dem Anwesen deponiert worden sei. Zwar wurde von Spezialkräften der Polizei eine Reisetasche gefunden, doch wie uns in der Zwischenzeit mitgeteilt wurde, handelte es sich dabei um eine Attrappe, und die Tasche enthielt lediglich ein altes Transistorradio.«

Die Sprecherin geht zum nächsten Beitrag über, woraufhin Elliot den Fernseher ausschaltet und die Fernbedienung auf den Sofatisch legt. Er stellt sich an den Herd, und Emilia folgt ihm, wobei sie im Kopf noch mal den Nachrichtenbeitrag durchgeht.

Das kommt ihr so bekannt vor.

»Sicher ein paar Jugendliche, die sich besonders witzig vorkommen«, sagt er, während er das Pfannengerührte auf den Tellern verteilt. »Dabei ist das eine ernste Sache. Falls man sie schnappt …« Er blickt auf und muss ihren Gesichtsausdruck bemerken, denn er fragt sie, was los ist.

Sie schüttelt den Kopf. »Nichts, es ist nur … keine Ahnung. Ein bisschen schräg.«

»Was?«

»In meinem ersten Buch – du weißt schon, Der Brandstifter …«

»Wie könnte ich das vergessen?« Sein Blick wird weich.

Vor bald elf Jahren, als sie gerade daran schrieb, hatten sie einander in einem Café kennengelernt. Emilia steckte mitten in der Scheidung und lebte mit Jasmine in einer kleinen Wohnung zur Miete, nachdem Jonas sie aus ihrem gemeinsamen Haus in Twickenham herausgekauft hatte. Emilia hatte schon immer einen Roman schreiben wollen, doch nach dem Studium direkt einen Job bei einer lokalen Zeitung angenommen. Sie hatte gerade erst eine Stelle als feste Mitarbeiterin für eine der Sonntagsbeilagen ergattert, als sie herausfand, dass sie mit Jasmine schwanger war. Damals war sie dreiundzwanzig, chronisch pleite, wohnte mit Jonas zusammen, den sie in ihrem ersten Semester an der Uni in Brighton kennengelernt hatte, und die Schwangerschaft war nicht geplant gewesen. Als sie Jonas die Nachricht überbrachte, machte er ihr einen Antrag, und ein paar Monate später heirateten sie – eine kleine, etwas überstürzte Angelegenheit im örtlichen Standesamt.

Nach Jasmines Geburt konnte sie es sich nicht leisten, wieder Vollzeit in ihrem Job einzusteigen. Die Kita-Gebühren hätten ihr bescheidenes Gehalt verschlungen, und ihre Eltern lebten zu weit weg, um auszuhelfen – nicht, dass sie das getan hätten, hätten sie in derselben Stadt gewohnt –, also arbeitete sie frei, wenn es ihr möglich war. Als Jonas sie dann sitzen ließ, nutzte sie die Zeit, die Jasmine in der Schule war, um ein Buch über eine knallharte Ermittlerin zu schreiben. Eine starke, toughe Figur, weil sie selbst sich zu dieser Zeit so schwach und ohnmächtig fühlte.

Elliot war nach einem Kundentreffen während der Mittagspause in das Café am Flussufer spaziert. Das Erste, was ihr an ihm auffiel, waren seine warmherzigen braunen Augen. Freundliche Augen. Sie kamen ins Gespräch, nachdem sie ihn gebeten hatte, einen Blick auf ihren Laptop zu haben, während sie aufs Klo ging.

»Woher wusstest du, dass ich nicht damit abhauen würde?«, fragte er sie später mal.

»Weil du so ein vertrauenswürdiges Gesicht hast«, erwiderte sie.

Das verwendet er heute noch gegen sie, wenn sie ihn beschuldigt, die letzte Chipstüte stibitzt oder den Rest vom Kaffee ausgetrunken zu haben. Was, ich? Aber ich habe doch so ein vertrauenswürdiges Gesicht!

»Was ist damit?«, fragt er jetzt, während er in der Besteckschublade kramt.

»Na ja …«, beginnt sie und trägt die Teller zu dem Esstisch aus Eichenholz rüber. »In der Geschichte kommt genau das vor. Ein falscher Alarm. Eine Reisetasche mit einem Transistorradio, die in den Kew Gardens deponiert wird – weißt du noch?«

Klappernd legt er die Messer und Gabeln auf dem Tisch ab. »Solche Sachen passieren. Das hier ist London. Es ist nur ein Zufall. Das Buch hast du vor einer Ewigkeit geschrieben.«

Natürlich ist es ein Zufall. Es ist genau dieses vernünftige Denken, das sie an ihrem Mann schätzt. Sie selbst dreht immer gleich von null auf hundert auf. Dabei hat er recht – solche Sachen passieren. Es werden wohl Kiddies gewesen sein, die sich einen Scherz erlaubt haben.

So wie in ihrem Buch.

Elliot kommt wieder zur Kücheninsel zurück. Sie sieht ihm zu, während sie versucht, das nagende Gefühl zu verdrängen, dass es ein zu großer Zufall ist. Es ist zwar elf Jahre her, seit sie ihr Erstlingswerk geschrieben hat, und es ist nicht so, dass sie sich Wort für Wort an alles erinnert, aber mit einem Mal fällt es ihr ein.

Als es zum Bombenalarm in den Kew Gardens kommt, sitzt ihre Hauptfigur, Detective Inspector Miranda Moody, gerade in einem Bus auf der Kew Road, der geräumt werden muss.

Genauso wie sie vorhin.

