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Esther Adlers autobiografisch inspirierter Roman erzählt die fesselnde Geschichte zweier Mädchen, die sich 1930, an ihrem ersten Schultag, in Breslau, Deutschland, kennenlernen. Elli Cohen und Gina Wolf erleben unmittelbar den Aufstieg des Nationalsozialismus, den wachsenden Antisemitismus um sie herum und die diskriminierenden Gesetze gegen die jüdische Bevölkerung. Während Elli davon träumt, nach Palästina auszuwandern, auch um den Preis, ihre Familie zu verlassen, kann sich Gina nicht vorstellen, sich von ihren Eltern zu trennen. Nach der Reichspogromnacht 1938 setzt Elli ihren Plan in die Tat um und reist nach Palästina aus; dort besucht sie eine jüdische Mädchenschule in Jerusalem. Gina hingegen wird von ihren Eltern unter falscher Identität bei einer befreundeten christlichen Familie in der Nähe untergebracht, bei der sie als Nichte des Hausherrn leben soll. Die beiden besten Freundinnen verlieren so den Kontakt zueinander. Esther Adler zeichnet eindrucksvoll die Lebenswege der beiden Mädchen vor dem Hintergrund des Zweiten Weltkriegs, des Holocaust und der Entwicklungen in Palästina nach. Esther Adler, Jahrgang 1924, wuchs in einer orthodoxen jüdischen Familie polnischer Herkunft in Breslau (heute Wrocław, Polen) auf. 1939, im Alter von fünfzehn Jahren, floh Esther nach Palästina. Nachdem sie 2015 als Zeitzeugin im Dokumentarfilm „Wir sind Juden aus Breslau“ (www.judenausbreslaufilm.de) mitgewirkt und ihre Geschichte deutschen und polnischen Jugendlichen erzählt hatte, veröffentlichte sie mit dem Buch „Best Friends. A Bond that Survived Hitler“ einen einmaligen Einblick in die Welt der Breslauer Juden in der Zeit des Nationalsozialismus kurz vor ihrer Auslöschung in der Schoah. Die vorliegende deutsche Übersetzung von Dorothea Traupe wurde um Fotos, Dokumente, einen Stadtplan und ein Glossar sowie Anregungen und Fragen für die Lektüre mit Jugendlichen ergänzt.
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Seitenzahl: 248
Veröffentlichungsjahr: 2019
ibidem-Verlag, Stuttgart
Esther Adlers Buch „Beste Freundinnen“ ist eine Erzählung, die sich auf historische Fakten stützt. Teilweise basieren die Ereignisse auf Esther Adlers eigenem Erleben. Die beschriebenen Personen und ihre Handlungen sind jedoch frei erfunden. Der fiktive Ort „Wollnitz“ steht stellvertretend für andere schlesische Kleinstädte.
Der historische Hintergrund der Geschichte bietet Anknüpfungspunkte für Diskussionen und lädt zu weiterführender Beschäftigung ein. Im Anhang finden sich Fragen und Aufgaben für den Einsatz im Unterricht sowie weiterführende Links und Literatur. Das Glossar ermöglicht ein schnelles Nachschlagen der zentralen Begriffe, die im Text mit * markiert sind. Die ergänzenden Materialien wurden von der Übersetzerin zusammengestellt.
Der Kartenausschnitt aus dem Stadtplan der Stadt Wrocław (Breslau) auf den letzten Seiten dieses Buches sowie die beigefügten Erklärungen ermöglichen es den Leserinnen und Lesern, die von den Protagonisten beschriebenen Orte und Einrichtungen im heutigen Wrocław ausfindig zu machen.
Das Buch richtet sich an junge Menschen und Erwachsene und eignet sich besonders für Schulen, die die nationalsozialis-tische Judenverfolgung und den Holocaust*/die Schoah* im Unterricht behandeln möchten.
Für meine Enkelkinder
Moriell, Tobin, Emma und Benjamin:
Damit ihr euch erinnert und künftigen Generationen von der Schoah und Israel erzählen könnt.
Gehe aus deinem Vaterlande und von deiner Freundschaft und aus deines Vaters Hause in ein Land, das ich dir zeigen will.
(1. Mose 12)
Kindheitserinnerungen vergisst man nicht. Sie begleiten einen ein Leben lang. Die Erinnerungen an meine Kindheit und Jugend in Deutschland haben mein Leben in vielerlei Hinsicht geformt und beeinflusst: die politischen Umwälzungen, als Hitler an die Macht kam, die zunehmenden Angriffe auf Jüdinnen und Juden, der Überlebenswille, die Suche nach einer Fluchtmöglichkeit aus Deutschland.
Meine Geschichte begann 1924 in Breslau, damals noch Deutschland. Dorthin waren meine Eltern nach dem Ersten Weltkrieg aus Polen auf der Suche nach besseren Lebensbedingungen für ihre zukünftige Familie gezogen. Da meine Eltern praktizierende, zionistische* Juden waren, schickten sie meine drei Brüder und mich auf die jüdische Schule am Rehdigerplatz. Durch die Schule und das Umfeld der jüdischen Gemeinde in Breslau, mit dem berühmten Rabbinerseminar und der prächtigen Synagoge Zum Weißen Storch, fühlte ich mich beschützt – sogar als die immer restriktiver werdenden Gesetze der Nationalsozialisten unser Leben zunehmend stärker einschränkten.
