Betreuung selbständigen Lernens im Sportunterricht - Jonas Wibowo - E-Book

Betreuung selbständigen Lernens im Sportunterricht E-Book

Jonas Wibowo

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Beschreibung

Die vorgelegte Arbeit umfasst einen Forschungsbericht, der seinen Ausgangspunkt in der Fra-gestellung nimmt, wie Lehrkräfte selbständige Arbeitsprozesse von Schülern1 im Sportunter-richt betreuen. Gesucht wurden Strukturen, die das Lehrerhandeln systematisieren und Zusammenhänge zwischen Lehrer- und Schülerhandeln aufzeigen. Die Fragestellung ergibt sich aus einem komplexen Herausforderungsprofil für Lehrkräfte im Kontext der Betreuung selbständigen Lernens im Sportunterricht. Einerseits soll die Sportlehr-kraft Schülern helfen fachliche Fortschritte zu machen, indem die Schüler bewegungsbezo-gene Problemstellungen lösen, andererseits sollen diese Problemstellungen so gelöst werden, dass die Schüler so viel Verantwortung wie möglich für ihren eigenen Lernprozess übernehmen – sie also möglichst selbständig agieren. Solche Forderungen – wie auch weitere z.B. nach einer demokratieorientierten Einbettung von Sportunterricht – leiten sich aus Ansprüchen eines erziehenden Sportunterrichts ab wie ihn bspw. Prohl formuliert (Prohl, 2010). Als Antwort auf diesen Fragehorizont und Ergebnis der Untersuchung wird eine Systematik vorgestellt, die das Lehrerhandeln hinsichtlich seiner Adaption an die Problemlöseprozesse der Schüler und an das Verantwortungsübernahmepotential der Schüler kategorisiert. Gemes-sen an den beiden oben genannten Zielen von Sportunterricht – fachlicher Fortschritt und Verantwortungsübernahme der Schüler – wird angenommen, dass adaptiertes Verhalten der Lehrkraft dazu führt, dass erstens Schüler größere Fortschritte in ihrem Problemlöseprozess erzielen und zweitens soviel Verantwortung für ihren Lernprozess übernehmen wie es ihnen zu diesem Zeitpunkt möglich ist.

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Seitenzahl: 433

Veröffentlichungsjahr: 2015

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Universität Hamburg,

Fakultät für Erziehungswissenschaft,

Psychologie und Bewegungswissenschaft

Arbeitsbereich Bewegung, Spiel und Sport

Betreuung selbständigen Lernens im

Sportunterricht

Dissertation zur Erlangung des akademischen Grades des Doktors der Philosophie 

des Fachbereichs Erziehungswissenschaften der Universität Hamburg.

Hamburg, 2014

Vorgelegt von: Jonas Wibowo

Erste Gutachterin: Prof. Dr. Ingrid Bähr

Zweiter Gutachter: Prof. Dr. Bernd Gröben

Dritter Gutachter: Prof. Dr. Claus Krieger

Zusammenfassung

Die vorgelegte Arbeit umfasst einen Forschungsbericht, der seinen Ausgangspunkt in der Fragestellung nimmt, wie Lehrkräfte selbständige Arbeitsprozesse von Schülern0F[1] im Sportunterricht betreuen. Gesucht wurden Strukturen, die das Lehrerhandeln systematisieren und Zusammenhänge zwischen Lehrer- und Schülerhandeln aufzeigen.

Die Fragestellung ergibt sich aus einem komplexen Herausforderungsprofil für Lehrkräfte im Kontext der Betreuung selbständigen Lernens im Sportunterricht. Einerseits soll die Sportlehrkraft Schülern helfen fachliche Fortschritte zu machen, indem die Schüler bewegungsbezogene Problemstellungen lösen, andererseits sollen diese Problemstellungen so gelöst werden, dass die Schüler so viel Verantwortung wie möglich für ihren eigenen Lernprozess übernehmen – sie also möglichst selbständig agieren. Solche Forderungen – wie auch weitere z.B. nach einer demokratieorientierten Einbettung von Sportunterricht – leiten sich aus Ansprüchen eines erziehenden Sportunterrichts ab wie ihn bspw. Prohl formuliert (Prohl, 2010).

Als Antwort auf diesen Fragehorizont und Ergebnis der Untersuchung wird eine Systematik vorgestellt, die das Lehrerhandeln hinsichtlich seiner Adaption an die Problemlöseprozesse der Schüler und an das Verantwortungsübernahmepotential der Schüler kategorisiert. Gemessen an den beiden oben genannten Zielen von Sportunterricht – fachlicher Fortschritt und Verantwortungsübernahme der Schüler – wird angenommen, dass adaptiertes Verhalten der Lehrkraft dazu führt, dass erstens Schüler größere Fortschritte in ihrem Problemlöseprozess erzielen und zweitens soviel Verantwortung für ihren Lernprozess übernehmen wie es ihnen zu diesem Zeitpunkt möglich ist.

Abstract

This research report took its origin in the interest to gain knowledge about how teacher facilitate autonomous learning processes of students in physical education. The focus of the study was to point out structures structures, which systematize the teacher action in relation to the actions of the students.

The research question originates from a complex and challenging profile for teachers who try to facilitate autonomous learning processes. On the one hand the teacher should help students to make progress in solving movement-based problems, on the other hand these problem solving processes should take place in a way that ensures that students share the highest possible amount of responsibility for these processes. Demands like this one – among others, like developing democratic values – are inter alia derived from the discourse of an erziehender Sportunterricht(Prohl, 2010).

As a result of this investigation, the study presents a possible answer to the posed question in a model which structures the teacher actions in consideration of (1) the adaption to the structure of problem solving processes and (2) the potential amount of responsibility that can be shared by the students. Related to the aims of physical education mentioned above – progress with regard to contents and autonomy / full responsibility for the problem solving process – it is believed, that adapted teacher action leads to more content related progress and the highest possible amount of shared responsibility regarding the capabilities to a certain time.

Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung zur Untersuchung.5

2 Forschungsmethodisches Vorgehen.9

2.1 Begründung und Darstellung des forschungsmethodischen Vorgehens.9

2.1.1 Merkmale der GTM und deren Anwendung in den Studien.13

2.1.2 Kodierverfahren der GTM und die Anwendung in den Studien.23

2.1.3 Aufbereitung des Videodatenpools für die Untersuchung.28

2.2 Beschreibung des Videodatenpools.31

2.2.1 Kooperatives Lernen als Möglichkeit selbständigen Lernens im Sportunterricht 32

2.2.2 Allgemeine Informationen zu den Akteuren.33

2.2.3 Inhalte der untersuchten Unterrichtsreihen.35

3 Studie I – Strukturen selbständigen Lernens im Sportunterricht 38

3.1 Theoretische Grundlagen.39

3.1.1 Erkenntnistheoretische Grundlagen.42

3.1.2 Normativ-bildungstheoretische Grundlagen.56

3.1.3 Exkurs: wissenschaftstheoretische Revision der Grundlagen69F.63

3.1.4 Erweiterung der Grundlagen: Problemlösen als Heuristik für selbständiges Lernen 74

3.1.5 Zusammenfassung.101

3.2 Ergebnisse – Strukturen des Problemlösens im Sportunterricht 104

3.2.1 Kontexte des Problemlösens: Ziele und Ressourcen.106

3.2.2 Probieren110F.111

3.2.3 Analysieren.117

3.2.4 Planen 130

3.2.5 Bewerten.135

3.3 Zusammenfassung – Strukturen des Problemlösens im Sportunterricht 136

4 Studie II – Betreuung selbständigen Lernens im Sportunterricht 138

4.1 Theoretische Grundlagen.138

4.1.1 Diagnose des Schülerhandelns.141

4.1.2 Betreuung selbständigen Lernens.148

4.1.3 Zusammenfassung.162

4.2 Ergebnisse – Adaption der Betreuung selbständigen Lernens.163

4.2.1 Diagnostik des Schülerhandelns.164

4.2.2 Verantwortungsübernahme der Lehrkraft 166

4.2.3 Adaption und Einfluss auf den Problemlösungsprozess der Schüler 190

4.3 Zusammenfassung – Betreuung von Problemlösungsprozessen.200

5 Diskussion und Ausblick.203

5.1 Studie I 204

5.2 Studie II 206

5.3 Forschungsmethodische Diskussion.212

6 Verzeichnisse (Abbildungen, Ankerbeispiele, Tabellen) 216

7 Anhang.218

7.1 Verlauf und Arbeitsaufträge der untersuchten Unterrichtsreihen.218

7.1.1 Arbeitsaufträge während der selbständigen Arbeitsphasen für Klassen nach dem kooperativen Skript Gruppenpuzzle.218

7.1.2 Arbeitsaufträge während der selbständigen Arbeitsphasen für Klassen nach dem kooperativen Skript Gruppenturnier 219

7.1.3 Bildreihe des Handstands für die Klassen mit Gruppepuzzle und Gruppenturnier 220

7.1.4 Bildreihe der Flugrolle für die Klassen mit Gruppepuzzle und Gruppenturnier 220

7.1.5 Arbeitsaufträge während der selbständigen Arbeitsphase für Klassen nach Kooperativem Lernen ohne spezielles Skript 221

7.2 Beispiele aus dem forschungsmethodischen Vorgehen.222

7.2.1 Kodiersystem während des selektiven Kodierens.222

7.2.2 Beispiel für eine kodierte Sequenz in Atlas.ti v7.223

7.2.3 Transkriptionsregeln.224

8 Literaturverzeichnis

1Einleitungzur Untersuchung

Problemaufriss

„Herr XY, bei uns in der Gruppe gibt´s ein Problem, der Paul-Georg kann´s nicht richtig und die Margarete, und die Margarete und die Angie motzen ihn dann halt an.“ (Bilal; Q64:3).