»Ma’am. Hier entlang. Sie ist da oben …«

Detective Sergeant Saunders deutet zu dem heruntergekommenen Gebäude hin, das über der Strandpromenade aufragt. Es ist später Nachmittag, der Himmel von einem dichten Weiß, und Saunders stapft vor Kälte mit den Füßen auf. Entweder das, oder ihm geht die Geduld aus. Schwer zu sagen bei ihm. Ich bin seine Chefin, daher kann er mir schlecht sagen, dass ich mich verdammt noch mal beeilen soll, obwohl ich mir sicher bin, dass er genau das denkt. Ich erkläre ihm nicht, dass ich mir praktisch ein Bein ausreißen musste, um herzukommen, und auch nicht, dass ich gerade dabei war, meinen gebrechlichen Vater davon zu überzeugen, dass die Frau, die er abgöttisch liebt – meine Mutter –, in einem Pflegeheim besser aufgehoben wäre, als ich seinen Anruf erhielt. Und auch nicht, dass mein Ex-Mann mir gerade verkündet hat, dass er wieder heiratet.

In den fünf Jahren, die wir nun schon zusammenarbeiten, habe ich ihm rein gar nichts über mein Privatleben erzählt. So ist es besser. Während ich alles über seins weiß, da er die reinste Quasselstrippe ist. Nicht, dass es da viel zu wissen gäbe, bis auf die ständigen Kneipentouren mit seinen Kumpeln nach Feierabend und die Frauen, in die er sich immer Hals über Kopf verliebt, die aber seine Gefühle nie zu erwidern scheinen.

Wir zeigen den zwei uniformierten Kollegen, die das Gebäude bewachen, unsere Dienstausweise und bleiben kurz stehen, um in Schuhüberzieher zu schlüpfen. Flatterband ist bereits um den Tatort gespannt. Die beiden treten beiseite, um uns durchzulassen. Wir ducken uns unter dem Absperrband durch und achten darauf, nichts zu berühren, als wir den Flur betreten und die Treppe hochgehen. Der braune Teppich auf den Stufen ist abgewetzt, die Wände mit lachsrosa Raufaser tapeziert.

Der Geruch schlägt mir entgegen, kaum dass wir den Treppenabsatz erreicht haben. Die Wohnungstür steht offen, und jemand von der Kriminaltechnik ist bereits in dem kleinen von der Diele abgehenden Schlafzimmer. Saunders und ich bleiben auf der Schwelle stehen, achten darauf, nichts zu berühren, und warten, bis wir das Zimmer betreten dürfen. Von unserem Platz aus sehen wir, dass die Tote rücklings auf dem Bett liegt, Hände und Füße sind gefesselt. Sie trägt ein petrolgrünes Satin-Negligé, die Vorderseite ist blutgetränkt.

Die Kriminaltechnikerin blickt auf. Es ist Celia Winters. Mitte fünfzig und barsch in ihrer Art. Wir sind klug genug, den Tatort nicht zu betreten, solange sie ihren Job macht. Ihr gesamtes Auftreten ist seriös, professionell. Man würde nicht meinen, dass wir befreundet sind und regelmäßig einen heben gehen, wobei der Abend oft genug mit schiefen Gesangseinlagen in der Karaokebar im Zentrum von Plymouth endet.

»Erstochen«, erklärt sie. »Mehrere Stichwunden. Der genaue Todeszeitpunkt muss noch ermittelt werden, aber ich denke, dass sie mindestens schon zwölf Stunden hier liegt. Und da ist noch was.« Sie geht zum Bein des Opfers. »Hier, am Knöchel …«

Langsam drehe ich mich zu Saunders um, wohl wissend, dass sein Gesichtsausdruck und der Adrenalinschub sich in meinen Zügen widerspiegeln. Gespannt halten wir den Atem an. Warten. Ahnen bereits, was sie sagen wird.

»… findet sich eine Markierung. Wie ein Tattoo, nur mit einer kleinen Klinge gemacht. Es ist ganz frisch, und ich denke, dass es ihr kurz vor dem Tod in die Haut geritzt wurde, oder zumindest unmittelbar danach. Ihr könnt es von da wahrscheinlich nicht sehen, aber das Symbol ist klein und relativ filigran. Ein Dreieck mit seltsamen Augen und Fühlern. So etwas ist mir noch nicht untergekommen. Aber am ehesten sieht es aus wie ein Insektenkopf.«

Ich wechsle einen Blick mit Saunders. Wir wissen ganz genau, was es darstellt, auch wenn wir es seit Jahren nicht mehr gesehen haben, und Saunders auch nur auf Polizeiaufnahmen.

Eine Gottesanbeterin.

Und dann scheint auch bei Celia der Groschen zu fallen. Wir haben uns schon einmal darüber unterhalten, auch wenn sie, als er das letzte Mal zuschlug, nicht mit uns gearbeitet hat.

Ihr Mund klappt auf. »Scheiße«, murmelt sie, wobei ihr Blick dem meinen begegnet.

Meine Stimme klingt, selbst in meinen eigenen Ohren, düster. »Sieht aus, als wäre er zurück.«

Die Haustür steht offen, das Flurlicht fällt auf den frostbedeckten Gehweg. Jonas hat ihr den Rücken zugewandt und kriegt daher nicht mit, wie sie aus ihrem Nissan Leaf steigt und vorsichtig den Vorgarten durchquert, um nicht auszurutschen. Das gehört zu den vielen Dingen, die Emilia an ihrem Ex-Mann nicht vermisst: seine unpraktische Ader. Nicht so wie Elliot, der ihre Einfahrt bereits mit Steinsalz gestreut hat. Für Anfang März ist es ungewöhnlich kalt.