Die Nürnberger Gesetze*, die 1935 in Kraft traten, hatten großen Einfluss auf alle Lebensbereiche der Jüdinnen und Juden in Deutschland. Unsere jüdische Schule wurde förmlich von Schülern überschwemmt, die bisher auf staatliche Schulen gegangen waren, aber dort immer stärker diskriminiert wurden. Später durften wir gar nicht mehr zusammen mit „arischen“* Schülerinnen und Schülern lernen. An jüdischen Geschäften, die wiederholt auch von deutschen Jugendlichen angegriffen wurden, sah ich Schilder, die „Deutsche, kauft nicht bei Juden!“ oder „Juden nach Palästina!“ forderten. Es fühlte sich an, als ob die Schlinge um den Hals immer enger wurde. Das hatte großen Einfluss auf mich und bestärkte mich in meinem Entschluss, einen Weg zu finden, um Deutschland zu verlassen.
Meine Jugend hat mein ganzes Leben geprägt, mein Ziel, zu unterrichten und über das Böse – aber auch das Gute – zu schreiben; über eine furchtbare Zeit zu sprechen, aber auch über den Willen zum Überleben und die Suche nach dem Guten. Diese Leidenschaft hat mich motiviert, das Buch „Beste Freundinnen. Eine Freundschaft, die Hitler überdauerte“ zu schreiben. Ich habe mich dabei auf meine eigene Vergangenheit gestützt, auf die historische Zeit des Nationalsozialismus und dann der Nachkriegsordnung, die Teil meines Lebens war. Ich möchte diese Geschichte mit anderen Menschen teilen und ihnen zeigen, dass die Hoffnung ewig lebt – solange wir aus der Vergangenheit lernen, dürfen wir hoffen, dass Veränderungen irgendwann Wirklichkeit werden.
Mein Optimismus speist sich aus meinen Besuchen in Breslau, jetzt Wrocław, in den letzten Jahren. Zum ersten Mal war ich 1995 mit meinem Mann dort und wir blieben eine Nacht in meiner Geburtsstadt. Es gelang mir, das Haus wiederzufinden, in dem ich geboren wurde; das Mietshaus in der Gräbschenerstraße, wo wir zuletzt gelebt hatten, war allerdings völlig zerstört worden. Das jüdische Waisenhaus und die jüdische Schule hatten den Krieg aber überlebt.
Das wichtigste Ziel dieses Besuchs war die Synagoge Zum Weißen Storch*, in der ich als Jugendliche gebetet hatte. Wir näherten uns dem Tor und sahen, dass das Haus an der Straße, das zum Gebäudekomplex der Synagoge gehörte, noch intakt war. Ich betrat den Innenhof. Dort standen – teilweise von parkenden Autos und Müll verdeckt, mit eingesunkenem Dach – die Überreste meiner geliebten Storch-Synagoge. Wir gingen zu einem Büro im zweiten Stock, um Jerzy Kichler zu treffen, der der jungen jüdischen Gemeinde vorstand. Er erzählte uns, dass sich etwa zweihundert Personen zum jüdischen Glauben bekennen und mehr über jüdische Traditionen erfahren wollen würden. Er war vorsichtig optimistisch, dass die Restaurierung der Storch-Synagoge gelingen könne.
Sprung ins Jahr 2010: Auf Einladung von Bente Kahan, die 2006 eine Stiftung zur Restaurierung der Storch-Synagoge gegründet hatte, nahmen meine Familie und ich an der Wiedereinweihung der Synagoge Zum Weißen Storch teil. Bei der Einweihung hielt ich eine Rede – als eine der wenigen, die noch davon erzählen konnte, wie es gewesen war, in der pulsierenden jüdischen Gemeinde Breslaus aufzuwachsen, die das eindrucksvolle Gebäude gebaut und dort gebetet hatte. Es waren fünf Tage voller Magie – mit Gebeten, Konzerten und Vorträgen an der Universität. All dies hatte Bente Kahan auf die Beine gestellt. Es gab in Breslau wieder eine jüdische Schule. Ich freute mich darüber, hatte zwar dennoch Zweifel, ob sich die jüdische Gemeinschaft wiederbeleben lassen würde, aber ich war beeindruckt und glücklich, die Storch-Synagoge in ihrer alten Pracht zu erblicken.
