Between Us - Die große Liebe kennt viele Geheimnisse - Mhairi McFarlane - E-Book
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Between Us - Die große Liebe kennt viele Geheimnisse E-Book

Mhairi McFarlane

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Beschreibung

Frech, witzig und voller echter Gefühle: Die neue RomCom von Bestseller-Autorin Mhairi McFarlane Verrat, Plot-Twists und ein Neuanfang – In der romantischen Komödie »Between Us – Die große Liebe kennt viele Geheimnisse« von Spiegel-Bestseller-Autorin Mhairi McFarlane verwendet der Freund der 32-jährigen Roisin etwas sehr Vertrauliches für ein Drehbuch – was, wenn auch andere pikante Details der Geschichte nicht erfunden sind? Ein fesselnder Liebesroman über Geheimnisse, Lügen und die Wahrheit Schon seit einiger Zeit hat Roisin Walters das Gefühl, ihren Lebensgefährten Joe Powell nicht mehr richtig zu kennen. Seit er als Drehbuchautor immer größere Erfolge feiert, scheinen sie nur noch nebeneinander her zu leben. Als dann Joes neuestes Projekt im Fernsehen läuft, ist Roisin richtig geschockt: Ohne zu fragen hat er ein traumatisches Erlebnis aus ihrer Kindheit verwendet! Auch sonst weist der Film viel zu offensichtliche Parallelen zu ihrem Leben und ihrem gemeinsamen Freundeskreis auf. Wie viel von Joe steckt wohl in der zwielichtigen Hauptfigur? Roisin will endlich die Wahrheit wissen und bittet ihren Freund Matt um Hilfe. Das stellt nicht nur ihr Liebesleben gründlich auf den Kopf …  Freundschaft, Romantik und Verrat – eine RomCom mit Tiefgang und Humor Mehr als nur die Suche nach Mr. Right: Mhairi McFarlanes humorvolle Liebesromane bieten echte Gefühle mit viel Humor und selbstbewusste Heldinnen, die ihr Glück nicht nur von einem Mann abhängig machen. Mit »Between Us – Die große Liebe kennt viele Geheimnisse« ist der Bestseller-Autorin ein meisterhafter Beziehungsroman gelungen, der uns laut lachen lässt und gleichzeitig zum Nachdenken anregt. Eine fesselnde Geschichte, die mit Humor und emotionaler Tiefe überzeugt. Für alle Leser*innen moderner RomComs mit Tiefgang von Ali Hazelwood bis Emily Henry. Entdecke auch die anderen romantischen Komödien der britischen Bestseller-Autorin Mhairi McFarlane - Wir in drei Worten - Ich glaub, ich will (Kurzroman) - Vielleicht mag ich dich morgen - Es muss wohl an dir liegen - Irgendwie hatte ich mir das anders vorgestellt - Sowas kann auch nur mir passieren - Aller guten Dinge sind zwei - Du hast mir gerade noch gefehlt - Fang jetzt bloß nicht an zu lieben

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Seitenzahl: 510

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Mhairi McFarlane

Between Us

Die große Liebe kennt viele Geheimnisse

Roman

Aus dem Englischen von Maria Hochsieder

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Schon seit einiger Zeit hat die 32-jährige Roisin das Gefühl, ihren Lebensgefährten Joe nicht mehr richtig zu kennen. Seit er als Drehbuchautor große Erfolge feiert, scheinen sie nur noch nebeneinanderher zu leben. Als dann Joes neuestes Projekt im Fernsehen läuft, ist Roisin richtig geschockt: Ohne zu fragen hat er ein vertrauliches, traumatisches Erlebnis aus ihrer Kindheit verwendet! Auch sonst weist der Film offensichtliche Parallelen zu ihrem Leben und ihrem gemeinsamen Freundeskreis auf. Wie viel von Joe steckt wohl in der zwielichtigen Hauptfigur? Roisin will endlich die Wahrheit wissen und bittet ihren Freund Matt um Hilfe. Das stellt nicht nur ihr Liebesleben gründlich auf den Kopf …