Ein typisches Anliegen von Schülern während einer selbständigen Arbeitsphase im Sportunterricht. Insbesondere dann, wenn Schüler die ihnen gestellten Aufgaben bzw. Probleme nicht mehr selbst lösen können, wenden sie sich an die Lehrkraft. Die Lehrkraft wird dann vor die Herausforderung gestellt, den Schülern dabei zu helfen ihr Problem wieder selbst lösen zu können.

Mögliche Überlegungen des Lehrers über diese Situation könnten sein: Was kann Paul-Georg nicht? Warum motzen sie ihn an, weil er es nicht kann? Wie kann ich helfen? Welcher Rat oder Hinweis könnte ihnen helfen? Welches Problem soll ich zuerst behandeln? Soll ich sagen, wie sie es machen sollen, oder soll ich es sie selbst herausfinden lassen?

Die Fachliteratur zu diesem Thema – Betreuung selbständigen Arbeitens – sieht für die Lehrkraft eine aktive, aber zurückhaltende Rolle vor. Hinweise werden in den Metaphern des Moderators, eines Begleiters oder des gedanklichen Geburtshelfers durch „sokratisches“ Fragen gegeben. Konkretere Hinweise zwischen wem oder was moderiert wird, was wie begleitet wird oder was eine sokratische Frage ausmacht sind rar. In eine ähnliche Richtung weisen auch empirische Befunde (vgl. Prohl, 2013).

Neben dieser Lücke seitens sportpädagogischer Forschung und auf der pädagogisch-praktischen1F[2] Ebene wird die Aktualität dieses Themas aus verschiedenen Richtungen betont. Aus der fachlichen Perspektive verweist der sportpädagogische Diskurs zu einem erziehenden Sportunterricht auf zwei für die Untersuchung zentrale Aspekte: Erstens, dass fachliches Lernen als Bearbeitung und Lösung bewegungsbezogener Problemstellungen aufgefasst wird (z.B. Gogoll, 2011a; Prohl, 2012b; i.w.S. Scherer & Bietz, 2013), und zweitens, dass dieses fachliche Lernen so stattfinden soll, dass die Schüler möglichst viel Verantwortung für diesen Problemlösungsprozess übernehmen – sie also möglichst selbständig arbeiten (z.B. Prohl & Scheid, 2012; Sygusch, Bähr, Gerlach & Bund, 2013)2F[3].

Auch auf bildungspolitischer Ebene hat sich sowohl der Fokus auf Probleme als Lernanlässe als auch das Ziel der Selbständigkeit als festes Element jüngerer Lehrplanentwicklungen etabliert (vgl. Krick & Prohl, 2005, S. 233; z.B. Freie und Hansestadt Hamburg, 2011, S. 17). Als dritter – allgemeinerer - Argumentationszusammenhang für die Relevanz der beiden genannten Aspekte sind Entwicklungen der empirischen Bildungsforschung zu nennen. Sowohl auf der Basis theoretischer Zusammenhänge der internationalen Lehr-Lernforschung, aber auch aufgrund der Befundlage kleinerer und größerer Studien wird angenommen, dass komplexe Problemstellungen für fachliches Lernen und die selbsttätige Auseinandersetzung des Lerners mit dieser Problemstellung Grundelemente in der Wirkungskette unterrichtlicher Prozesse sind bzw. sein sollten (Klieme & Rakoczy, 2008; Reusser, 2008).

Erkenntnisinteresse

Vor dem Hintergrund des Titels der Untersuchung und des Problemaufrisses werden zwei Fragenkomplexe aufgeworfen. Erstens, Fragen nach Strukturen des Betreuungsverhaltens der Lehrkräfte – also wie einzelne Tätigkeiten miteinander zusammenhängen und wie das Handeln der Lehrkräfte mit dem Handeln der Schüler zusammenhängt (Studie II). Womit – zweitens – Fragen nach Strukturen des Schülerhandelns bzw. des fachlichen Lernens in den Fokus rücken (Studie I).

Beide Fragestellungen haben eine enorme Bedeutung für eine Sportpädagogik, die sich ihrer Praxisverantwortung stellt und Sportlehrkräften handlungsleitende Orientierungen bieten möchte (vgl. Prohl, 2010).

Forschungsmethodisches Vorgehen

Diesen beiden Fragenkomplexen nähert sich die Untersuchung durch zwei Studien. Während chronologisch in der Untersuchung zuerst Fragen nach dem Lehrerhandeln aufgeworfen wurden (Studie II), hat es sich im Verlauf der Bearbeitung dieser Fragen als notwendig herausgestellt, die Fragen nach der Struktur des Schülerhandelns zuerst zu beantworten (Studie I). Die Ergebnisse werden trotz der engen Verflechtung zunächst in zwei getrennten Studien dargestellt, da zum einen die Ergebnisse besser separat voneinander diskutiert werden können und sollten, und zum anderen der argumentative und strukturelle Aufbau der Ergebnisse von Studie II dadurch deutlicher wird. Die strukturelle Verflechtung zeigt sich darin, dass das in Studie I herausgearbeitete Problemlösemodell ein zentraler Bezugspunkt ist, um in den Ergebnissen von Studie II die Adaption des Lehrerhandelns an das Schülerhandeln darzustellen.

Die beiden durchgeführten Studien unterliegen demselben forschungsmethodologischen Ansatz – beide Studien wurden basierend auf Verfahrensschritten der Grounded-Theory-Methodologie durchgeführt (Kapitel 2.1). Auf der Basis eines Videodatenpools eines abgeschlossenen Forschungsprojekts wurden zwei gegenstandsverankerte Modelle entwickelt: ein Modell des Problemlösens im Sportunterricht (Studie I) und ein Modell des adaptierten Handelns von Lehrkräften im Sportunterricht (Studie II).

Die Datenbasis der Studien bildeten aufgezeichnete Unterrichtsstunden von Schülern der fünften Jahrgangsstufe, die sich mit den Lerngegenständen Handstand, Flugrolle und Akrobatikpyramiden auseinandersetzen. Als unterrichtsmethodische Leitlinien für die Gestaltung des Unterrichts mit selbständigen Arbeitsphasen waren Merkmale Kooperativen Lernens wesentlich (Kapitel 2.2).

Aufbau und Ergebnisse Studie I

Studie I widmet sich der Fragestellung: Wie lassen sich die Lernprozesse der Schüler in den vorliegenden Daten strukturieren?

Als theoretische Grundlagen werden einerseits erkenntnistheoretische Überlegungen aufgegriffen wie sie in bildungstheoretischen Ansätzen der Sportpädagogik rezipiert werden (Kapitel 3.1.1; 3.1.2). Andererseits werden diese Grundlagen um Problemlösetheorien erweitert, die eine deutlich lerntheoretische und psychologische Ausrichtung haben (Kapitel 3.1.4). Die Problematik einer Widersprüchlichkeit oder sogar Inkommensurabilität von bildungstheoretischen bzw. erkenntnistheoretischen Grundlagen, wie sie in der Sportpädagogik als Argumentationslinien angeführt werden, zu kognitionspsychologischen Ansätzen, zu denen die aufgegriffenen Problemlösetheorien zählen, werden in Kapitel 3.1.3 diskutiert. Diese Theorien haben als sensibilisierende Konzepte (vgl. Kapitel 2.1.1) wesentlich die Formung der Ergebnisse beeinflusst.

Als Ergebnis von Studie I wird ein aus den Daten konstruiertes Modell des Problemlösens im Sportunterricht skizziert, in dem angenommen wird, dass Schüler im Sportunterricht Probleme hauptsächlich durch den Einsatz von vier Tätigkeiten lösen: Probieren, Analysieren, Planen, Bewerten (Kapitel 3.2). Diese Tätigkeiten sind strukturell miteinander verbunden – d.h. z.B., dass ein Plan auf theoretischen Annahmen aufbaut, die aus der mehr oder weniger expliziten Analyse einer Situation stammen. Durch den Einsatz dieser vier Problemlösetätigkeiten werden sukzessive die Situationsbedingungen des Handelns der Schüler – die Ziele und die Ressourcen - verändert bis eine Aufgabenstellung erfüllt oder abgebrochen wird. Durch die Struktur der Aktivitäten der Schüler auf der Metaebene des Problemlösens werden auch die Probleme der Schüler auf dieser Ebene systematisiert. Dabei spielt es weniger eine Rolle, ob das Problem in dem „Anmotzen“ oder dem „Nicht-Können“ liegt – wie in dem oben angeführten Beispiel -, sondern mit welcher oben genannten Problemlösetätigkeit die Schüler ein Problem haben.

Aufbau und Ergebnisse Studie II

In Studie II wird der Fragestellung nachgegangen: Wie betreuen Lehrkräfte selbständiges Lernen - in Anlehnung an Studie I verstanden als Problemlösen - im Sportunterricht?

Innerhalb sportpädagogischer Diskurse ist (noch) kein dominantes theoretisches Paradigma auszumachen, dass eine theoretische Grundlage für die Auslegung der beobachteten Dokumente hinsichtlich dieser Fragestellung anbieten könnte. Interessante Perspektiven eher pädagogisch-praktischer Art finden sich in Überlegungen zu einem problemorientierten Sportunterricht (Kapitel 4.1.2.3) und der Empfehlung zum Einsatz des sokratischen Gesprächs (Kapitel 4.1.2.2).