Dann begann mit der überraschenden Einladung zur Teilnahme an einem Dokumentarfilm, der später unter dem Titel „Wir sind Juden aus Breslau“ auch in den deutschen Kinos lief, ein neues Kapitel in meinem Leben. Im Frühling 2016 interviewten mich Karin Kaper und Dirk Szuszies in meiner Wohnung und im Herbst desselben Jahres folgte ein erneuter Besuch in Breslau. Dort traf ich drei andere Überlebende aus Breslau sowie sechzehn Jugendliche aus Polen und Deutschland. Diese Erfahrung und die Diskussionen mit den jungen Menschen haben mich dazu gebracht, dieses Buch zu schreiben. Ihre Fragen über meine Vergangenheit, ihr aufrichtiges Interesse, das Anerkennen der Sünden der vorangegangenen Generationen – all das war authentisch. Sie waren auf der Suche nach einer Zukunft, die der Welt Frieden und Harmonie bringen würde.
Damals kamen viele lebhafte Erinnerungen an die ersten fünfzehn Jahre meines Lebens in Breslau zurück. Ich beschloss, dass mein Leben, das in der Zeit historischer Umbrüche begonnen hatte, die schließlich zur Schoah* führten, nicht vergessen werden sollte. In der Geschichte spiegelt sich mein Bekenntnis zum Judentum, zu Israel und dem Konzept der Gerechten unter den Völkern* wider. Ich weiß, dass unsere Welt traurigerweise immer wieder von Konflikten, Hass und Menschenverachtung heimgesucht wird, aber wir müssen aus der Geschichte lernen, wir dürfen die Hoffnung nicht aufgeben. Ich blicke mit Optimismus in die Zukunft, auch wenn ich um die Zwietracht zwischen Menschen und Nationen weiß.
Ich hoffe, dass du als Leserin und Leser das Buch interessant finden wirst, und dass es deinen Kopf und dein Herz öffnen und dich die Verantwortung anerkennen lassen wird, die wir für die Welt um uns herum tragen – eine Verantwortung, die jede und jeder von uns hat!
Esther Adler
Canton, im April 2019
Es gibt verschiedene Menschen, denen ich für die Entstehung von „Beste Freundinnen“ zu Dank verpflichtet bin. Meine Montagabendrunde in Orchard Cove: Naomi Graff, Phyllis Perlmutter, Mim Reisberg und Elaine Seidenberg waren die ersten, die Kapitel gelesen haben, als ich sie mit an den Essenstisch brachte. Ihr Enthusiasmus und ihre Ermutigung bestärkten mich darin, das Projekt voranzutreiben.
Elsie Cohen, meine Schwägerin, konnte es gar nicht abwarten, mehr über die beiden Freundinnen zu erfahren. Die Reaktion von Rabbi* Liza Stern – die erste Person, die das Buch in Gänze las – war sehr positiv und ihre Anmerkungen sehr hilfreich. Gleiches gilt für Avis Brenner, die sich Zeit nahm, um mögliche Verlage zu recherchieren. Die nützlichen Anmerkungen der beiden leiteten mich und bestärkten mich darin, die Aufgabe zu vollenden.
Rabbi Marcia Plumb und Dr. Brinkerhoff nahmen sich trotz ihrer vollen Terminkalender Zeit, das Manuskript zu lesen und gaben mir eine sehr positive Rückmeldung.
Eric Hensley war so begeistert, nachdem er „Beste Freundinnen“ gelesen hatte, dass er dafür sorgte, dass sein Freund Bob Weinstein es ebenfalls las. Bobs konstruktive Vorschläge überzeugten mich davon, eine Veröffentlichung ins Auge zu fassen.
Dankbar bin ich auch meinen Kindern Jerrey, Faye und Stuart, Andy und Ann, für ihre Liebe, Unterstützung und Loyalität. Ein besonderer Dank geht an Andy, der mir netterweise auch technisch geholfen hat.
Ich möchte mich an dieser Stelle auch ganz herzlich für die Unterstützung und den Zuspruch von Maria Luft aus Bremen bedanken. Ihre genaue Kenntnis der Stadt Breslau bewahrte mich vor Fehlern. Nachdem sie mein Buch „Beste Freudinnen“ gelesen hatte, schlug sie mir vor, es auch auf Deutsch zu veröffentlichen. Sie stand mir mit Rat und Tat zur Seite und ich bin ihr für all ihre Mühen unendlich dankbar. Dorothea Traupe, die mir ihre deutsche Stimme lieh, danke ich für ihre bemerkenswerte Übersetzung.
Esther Adler
Inhalt
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Anregungen für den Schulunterricht
Glossar
Links und weiterführende Literatur (Auswahl)
Gedichte der Autorin in englischer Sprache
My Kotel
Crystal – A Fragile Source of Beauty
Über die Autorin
Zum Kartenausschnitt aus dem Stadtplan der Stadt Wrocław (Breslau)
Als sie sich das erste Mal auf dem Schulhof sahen, wussten sie sofort, dass sie beste Freundinnen werden würden. Da kannten sie aber noch nicht einmal ihre Namen. Es war der erste Schultag und die Kinder folgten ihrer neuen Lehrerin in ein Klassenzimmer im Erdgeschoss des großen Schulgebäudes – die Mädchen trugen bunte Frühlingskleider, die Jungen blaue Hosen. Bald hatten die dreißig Erstklässler die Bänke in der Klasse bis auf den letzten Platz besetzt. Manche Kindergesichter konnte man hinter der großen „Ostertüte“*, die sie mit ihren kleinen Händen stolz umklammert hielten, kaum erspähen.