Inhaltsübersicht

Widmung

Prolog

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

42. Kapitel

43. Kapitel

44. Kapitel

45. Kapitel

46. Kapitel

47. Kapitel

48. Kapitel

49. Kapitel

50. Kapitel

51. Kapitel

52. Kapitel

53. Kapitel

54. Kapitel

55. Kapitel

56. Kapitel

57. Kapitel

58. Kapitel

59. Kapitel

60. Kapitel

61. Kapitel

62. Kapitel

63. Kapitel

64. Kapitel

65. Kapitel

66. Kapitel

67. Kapitel

68. Kapitel

69. Kapitel

70. Kapitel

71. Kapitel

72. Kapitel

73. Kapitel

74. Kapitel

75. Kapitel

Danksagung

Für Jeanie

Eine Frau, die großartige Geschichten erzählt

Prolog

2003Stockport Plaza Theatre

Das Nummer-eins-Medium von Wythenshawe!, verkündete das Poster auf einer Staffelei auf der Bühne die Vorstellung des heutigen Abends: eine Hellseherin namens Queenie Mook. Der Name war derart absonderlich, dass er unmöglich erfunden sein konnte.

»Fragt sich, wer das entscheidet«, meinte Roisin. »Als so was wird man wohl kaum … akkreditiert.«

Mit ihren zwölf Jahren war sie stolz auf das Wort »akkreditiert«.

Mit zusammengezogenen Brauen sah ihre Mutter sie unter den Lancôme-schwarzen Wimpern an; sie witterte einen Aufstand.

Mit der Erlaubnis, ihre Mutter zu dem Abend mit den Freundinnen zu begleiten, war eine Warnung an Roisin erfolgt.

»Du brauchst gar nicht erst mitkommen, wenn du bloß wieder klugscheißt, das ist Diana und Kim gegenüber unhöflich«, hatte ihre Mum gesagt. »Rodney, der Vater von Di, ist im vergangenen November an einer akuten Bauchspeicheldrüsenentzündung gestorben, und sie hofft, dass er sich meldet.«

»Klar«, sagte Roisin, auch wenn sie es für wenig erfolgversprechend hielt, Queenie Mook als Vermittlerin ins Jenseits zu bemühen. Ihrem Werbeprospekt zufolge arbeitete sie hauptsächlich auf Kreuzfahrtschiffen.

»Seitdem herrscht Chaos bei ihnen. Rod hatte sich bis zuletzt um die Finanzen der Rohrreinigungsfirma gekümmert.« Bei Lorraine klang es so, als hätte Diana eine drängende praktische Frage: Wo ist die Umsatzsteuererklärung von 2001? – oder so.

Es gab zwei Gründe, weshalb Roisin dabei sein wollte: Einerseits interessierte es sie, wie ein Medium funktionierte, zweitens war es ein aufregendes Abenteuer. Ihre Mutter war in ein Kraftfeld Shalimar von Guerlain getränkt, ihr Haar im Friseursalon zu einer Löwenmähne geföhnt worden, das Satinkleid spannte über ihren Hüften, und dazu trug sie transparente Strumpfhosen und High Heels aus Lackleder.

Es machte Spaß, bei solchen Gelegenheiten Teil des Orbits ihrer Mutter zu sein und zu sehen, wie sich die Leute nach ihr umdrehten. Roisin kam sich vor wie die persönliche Assistentin einer Prominenten. Sie nahmen von Webberley aus ein Taxi, und Lorraines parfümierter Hexenzirkel verlangte vom Fahrer, dass er Lionel Richies All Night LongBITTE LAUTER stellte.

In fünfzehn Minuten sollte sich der Vorhang heben. Wegen diverser Karaffen Rosé, die sie beim vorangegangenen Abendessen in der Brasserie vernichtet hatten, wurde von allen noch einmal eilig die Damentoilette aufgesucht.

Den Anfang machte Lorraine, danach folgten gemeinsam Di und Kim.

»Musst du nicht pinkeln?«, fragte ihre Mum, nachdem sie ihren Schmollmund eine Minute lang von allen Seiten im Klappspiegel des Make-up-Döschens gemustert hatte. Flüchtig fragte sich Roisin, ob Lorraine sie aus dem Weg haben wollte. Um ein heimliches Telefonat zu führen vielleicht? Ihre Eltern hatten Geheimnisse, und Roisin war immer hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, ihnen auf den Grund zu gehen, oder lieber nichts zu wissen.