Mögliche Orientierungspunkte finden sich außerdem in der allgemeinen empirischen Unterrichtsforschung. Vor dem Hintergrund sozialkonstruktivistischer Grundlagen (vgl. Reusser & Reusser-Weyeneth, 1994a) wird angenommen, dass die Art der Betreuung der Problemlösungsprozesse zentral durch zwei Tätigkeiten beeinflusst wird: die Diagnostik des Schülerhandelns als wichtiger Kontext und die Betreuung der Problemlösungsprozesse im engeren Sinne. Daher werden in Kapitel 4.1.1 Überlegungen der empirischen Unterrichtsforschung zur Diagnostik durch Lehrkräfte im Unterricht, aber auch bewegungsbezogene Ansätze zur Diagnostik aufgegriffen. In Kapitel 4.1.2 werden in Hinblick auf die Betreuung der Problemlösungsprozesse der Schüler den oben genannten pädagogisch-praktischen Ansätzen auch Ergebnisse der allgemeinen und bewegungsbezogenen empirischen Unterrichtsforschung und der Ansatz des Scaffoldings an die Seite gestellt, der auf sozialkonstruktivistischen Theorien basiert.

Vor dem Hintergrund der Ergebnisse von Studie I und den weiteren rezipierten theoretischen Grundlagen, wird als Ergebnis von Studie II ein Modell skizziert, das die Anpassung des Lehrerhandelns an das Schülerhandeln darstellt (Kapitel 4.2). Diesem zufolge ist es für das Lehrerhandeln zentral, erstens an die Struktur der Problemlösungsprozesse der Schüler und zweitens an das Verantwortungsübernahmepotential der Schüler angepasst zu sein. Es wird angenommen, dass die Schüler bei angepassten Verhaltensweisen der Lehrkraft eher Fortschritte in der Lösung der Problemzusammenhänge machen und mehr Verantwortung für den Problemlösungsprozess übernehmen.

2Forschungsmethodisches Vorgehen

In dem folgenden Kapitel werden die forschungsmethodologischen Grundlagen der Untersuchung dargestellt. Dazu gehört es, zu den entscheidenden Fragen „Warum qualitative Forschung?“ und „Warum Grounded Theory?“ Stellung zu beziehen. Außerdem muss das detailliertere Vorgehen an den konkreten Daten verständlich gemacht werden. Diese drei Punkte werden in Kapitel 2.1 beantwortet. Um die Untersuchung im Detail nachvollziehen und auch deren Güte beurteilen zu können, muss außerdem die Beschaffenheit der untersuchten Daten dargestellt werden. Diese Aspekte werden in Kapitel 2.2 dargestellt.

2.1 Begründung und Darstellung des forschungsmethodischen Vorgehens

Warum qualitative Forschung?

„Am Anfang einer jeden Forschung steht ein Phänomen, das die Forschenden interessiert und eine Forschungsfrage, auf die eine Antwort gegeben werden soll. Ist die Beantwortung der Frage auf der Grundlage des gegenwärtigen Wissensstandes nicht möglich, ist ein offener, sinnverstehender Zugang mittels qualitativer Verfahren zum empirischen Feld zu wählen.“ (Mey & Mruck, 2009, S. 100).

Nach diesem Zitat der beiden Psychologen Mey und Mruck ist die Begründung für einen qualitativen Forschungsansatz in dem Verhältnis von Erkenntnisinteresse des Forschenden bzw. reichhaltiger Empirie zu vorhandenen Theorien zu suchen. In erkenntnistheoretischer Hinsicht beschreibt Rost in eben diesem Sinne den Erkenntnisfortschritt durch jegliche empirische Wissenschaften als Wechselspiel von Theorie und Empirie bzw. Wechselspiel von Deduktion und Induktion (Rost, 2002, 2003). Während quantitative Forschungsansätze ihren Ausgangspunkt in starken Theorien nehmen, daraus quantifizierbare Hypothesen deduzieren und diese anschließend mit statistischen Verfahren testen, „ist der Schritt von der Empirie zur Theorie vergleichsweise dürftig“ in diesen Ansätzen begründet (Rost, 2003, S. 9). Der Schritt der Theorieentwicklung bzw. von der Empirie zur Theorie sei dagegen die Domäne qualitativer Forschungsansätze. Eben dieser Schritt sei dann geboten, wenn Theorien in nicht ausreichendem Maße vorhanden sind, um die an die Empirie herangetragene Fragestellung zu beantworten. Qualitative Forschung wendet sich damit Aspekten zu, die theoretisch (noch) nicht direkt erfassbar sind, z.B. weil es keine passende Theorie für die Fragestellung in dem jeweiligen Feld gibt, oder aber berechtigte Kritik an bestehenden Theorien geübt werden kann.

Flick, von Kardorff und Steinke nennen diese Aspekte „das Neue im Untersuchten, das Unbekannte im scheinbar Bekannten“, für das qualitative Forschung offen ist (Flick, von Kardorff & Steinke, 2008b, S. 17)3F[4].

Vor diesem Hintergrund liegt die Begründung für die Entscheidung für ein qualitatives Vorgehen weniger in diesem forschungsmethodischen Kapitel, sondern vielmehr in den Kapiteln zu den theoretischen Grundlagen. Denn nur dort kann gezeigt werden, dass sich in der Theorie keine angemessenen Antworten auf die jeweilige Fragestellung finden lassen. Insofern kann sich der Leser sein Urteil über die Wahl des Forschungsansatzes letztendlich erst nach der Lektüre der Kapitel 3.1 und 4.1 bilden. Im Folgenden wird kurz die Genese der Fragestellungen der Untersuchung thematisiert, bevor die theoretischen Lücken als Begründung für einen qualitativen Ansatz umrissen werden.

Ihren Ausgangspunkt hat die Untersuchung in einer Feststellung genommen, die am Ende der Arbeit der Frankfurter Arbeitsgruppe zu Kooperativem Lernen stand4F[5]. Und zwar wurde festgestellt, dass die Lehrkräfte immense Probleme damit hatten die Schüler während der selbständigen Arbeitsphasen zu betreuen. Dadurch konnte sogar bei der Evaluation der letzten Studien die Konzeptimplementation nur eingeschränkt als erfolgreich beurteilt werden (vgl. Bähr, 2009b; Bähr & Wibowo, 2012).

Ausgehend von dieser Feststellung wurde das Themengebiet der hier vorliegenden Forschungsarbeit auf die Betreuungsleistung der Lehrkräfte während der selbständigen Arbeitsphasen fokussiert. Vor dem Hintergrund der Recherchen und auch erster offener Auswertungsschritte (s.u.) wurde zweierlei klar.

Zum einen wurde deutlich, dass keine geeignete Theorie in der Sportpädagogik vorliegt, die gleichermaßen Lehren und Lernen während der Betreuungsphasen der Lehrkräfte berücksichtigt (vgl. Kapitel 4.1). Gängige Theorien (Bildungs-, Entwicklung- oder Bewegungstheorien) oder pädagogisch-praktische Konzepte (aus empirischen Forschungsarbeiten, mit Rückgriff auf das sokratische Gespräch oder Ansätze zu problemorientiertem Lernen im Sportunterricht) berücksichtigen zwar durchaus beide Aspekte, jedoch werden Zusammenhänge zwischen Lehren und Lernen kaum theoretisch in einer angemessenen Detailliertheit modelliert und in ein Gesamtbild gestellt.

Der Blick über den „Tellerrand“ lenkte die Aufmerksamkeit auf das Konzept des Scaffoldings und dessen sozialkonstruktivistische Grundlagen, der jedoch (noch) keine nennenswerte Berücksichtigung in nationalen und internationalen sportwissenschaftlichen Forschungsbemühungen findet. Was bleibt ist eine Lücke, die die Fragestellung aufwirft: Wie betreuen Lehrer selbständiges Lernen im Sportunterricht? (vgl. Kapitel 4).

Die Ergebnisse von Studie II5F[6] - die sich mit dieser Fragestellung befasst - weisen auf zweierlei hin. Erstens, dass das sozialkonstruktivistische Fundament des Scaffolding-Ansatzes eine geeignete theoretische Grundlage zur Beantwortung der Fragestellung der Untersuchung aber auch für zukünftige Arbeiten zur Verfügung stellt. Zweitens, dass eine gegenstandsspezifische Modellierung der untersuchten Betreuungsprozesse auf der Basis des in Studie I entwickelten Problemlösemodells eine sinnvolle Anpassung darstellt.

Zum anderen fiel auf, dass das Angebot an Theorien, die versuchen den Gegenstand des Lernens im Sportunterricht zu erfassen – also einen essentiellen Aspekt der ersten Studie betreffen - erstens sehr verschieden sind und auf unterschiedlichen Ebenen versuchen die Empirie mehr oder weniger detailliert zu modellieren, und zweitens nur in geringem Maße in der Lage sind den untersuchten Daten gerecht zu werden (vgl. Kapitel 3.1). Diese Feststellung führt zur Fragestellung von Studie I nach Strukturen selbständigen Lernens im Sportunterricht.

Ein prinzipieller Unterschied bei der Recherche möglicher theoretischer Grundlagen findet sich in der Unterscheidung von phänomenologisch-bildungstheoretischen Ansätzen – wie sie vor allem in der Sportpädagogik rezipiert werden - und kognitionspsychologischen Ansätzen – die in der Sportwissenschaft vor allem in der Bewegungswissenschaft Berücksichtigung finden, aber auch in der pädagogisch-psychologischen Unterrichtsforschung. Die Pluralität dieser Ansätze - die einerseits wissenschaftstheoretisch als unvereinbar dargestellt werden (vgl. Kapitel 3.1.3), aber durch ihre unterschiedlichen Ansatzpunkte auf jeweils wichtige Aspekte verwiesen haben – ließ zu Beginn der Untersuchung keine eindeutige Entscheidung zu und führte zu dem durchgeführten qualitativen Forschungsansatz. Eine Verbindung der verschiedenen Aspekte wurde erneut durch einen Ansatz jenseits des sportwissenschaftlichen Horizonts gefunden, und zwar durch Problemlösetheorien (vgl. Kapitel 3.1.4).