Von ihren neuen Plätzen aus sahen sie sich verstohlen in alle Richtungen nach den anderen Kindern um. Es bedurfte sehr viel Disziplin, um nicht doch die Augen zu senken und heimlich einen klitzekleinen Blick in die Ostertüte zu werfen und nachzusehen, was die Eltern ihnen Schönes mitgegeben hatten. Zwar war die Versuchung groß, aber die Aufmerksamkeit wurde bald ganz von der Lehrerin gefesselt, die vor ihnen stand. Da niemand wusste, was als nächstes geschehen würde, saßen sogar die neugierigsten Kinder still.
Frau Daniel, die Lehrerin, lächelte und begrüßte sie herzlich: „Guten Morgen, Kinder, bitte stellt euch vor und sagt laut und deutlich euren Namen. Ich heiße Frau Daniel und werde dieses Jahr eure Lehrerin sein.“ Nacheinander standen die Kinder auf, um ihren Namen zu nennen, manche leise und zögerlich, andere laut und deutlich. Ellis Blick ruhte auf der ersten Reihe, in der ihre neue Freundin saß. Als diese sagte: „Regina Wolf, aber alle nennen mich Gina“, strahlte Elli. Diesen Namen hatte sie schon immer gemocht, auch wenn sie bisher noch nie eine Regina kennengelernt hatte. Dann war Elli, die in der dritten Reihe saß, mit der Vorstellung dran. Sie stand auf und sagte sehr laut, damit Regina sie auf jeden Fall hören konnte: „Elischeva Cohen, aber alle nennen mich Elli.“ Und was geschah dann? Regina drehte sich um und nickte ihr zu. „Perfekt“, dachte Elli und war sehr zufrieden. „Regina hat meinen Namen gehört.“
Endlich waren die ersten Stunden vorbei, die Kinder durften sich ein paar Süßigkeiten aus der Ostertüte nehmen und für die Pause auf den Schulhof gehen. Rasch ging Elli zur ersten Reihe, in der Gina auf sie wartete. Sie reichten sich feierlich die Hände, sahen sich neugierig an und fingen an zu kichern. Was war so komisch? Kaum zu glauben, aber sie trugen tatsächlich die gleichen Schuhe! „Jetzt müssen wir wirklich auf jeden Fall Freundinnen werden!“, riefen sie und gingen auf den Schulhof hinaus. „Wo wohnst du?“, fragte Elli. „In der Gartenstraße, und du?“ „Ich wohne in der Gräbschenerstraße, das ist nicht weit von dir“, antwortete Elli fröhlich. „Wir können uns gegenseitig besuchen!“ „Hast du Geschwister?“, wollte Elli wissen. „Nein“, antwortete Gina traurig. „Ich wünschte, ich hätte wenigstens eine Schwester. Dann hätte ich jemand zum Spielen, wenn meine Eltern unterwegs sind.“ Elli sah Gina ernst an. „Ich verspreche dir, dass ich für immer deine Freundin sein werde und wir Zeit zusammen verbringen werden. Und wenn du einsam bist, kannst du mich anrufen! Ich habe einen älteren und einen jüngeren Bruder. Aber ich werde immer Zeit für dich haben.“ „Du bist wirklich ein Glückspilz und ich werde dich auf jeden Fall anrufen. Das ist eine wunderbare Idee.“ Sie verabredeten, dass sie sich auch besuchen würden. Bevor sie aber weitere Pläne schmieden konnten, rief Frau Daniel ihre Schützlinge für die nächste Stunde zurück ins Klassenzimmer.