»Nö.«

»Hm. Ich denke, du solltest besser noch mal gehen. Wir sitzen ganz in der Mitte, und es wird bestimmt voll.«

Roisins Ahnung, dass ihre Mutter einen Hintergedanken hatte, verstärkte sich. Aber es war einfacher, nachzugeben, also stand sie auf und machte sich auf den Weg zur Toilette. Alle Kabinentüren waren geschlossen. Als sie sich auf die kalte Klobrille setzte, vernahm sie die Geräusche, die die anderen machten.

Spülen. Türenschlagen. Wasserhahnrauschen. Spülen. Türenschlagen. Wasserhahnrauschen.

»So wie Lorraine beim Pinot Rosé zulangt, wird sie wohl nicht länger ein Kind erwarten, oder?«, sagte die körperlose Kim.

Einen winzigen Augenblick lang dachte Roisin, die beiden sprächen über sie.

»O nein. Sie hat es wegmachen lassen. Vor zwei Wochen schon.«

»Hat sie Glen nichts davon erzählt?«

Glen? Roisins Dad hieß Kent. (Er war Wirt eines Pubs, und sein Superman-Name Kent bereitete jenen Gästen, die er hinauswarf, besondere Freude.)

»Du lieber Himmel, nein. Sie meint, das ändert auch nichts. Er würde nicht wollen, dass sie es behält, und ihr reichen zwei. Wer hat schon Lust, nachts wieder zum Stillen aufzustehen.«

»Was ist mit Kent? Wusste er davon?«

»Das bezweifle ich. Solange du nicht nachfragst, musst du dich auch nicht mit unangenehmen Wahrheiten auseinandersetzen.«

»Hm. Sie sollte besser aufpassen.«

»Sie sagt, sie hat im Fox & Hounds ein nicht ganz koscheres Omelett gegessen und die Pille ausgekotzt. Sie hatte gar nicht mehr daran gedacht.«

»Weißt du, ich habe das Essen im Fox schon länger im Verdacht. Ich hatte dort mal einen Krautsalat, der hat nach Thunfisch geschmeckt. Ich schwöre, davon habe ich Dünnschiss gekriegt.«

Was darauf folgte wurde vom Gebläse des Handföhns übertönt, bis Roisin wieder hörte: »… macht ja auch, was er will. Sie und Kent sind wie zwei unbekümmerte Teenager.«

»Hm, na ja. Immerhin ist sie die eine Sorge jetzt los. Sitzt mein Rock richtig?«

Sie stöckelten hinaus.

Mit der Unterhose an den Knien saß Roisin da und musste die Neuigkeit verkraften, dass ihre Mutter von einem der Freunde aus der Kartenrunde ihrer Eltern schwanger gewesen war.

Mit dieser Erkenntnis wurde ein verwirrendes, beunruhigendes Erlebnis aus dem Vorjahr quasi amtlich bestätigt. Hin und wieder gaben ihre Eltern zu besonderen geselligen Ereignissen, bei denen Texas Hold’ems und reichlich Tequila im Spiel waren, die strenge Anweisung aus, unter keinen Umständen aus dem ersten Stock herunterzukommen.

Roisin und ihr Bruder hatten schon vor langer Zeit eine Methode entwickelt, sich heimlich hinunterzuschleichen und einen Blick auf die Weihnachtsgeschenke zu werfen, und später, um den Hausarrest zu umgehen: Der Tresen im familieneigenen Pub war hoch genug, dass ein kleinerer Mensch in gebückter Haltung nicht weiter auffiel.

Man ging in den vorderen Gastraum, in dem sich die Erwachsenen üblicherweise nach der Sperrstunde aufhielten. Mit dem Geschick eines Tresorknackers entriegelte man vorsichtig die kleine Tür an der Seite und schlüpfte in den Hauptraum, von dort in den Wirtsgarten und weiter ins Dorf Webberley.