Die Ergebnisse von Studie I zeigen einerseits, dass Theorien des Problemlösens und deren gegenstandsspezifische Adaption durch diese Untersuchung einen geeigneten gegenstandsangemessenen Rahmen bieten, um Lernprozesse zu modellieren. Andererseits hat sich die so modellierte Struktur der Lernprozesse als Ansatzpunkt für die Betreuungsprozesse und deren Beurteilung nach Graden der Angepasstheit / Adaption bewährt. Letzteres – die Klassifikation verschiedener Grade der Adaption (vgl. Kapitel 4.2.3) – soll aus Sicht des Autors als Kernergebnis der gesamten Untersuchung verstanden werden.

Warum Grounded Theory?

Nach der Begründung der Wahl eines qualitativen Forschungsansatzes für die gesamte Untersuchung soll im Folgenden die Auswahl der Grounded-Theory-Methodologie (GTM) als leitender forschungsmethodischer Ansatz für beide Studien begründet werden.

Eine Begründung für etwas bedeutet auch immer eine Begründung gegen etwas. Während das in dem ersten Punkt - der Abgrenzung von qualitativen zu quantitativen Ansätzen - noch (relativ) einfach gelingt, ist die Begründung einer Entscheidung für eine spezielle qualitative forschungsmethodologische Leitlinie und die Begründung, warum eine andere Leitlinie nicht besser geeignet wäre, wesentlich komplizierter. Komplex ist die Begründung daher, da zwar klare theoretische und verfahrenstechnische Unterschiede ausgemacht werden können, zum Teil allerdings ähnliche Ergebnisse erzielt werden können und daher auch ähnliche Fragestellungen bearbeitet werden können.

Aus gängigen Systematiken zu qualitativen Forschungsperspektiven und –orientierungen – z.B. bei Flick, von Kardorff & Steinke(2008a),Lamnek(2010)undLüders & Reichertz(1986)– stellenMruck & Mey(2005) eine Synopse mit drei verschiedenen Klassen qualitativer Forschungsperspektiven zusammen6F[7].

Aufgrund der Ausgangsfragestellungen der zweiten Studie – Wie betreuen Lehrkräfte selbständiges Lernen / Problemlösen im Sportunterricht? - lässt sich zumindest annäherungsweise begründen, warum die GTM als forschungsmethodologische Leitlinie gewählt wurde.

Die Fragestellung von Studie I fokussiert vor allem die Interaktionsprozesse der Akteure und in diesem Sinne lag die Wahl der GTM als forschungsmethodische Leitlinie nahe. Eine detaillierte Begründung - und so weit möglich Abgrenzungen zu anderen qualitativen Forschungsansätzen – für die GTM erfolgt im folgenden Kapitel anhand konkreter Merkmale.

Mit der Entscheidung (in Studie II) eine zweite Fragestellung für die Untersuchung zu bearbeiten – Wie lassen sich Lernprozesse der Schüler in den vorliegenden Daten strukturieren? – hätte aufgrund der Fragestellung nach Strukturlogiken und impliziten Regeln in der Tat eine neue forschungsmethodologische Leitlinie in Erwägung gezogen werden können (vgl. Tabelle 1, rechte Spalte). Jedoch wurde die Entscheidung für die GTM aus zwei Gründen nicht weiter infrage gestellt. Erstens, sind forschungspragmatische Gründe anzuführen. Im Rahmen einer Qualifikationsarbeit ist es bereits eine immense Herausforderung sich einen forschungsmethodischen Ansatz zu erarbeiten (vgl. Truschkat, Kaiser-Belz & Reinartz, 2007); einen zweiten Ansatz für eine untergeordnete Fragestellung in Erwägung zu ziehen, schien zu dem damaligen Zeitpunkt und auch aus der Retrospektive ein ungerechtfertigter Aufwand. Zumal, zweitens, nicht ausgeschlossen ist, dass aufgrund der Leitlinien der GTM auch Tiefenstrukturen7F[8] in die Auswertung einfließen können, auch wenn andere Verfahren eventuell für diese Fragestellung geeignetere Verfahrensweisen zur Verfügung stellen8F[9].

Tabelle 1 - Synopse zu qualitativen Forschungsperspektiven (nach Mruck und Mey, 2005)

2.1.1 Merkmale der GTM und deren Anwendung in den Studien

In dem folgenden Kapitel soll verdeutlicht werden, welche Bedeutungen verschiedene Merkmale der GTM als Forschungsstil und Forschungshaltung für die Untersuchung hatten. Dafür wird zuerst die Auswahl von Merkmalen dieses durchaus vielfältigen Forschungsansatzes begründet und dann die einzelnen Merkmale erläutert und deren Bedeutung für die Untersuchung dargestellt.

Mey und Mruck (2011) weisen darauf hin, dass es angesichts der Vielfalt von Ansätzen hinter dem Label Grounded-Theory9F[10] angemessener wäre von Grounded-Theory-Methodologien im Plural zu sprechen (vgl. auch Berg & Milmeister, 2011). Differenzen bei den verschiedenen Merkmalen zeigen sich nicht nur bei den Gründervätern Barney Glaser und Anselm Strauss, auch in der zweiten Generation bei Juliet Corbin, Kathy Charmaz und Adele Clarke zeigen sich erhebliche Unterschiede. Auch wenn in Deutschland derzeit überwiegend die GTM-Variante von Anselm Strauss und Juliet Corbin rezipiert wird, haben sich auch hier einige lokale und disziplinäre Adaptionen entwickelt (z.B. Breuer, 2010; Strübing, 2008)10F[11]. Angesichts dessen scheint die oftmals angeführte Trennung der GTM-Vertreter in ein Glaser-Lager und ein Strauss/Corbin Lager stark vereinfachend, da die vielen Gemeinsamkeiten der Protagonisten in einigen Merkmalen im Verborgenen bleiben. Tiefgehende Auseinandersetzungen finden zum einen in dem deutschsprachigen Sammelwerk von Mey und Mruck (2011) – dem Grounded Theory Reader – statt, und zum anderen in dem US-amerikanischen Pendant von Bryant und Charmaz (2010) – The SAGE handbook of grounded theory.

Ohne sich einer speziellen „Schule“ oder sich ausschließlich einem oder mehreren Autoren zu verpflichten, werden im Folgenden die von Mey und Mruck (2011) angeführte übergreifenden Merkmale der GTM dargestellt und deren Anwendung in der vorliegenden Untersuchung mit Rückgriff auf weitere Protagonisten der GTM erläutert.

Forschung als iterativer Prozess

Der Forschungsprozess in einer Untersuchung nach der GTM zeichnet sich durch einen Prozess aus, in dem sich Phasen der Datenerhebung11F[12] und der Entwicklung einer Theorie / eines Modells12F[13] von Beginn an zyklisch (iterativ) abwechseln (vgl. Abbildung 1).

Dieser Punkt ist zunächst unabhängig davon, welche Quellen für die Entwicklung eines Modells herangezogen werden – siehe dazu das Merkmal „Theoretische Sensibilität“ weiter unten. Der Wechsel dieser Phasen, soll die Entwicklung einer Grounded Theory – einer gegenstands- bzw. datenverankerten Theorie – gewährleisten. Die deduktiven „theoretischen“ Phasen haben weniger die Funktion, „fertige“ Kategorien aus bestehenden Theorien zu übernehmen, die dann wiederum subsumptionslogisch als Schablonen für die weitere Arbeit in den Daten verwendet werden, sondern dass, darin, dass sukzessive Kategorien entwickelt werden, die dem Untersuchungsfeld und der Fragestellung angemessen sind. Das untere graue Rechteck in Abbildung 1 mit dem Titel Theorie bezeichnet damit die Modellentwicklung, die wie jegliche qualitative Forschung dem Prinzip der Offenheit verpflichtet ist (vgl. Flick et al., 2008b; Mruck & Mey, 2005). Geschlossenheit – z.B. durch im Voraus ausgewählte Theorien oder einseitige evtl. persönlich favorisierte Sichtweisen - widerspricht dem Anliegen qualitativer Ansätze den subjektiven in den Daten liegenden Sinn zu rekonstruieren (vgl. Tabelle 1).

Das regelmäßige Zurückkehren zu den Daten hat zum einen die Funktion, die Theorie weiter zu entwickeln – bspw. um Kontrastfälle aufzusuchen -, zum anderen sollen die entwickelten theoretischen Annahmen anhand der empirischen Daten validiert / überprüft werden.

Abbildung 1- Forschung als iterativer Prozess in der GTM (nach Mey und Mruck, 2011b)

Kodieren mit dem Ziel der Theoriebildung

„Die Grounded Theory basiert auf einem Konzept-Indikator-Modell, mit dessen Hilfe eine Reihe von empirischen Indikatoren nach Konzepten kodiert werden. Empirische Indikatoren sind konkrete Daten wie Verhaltensweisen und Ereignisse, die in Dokumenten und in Interviewtexten beobachtet oder beschrieben werden. Diese Daten sind Indikatoren für ein Konzept, das der Forscher zunächst vorläufig, später aber mit mehr Sicherheit aus den Daten ableitet.“ (Strauss, 1998, S. 54).