»Beeil dich! Deine Mum wird gleich hier sein!«, ruft er die Treppe hoch. Er muss sie beim Eintreten gehört oder bemerkt haben, denn er wirbelt herum und lächelt sie mit angespannter Miene an. »Oh, hi, Em. Tut mir leid, sie ist noch nicht fertig. Ich sag ihr schon seit einer Viertelstunde, dass sie ihr Zeug zusammenpacken soll.« Er zuckt mit den Schultern, um Lässigkeit vorzutäuschen, aber sie spürt den Stress von ihm ausströmen wie Dampf. Hat Jasmine über die Stränge geschlagen? Jonas weiß nicht immer, wie man am besten mit den Stimmungsschwankungen ihrer Tochter umgeht.

»Wie war es?«, erkundigt sie sich leise.

Er zieht eine Grimasse. »Nicht allzu schlimm. Gestern hat sie den Großteil des Tages in ihrem Zimmer verbracht, aber heute früh war Kristin mit ihr shoppen. Komm doch rein, du wirst noch erfrieren da draußen. Möchtest du eine Tasse Tee, während du wartest, dass Ihre Hoheit sich herabbequemt?«

Sie tritt in den Flur, der mehrmals renoviert worden ist, seit sie damals hier wohnte, und den jetzt eine sandfarbene Tapete, Messingwandleuchten und ein riesiger Spiegel zieren, der den beengten Raum deutlich größer erscheinen lässt. Laut Jasmine hat Kristin gerade eine »Innenarchitektinnen-Phase«.

Emilia überlegt kurz wegen der Tasse Tee. Ab und an, wenn Kristin nicht da war, hat sie das Angebot angenommen. Doch heute hat sie Kristins Mini-Cabrio draußen stehen sehen. »Danke, aber ich sollte bald los«, sagt sie daher und schiebt die Tür hinter sich zu, ohne den Riegel einrasten zu lassen.

»Klar.« Sein Lächeln gerät ins Wanken, und unwillkürlich muss Emilia an jenen Abend etwa ein Jahr nach ihrer Trennung denken, als er sie damit überrumpelt hatte, dass sie ihm fehle, nachdem er Jasmine bei ihr abgeliefert hatte. Sie war gerade erst mit Elliot zusammengekommen, daher schob sie es darauf, dass er plötzlich das wiederhaben wollte, was ein anderer Mann hatte. Was so typisch für ihn war. Seitdem hat er nichts mehr dergleichen gesagt, aber dieses Wissen ist wie ein geheimer Edelstein, den sie gelegentlich hervorholt, um sich an ihm zu ergötzen, bevor sie ihn wieder in den Falten ihrer Erinnerung verschwinden lässt. »Wie läuft es mit dem neuen Buch? Schon fertig?«

»Ja. Ich hab es heute früh an meine Lektorin geschickt.«

»Und was treibt Detective Miranda Moody in diesem Band?«

»Es ist mein bisher düsterster, denke ich. Ein Serienkiller, der seine Opfer mit einem Insektenkopf markiert. Reihenweise abgestochene Frauen. Eine locker-leichte Lektüre!« Sie stößt ein selbstironisches Lachen aus. »Oh, und Miranda stirbt am Ende.«

»Was?« Jonas reißt schockiert die Augen auf »Warum das denn? Du weißt doch, dass ich die alte Schachtel liebe!«

»Die Gute hat zehn Bücher hinter sich. Sie hatte ihre Zeit.«

Er starrt sie immer noch an, als wäre ihr ein zweiter Kopf gewachsen. »Aber wieso?«

»Ich will etwas anderes schreiben.«

»Ich wette, dein Verlag ist nicht allzu glücklich darüber.«

»Wir sind zu einem Kompromiss gekommen.« Sie erzählt ihm von ihrem Treffen mit ihrer Lektorin am Freitag.

»Und Hannah liest gerade die fertige Version?«

»Na ja, ich bezweifle, dass sie in diesem Moment liest. Es ist Sonntag. Aber ich hoffe, sie meldet sich bald, denn sie hat mich gebeten, das Ende offenzulassen, wenn sie meint, dass die Story so nicht funktioniert. Dass Detective Moody vielleicht nur schwer verletzt wird, aber nicht wirklich stirbt … Ich weiß noch nicht. Womöglich wäre das das Beste.«

»Ich persönlich finde, du solltest es offenlassen. Aber ich bin ja auch ein Fan.«

»Das musst du ja sagen, als Vater meines Kindes!«

»Was muss er sagen?«

Sie drehen sich um, als Kristin mit ihren ganzen eins achtundsiebzig im Flur erscheint – das meiste davon ellenlange Beine, dazu das dunkle Haar zu einem locker-eleganten Dutt aufgetürmt. Ein Schimmer solariumgebräunter Haut blitzt durch die Cut-outs an den Schultern ihres Pullis. Beinahe vierzig und immer noch genauso umwerfend wie damals an der Uni, als Emilia sie kennengelernt hatte. Sofort fühlt Emilia sich plump in ihrer Gegenwart und zieht wie zum Schutz ihren dicken Wollmantel fester um sich.

»Wir haben uns gerade über Ems neues Buch unterhalten.«

»Oh, ja. Ich bin schon supergespannt. Das letzte habe ich geliebt.«

Das ist eine Sache, die sie Kristin und Jonas zugutehalten muss: Was Emilias Schreiberei angeht, haben sie immer Begeisterung an den Tag gelegt. Sie richtiggehend unterstützt. Vielleicht haben die beiden aber auch nur Schiss, dass sie in einem ihrer Bücher auftauchen könnten – die Feder ist mächtiger als das Schwert und so. Und sie ist durchaus versucht gewesen.