Nach dem Unterricht stellten sich die Kinder in einer Reihe auf dem Schulhof auf und warteten, bis sie abgeholt wurden. Sie waren erst sechs Jahre alt und durften noch nicht alleine nach Hause gehen. Eine junge Frau kam auf Gina zu, um sie nach Hause zu begleiten. „Warte, noch einen Moment“, rief Gina, „ich muss mich erst noch von meiner neuen Freundin Elli verabschieden. Elli, das ist Eva, sie arbeitet für uns und kümmert sich um mich.“ Elli begrüßte Eva und verabschiedete sich von ihrer neuen Freundin. Dann trat sie rasch wieder in die Reihe und wartete auf ihre Mutter. Es dauerte nicht lange, bis Rachel Cohen sie abholen kam. Elli umarmte ihre Mutter, reichte ihr die Ostertüte und begann, von Gina zu erzählen. Sie redete wie ein Wasserfall: „Und rate mal, wo Gina wohnt! Nicht weit von uns, in der Gartenstraße! Und wir wollen uns gegenseitig besuchen und miteinander telefonieren. Und Gina hat keine Geschwister, und …“ „Langsam, langsam“, unterbrach ihre Mutter sie. „Was hast du denn heute in der Schule gelernt?“ „Mama, willst du das wirklich alles wissen? Ein paar deutsche und ein paar hebräische Buchstaben. Wir haben Lieder gesungen und gelernt, bis zwanzig zu zählen. Nichts Neues, das konnte ich alles schon.“ „Natürlich, konntest du das“, Frau Cohen lächelte. „Meine schlaue, kleine Elli.“
Nach fünfzehn Minuten Fußweg erreichten sie das große Mehrfamilienhaus in der Gräbschenerstraße 2, in dem die Familie Cohen lebte. Sie stiegen in den dritten Stock hinauf. Damals hatten die meisten Häuser noch keine Fahrstühle. Als sie die Wohnung betraten, begrüßte sie Bertha, das Hausmädchen, und der kleine Max umarmte seine große Schwester. Bertha berichtete, dass Leo, Ellis älterer Bruder, beim Fußballspielen sei und Herr Cohen angerufen und Bescheid gegeben habe, dass er um 18 Uhr nach Hause käme. Elli spielte mit ihrem kleinen Bruder, bis der Rest der Familie da war, und dann setzten sie sich alle an den Abendbrottisch. Herr Cohen – oder „Papa“, wie die Kinder ihn nannten – nahm ein Stück Brot und gab jedem ein kleines Stückchen, während sie gemeinsam das HaMotzi*, den Segen über das Brot, sprachen. Dann begannen sie zu essen. Elli konnte es kaum erwarten, ihrem Vater und den Brüdern von ihrer neuen Freundin Gina zu erzählen, und Leo gab damit an, dass seine Fußballmannschaft gewonnen hatte. Alles war in bester Ordnung. Als das Essen vorüber war und sie das Birkat Hamazon* gesungen hatten, das Tischgebet nach dem Essen, schalteten sie das Radio an, um Nachrichten zu hören. Deutschland und die Welt erschienen ruhig und friedlich.
Die Eltern gaben den Kindern einen Gutenachtkuss, bevor sich diese auf den Weg ins Bett machten. Samuel und Rachel Cohen saßen im Wohnzimmer und unterhielten sich in Ruhe. Samuel berichtete von seinem Tag im Stoffgeschäft, wie viele Kundinnen da gewesen waren und wie viel er verkauft hatte. Rachel wollte wissen, ob auch neue Kunden kämen, oder immer nur dieselben. „Keine Sorge, Rachel, es läuft gut. Es waren ein paar Mütter da, denen die neuen Kinderstoffe sehr gefallen haben. Ich werde noch weitere bestellen müssen, um eine gute Auswahl vorrätig zu haben. Die Frauen wissen genau, wie viele Meter Stoff sie brauchen. Man merkt, dass sie selbst nähen – nicht so wie du, Rachel“, fügte er lachend hinzu. „Du hast völlig recht. Ich nähe nicht, aber ich leiste sehr gute Arbeit in der Anwaltskanzlei von Herrn Lewin. Und koche unsere Mahlzeiten!“ „Ich beschwere mich doch gar nicht“, antwortete Samuel. „Das Leben ist gut. Die meisten Kundinnen bezahlen sofort, aber ein paar müssen warten, bis ihr Mann seinen Lohn bekommt. Aber da mache ich mir keine Sorgen, sie kommen immer und begleichen ihre Rechnungen. Ich weiß, dass sie diese Regelung zu schätzen wissen. Leo schlägt sich gut in der Schule, unsere Elli schließt anscheinend sehr schnell neue Bekanntschaften und Max ist ein munterer Junge. Alles ist in bester Ordnung. Ich bin müde. Lass uns schlafen gehen.“