Das Konzept-Indikator-Modell basiert auf Überlegungen Glasers (1978) und präzisiert den Übergang von den Daten zu bereits theoriehaltigen Konzepten (vgl. Abbildung 2). Theoriehaltig bedeutet hier, dass Annahmen darüber aufgestellt werden, wie verschiedene Ereignisse (Indikatoren) auf eine bestimmte Art und Weise miteinander in Verbindung stehen. Dabei kann ein Indikator auf mehrere Konzepte hinweisen (Mehrfachkodierung einzelner Fälle bzw. Segmente); anders herum setzt sich ein Konzept zumeist aus mehreren Indikatoren zusammen bzw. wird erst durch die verschiedenen Indikatoren ausdifferenziert.

Z.B. deutet der Satz einer Lehrkraft „Wo liegt denn euer Problem?“ einerseits auf das Konzept Diagnostik hin, da der Lehrer von den Schülern Informationen über deren Arbeitsstand einholt. Andererseits wurde das gleiche Segment in der Untersuchung unter dem Konzept Aufforderung zum Analysieren klassifiziert.

Durch die zunehmend dichtere Ausdifferenzierung der Konzepte und deren Beziehungen zueinander – mittels verschiedener Kodierverfahren (vgl. Kapitel 2.1.2) -, wird die Grounded Theory entwickelt. Konzepte sind dabei als kleinere Einheiten der gesamten Theorie zu verstehen.

Abbildung 2 - Konzept-Indikator-Modell (nach Mey und Mruck, 2009; Strauss 1998)

Memoing

Ein wichtiges methodisches Element während des gesamten Forschungsprozess nach der GTM ist das sogenannte Memoing. Memoing bedeutet, Überlegungen, die in allen Phasen des Forschungsprozess entstehen – z.B. zum weiteren Vorgehen oder zu möglichen theoretischen Aspekten – festzuhalten. Glaser und Strauss betonen die hohe Bedeutung, die dieser Technik der Entwicklung von Theorien zukommt, indem sie eigens dafür eine Regel aufstellen: „Unterbrechen sie die Kodierung und schreiben sie ein Memo über ihre Ideen.“ (Glaser & Strauss, 2008, S. 121). Die Memos können als Werkzeug verstanden werden aufkommende Ideen – vor allem über theoretisch-konzeptuelle Aspekte – zu fixieren und zu elaborieren. „In ihrem Sinne fixieren Memos das Flüchtige, sie helfen, sie sich herausbildende Theorie zu präzisieren“ (Mey & Mruck, 2011, S. 26).

Ebenso wie Ideen sollen Memos mit dem Fortschritt im Forschungsprozess kontinuierlich fortentwickelt werden. Dabei sollen Memos für verschiedene Aspekte des Forschungsprozesses angelegt werden: für die Entwicklung von Theorien / Konzepten, für die Planung und für die Methodik (Strauss, 1998, S. 151ff).

Memos und deren Entwicklung darzustellen würde eine immense Menge an Platz beanspruchen. Die Inhalte der Memos sind die zentrale inhaltliche Grundlage für die Darstellung der Ergebnisse in den Kapiteln 3.2 und 4.2.

Bedeutung von Vergleichen im Forschungsprozess

In dem Ursprungswerk „The discovery of grounded theory” von Glaser und Strauss von 1967 – bzw. der deutschen Übersetzung (Glaser & Strauss, 2008) – wird die Formulierung Methode des ständigen Vergleichens synonym für den Forschungsprozess der GTM benutzt; der Terminus Grounded-Theory-Methodologie wurde damals noch nicht verwendet. Das Vergleichen verstehen die Autoren als Hilfe für den Forscher eine Theorie zu generieren (ebd., S. 115ff). Strauss und Corbin bezeichnen die Vergleiche als Übungen, die dabei helfen sollen, „eher analytisch als deskriptiv über die Daten nachzudenken, provisorische Kategorien und Dimensionen zu erzeugen“ (Strauss & Corbin, 1996, S. 64).

Das Vergleichen findet in allen Phasen der Untersuchung und auf allen Ebenen der Auswertung statt - Indikatoren werden mit Indikatoren vergleiche und Konzepte werden mit Konzepten verglichen. Durch die Vergleiche werden Konzepte weiter ausdifferenziert, indem Eigenschaften von Konzepten und Verbindungen zwischen Konzepten herausgearbeitet werden. Das Vergleichen und die Entwicklung der Theorie erfolgt dabei in zyklischen Wiederholungen wie sie oben dargestellt wurden.

Für die Entwicklung der Theorie sind jedoch nicht nur Vergleiche zu beobachtbaren Ereignissen in den analysierten Daten relevant, sondern auch hypothetische Vergleiche – die dann jedoch wiederum an tatsächlichen Fällen validiert werden müssen. Strauss und Corbin (1996, S. 64ff) benennen z.B. die Flip-Flop-Technik – das Vorstellen eines gegenteiligen Beispiels – oder weithergeholte Vergleiche13F[14].

Theoretisches Sampling / Theoretische Sättigung

Wie zu Beginn des Kapitels dargestellt ist der Ausgangspunkt eines qualitativen Forschungsansatzes, dass es keine geeigneten theoretischen Grundlagen für das zu untersuchende Feld in Verbindung mit der gestellten Forschungsfrage gibt. Von diesem Standpunkt aus können keine Grundgesamtheit und entsprechende Merkmalsverteilungen vorab definiert werden – wie für ein statistisches Sampling einer quantitativen Untersuchung. Es ist also eine andere Strategie gefragt, um das Sampling - also weitere Fälle und auch Vergleiche - zusammenzustellen (vgl. Seipel & Rieker, 2003).

„Theoretisches Sampling meint den auf die Generierung von Theorie zielenden Prozess der Datenerhebung, währenddessen der Forscher seine Daten parallel erhebt, kodiert und analysiert sowie darüber entscheidet, welche Daten als nächstes erhoben werden sollen und wo sie zu finden sind. Dieser Prozess wird durch die im Entstehen begriffene – materiale oder formale – Theorie kontrolliert.“ (Glaser & Strauss, 2008, S. 61). Die Auswahl weiterer Fälle erfolgt also nach deren Potential die bestehenden Konzepte bzw. die entstehende Theorie weiter auszudifferenzieren bzw. aufgestellte Hypothesen über theoretische Zusammenhänge zu konsolidieren. Diese Samplingstrategie wird von daher als theoretisch bezeichnet, weil die Auswahl weiterer Fälle aus der zu entwickelnden Theorie abgeleitet wird14F[15].

Dabei muss nicht zwingend das gleiche Datenformat weitererhoben werden. Es können auch andere Arten von Daten erhoben werden, sofern diese zur Ausdifferenzierung oder Konsolidierung der entstehenden Theorie beitragen. Diese Offenheit findet sich in einer vielfach zitierten Bemerkung Glasers wieder: „All is data“ (Glaser, 2002; Glaser & Holton, 2011).

Das theoretische Sampling solle so lange fortgeführt werden bis weitere Fälle keine weitere Entwicklung der Theorie erbringen würden. Ein solcher Zustand der Theorieentwicklung wird als theoretische Sättigung bezeichnet (z.B. Strauss & Corbin, 1996, S. 165).

In der vorliegenden Untersuchung wurde das theoretische Sampling innerhalb eines bestehenden Datenpools (vgl. Kapitel 2.1.3 und 2.2) durchgeführt. Mit Oswald ist dieses Vorgehen als Mischform des theoretischen Samplings zu bezeichnen (Oswald, 2010, S. 193). Auf diesen Punkt verweisen auch Strauss und Corbin: „Wir meinen, daß Forscher intensives theoretisches Sampling innerhalb ihren tatsächlichen Daten durchführen können und sollen.“ (Strauss & Corbin, 1996, S. 164).

Datenerhebung bedeutet in dieser Untersuchung daher immer, dass innerhalb des unten beschriebenen Datenpools nach passenden Vergleichsfällen gesucht wurde. Von daher sind der Reichweite der in der vorliegenden Untersuchung entwickelten Grounded Theory durch die Rahmenbedingungen des Datenpools ganz klare Grenzen gesetzt (vgl. Kapitel 5.3). Drei Gründe sprechen für dieses Vorgehen in dieser Arbeit. Erstens ist aufgrund des Umfangs des Datenpools zu erwarten, dass ausreichend viele Kontrastfälle vorzufinden sind15F[16]. Zweitens ist die technische Qualität des Datenpools auf einem Niveau, das mit dem Aufwand einer Qualifikationsarbeit kaum hätte erreicht werden können. Drittens ist das Aufsuchen von Vergleichsfällen bei der in der Untersuchung eingenommenen Perspektive nur bedingt gezielt möglich, da das Auftreten der Fälle bis zu einem gewissen Maße intransparent16F[17] und damit zufällig war. Mit anderen Worten, es ist schwerlich zu antizipieren, wann Schüler auf welche Probleme stoßen.

Gegenstandsbezogene und formale Theorien

Glaser und Strauss beschreiben zwei verschiedene Formen von Grounded Theorys bzw. Ergebnissen: formale und gegenstandsbezogene bzw. materiale Theorien. „Als material bezeichnen wir Theorien, die für ein bestimmtes Sachgebiet oder empirisches Feld der Sozialforschung (…) entwickelt werden. Als formal bezeichnen wir Theorien, die für einen formalen oder konzeptionellen Bereich der Sozialforschung entwickelt werden.“ (Glaser & Strauss, 2008, S. 50).

Beide Formen von Theorien bzw. Modellen sind im Bereich von Middle-Range-Theories anzusiedeln wie sie Merton (1995) vorgeschlagen hat und abzugrenzen von sogenannten Grand-Theorys oder rein deskriptiven Datensammlungen (vgl. Glaser & Strauss, 2008, S. 15). Allerdings beklagen Glaser und Strauss, dass es bisher keiner Forschungstradition gelungen ist „die peinliche Lücke zwischen [Groß-; J.W.]Theorie und empirischer Forschung zu schließen. Die Lücke ist heute [1967; J.W.] so groß wie 1941, als Blumer über sie nachdachte, und 1949, als Merton optimistisch eine Lösung vorschlug.“ (ebd., S. 15). An dieser Stelle verspricht der von ihnen entwickelte Ansatz Abhilfe zu leisten.