An besagtem Samstag hatte Roisin trotz des gedämpften Stimmengewirrs von unten heftiges Verlangen nach einem Dr Pepper gehabt. Im Rückblick fragte sie sich, ob es unterbewusst der Wissensdurst gewesen war, zu erfahren, was dort vor sich ging, denn der Reiz des Getränks stand in keinem Verhältnis zum potenziellen Ärger.

Roisin schlug das Herz bis zum Hals, als sie die Treppe hinunterschlich. Unbemerkt von ihrem Dad, der alkoholisiert lautstark mit Tina, der Frau von Glen, herumflachste, holte sie die Flasche aus dem Regal und öffnete sie. In der Luft kräuselte sich Zigarettenrauch, und aus der Jukebox erklang etwas Jazziges. Eiswürfel klimperten. Gelächter erklang.

Nach vollendeter Mission packte Roisin die Limonadeflasche, doch plötzlich veranlasste sie irgendetwas, das unvernünftige, unnötige Risiko einzugehen, die Seitentür aufzuschieben und den Kopf in die Bar zu stecken. Am Billardtisch waren zwei Körper ineinander verschlungen. Die Gesichter der beiden konnte sie nicht erkennen. Die Beine ihrer Mutter mit den lackierten Fußnägeln und den goldenen Sandalen, die Roisin so bewunderte, baumelten auf beiden Seiten eines männlichen Hinterns. Roisin nahm fremdartige, animalische Geräusche wahr, und schlagartig ereilte sie die Erkenntnis. Schockiert und angewidert hätte sie beinahe aufgeschrien, doch sie zog sich zurück und floh nach oben, wo sie schweißgetränkt und mit pochendem Herzen im Bett lag und zu verstehen versuchte, was sie gerade gesehen hatte.

Als sie nun zu ihrem Platz im Rang zurückkehrte, fühlte sich Roisin ähnlich.

Sie konnte nicht umhin, die kaum merkliche Kurve des Bauchs ihrer Mutter unter dem schillernden Stoff zu mustern, und suchte nach Hinweisen in ihrem stark geschminkten Gesicht. Wann war die Abtreibung gewesen? An einem Schultag?

Die schreckliche Information des heutigen Abends musste sie ganz allein verarbeiten, denn die Sache mit ihrem jüngeren Bruder Ryan zu besprechen, würde wie üblich scheitern. Egal, wie oft er ihr klarzumachen versuchte, dass er kein Interesse an Roisins Enthüllungen hatte, hoffte sie immer wieder, einen Vertrauten in ihm zu finden.

Roisin war heilfroh über die Ablenkung, als sie jetzt Queenie Mook bei der Ausübung ihres merkwürdigen Gewerbes im vielfarbig ausgeleuchteten kitschigen Alternativuniversum des Varietétheaters zusehen durfte.

Queenie war winzig und hatte eine fluoreszierende Helmfrisur in einem erstaunlichen künstlichen Orange, das an Johnny Rotten erinnerte.

Sie sprach die Menge mit »Schätzchen« an, und in ihrem Outfit aus Seidenbluse, hühnereigroßer Emaillebrosche, dunkelblauer Hose und abgestoßenen Pumps sah sie aus wie die Geschäftsführerin eines Billigoptikers. Roisin war etwas enttäuscht, hatte sie sich doch eine gebieterische Sechzigerjahre-Matriarchin ausgemalt mit einem Haarknoten und einem Mantel aus Biberpelz.

Die Show nahm Fahrt auf – Roisin ahnte, dass es darum ging, dem Publikum Informationen abzuringen und gleichzeitig die Illusion zu schaffen, sie selbst zu liefern. Die Geistererscheinungen, die ausschließlich von Queenie gesehen und gehört wurden, nannten nie etwas anderes als ausnahmslos alltägliche, weitverbreitete Vornamen. Keiner gab seinen Nachnamen an, was die Identifizierung deutlich beschleunigt hätte.

Eine Folge von Teds, Marys und Jacks marschierte auf, und meistbietend bot Queenie sie dem Publikum an, ausgeschmückt mit ein paar herausragenden, doch vagen Details. Möglicherweise liebte Mary Musik – das hat man ihr immer nachgesagt, meint sie –, oder Jack deutete ein Lenkrad an? Mochte er … Autos? Oder war er Traktorfahrer? Oder starb er – verzeiht, Schätzchen, wenn das problematisch ist – durch einen Autounfall?