***
Schweigend ging Gina mit Maria bis zur Gartenstraße 12. Vor einem schönen Mietshaus aus Backstein blieben sie stehen. Entlang des Fußwegs wuchsen große Bäume und an der Hauswand waren schöne Blumenbeete angelegt. Maria öffnete die schwere, hölzerne Haustür und ging vor Gina zur Wohnung der Familie Wolf im Erdgeschoss. Sie betraten die große Diele, in der kleine Beistelltische mit Nippes an den Wänden standen. Mehrere Türen führten von hier ins Innere der großen, eleganten Wohnung. „Komm zu mir, mein Schatz“, hörte Gina ihre Mutter rufen. Rasch lief sie zu ihr ins Wohnzimmer, gab ihr einen Kuss und kletterte auf ihren Schoss. Sie konnte es kaum erwarten, von ihrem ersten Schultag zu erzählen. „Du bist aber früh zu Hause, Mama“, bemerkte sie. „Ich habe heute im Krankenhauslabor ein bisschen früher Feierabend gemacht. Es ist schließlich dein erster Schultag. Erzähl doch mal, wie war’s?“
„Oh, Mama, ich habe das netteste Mädchen überhaupt kennengelernt, wir haben beschlossen, dass wir beste Freundinnen sein wollen!“, platzte Gina heraus. „Sie heißt Elischeva, aber alle nennen sie Elli. Sie wohnt nicht weit von uns und wir wollen uns gegenseitig besuchen und wir …“ „Langsam, Gina, ich freue mich sehr, dass du ein Mädchen kennengelernt hast, das du magst. Aber erzähl mir doch, was du in der Schule gelernt hast. Magst du deine Lehrerin?“ „Oh, ja, Frau Daniel ist sehr nett und sie sorgt dafür, dass alle stillsitzen, sogar die Jungen. Aber ich habe eigentlich nicht viel Neues gelernt. Ich kann schon lesen. Nur die hebräischen Buchstaben waren fast alle neu für mich. Elli kann besser Hebräisch als ich.“ Frau Wolf musste angesichts der Ehrlichkeit ihrer Tochter lächeln. Beschwichtigend versicherte sie Gina, dass sie sich keine Sorgen machen solle, sie würde die hebräischen Buchstaben sicher schnell aufholen und wenn nötig würden sie ihr sonst auch für einige Zeit Nachhilfe besorgen. „Nein, nein“, protestierte Gina. „Ich bin mir sicher, dass Elli mir helfen wird. Ich möchte sie bald besuchen.“ In diesem Moment betrat Dr. Wolf, Ginas Vater, das Zimmer, gab seiner Frau einen Kuss und hob Gina in die Luft. „Na, wie geht’s meiner Kleinen nach ihrem ersten Schultag? Willst du morgen wieder hin?“ „Natürlich, Papa, was für eine dumme Frage! Ich will doch Elli wiedersehen und mit ihr reden und …“
„Prima, Schatz“, unterbrach Emily Wolf sie. „Lass Papa vor dem Abendessen noch ein bisschen Zeit zum Ausruhen und dann kannst du weiter erzählen.“ Gina ging in ihr Zimmer, um mit ihren Puppen zu spielen. Sie hatte eine ziemlich große Sammlung!
Eine Stunde später saß die Familie um den Abendbrottisch. Eifrig fragte Gina ihre Mutter, ob sie sich mit Elli verabreden könne. Ihre Eltern hatten nichts dagegen, sicher kam Elli aus einer guten Familie, wenn sie die jüdische Schule besuchte. Gina war überglücklich: „Ich wusste, dass ihr mir erlauben würdet, Elli zu besuchen. Danke schön, danke!“ Als ihre Eltern begannen, sich über aktuelle Ereignisse zu unterhalten, stand Gina vom Tisch auf, wünschte ihren Eltern eine gute Nacht und machte sich auf den Weg ins Bett.
„Ich habe heute ein bisschen früher Feierabend gemacht“, erklärte Emily Wolf, „sodass ich Gina begrüßen konnte, als sie von der Schule nach Hause kam. Sie scheint sehr glücklich zu sein, vor allem über ihre neue Freundin.“ „Ja, sie hat sich so sehr eine Freundin gewünscht“, stimmte ihr Mann zu. Seufzend fügte Emily hinzu: „Sie hätte so gerne Geschwister. Wie sehr wünschte ich mir, dass das möglich wäre.“ „Liebes, da war nichts zu machen. Dein Wohlergehen ist das Allerwichtigste und die Operation war absolut notwendig, auch wenn das bedeutete, dass du keine weiteren Kinder bekommen kannst. Und sieh, wie viel Freude Gina uns macht.“ Walter sah seine Frau liebevoll an. „Du hast wie immer recht, Walter, wir werden dafür sorgen, dass sie Freundinnen um sich hat. Wie war dein Tag bei der Arbeit?“ „Es war ein guter Tag, das Wartezimmer war wie immer voller Patienten. Aber ich musste heute glücklicherweise niemanden ans Krankenhaus überweisen. Komm, Liebes, lass uns schlafen gehen.“
***
Ellis und Ginas erste Begegnung fand 1930 in Breslau statt, einer Großstadt im damaligen Osten Deutschlands. Die Altstadt war von einem Stadtgraben mit Wasser und Parkanlagen mit Bänken umgeben. Es war ein beliebter Treffpunkt für die Breslauerinnen und Breslauer, besonders am Wochenende, und nach der Schule spielten die Jungen auf dem Rasen Fußball. Früher hatte der Graben als äußere Verteidigungslinie gegen angreifende Feinde gedient. Dahinter hatte es einen riesigen Wall gegeben, an den aber nur noch der Name der Straße erinnerte: „Wallstraße“. Mitten durch die Stadt wand sich ein großer Fluss – die Oder – die Richtung Norden floss.