Die vorliegende Untersuchung ist im Bereich materialer bzw. gegenstandsbezogener Theorien / Modellierungen anzusiedeln, deren Reichweitenbegrenzung sich aus der Beschaffenheit des analysierten Videodatenpools erschließt (vgl. Kapitel 2.2). Das Ergebnis der gesamten Untersuchung ist damit ein gegenstandsbezogenes Modell über die Adaption des Lehrerhandelns in selbständigen Arbeitsphasen im Sportunterricht in fünften Klassen an Gesamtschulen mit den Inhalten aus dem turnerisch-akrobatischen Bereich.

Für jegliche Grounded Theory gilt außerdem ihr prozessualer Charakter: „Zwar kann eine Theorie für eine Publikation als ein fertiges Produkt behandelt werden, doch man hat in Rechnung zu stellen, dass sie sich noch weiter entwickeln wird. Wir sind der Meinung, dass nur ein prozessuales Verständnis von Theorie der Wirklichkeit sozialen Handelns und dessen strukturellen Bedingungen einigermaßen gerecht wird.“ (ebd., S. 49). Insofern gilt auch für die hier vorliegende Untersuchung, dass z.B. für eine weitere Formalisierung noch weitere Vergleiche (Alter, Unterrichtsinhalte) notwendig sind und anhand dieser Vergleiche z.B. noch weitere Kontexte und Konsequenzen erschlossen werden könnten.

Spezifische Gütekriterien

Mey und Mruck (2011) schließen sich dem Diskurs um die Güte qualitativer Forschung im dem Sinne an, dass die Unangemessenheit der statistischen Gütekriterien Validität, Objektivität und Reliabilität betont wird (vgl. Steinke, 1999; Bohnsack, 2005). Als spezifische Gütekriterien für GTM-Untersuchungen nennen sie Passung (fit), Relevanz (relevance), Integrationspotential (workability) und Flexibilität (modifiability) (vgl. Mey & Mruck, 2011, S. 30; Glaser, 1978; Glaser & Strauss, 2008).

Unter Passung verstehen sie in Anlehnung an Glaser (1978) vor allem die Passung von entwickelten theoretischen Konzepten und empirischen Ereignissen, die durch die theoretischen Konzepte repräsentiert werden. Hier wird erneut auf den Entstehungsprozess einer Grounded Theory verwiesen, in dem die (zu entwickelnde gegenstandsverankerte) Theorie an die empirischen Ereignisse angepasst wird.

In der Darstellung der Ergebnisse der Untersuchung kann die Passung anhand jener Ankerbeispiele nachvollzogen werden, die für die Darstellung der einzelnen Kategorien angeführt werden. Dabei wird nach folgendem Schema vorgegangen: Zuerst wird das Protokoll (Transkript + Beobachtungskommentare; vgl. Kapitel 2.1.3) der jeweiligen Szene als möglichst interpretationsfreier Zugang zu den Daten angeführt, danach erfolgt eine interpretierende Auslegung in der Logik der jeweiligen Kategorie für die das jeweilige Ankerbeispiel angeführt wird und zuletzt wird das Ankerbeispiel noch durch eine theoretische Auslegung anhand von Fachliteratur verdichtet. Die theoretische Auslegung wird nicht in allen Punkten notwendig sein, da einige Kategorien auf den gleichen theoretischen Bezügen aufbauen. Außerdem soll die theoretische Auslegung aus Gründen der Leserlichkeit auch nicht überstrapaziert werden.

Unter Relevanz verstehen Mey und Mruck – noch immer in Anlehnung an Glaser – die Bedeutung, die einer Grounded Theory für die Handlungspraxis zukommt. Insbesondere der Fokus auf die Akteure und ihre Handlungsprobleme und –prozesse ist ein Kernkriterium, da dies als wichtige Bedingung angesehen wird, um für die Handlungspraxis bedeutsam zu werden. Die Untersuchung ist angetreten mit dem Fokus auf Handlungsprozesse der Lehrer in selbständigen Arbeitsphasen der Schüler. Von daher ist aus dieser Sichtweise die GTM durchaus eine angemessene forschungsmethodologische Leitlinie. Dem des Fokus der Untersuchung entsprechend sind die Ergebnisse auf die Handlungsprobleme und –prozesse der Akteure ausgerichtet. Jedoch verweist der Fokus auf die Akteure auf zwei Analysesebenen: eine Sichtebene, auf der Inhalte verhandelt werden, und eine Tiefenebene des Problemlösens (vgl. die Ergebniskapitel 3.2 und 4.2). Wobei die Perspektive auf die Akteure auf eine starke Vermischung dieser beiden Bedeutungsebenen hindeutet.

Das Integrationspotential bezeichnet das Ausmaß, in dem die ausgearbeitete Kernkategorie den Kern des Handelns der Akteure trifft. In Bezug auf Studie I wird das Problemlösen – durch die Problemlösetätigkeiten Probieren, Analysieren, Planen und Bewerten - als Kernkategorie herausgearbeitet und der Kern des Handelns als das Überwinden von Problemen (von den Akteuren verstanden als Hindernisse) dargestellt (vgl. Kapitel 3.2). In Studie II konzeptualisiert die Kernkategorie Adaption die Passung des Lehrerhandelns an das Schülerhandeln. Die Passung wird bestimmt durch das Verhältnis des Lehrerhandelns an die Struktur der Problemlösetätigkeiten der Schüler und das Verantwortungsübernahmepotential der Schüler (vgl. Kapitel 4.2). In Bezug auf den Titel der gesamten Untersuchung ist die zweite Kernkategorie – die Adaption des Lehrerhandelns - als integratives Moment der Untersuchung zu verstehen, in welcher die Kernkategorie von Studie I eingebettet ist.

Das Gütekriterium der Flexibilität bezeichnet, inwiefern die entstandene Theorie im Stande ist mit neuen Bedingungen bzw. Daten umzugehen. Dieses Kriterium ist ausgesprochen schwierig zu beurteilen, ohne in die Falle einer unangemessenen Verallgemeinerung zu tappen (vgl. z.B. Oswald, 2010). Da für eine Diskussion dieses Punktes detaillierte Kenntnisse der Ergebnisse von Nöten sind, wird die Flexibilität erst in der forschungsmethodischen Diskussion in Kapitel 5.3 wieder aufgegriffen.

Theoretische Sensibilität

Die theoretische Sensibilität bezeichnet in welchem Ausmaß theoretische in der Fachliteratur bereits entwickelte Konzepte für die Verdichtung der zu entwickelnden Grounded Theory hinzugezogen wird17F[18]. Die Kontroverse zwischen den Protagonisten Glaser und Strauss um diesen Punkt ist als unterschiedliche Gewichtung zweier Aspekte zu verstehen.

Einerseits folgt die Logik qualitativer Forschung einem Offenheitspostulat, um die Sinnzusammenhänge des untersuchten Feldes rekonstruieren zu können. Der Annahme folgend, dass qualitative Forschung dann von Nöten ist, wenn bestehende Theorien nicht für einen Untersuchungsgegenstand passen, muss der Forscher in einer gewissen Art und Weise unvoreingenommen an die Daten herantreten und außerhalb der Logik der bestehenden Theorien betrachten, um die Logik des Untersuchungsfeldes aufzuspüren – damit die Logik „emergieren“ kann.

Andererseits unterliegt der qualitative Forscher, wie jegliche anderen Menschen, der konstruktivistischen Prämisse der Voreingenommenheit (vgl. Kelle, 2011). Mit anderen Worten, jeder Mensch kann seine Welt – auch seinen Untersuchungsgegenstand - nur vor dem Hintergrund seiner Erfahrung und seiner entwickelten theoretischen Begriffsnetzwerke betrachten – der Mensch ist immer theoretisch sensibilisiert (vgl. auch Kapitel 3.1.1). Eine vollkommene Offenheit ist damit überhaupt nicht möglich. Dieser Punkt wird auch bei Glaser und Strauss deutlich gemacht: „Selbstverständlich nähert sich der Forscher der Realität nicht als einer tabula rasa. Er muss eine Perspektive besitzen, die ihm die relevanten Daten (wenn auch noch unscharf) und die signifikanten Kategorien aus seiner Prüfung der Daten zu abstrahieren erlaubt.“ (Glaser & Strauss, 2008, S. 21).

In der Frage nach dem Verhältnis von Offenheit und theoretischer Sensibilität wird für diese Untersuchung eine Position bezogen, die weitgehend mit der von Strauss und Corbin (1996) übereinstimmt18F[19]. So schreiben Anselm Strauss und Juliet Corbin: „Während der Untersuchung selbst sollte es auch unbedingt Forschungsanregungen auf der Grundlage der Literatur (aber nicht nur der fachbezogenen) und ein echtes Wechselspiel zwischen Lesen von Literatur und Analysieren von Daten geben. Letztendlich lesen und benutzen wir veröffentlichtes Material in allen Phasen des Forschungsprozesses“ (Strauss und Corbin, 1996, S. 38)19F[20].

Strauss und Corbin verorten in der theoretischen Sensibilität einen wichtigen Punkt der kreativen Leistung eines Forschers: „Theoretische Sensibilität stellt einen wichtigen kreativen Aspekt der Grounded Theory dar. Sie beruht auf der Fähigkeit, nicht nur persönliche und berufliche Erfahrung, sondern auch die Literatur phantasievoll zu nutzen. Sie befähigt den Analysierenden, die Forschungssituation und die damit verbundenen Daten auf neue Weise zu sehen und das Potential der Daten für das Entwickeln einer Theorie zu erforschen.“ (ebd., S. 27)20F[21].