»Danke.« Emilias Wangen laufen rot an. Sie weiß nie so recht, wie sie Kristin nehmen soll. Selbst als sie noch Freundinnen waren, konnte Kristin von einem Augenblick auf den anderen von charmant zu gemein umschwenken, aber sie bewunderte ihre draufgängerische Art und ihren bissigen Humor. Niemand hat sie je so zum Lachen gebracht wie Kristin damals. Und obwohl sie wahnsinnig gut aussah, nahm sie sich selbst nie zu ernst – wenn sie abends zusammen aus waren, blödelte sie auf der Tanzfläche herum, ohne sich darum zu scheren, was für eine Figur sie dabei machte. Selbst heute noch, nach all den Jahren, vermisst ein Teil von Emilia ihre Freundschaft.

Kristin lehnt sich an Jonas, und er legt zufrieden lächelnd den Arm um ihre Schultern. Es ist nun elf Jahre her, und doch verpasst es Emilia immer noch einen Stich, sie so verliebt miteinander zu sehen – so, als wäre sie in ein Paralleluniversum gestolpert.

»Wir haben Neuigkeiten«, meldet sich Kristin zu Wort.

»Ach ja?« Ist Kristin schwanger? Es wundert sie, dass es noch nicht passiert ist. Kristin sagte früher immer, dass sie eines Tages gerne Kinder haben würde. Emilias Blick fällt auf den Bauch ihrer ehemaligen Freundin, der immer noch genauso flach ist wie damals mit zweiundzwanzig.

»Wir ziehen um! Endlich!«

Sie verspürt eine Woge der Erleichterung, dass noch kein Kind unterwegs ist. Jasmine war noch so klein, gerade mal vier, als Emilia Elliot kennenlernte, und dann, drei Jahre später, kam auch schon Wilfie. Die mit einem neuen Baby verbundene Veränderung und das emotionale Chaos wären für ihre Tochter im Moment womöglich nicht das Beste.

»Das sind tolle Neuigkeiten. Wohin denn?« Bitte sag nicht nach Richmond. Bitte sag nicht nach Richmond.

»Nach Teddington. An der Schleuse. Ein herrliches Haus. Und so viel mehr Platz, nicht wahr, Liebling?«

Jonas nickt, doch Emilia lässt sich nicht von dem schmalen Lächeln täuschen. Sie kann die Panik hinter seinen Augen sehen.

»Ich freue mich wirklich für euch.« Sie weiß, dass Jonas es seit der Scheidung finanziell schwer hat und einen Kredit aufnehmen musste, um sie aus ihrem gemeinsamen Haus rauszukaufen. Er wollte damals nicht ausziehen, angeblich, weil seine Eltern fußläufig nur fünf Minuten entfernt wohnten, doch sie vermutet eher, dass es an seiner Trägheit lag, dem Unwillen, sich Änderungen auszusetzen. Auch wenn sie sich noch an den Anflug von Neid in seinem Gesicht erinnert, als sie und Elliot vor vier Jahren ihre viktorianische Villa kauften. Zudem hat sie den Eindruck, dass Kristin an der finanziellen Front auch keine große Hilfe ist, indem sie ständig ein Job-Projekt gegen das nächste tauscht.

»Danke.« Kristins blaue Augen leuchten auf. »Ich freue mich schon riesig darauf, mich an die Inneneinrichtung zu machen. Mir schweben da weiß getünchte Wände und helle Holzdielen vor. Das Licht ist wirklich besonders. Ich kann es kaum erwarten, dass du es siehst. Es ist herrlich, endlich mein eigenes Zuhause gestalten zu können. Das hier …«, sie blickt sich in dem schmalen Flur um, »… ist nicht unbedingt, was ich mir ausgesucht hätte.«

Jonas sieht in Emilias Richtung und zieht eine Braue hoch, sagt aber nichts. Es juckt sie, Kristin zu fragen, was sie denn ausgesucht hätte, wenn sie mit dreiundzwanzig und hochschwanger für ein mickriges Gehalt bei einem Lokalblatt gearbeitet hätte. Emilia und Jonas fanden immer, dass sie es ganz gut gemacht hatten, in so jungen Jahren ein Haus zu kaufen. Nicht, dass Kristin sich zu der Zeit um so etwas hätte sorgen müssen, denn sie gondelte damals mit einem reichen Lover durch Australien, von dem alle dachten, dass sie ihn heiraten würde.

»Wie dem auch sei«, sagt Emilia mit einem demonstrativen Blick auf ihre Armbanduhr, obwohl sie ohne Brille kaum etwas sieht, »wo steckt Jas?«

Jonas dreht sich um und brüllt die Treppe hoch, woraufhin Jasmine mit dem Rucksack über der Schulter und dem Handy am Ohr heruntergetrampelt kommt. »Ja, ist ja gut, ich hab doch gesagt, ich komme.« Und dann ins Handy: »Ich ruf dich zurück, Nance.« Sie steckt ihr Handy ein und streicht sich das blonde Haar aus dem Gesicht. Als sie unten ist, steigt sie in ein paar klobige weiße Turnschuhe, die Emilia schon immer grässlich fand.

»Na, dann komm, mein Schatz. Lass uns gehen«, sagt sie und legt einen Arm um Jasmines Schultern.