In den 1930er Jahren war der jüdische Anteil an der Stadtbevölkerung sehr groß, in der Stadt lebten ungefähr 23.000 Personen jüdischen Glaubens. Im Laufe der Zeit waren auch viele polnische Juden auf der Suche nach besseren Lebensbedingungen Richtung Westen ausgewandert und hatten sich in Breslau niedergelassen. Die Jüdinnen und Juden, die bereits seit vielen Generationen in Breslau lebten, waren sehr stolz auf ihre Vergangenheit, verstanden sich als „echte“ Deutsche und hielten sich für gebildeter und kultivierter als die Neuankömmlinge. Oft hatten sie sich von den jüdischen Traditionen deutlich weiter entfernt, anders als die Juden polnischer Herkunft, die erst wenige Jahre in der Stadt lebten. Es gab viele kleine und zwei große Synagogen, die im 19. Jahrhundert erbaut worden waren. Die jüdische Gemeinde war sehr gut organisiert, es gab sogar ein Krankenhaus und ein Waisenhaus. Die Schule, in der Elli und Gina sich an ihrem ersten Schultag begegneten, war eine jüdische Schule, die von Eltern gegründet worden war, denen eine jüdische Ausbildung ihrer Kinder sehr am Herzen lag. Neben den allgemeinen Fächern hatten die Schülerinnen und Schüler Unterricht in Hebräisch und jüdischer Geschichte. Die meisten Lehrerinnen und Lehrer waren ebenfalls jüdisch. Die Kinder lernten viel über Erez Israel* – wie die Juden das Land Palästina* nannten – und sangen hebräische Lieder. Fast alle kamen aus traditionellen jüdischen Familien, sodass sie sich in der Schule sehr wohl fühlten.
Am nächsten Morgen wartete Elli ungeduldig in der Küche, während Bertha ihr Frühstück machte. Sie schlang das Essen hinunter und konnte es kaum abwarten, wieder zur Schule zu gehen und ihre neue Freundin zu treffen. Heute, am zweiten Schultag, hatte sie statt der Ostertüte einen kleinen Schulranzen dabei. Die feierliche Einschulung war vorüber. Ihre Schiefertafel* und natürlich auch die Brotdose hatte sie sorgfältig im Ranzen verstaut. Herr Cohen kam herein. „Elli, bist du fertig für die Schule? Ich setze dich auf dem Weg zum Laden dort ab.“ Freudig sprang Elli auf, griff nach ihrem Ranzen und folgte ihm eilig. Es war ein wunderschöner Frühlingstag und Elli hüpfte munter neben ihrem Vater her. Als sie die Schule erreichten, gab sie ihm einen schnellen Kuss und rannte dann die Treppe zur Eingangstür hinauf. Glücklicherweise öffnete ihr ein älterer Schüler die Tür. Sie war so klein, dass sie die große Klinke nur mit Mühe erreichte. Rasch lief sie zum Klassenzimmer, wo einige Schülerinnen und Schüler bereits auf ihren Plätzen saßen. Elli ließ sich auf ihrem Platz nieder, und bald darauf traf auch Gina ein, die Elli ins Ohr flüsterte: „Wir reden in der Pause.“ Der Unterricht verging wie im Flug. Bald schon war Pausenzeit und die Kinder nahmen ihre Brotdosen und machten sich auf den Weg nach draußen. Gina wartete auf Elli, die lächelnd zu ihr ging. „Kann ich vorbeikommen und dich nach der Schule besuchen? Meine Eltern haben gesagt, das sei in Ordnung, wenn deine Eltern einverstanden sind.“ „Ich frage meine Mama und wir verabreden uns für morgen, in Ordnung?“, antwortete Elli. Nachdem sie das geklärt hatten, spazierten sie über den Schulhof und aßen ihre Pausenbrote. Gina bemerkte zwei Mädchen aus ihrer Klasse, die alleine beieinander standen. „Komm, lass uns die beiden mal ansprechen“, schlug Elli vor, „sie sehen nett aus.“ Sie gingen auf die beiden zu und sagten freundlich „Hallo“. Nachdem sie sich vorgestellt hatten, beschlossen sie, die Pause zusammen zu verbringen. Ruth und Rosa freuten sich sehr. Bald fanden sie heraus, dass auch die anderen beiden Mädchen ganz in ihrer Nähe wohnten. „Perfekt!“, freuten sie sich.
Bevor sie zurück in die Klasse gingen, versicherte Gina Elli im Flüsterton: „Jetzt sind wir zwar zu viert, aber du bleibst meine beste Freundin!“ Elli antwortete aus tiefstem Herzen: „Für immer und ewig.“
Am nächsten Tag war es soweit: Gina würde Elli zum ersten Mal besuchen. Die Mädchen konnten es kaum erwarten, bis der Unterricht endlich vorbei war. Sie freuten sich darüber, dass sie noch keine Hausaufgaben bekamen und die ganze Zeit spielen konnten. Nach der Schule begleitete Eva, das Hausmädchen der Familie Wolf, die beiden Mädchen in die Gräbschenerstraße. Elli entschuldigte sich bei den beiden, dass sie die Treppen bis zum dritten Stock hinaufsteigen mussten. „Wie aufregend“, sagte Gina. „Wenn du mich besuchen kommst, brauchst du nur durch die große Eingangstür zu gehen. Ich steige so gerne Treppen!“ Als sie die Wohnung erreichten, öffnete Rachel Cohen die Tür. Sie hatte sie schon erwartet und begrüßte sie freundlich. „Herzlich willkommen, Gina, kommt herein. Wir essen erstmal eine Kleinigkeit, dann könnt ihr in Ellis Zimmer gehen.“ Sie betraten die große Küche, wo Kekse und Milch auf dem Tisch auf sie warteten. Plötzlich kam ein kleiner Junge herein gelaufen, der Elli umarmte. „Gina, das ist mein kleiner Bruder Max. Sag mal ‚Hallo‘, Max. Das ist meine Freundin Gina.“ Max sah Gina mit großen, neugierigen Augen an. „Du siehst nett aus. Spielst du mit mir?“ Schnell schaltete sich Elli ein: „Jetzt nicht, Max, nachher, in Ordnung?“ Enttäuscht drehte Max sich um und trottete aus der Küche. Nachdem die Mädchen ihren Imbiss beendet hatten, führte Elli Gina zu ihrem Zimmer. Eva würde sie in zwei Stunden abholen kommen.