Die Position – sich durch bestehende Theorien sensibilisieren zu lassen – wird dann in einer wissenschaftlichen Untersuchung problematisch, wenn die Theoriebezüge undeutlich dargestellt werden. Zum einen, weil nicht differenziert wird, was fremdes Gedankengut ist und welche Elemente der entwickelten Theorie innovativ sind. Zum anderen, weil dadurch Schwierigkeiten entstehen die aus empirischen Studien generierten Theorien in bestehende Diskurse zu integrieren.

Um beiden Problemen zu begegnen, werden in den theoretischen Grundlagen der beiden Studien jene Theorien angeführt, die wesentlich zur Genese der jeweiligen Ergebnisse beigetragen haben. Außerdem wird – sofern dies sinnvoll erscheint – in der Darstellung der Ergebnisse an konkreten Ankerbeispielen gezeigt, inwiefern bestehende theoretische Konzepte die Entstehung der jeweiligen Kategorien beeinflusst haben. In der Tat muss festgestellt werden, dass zum Teil extensiv auf bestehende Theorien zurückgegriffen wird, das Gesamtergebnis – also die Kombination verschiedener theoretischer Aspekte – trotzdem als innovativ einzustufen ist, da insbesondere die Ergebnisse in Kapitel 4.2 zumindest in der Sportpädagogik einen neuen Aspekt des Lehrerhandelns erschließen.

Insofern sind die theoretischen Grundlagen in den Kapiteln 3.1 und 4.1 so zu verstehen, dass sie die Sicht auf die Daten gefärbt haben und so die „Brille“ des Blicks in der Auswertung gefärbt wurde. Jedoch sind diese Theorien nicht als subsumptionslogische Vorlagen verwendet worden. Bruno Hildenbrand betont, dass die Kenntnis bestehender Theorien essentiell ist, der Umgang mit ihnen jedoch einigermaßen „respektlos“ erfolgen muss, damit es sich bei dem Ergebnis letztendlich um eine gegenstandsverankerte Theorie handelt (Hildenbrand, 2008, S. 33).

Für beide Studien gilt, dass die theoretischen Bezugspunkte erst im Verlauf der Auswertung vervollständigt wurden. Der Beginn der gesamten Untersuchung war stark durch eine bildungstheoretisch-phänomenologische „Brille“ gefärbt wie sie in den Kapiteln 3.1.1 und 3.1.2 dargestellt wird. Im Verlauf der Auswertung haben sich jedoch die dort verhandelten Kategorien und angenommenen Zusammenhänge als unzureichend erwiesen, um die in den Daten beobachteten Phänomene theoretisch konzeptualisieren zu können. Von daher wurde in jenen Phasen des Forschungsprozesses, die in Abbildung 1 als Theorie bezeichnet wurden, im späteren Verlauf der Auswertung verschiedene theoretische Perspektiven „probiert“, um die Modelle der Ergebnisse in den Kapiteln 3.2 und 4.2 zu entwickeln. Jene Perspektiven externer Theorien, die die Ergebnisse zentral beeinflusst haben, werden in den theoretischen Grundlagen zu der jeweiligen Studie angegeben – ob diese theoretischen Grundlagen subsumptionslogisch oder anregend verwendet wurden kann nur die Lektüre der Ergebnisse vermitteln.

Computerunterstützte Auswertung

Die Auswertungsarbeit wurde durch die Software Atlas.ti (Version 7) unterstützt. Auf die Ausgestaltung dieses Merkmals wird im Rahmen der Datenaufbereitung in Kapitel 2.1.3 eingegangen.

Forschungswerkstätten und Interpretationsgruppen

Als letztes Merkmal für GTM-Untersuchungen wird angeführt, dass die laufende Arbeit in Forschungswerkstätten und Interpretationsgruppen diskutiert werden soll (Riemann, 2011; Strauss, 1998). Hintergrund ist vor allem, dass ein Abgleich verschiedener Lesarten erfolgen kann und darüber zum einen einseitige Interpretationen aufgelöst werden können und zum anderen auch ein höherer Grad an Differenzierung in der Entwicklung der Theorie erreicht wird.

In der vorliegenden Untersuchung wurden verschiedene (Teil-)Ergebnisse in unterschiedlichen Foren diskutiert – verschiedene Kolloquien an der Universität Hamburg, einer internen Forschungswerkstatt des Arbeitsbereichs Bewegung, Spiel und Sport der Universität Hamburg, im Rahmen von Vorträgen und Gesprächen auf Tagungen und Workshops. Außerdem waren über den Zeitraum von einem Jahr zwei studentische Hilfskräfte an der Auswertung beteiligt.

Nachdem nun verschiedene Merkmale und deren Anwendung in der vorliegenden Untersuchung dargestellt wurden, werden im Folgenden die in der Untersuchung eingesetzten Kodierverfahren dargestellt.

2.1.2 Kodierverfahren der GTM und die Anwendung in den Studien

Trotz so mancher Differenzen zwischen den Gründervätern Glaser und Strauss gibt es auch Gemeinsamkeiten – so z.B. hinsichtlich der Kodierverfahren: „Mein Kollege Barney Glaser, der die qualitative Analyse im Stil der Grounded Theory mitentwickelt hat, lehrt und benutzt diesen Analysemodus im Prinzip genau so, wie ich das auch tue.“ (Strauss, 1998, S. 23). Während Glaser (1978) zwischen gegenstandsbezogenem und theoretischem Kodieren unterscheidet, unterscheiden Strauss und Corbin (1996) das offene, axiale und selektive Kodieren21F[22]. Für die Untersuchung wird die Aufteilung von Strauss und Corbin verwendet, wobei die Überlegungen Glasers bei der Umsetzung des jeweiligen Verfahrens mit eingeflossen sind.

Einerseits stehen die Kodierverfahren in einer gewissen chronologischen Reihenfolge, andererseits wird zu keinem Zeitpunkt ausschließlich ein Verfahren angewendet. Üblicherweise beginnt eine GTM-Untersuchung mit dem offenen Kodieren, um Ereignisse zu benennen, daraufhin wird mit dem axialen Kodieren fortgefahren, um die theoretischen Verbindungen zu verdichten. Aus dem entstehenden theoretischen Netz wird dann letztendlich ein Zentrum ausgewählt, dass dem Urteil des Forschers zufolge das größte Integrationspotential hat.

Dieser idealtypische Verlauf könnte leicht zu dem Missverständnis eines abgeschlossenen sequentiellen Verhältnisses der Kodierverfahren führen. Vielmehr finden die Kodierverfahren in einem gewissen Maße parallel statt, z.B. wird auch bei der Benennung von Ereignissen in den Daten bereits über Verhältnisse zu anderen Ereignissen nachgedacht, oder es werden entstehende Kategorien hinsichtlich ihres Integrationspotentials betrachtet. Wobei in unterschiedlichen Stadien einer GTM-Untersuchung verschiedene Phasen ein größeres Gewicht einnehmen.

Abbildung 3 - Verhältnis des offenen, axialen und selektiven Kodierens (eigene Abbildung)

Bevor im Folgenden detaillierter auf die einzelnen Kodierverfahren eingegangen wird, soll noch etwas Begriffsklärung betrieben werden. In der Fachliteratur zur GTM werden die Begriffe Kodes, Kategorie, Subkategorie, Konzepte, Dimensionen und Eigenschaften zum Teil synonym und zum Teil auch unterschiedlich benutzt. Daher sollen im Folgenden die Begriffe für die vorliegende Untersuchung geschärft werden, um Verwirrungen vorzubeugen.

Als grobe Orientierung werden die Begriffe in technische und theoretische / modellierende Begriffe unterschieden. Technische Begriffe sind Segment / Zitat und Kode, theoretische / modellierende Begriff sind Theorie, Kategorie / Konzept, Subkategorie / Eigenschaft und Dimension / Ausprägung.

In technischer Hinsicht ist das qualitative Forschen, das Vergeben von Bedeutungen für ein Datum – ein Ereignis wird zu einem Fall von etwas gemacht. Segmente und Kodes bezeichnen eben jene beiden Aspekte. Der Begriff Segment wird in der Untersuchung, wie auch in der Fachliteratur (vgl. Berg & Milmeister, 2011, S. 314), zur Bezeichnung des Umfangs eines Falles verwendet – mit anderen Worten zur Bestimmung des Ausschnittes aus einem Transkript bzw. einem Protokoll (s.u.)22F[23]. Der Begriff Kode steht für die dem Segment zugeschriebene Bedeutung – für was der Fall stehen soll - und ist erst einmal unabhängig von dem Abstraktionsgrad der jeweiligen theoretischen Zuweisung zu verstehen23F[24].

Die Begriffe Theorie / Modell, Kategorie / Konzept, Subkategorie / Eigenschaft und Dimension / Ausprägung bezeichnen Verhältnisse verschieden abstrakter Elemente der entstehenden Theorie / des entstehenden Modells zueinander. Der Begriff Theorie / Modell bezeichnet in Bezug auf die zu entwickelnde Grounded Theory die bestimmte Perspektive, die eingenommen wird. Man könnte auch sagen, die jeweilige Kategorie die gerade als integrativer Kern fungiert – die Kernkategorie. In Studie I ist diese Perspektive ein Modell des Problemlösens im Sportunterricht, in Studie II ist diese Perspektive ein Modell der Adaption des Lehrerhandelns in selbständigen Arbeitsphasen.