»Kommt Tante Ottilie wirklich?«

Sie kann sich den Anflug von Genugtuung nicht verkneifen, als Kristin beim Namen ihrer einst gemeinsamen Freundin zusammenzuckt. Nicht, dass Ottilie die letzten elf Jahre auch nur ein Wort mit Kristin gewechselt hätte. Die drei mögen in ihren späten Teenager- und früher Zwanzigerjahren unzertrennlich gewesen sein, nachdem Emilia die beiden einander vorgestellt hatte, doch Emilia kennt Ottilie nun mal schon, seit sie beide im zarten Alter von elf Jahren an das kalte, steife Internat kamen. Ihre Bande reichen viel weiter zurück. Ottilie hat Kristin nie verziehen, den, wie sie ihn nannte, »Mädchen-Kodex« gebrochen zu haben.

»Ja, sie kommt, und Grampy Trevor auch.« Trevor ist Elliots Vater und damit zwar nicht Jasmines gebürtiger Großvater, aber sie hat ihn von klein auf vergöttert, und umgekehrt ebenso.

»Wie geht es Ottilie denn?«, fragt Kristin um einen desinteressierten Tonfall bemüht, obwohl Emilia weiß, dass sie immer eine seltsame Faszination für sie gehegt hat. So geht es den meisten Menschen, die Ottilie treffen. Ihre Freundin ist anders als irgendwer sonst, den sie kennt.

»Ihr geht’s gut. Tatsächlich sogar supergut. Frisch verliebt, auch wenn ich noch nicht die Bekanntschaft des Typen gemacht habe. Er lebt in Deutschland. Sie hat ihn kennengelernt, als sie ihren Vater in Hamburg besuchen war.«

»Das freut mich für sie.«

»Und Elliot macht zur Feier einen Sonntagsbraten mit allem Drum und Dran.« Sie weiß, das ist kindisch von ihr, aber Jonas ist ein furchtbarer Koch.

»Oh, Elliot macht den leckersten Braten überhaupt!«, ruft Jas sehr zu Emilias Freude.

»Wie schön«, trällert Kristin, als Emilia die Tür öffnet, »vor allem, wenn man es sich leisten kann, Kartoffeln dazu zu essen. Ich habe seit 2008 keine Kohlenhydrate mehr zu mir genommen.«

Jasmine umarmt Kristin und ihren Vater flüchtig zum Abschied, und Emilia scheucht sie, so schnell es die eisige Witterung zulässt, durch den Vorgarten. Sie ist mehr als froh, als sie endlich im Wagen sitzen. Gott, sie kann es kaum erwarten, dass Jasmine alt genug ist, allein zu fahren, und sie nicht mehr alle zwei Wochen ihrer ehemaligen Freundin gegenübertreten muss.

Jasmine stößt die unabgeschlossene Haustür auf, die in den Windfang führt, lässt ihren Rucksack neben dem teuren knallgrünen Fahrrad fallen, von dem Elliot immer beteuert, dass er damit fahren wird, es aber nie tut, flitzt durch die gläserne Innentür in den geräumigen Flur und direkt die Treppe hoch. Es bleibt an Emilia, den Rucksack aufzuheben. Sie hat nicht die Energie, ihre Tochter noch einmal nach unten zu rufen.

Sie will ihn gerade in den Hauswirtschaftsraum bringen, als sie eine Frauenstimme aus dem »schicken Wohnzimmer« hört, wie sie es nennen, da sie den Raum nur nutzen, wenn Gäste kommen. Darin gibt es ein petrolblaues Sofa im Chesterfield-Stil, deckenhohe Bücherregale, aber keinen Fernseher. Ottilie hockt auf dem goldsamtenen Sessel am Erkerfenster; sie steckt noch in ihrem weißen Kunstpelzmantel samt Mütze, und ihr blondes Haar ergießt sich seidig über ihre Schultern. Sie sieht aus wie eine Schneekönigin. Elliot sitzt auf dem Sofa, ein Glas Wein in der Hand. Als Emilia hereinkommt, entschuldigt er sich rasch, um nach dem Abendessen zu sehen, und wirkt erleichtert, sich verziehen zu können. Sie weiß, dass Elliot Small Talk schwerfällt, selbst mit Ottilie, die ihn ohnehin nie zu Wort kommen lässt.

»Mils!«, quietscht Ottilie, als sie Emilia erblickt. Ihre Freundin ist die Einzige, die sie so nennt – ein Überbleibsel aus ihrer Schulzeit, als alle sie Milly nannten. Sie springt vom Sessel auf und wirft sich in Emilias Arme. Sie riecht nach frischer Winterluft und einem teuren Parfum. Über einen Monat ist es her, dass sie sich gesehen haben, doch auch wenn sie sich gestern erst gesehen hätten, würde Ottilie sie auf diese Weise begrüßen.

Emilia lacht. »Wie war Hamburg, und wann lerne ich deinen neuen Freund kennen?«

»Ganz fantastisch, wie immer. Und bald, versprochen. Er heißt übrigens Stefan, und diesmal bin ich echt hin und weg.«

Emilia weist sie nicht darauf hin, dass sie das immer ist. Sie kapiert eigentlich nicht, warum es mit Ottilies Beziehungen nie klappt – wenn man einmal davon absieht, dass ihre Freundin selbst freimütig einräumt, dass sie extrem unabhängig ist und nicht gewillt, sich in irgendeinem Aspekt ihres Lebens an einen anderen Menschen anzupassen.

»Das Gästezimmer ist bereit, falls du bleiben magst«, sagt sie, während sie Ottilie Mantel und Mütze abnimmt. Sie hängen über ihrem Arm wie Polarfüchse.