Irgendwann kam ein Keuchen der Erkenntnis von irgendwoher aus den Sitzreihen, und Queenie nahm ihr Opfer ins Visier.

Allerdings war die Nachricht nur unter Vorbehalt für die aufgewühlten Empfänger gedacht. Widersprachen sie Queenie allzu oft, fuhr sie barsch dazwischen. »Tut mir leid, Liebes, diese Botschaft ist nicht für dich bestimmt«, und ging weiter zum Nächsten.

Lorraine, Kim und Di waren völlig hingerissen, hingen Queenie an den Lippen und wischten sich die Tränen ab, wenn Queenie eine fragwürdige Läuterung feilbot. Dianas Vater Rodney hatte keinen Auftritt. Hätte einen gewöhnlicheren Namen haben müssen, dachte Roisin.

Ihre Gemütsruhe geriet erst in den letzten zwanzig Minuten bei einem Wortwechsel mit einer Witwe in den vorderen Reihen ins Wanken.

Angeblich befand sich Clive, der verstorbene Ehemann der Frau, der einer chronischen Lungenerkrankung zum Opfer gefallen war, bei Queenie auf der Bühne.

Die Witwe schluchzte. Bis zu diesem Augenblick hatte Roisin die Scharlatanerie noch für einen einigermaßen harmlosen – wenn auch bizarren – Spaß gehalten. War Queenie bewusst, dass sie die Besucher aus dem Jenseits erfand? Glaubte sie ernsthaft an ihre Kräfte? Wussten Lügner immer, dass sie logen?

»Sein Tod kam sehr schnell?«, sagte Queenie, als die Frau sich etwas beruhigt hatte.

»Nein. Es dauerte lange. Er hing wochenlang am Beatmungsgerät.«

»Aber als er dann starb, ging es schnell?« Queenie hielt inne. »Clive sagt mir, dass es schnell ging, er ist da sehr klar«, fügte sie hinzu, um deutlich zu machen, wem die Frau hier widersprach. »Er zeigt immer wieder auf seine Brust, so als bekäme er keine Luft«, fuhr Queenie fort und schlug sich unnötigerweise mit der Faust auf den Brustkorb.

»Hm … na ja … ganz am Ende, da ging es vielleicht schnell«, lenkte die Witwe ein.

»Das habe ich gemeint.« Queenie nickte. »Er sagt: Es dauerte lang, aber am Ende ging es schnell.«

Roisin entfuhr ein Schnauben. Ein paar Leute wandten sich nach ihr um, und ihre Mutter machte wütend »Pscht!«.

»Wie kann es gleichzeitig langsam und schnell gehen?«, flüsterte Roisin, doch Lorraine sah sie nur zornig an.

»Clive will dir sagen, dass du alles richtig gemacht hast. Er liebt dich sehr. Er sagt, dort, wo er ist, ist es ganz wunderbar«, sagte Queenie.

Es folgten hörbares Schluchzen und weitere Dankesbezeigungen. Fraglos wusste Queenie, dass es an der Zeit war, die Sache mit einem positiven Finale zum Abschluss zu bringen.

»Danke, dass ihr hier wart und an meinen Momenten der Erleuchtung, wie ich sie nenne, teilgehabt habt«, sagte Queenie, und der Saal brach in stürmischen Applaus aus.

 

In ihrem langen Lauf beweist die Geschichte einen Hang zum schwarzen Humor. Als sich Roisin und Joe zwanzig Jahre später trennten, musste Roisin unvermeidlich daran denken, dass sich das Ganze mit dem Paradoxon von Queenie Mook wunderbar zusammenfassen ließ.

Es dauerte lange, aber am Ende ging es schnell.

1

Miss, Miss, MISS. Miss? Wird das ein versautes Wochenende mit Ihrem Freund? Miss!«

Amir deutete auf den Rollkoffer, der hinter Roisins Pult Wache hielt und den sie notdürftig unter einer Regenjacke verborgen hatte. Amir gehörte zur frechen, aber gutartigen Fraktion unter ihren Schülern, also reagierte sie entsprechend.