Elli öffnete die Tür und entschuldigte sich für ihr kleines Zimmer. Ihre Brüder teilten sich das andere Kinderzimmer. Gina sah sich begeistert um. Das Zimmer war voller Puppen und Spielsachen. „Wie schön! Was du alles hast! Und wie schön die Puppen hier sitzen! So viele Bücher. Wie gemütlich! Lass uns zuerst mit den Puppen spielen!“ Im Nu waren die beiden Freundinnen völlig vertieft und spielten „Mutter-Vater-Kind“. Da ging die Tür langsam auf und Max steckte seinen Kopf herein. „Darf ich mitspielen?“, bettelte er. „Warum nicht? Du kannst der große Bruder der Puppen sein“, sagte Gina freundlich. Genau darauf hatte Max gewartet! Sobald er mitmachen durfte, ging er zur Freude der Mädchen völlig in seiner Rolle auf. Die drei waren so in ihr „Vater-Mutter-Kind“-Spiel vertieft, dass sie ganz überrascht waren, als Bertha sie daran erinnerte, dass Gina nun gehen müsse, weil Eva schon auf sie wartete. Gina umarmte und küsste den kleinen Max und versprach, bald wiederzukommen. Gerade kam auch Ellis älterer Bruder Leo nach Hause. Als er sie sah, sagte er: „Du bist also Gina! Ich habe schon so viel von Elli über dich gehört! Tschüß!“ Und schon war er verschwunden. Die Mädchen kicherten. Bevor Gina ging, verabredeten sie, dass Elli Gina in der kommenden Woche besuchen würde.
Die Zeit verging wie im Flug. In der Schule lernten sie weitere Buchstaben, sagten Gebete auf und sangen neue Lieder. In der Pause trafen sich die vier Mädchen – Elli, Gina, Ruth und Rosa – immer in einer Ecke des Schulhofes. Sie erzählten sich von ihren Geschwistern, von einem neuen Kleid oder Spielzeug. Manchmal tauschten sie auch ihre Brote untereinander.
Bertha begleitete Gina und Elli in die Gartenstraße zu Gina nach Hause. „Oh, was für schöne Bäume! Und die Blumen vor dem Haus! Wie schön!“ Elli war völlig begeistert. Als sie die weiträumige Wohnung betraten, verschlug es ihr die Sprache und sie sah sich mit großen Augen um. Eva begrüßte sie und führte sie in die große Küche, wo sie an einem runden Tisch Platz nahmen. Nach einem kleinen Imbiss gingen sie in Ginas Zimmer. Elli staunte immer noch – die vielen Türen, die in große Zimmer führten! „Was für eine riesige Wohnung!“, dachte sie. Als sie Ginas Zimmer erreichten, fand Elli ihre Stimme wieder und rief: „Eure Wohnung ist so groß, dein Zimmer ist so riesig! Ich wünschte, ich hätte zu Hause auch mehr Platz!“ „Sag so was nicht“, antwortete Gina leise. „Ich habe mehr Platz, aber du hast deine Brüder. Du hast jemanden, mit dem du reden kannst, wenn deine Eltern nicht zu Hause sind, du kannst sogar mit ihnen spielen. Ich hätte lieber eine kleinere Wohnung, aber dafür eine große Familie! Aber das kann ich leider nicht ändern. Komm, lass uns spielen.“ In Windeseile waren die beiden Mädchen in ihr Spiel vertieft und vergaßen völlig die Zeit.
***
Das Leben ging seinen ruhigen Gang. Die Mädchen besuchten die Schule und freundeten sich immer mehr mit Ruth und Rosa an und luden sich gegenseitig zu ihren Geburtstagen ein. Im Jahr 1932, als sie acht Jahre alt waren, beschlossen sie – beeinflusst von älteren Schülern –, sich einer zionistischen* Jugendgruppe anzuschließen. Am Nachmittag des Schabbats* trafen sie sich nun immer in kleinen Gruppen, um Geschichten über Erez Israel zu hören und hebräische Gedichte und Lieder zu lernen. Wenn die Sonne langsam unterging und der Schabbat sich dem Ende entgegen neigte, versammelten sich die Kinder und Jugendlichen aller Altersstufen in einem großen Raum und sangen und tanzten den Horo