»Danke, aber ich nehme mir nachher ein Uber nach Hause.« Obwohl ihr Vater, Charles, mittlerweile in Deutschland lebt, war er clever genug, sich in den späten 70ern eine Wohnung in South Kensington zu kaufen, in der Ottilie praktisch für ein Almosen wohnen darf – unter der Bedingung, dass er bei ihr unterkommt, wenn er selbst mal in England ist. »Dad aalt sich momentan mit seiner neuesten Flamme unter der indonesischen Sonne.« Sie verdreht die Augen, doch Emilia weiß, dass es sie schmerzt. Ihre Mutter starb, als Ottilie noch klein war, und sie war immer auf der Suche nach einer Mutterfigur, die sie in der Reihe junger Partnerinnen ihres Vaters nie fand. »Wann kommt Trev?«

Ottilie ist der einzige Mensch, der Elliots Vater »Trev« nennen darf – wahrscheinlich weil Trevor ein kleines bisschen in Ottilie verliebt ist. Elliots Mutter starb vor acht Jahren, und obwohl sie und Elliot vermuten, dass Trevor seither Freundinnen gehabt hat, war es wohl nie was Ernstes. Er kommt gerne einmal im Monat zum Abendessen vorbei, aber immer ohne Begleitung.

Emilia sieht auf ihre Uhr. »Er dürfte in einer halben Stunde hier sein. Ich ziehe mich besser mal um.«

Ottilie trägt ein smaragdgrünes 1930er-Jahre-Kleid mit einer Strassschließe an der Taille. Sie sieht aus wie ein Filmstar, und auf einmal fühlt Emilia sich völlig underdressed in ihrer Boyfriend-Jeans und dem Strickpulli, obwohl sie extra Make-up aufgetragen hat, um Jasmine abzuholen.

Elliot kommt mit einem Glas Wein für sie zurück. »Na, meine Schöne, wie geht es Jas?« Er reicht ihr das Glas.

»Sie ist direkt auf ihr Zimmer gedüst, um mit Nancy zu quatschen.« Sie nimmt den Wein und nippt daran.

»So wie wir damals an der Schule«, sagt Ottilie. »Weißt du noch, wie Mrs. Maynard uns mal aus dem Klassenzimmer geworfen hat, weil wir einfach nicht die Klappe halten konnten?«

Elliot zieht eine Augenbraue hoch. »Warum überrascht mich das nicht?«

»Das kam regelmäßig vor.« Emilia lacht. »Okay, ich muss mich jetzt wirklich umziehen.« Sie nimmt noch einen Schluck von ihrem Wein und reicht Elliot das Glas. Bevor sie nach oben geht, sieht sie noch nach Wilfie. Er sitzt auf dem Sofa in der Wohnküche und sieht sich einen Cartoon an, während er gleichzeitig durch einen Beano-Comic blättert.

»Grampy wird gleich hier sein«, sagt sie und wuschelt ihm durchs Haar.

Wilfie stöhnt. »Dann werdet ihr nur über ödes Erwachsenenzeug reden.«

»Du weißt doch, dass Grampy bei der Polizei war, als dein Dad selbst noch ein kleiner Junge war. Du könntest ihn doch danach fragen.« Erst diese Woche hat Wilfie beschlossen, dass er Kriminalpolizist werden will, wenn er groß ist – so wie Louise, die Mutter von seinem Freund Toby. Letzten Monat war es noch Feuerwehrmann.

»Ich wollte vor ein paar Tagen Tobys Mum fragen, aber sie war nicht da.«

»Tobys Mum ist nicht oft zu Hause. Das weißt du.« Louise ist zu einer guten Freundin geworden, seit ihr Sohn in der zweiten Klasse an Wilfies Schule kam, und war Emilia bei ihrem aktuellen Miranda-Roman eine unschätzbare Hilfe. Aber sie schiebt auch ständig Überstunden, daher ist es normalerweise Frances, ihre Schwiegermutter, die sie beim Abholen an der Schule oder auf dem Spielplatz trifft.

Er seufzt schwer. »Na schön. Dann frage ich eben Grampy. Aber er ist jetzt alt. Was, wenn er sich nicht erinnern kann?«

Trevor ist zweiundsechzig und damit wohl kaum als alt zu bezeichnen. Außerdem ist er fitter als Emilia, läuft regelmäßig seine Halbmarathons. Sie lacht. »Ich glaube, er wird sich sehr gut erinnern.« Sie drückt ihrem Sohn einen Kuss auf den Kopf und erklärt, dass sie sich noch umziehen muss.

Eilig verschwindet sie nach oben ins Schlafzimmer, reißt den Kleiderschrank auf, zieht eine Auswahl an Klamotten heraus und wirft sie aufs Bett. Schließlich entscheidet sie sich für eine taupefarbene Stoffhose, die ihr einen flachen Bauch zaubert, sowie ein schwarzes Seidentop, das ihre große Brust umschmeichelt, und kämmt rasch ihr dunkelblondes Haar durch.

Als sie die Treppe herunterkommt, sieht sie im Windfang Trevor, der sich Mühe geben muss, Elliots Rad nicht umzustoßen, als er die innere Glastür aufzieht. Eine Eisschicht ziert die Schultern seines marineblauen Trenchcoats, und seine Nase ist gerötet. Er schenkt ihr ein Grinsen und reicht ihr ein Päckchen. »Das lag in eurem Windfang«, erklärt er, als sie es entgegennimmt. »Ich hab dir doch gesagt, ihr solltet die Haustür immer abschließen.«

»Ich schließe die Glastür ab.«

»Tja, gerade war sie aber nicht abgeschlossen. Ich konnte problemlos hereinspazieren. Außerdem kann man Glas einschlagen.«

Sie verdreht gespielt genervt die Augen. »Gesprochen wie ein echter Wachmann.«

Er verlagert das Gewicht von einem Bein aufs andere. »Es gab Einbrüche in der Gegend. Erst letzten Monat bei uns im Laden.« Trevor arbeitet als Wachmann in einem Elektrofachmarkt, ein Job, den er liebt, da er ihm das Gefühl gibt, nützlich zu sein, wie er sagt.