Während Theorie / Modell also größere Gesamtheiten mit einem bestimmten Fokus bezeichnet, sind Kategorien Bedeutungen verschiedener Abstraktionsgrade24F[25]. Um diese verschiedenen Abstraktionsgrade zu kennzeichnen werden, die Begriffe Subkategorie bzw. Eigenschaft verwendet. Übergeordnete Kategorien haben dabei immer einen abstrakteren Charakter als Subkategorien oder Eigenschaften25F[26]. Z.B. ist in der Untersuchung das Analysieren der Schüler als Subkategorie der Kategorie Problemlösen eingesetzt worden (vgl. Kapitel 3.2).

Die Bezeichnungen sind jedoch nicht statisch, sondern immer relativ, d.h. sie können, je nachdem zu welcher anderen Kategorie sie in Beziehung gesetzt werden, den Status einer übergeordneten Kategorie oder einer Subkategorie einnehmen. Z.B. ist in Studie I das Problemlösen der Schüler die oberste Kategorie und damit als Label zur Bezeichnung des gesamten Modells eingesetzt worden. In Studie II dagegen ist das Problemlösen bzw. die Struktur des Problemlösens als Subkategorie des Modells der Adaption des Lehrerhandelns bedeutsam geworden.

Liegen verschiedene Kategorien auf der gleichen Ebene im Verhältnis zu einer übergeordneten Kategorie, bezeichnet man diese als Dimensionen oder Ausprägungen der Übergeordneten Kategorie. Z.B. sind die Kategorien Wahrhaftigkeit, Relevanz und Genauigkeit als Eigenschaften bzw. Dimensionen der übergeordneten Kategorie Qualität von Analysen eingesetzt worden (vgl. Kapitel 3.2.3).

Bei aller Klarheit über Begrifflichkeiten ist – wie Muckel schreibt, „eine stringente Unterscheidung im Hinblick auf die Entwicklung einer Grounded Theory nicht notwendig (…), da Übergänge zwischen Konzepten, Kodes und Kategorien im Prozess der Datenanalyse fließend sind“, Weiterhin schreibt sie: „Denn zentral für den gesamten Datenanalyse- und Theorieentwicklungsprozess ist nach meiner Einschätzung das Konzeptualisieren der Daten.“ (Muckel, 2011, S. 338).

Dieser Prozess wird im Folgenden durch die drei Kodierverfahren vertieft.

Offenes Kodieren

Das offene Kodieren ist der Vorgang des Benennens der Phänomene. „Während des offenen Kodierens werden die Daten in einzelne Teile aufgebrochen, gründlich untersucht, auf Ähnlichkeiten und Unterschiede hin verglichen, und es werden Fragen über die Phänomen gestellt.“ (Strauss & Corbin, 1996, S. 44). Gemeint ist damit das Klassifizieren von Ereignissen, aber auch bereits das Konzeptualisieren der Phänomene. Weniger wichtig ist der tatsächliche Name, sondern dass ein Ereignis / Phänomen benannt wird und für die zu entwickelnde Theorie und die Kommunikation der zu entwickelnden Theorie fassbar wird. Zu Beginn gestaltet sich das offene Kodieren als enge Arbeit am Material unter der Verwendung von kleinen Segmenten.

Strauss und Corbin nennen zwei Wege, wie Kodes bzw. Bezeichnungen von Kategorien entstehen. Werden Teile eines Segmentes oder sogar ein ganzes Segment zur Bezeichnung des Ereignisses verwendet, wird dies als In-Vivo-Kode bezeichnet. Kodes, die aus bestehenden Theorien entlehnt werden, bezeichnen Strauss und Corbin als geborgte Kodes (ebd., S. 50).

Am Anfang einer GTM-Untersuchung ist es für die Entwicklung der Theorie wichtig viele verschiedene Ergebnisse zu benennen, um aus diesen Bausteinen die Theorie zu entwickeln. Für diesen Produktionsprozess sind, zum einen, die ständigen Vergleiche enorm wichtig (s.o.), zum anderen aber auch sogenannte generative Fragen – Strauss und Corbin verstehen darunter die typischen W-Fragen: Wer? Wann? Wo? Was? Wie? Wieviel? Warum?

Axiales Kodieren

Beim axialen Kodieren geht es um das Herstellen von Beziehungen zwischen den benannten Phänomenen / Kategorien. Zum Teil geschieht dies auch bereits beim offenen Kodieren, wenn Über- bzw. Unterordnungen hergestellt werden. Beim axialen Kodieren werden vor allem die Beziehungen bzw. Achsen zwischen Kategorien eruiert, die nebeneinander liegen. Durch das Benennen der Beziehungen zwischen den nebeneinander liegenden Kategorien entwickelt sich allmählich das theoretische Geflecht, bis hin zur gegenstandsverankerten Gesamttheorie – der Grounded Theory.

In zeitlicher Hinsicht überwiegt zwar das offene Kodieren zu Beginn einer Forschungsarbeit, allerdings werden benannte Phänomene – insbesondere durch das ständige Vergleichen – auch immer fast automatisch auf ihre Verbindungen zu anderen Kategorien geprüft. „Obgleich offenes und axiales Kodieren getrennte analytische Vorgehensweisen sind, wechselt der Forscher zwischen diesen beiden Modi hin und her, wenn er mit der Analyse beschäftigt ist.“ (Strauss und Corbin, 1996, S. 77).

Sowohl Glaser als auch Strauss bzw. Strauss und Corbin benennen für die Entdeckung möglicher Beziehungen idealtypische Vorlagen. Während sich Strauss (Strauss, 1998, S. 57) und auch Strauss und Corbin (Strauss & Corbin, 1996, S. 78f) auf eine kausalanalytische Vorlage beschränken – nämlich das sogenannten Kodierparadigma (die C-Familien bei Glaser) -, sind bei Glaser (1978) eine Vielzahl solcher Vorlagen zu finden (vgl. Tabelle 2). Diese Beschränkung bei Strauss bzw. Strauss und Corbin findet ihre Logik darin, dass sie lediglich ein Modell anbieten, das integrativ für die gesamte Theorie verwendet werden kann, aber Beziehungen auch aufgrund der gesamten Breite der fachlichen Literatur zu suchen sind – dieser Punkt wurde bereits im Kontext der Darstellungen zur theoretischen Sensibilität diskutiert. Glasers Aversion gegenüber Fachliteratur zur theoretischen Sensibilisierung macht daher auch diese intensivere Ausarbeitung möglicher Beziehungsmodelle deutlich.

Bei beiden Autoren sind die angebotenen Beziehungsmöglichkeiten als Anregungen zu verstehen, die sich anhand der Daten bewähren bzw. an ihnen validiert werden müssen.

Für die vorliegende Arbeit ist die Ausdifferenzierung bzw. die Konzeptualisierung der beiden Grounded Theories zum einen auf das Kodierparadigma zurückgegriffen worden, zum andern auch auf die Vorlagen Glasers26F[27].

Tabelle 2 – Formale Kodierfamilien27F[28] nach Glaser (nach Mey und Mruck, 2011, S.37)

Als wichtigstes integratives Modell wurde die C-Familie bzw. das Kodierparadigma verwendet. Die Darstellung der Theorie anhand kausaler Wirkungszusammenhänge und Einflussfaktoren auf diese Wirkungsketten werden als Übersichten für die jeweiligen Ergebnisse verwendet (vgl. Kapitel 3.2 und 4.2).

Zur Konzeptualisierung der einzelnen Teile der jeweiligen Theorien wurden aber auch weitere Familien im Sinne Glasers verwendet. Z.B. werden in Studie I die Ziele der Schüler hinsichtlich der Reichweite kategorisiert (Relevanz-Familie; vgl. Kapitel 3.2.1.1); die Verantwortungsübernahme für den Problemlöseprozess des Lehrers wird in verschiedenen Graden / Ausprägungen dargestellt (Grad-/Merkmals-Familie; vgl. Kapitel 4.2.2) oder die Ausdifferenzierung der Ressourcen der Schüler in unterschiedliche Formen (Typen-Familie; vgl. Kapitel 3.2.1.2).

Selektives Kodieren

Das selektive Kodieren ist die Zentrierung der Arbeit auf einen integrativen Kern. Hierzu gehört zum einen, dass eine oder mehrere Kategorien ausgewählt und weiter verdichtet werden, von denen erwartet wird, dass sie besonders viele und bedeutsame Verbindungen zu anderen Kategorien haben und dadurch die „Geschichte“ der Theorie erzählen können. Zum anderen werden durch diesen Prozess auch Kategorien ausgeschlossen bzw. in Bezug auf die Verdichtung der Theorie nicht weiter verfolgt.

Während das offene Kodieren und das axiale Kodieren jeweils eigene Funktionen hatten – Benennen und theoretische Verdichtung der Kategorien -, ist das selektive Kodieren kein prinzipiell neues Verfahren. „Integration [selektives Kodieren; J.W.] unterscheidet sich nicht sehr vom axialen Kodieren. Sie wird nur auf einer höheren, abstrakteren Ebene der Analyse durchgeführt.“ (Strauss & Corbin, 1996, S. 95).

Obwohl verschiedene Kategorien auf ihr integratives Potential getestet werden und dann erst eine letztendlichen Festlegung auf eine Kernkategorie erfolgt, wird im Forschungsprozess auch immer wieder zu den Daten zurückgekehrt. „Das selektive Kodieren spielt sich wieder um zwei Pole ab, den Pol des `Er-Findens´ der Geschichte und den der Überprüfung an den Daten. Offensichtlich ist, dass die Theorie sich nicht automatisch aus den Daten ergibt, sondern auf der theoretischen Sensibilität der Forschenden beruht, die aber ihrerseits wieder an den Daten geschärft wird.“ (Berg & Milmeister, 2011, S. 325).