»Absolut anständig, Amir. Ein Wellness-Wochenende mit ein paar Freundinnen.«

Wenn es eines gab, das Roisin Walters sowohl ihre Kindheit als auch ihre berufliche Laufbahn gelehrt hatten, dann das: Kinder zu belügen mochte nicht ehrenhaft sein, aber meistens erfüllte es seinen Zweck.

»Wellness? So was mit Sauna?« Er kaute auf seinem Kugelschreiber und zog eine vielsagende Grimasse.

»Zurück zum Text, bitte. Ich sammle eure Aufsätze in …«, sie warf einen Blick auf die Wanduhr, ihre stets verlässliche Lehrassistentin, »… fünf Minuten ein!«

»Miss«, ließ Amir nicht locker und bemerkte dann ihren skeptischen Blick. »Nein, nein, nein. Es hat mit dem Buch zu tun!«

Roisin verdrehte die Augen. »Schieß los.«

»Also, alle sagen, dass Große Erwartungen so ein gutes Buch ist. So anspruchsvoll. Und deswegen lesen wir es im Literaturunterricht.«

»Und?« Roisin erkannte Zeitschinderei von Weitem, und das taten auch Amirs Altersgenossen, die nun voll froher Zuversicht darauf warteten, dass etwas dabei rumkam.

Wenn Parlamentsabgeordnete die Sitzungen mit ziel- und zwecklosen Debatten zur Strecke brachten, nannte man es Filibustern, und die Zermürbungsstrategie im Internet, mit vorgegaukelter Ernsthaftigkeit und übertriebener Höflichkeit ständig neue Beweise einzufordern, Seelöwentaktik.

In Roisins Augen aber konnten weder Filibuster noch Seelöwen einem Haufen zappeliger Zehntklässler an einem sonnigen Freitagnachmittag kurz vor Schuljahresende in einem sogenannten Schnarchfach das Wasser reichen.

In der Woche zuvor war Pauly, einer von Amirs Komplizen, mit einem winzigen, grimmig wirkenden Rassehund, offenbar einem Brüsseler Griffon, in einem altmodischen Kinderwagen mit weißen Rädern zum Unterricht erschienen, angeblich sollte Pauly ihn im Auftrag seiner Oma babysitten. Der Hund mit dem Namen Sprout, der an eine nie fertiggestellte Muppet-Show-Puppe erinnerte, hatte ähnlich viel Aufruhr verursacht wie eine Landung des Präsidenten in der Air Force One.

»Dieses Buch von Dickens ist echt alt. Hundertsechzig Jahre«, fuhr Amir in seinem Streben nach Erleuchtung fort.

»Richtig.«

»Also in noch mal hundertsechzig Jahren – das ist dann in den 3080ern«, sagte er und tat so, als zähle er die Jahre an den Fingern ab. Rhetorische Pause. »Werden hier dann alle Shades of Grey lesen? Das ist dann auch ein echt altes Buch.«

Die Klasse reagierte mit dem obligatorischen Gelächter, und Amir grinste stolz. Roisin wartete ab, bis es aufgeflaut war.

»Das bezweifle ich, aber das ist eine durchaus berechtigte Frage. Danke, Amir.«

Wahrscheinlich hatte sie mehr Erfolg, wenn sie für den Rest der Stunde Amir untergrub, als zu versuchen, alle zurück zur Frage nach den Motiven von Abel Magwitch zu lenken.

»Und zwar liegt es daran, dass der Wert von Literatur sich nicht allein daran bemisst, wie viel Zeit vergangen ist«, sagte Roisin.

»Meiner Mum und meiner Tante gefällt das aber sehr«, sagte Amir und erntete erneutes Gegacker. »Meine Tante liest es auf ihrem Kindle … in der Badewanne – Sie verstehen schon.«

Dieses Detail provozierte Hyänengeheul.

»Sollen sie Gefallen daran finden«, sagte Roisin und ignorierte die Anspielung. »Nicht alle Bücher müssen im Unterricht durchgenommen werden.«

»Aber warum ist Große Erwartungen besser als Shades of Grey? Weil es ein toter Mann geschrieben hat, Miss? Ist das nicht sexistisch? Und lebendig-istisch?« Wieder kaute Amir auf seinem Stift.