»Der Laden ist in Brentford.«

»Emilia!« Er stößt ein verzweifeltes Schnauben aus.

»Schon gut.« Sie hebt die Hände. »Ich kapiere, was du meinst. Und über Nacht sperre ich wirklich beide Türen ab. Es ist nur, tagsüber … du weißt schon, wenn ständig alle rein und raus rennen. Außerdem dachte ich mir, dass Elliots Rad viel zu hässlich ist, als dass irgendwer es klaut.«

Sie legt das Päckchen auf dem Konsolentisch neben dem Strauß weißer Lilien ab, den man ihr vor ein paar Tagen geschickt hat. Auf der Karte stand keine Nachricht, doch sie geht davon aus, dass er entweder von ihrer Verlegerin oder von ihrem Agenten kam – obwohl beide es verneint haben.

Trevor schlüpft aus seinem Mantel und hängt ihn an den Garderobenständer in der Ecke. »Ich habe gehört, die göttliche Ottilie wird heute Abend zugegen sein.«

»Jetzt hör auf mit dem Süßholzraspeln. Du weißt, dass sie viel zu jung ist für dich!«

»Was sind schon fünfundzwanzig Jahre?« Er zwinkert ihr zu und fährt sich mit der Hand durch das dünner werdende weiße Haar. Er ergraute auf einen Schlag, nachdem Elliots Mutter, May, starb.

»Ach, Trev, du weißt doch, dass du mein Kerl Nummer eins bist und bleibst«, meldet sich Ottilie, die aus dem Wohnzimmer spaziert kommt. Sie umarmt ihn herzlich, dann hakt sie sich bei ihm unter und lässt sich von ihm durch den viktorianisch gefliesten Flur in die Küche führen, als wären sie zwei Schauspieler auf einer Premiere. Emilia will ihnen gerade folgen, als Jasmine die Treppe herunterkommt – der Bratengeruch zieht sich offenbar schon durchs ganze Haus.

»Ich bin am Verhungern. Bei Dad gibt es nie was zu essen, nur so eklige Reiskuchen und Salat. Oh, ist das meine Lieferung?« Jasmine flitzt, nach Minzkaugummi und ihrem geliebten Wassermelonen-Bodyspray duftend, an ihr vorbei. Mit strahlendem Gesicht schnappt sie sich das Päckchen. »Ich hab bei Amazon ein paar neue Notizbücher bestellt.« Sie ist besessen von Schreibwaren. Doch sogleich verblasst ihr Strahlen. »Oh, das ist für dich.« Sie wirft das Päckchen auf den Tisch zurück und schlurft zu den anderen in die Wohnküche. Sie hört das Ploppen eines Korkens, gefolgt von Ottilies Lachen.

Emilia greift nach dem Päckchen. Von ihrem Verlag ist es schon mal nicht, denn es ist an ihren Ehenamen, Rathbone, adressiert, nicht an ihren Mädchen- und Künstlernamen, Ward. Das Letzte, was sie selbst bestellt hat, war ein Oberteil im Sale, das schon längst geliefert wurde – ein Fehlkauf, einmal getragen und dann ausrangiert. Ihre Neugier siegt, und sie reißt das Päckchen auf. Im Inneren befindet sich ein weiteres Päckchen: eine königsblaue Schachtel mit einem Wappen obendrauf wie von einem Juwelier. Vielleicht eine Überraschung von Elliot. Obwohl sie nicht wüsste, warum. Erschrocken fragt sie sich, ob sie irgendeinen Jahrestag vergessen hat – aber nein. Kennengelernt haben sie sich im November und geheiratet im Juni. Vorsichtig holt sie die blaue Schachtel aus dem Pappkarton. Sie ist ganz leicht. Gespannt hebt sie den Deckel an. Da, eingebettet in blaues Seidenpapier, liegt eine Möwe aus Porzellan. Ein ziemlich hässliches und billig aussehendes Teil, als käme es von einem Wohltätigkeitsbasar oder aus einer Schnäppchen-Abteilung. Definitiv nicht von einem Juwelier. Und schon gar nicht von einem, der ein vornehmes Silberwappen auf eine königsblaue Schachtel geprägt hat. Verwirrt betrachtet sie die Figur. Dann hebt Emilia sie heraus, doch zwischen ihren Fingern hat sie nur den Körper. Der Kopf der Möwe, am Hals abgetrennt, liegt noch in dem blauen Seidenpapier. Sie inspiziert das Innere der Schachtel, dann die Verpackung, in der Erwartung, eine Nachricht zu finden. Aber da ist nichts.

Detective Inspector Miranda Moody hat eine Möwenphobie. Das Motiv zieht sich durch alle zehn Bände. Noch einmal untersucht Emilia die Verpackung, und ihr Herz schlägt unwillkürlich schneller. Auf dem Päckchen ist keine Briefmarke. Es sieht ganz so aus, als wäre es persönlich abgeliefert worden.

Und trotz des großen altmodischen Heizkörpers neben ihr, der seine mollige Wärme verströmt, fröstelt sie.

Angewidert schaue ich zu, wie eine Möwe am Ufer einem Fisch mit einem einzigen Biss den Kopf abreißt. Ich hasse diese Viecher. »Ratten der Lüfte«, sagte meine Mutter immer. Ich bin erleichtert, als sie davonfliegt und in den Wolken verschwindet. Ich zünde mir eine Zigarette an und nehme ein paar Züge. Die untergehende Sonne wirft ein fleckig-ockerfarbenes Licht auf das Grau des Wassers und überzieht den Himmel mit einem fahlen Gelb. Der Tatort, den ich gerade verlassen habe, hängt mir immer noch nach. Wie kann die Welt gleichzeitig so schön und so unfassbar hässlich sein.

»Bitte sehr, Ma’am«, meldet sich Saunders an meiner Seite und reicht mir einen Kaffee.

»Danke.« Ich nehme ihm den Becher ab.

Er macht einen Satz, um sich zu mir auf die Mauer zu setzen. Mit seinen fünfunddreißig ist er zweiundzwanzig Jahre jünger als ich und nur wenige Jahre älter als mein Sohn. Meistens geht er mir wahnsinnig auf die Nerven, aber im Moment empfinde ich seine Gegenwart als tröstlich. Ich nippe an dem zu dünnen Kaffee und blicke in den dämmernden Himmel hinauf. Der Wind frischt auf, wirbelt um meine Knöchel, und ich umfasse den Becher fester, um mich daran zu wärmen.

Schließlich sagt er: »Ich kann nicht fassen, dass er zurück ist.«

»Ich weiß.«

»Es ist jetzt … Wie lang meinten Sie? Fünfzehn Jahre her?«

»Sechzehn. Beinahe auf den Tag genau. Sein letztes Opfer starb im Februar 2005.«

Den ersten Mord verübte er vor fünfundzwanzig Jahren. Ich war damals zweiunddreißig und gerade frisch in den Rang eines Detective Sergeant befördert worden. Es war einer der größten und zugleich frustrierendsten Mordfälle, an denen ich je gearbeitet habe. Der Täter brachte über einen Zeitraum von acht Jahren sieben Frauen um – von denen wir wussten –, ohne je geschnappt zu werden, und schien sich danach jedes Mal in Luft aufzulösen.

»Kann er es wirklich sein?«, fährt Saunders fort. »Nach all der Zeit?«

Das hatten wir schon durch. Ich weiß, dass Saunders nur redet, um etwas zu sagen. Sollte jemals ein Schweigen eintreten, wird Saunders es füllen. Obwohl ich, wie gesagt, heute Abend froh über die Ablenkung bin. Nichts hat mir je so das Gefühl des Versagens gegeben wie meine Unfähigkeit, diesen Fall zu lösen. Die Schuldgefühle, dass all diese Frauen durch die Hand dieses Dreckskerls sterben mussten, halten mich nachts immer noch wach.

Saunders berührt die vor Gel starrenden Spitzen seines dunklen Haars. Ratlos blickt er auf das schiefergraue Meer, als würde es die Antwort bergen.

Er will schon den Mund öffnen, als ich ihm zuvorkomme: »Wenn ich ehrlich bin, habe ich gehofft, dass er tot ist. Aber das hier lässt darauf schließen, dass er womöglich im Gefängnis war. Wir müssen sämtliche Häftlinge, die in letzter Zeit entlassen wurden, unter die Lupe nehmen. Jeden, der die letzten sechzehn, siebzehn Jahre inhaftiert war. Nach seinem letzten Opfer.«

»Belinda Aberdale«, sagt er ernst, als würde ich es nicht wissen, obwohl ich ihm davon erzählt habe. Er muss damals, 2005, noch ein Student gewesen sein. Die Namen der sieben Opfer haben sich in mein Gedächtnis geätzt. Ich erinnere mich noch heute an Belindas sommersprossiges Gesicht, als wäre es gestern gewesen. Ihr dunkles Haar, ihre blauen Augen, ihr etwas schiefes Lächeln. Sie war zweiundvierzig. Ehefrau, Mutter, Schwester und Tochter. »Sie denken nicht, dass es ein Nachahmungstäter sein könnte, oder?«

Ich habe mich dasselbe gefragt, als wir oben waren und Celia uns die Markierung am Knöchel zeigte. Es ist eine grobe Zeichnung, detailliert zwar, aber hastig angebracht, blutig. Genau wie die anderen. Sie erinnert an einen Insektenkopf – es war mein damaliger Vorgesetzter, DCI Charles Bentley-Gordon, der von einer Gottesanbeterin sprach, und der Name blieb hängen, auch nachdem er die Truppe verlassen hatte.

»Das Detail mit den Insektenmarkierungen haben wir nie bekannt gegeben«, werfe ich ein, drücke meine Kippe auf der Mauer aus und nehme noch einen Schluck Kaffee. »Die Information wurde nie an die Presse oder die Öffentlichkeit gegeben.« Ich seufze. »Nein, ich denke, es ist derselbe Mörder. Er muss es sein.« Ich hüpfe von der Mauer, schreite knirschend über den Kiesstrand und steuere das Haus an, wo Celia noch zugange ist. Saunders folgt mir.

»Warten Sie hier«, weise ich ihn an, als wir das Haus erreicht haben. »Es dauert keine Minute.«

Er nickt und beginnt ein Gespräch mit zwei Kollegen, die den Tatort bewachen.

Als ich die Treppe hochsteige, kommt Celia gerade mit ernster Miene aus der Wohnung. »Ah, da bist du ja«, sagt sie, als sie mich sieht. »Kannst du kurz mitkommen? Ich muss dir etwas zeigen, das ich für wichtig halte.«

Am Dienstagmorgen sitzt Emilia in ihrem Arbeitszimmer oben im Dachgeschoss und wartet. Hannah wollte gegen zehn Uhr anrufen, und sie kann sich nicht entspannen, bis sie nicht mit ihr gesprochen hat. Sie sorgt sich nach wie vor, was ihre Lektorin zu ihrem neuesten Werk sagen wird.