Roisin konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Seine Zersetzungsstrategie verlangte ihm durchaus Einsatz ab.

»Weil es in Große Erwartungen um Klassenfragen, die Durchlässigkeit gesellschaftlicher Schichten und unseren Hang, Menschen nach ihrem gesellschaftlichen Status zu bewerten, geht. Während Shades of Grey davon handelt, dass ein Millionär Sex mit einer Studentin hat.«

Die Lehrerin dazu zu bewegen, das Wort Sex auszusprechen, war selbstredend ein enormer Triumph, und in ihrer zehnten Klasse verbreitete sich in dieser letzten Stunde vor dem Wochenende Feststimmung.

»Eben, Miss, genauso klettert eine Studentin auf der sozialen Leiter nach oben, wenn sie, sagen wir mal, Elon Musk vögelt.« Amir machte eine Pause, um sich mit dem von der Großmutter erkorenen Hundesitter Pauly abzuklatschen.

»Es klingt so, als hättest du dir darüber ernsthafte Gedanken gemacht und echte Erkenntnisse gewonnen«, sagte Roisin gegen das Pult gelehnt und verschränkte die Arme. »Vielleicht könntest du ein Referat halten über die Bedeutung und die Themen von Großen Erwartungen, und wie sie sich in Shades of Grey widerspiegeln?«

»Das mach ich gern, Miss. Ich muss allerdings einen Fernseher mitbringen, weil ich Auszüge aus dem Film zeigen müsste, um genau zu erklären, was ich meine.«

»Leider sind die Filme erst ab achtzehn, Amir, also ist das zum einen verboten, und zum anderen bin ich davon überzeugt, dass du sie nicht gesehen hast.«

»Ich habe sie tatsächlich nicht gesehen, weil meine Tante sie alle nicht auf Blu-Ray hat, Miss.«

»Das hat deine Tante gut gemacht.«

Die Schulglocke klingelte durchdringend und schrill, und an der Tür stellte sich das übliche Gedränge ein, während Roisin rief: »Bevor ihr geht, die Aufsätze auf mein Pult, bitte!«

»Läuft dieses Wochenende die neue Serie von Ihrem Mann, Miss?« Amir trödelte herum, während er sich den Rucksack aufsetzte.

Für einen Moment verschlug es Roisin die Sprache.

»Entschuldigung, ich mein: Ihrem Freund«, sagte Amir, der den Grund für ihre Überraschung falsch deutete.

Roisin hatte gedacht, dass Joes neuestes Projekt dem Radar der Schulgemeinschaft an der Heathwood School entgangen war. Sie hatte es auch extra nicht gegenüber ihren Kollegen erwähnt, und wenn sie danach fragten, war ihr der Titel entfallen. Sie hatte versprochen, ihnen zu sagen, wann der Film gesendet wurde, und es absichtlich vergessen.

Wenn Amir allerdings Bescheid wusste, dann wussten es alle oder würden es zumindest bald erfahren.

»Hm, ja, aber erst spät. Nach Zapfenstreich für dich.« Sie rang sich ein Lächeln ab. (Nannte man das heutzutage überhaupt noch Zapfenstreich?)

»Dann frage ich einfach meine Tante, wie es war«, erwiderte er, zwinkerte ihr zu und stolzierte kichernd hinaus.

Roisin blieb allein im Klassenzimmer zurück, packte mit heißen Händen den widerspenstigen Stapel linierter DIN-A4-Blätter zusammen und schluckte schwer.

2

Miss Walters, ein beliebtes und mit ihren zweiunddreißig Jahren noch junges Mitglied der Englischfachschaft, war für zwei Dinge bekannt.

Erstens – und das mag auf der Messlatte faszinierender Charaktereigenschaften eher im unteren Bereich angesiedelt sein, aber so war das nun mal an einer Sekundarschule in einem dörflichen Vorort wie Cheadle – hatte sie burgunderrotes Haar.

Roisin gab nicht viel Geld für ihre äußere Erscheinung aus, ihrer Eitelkeit frönte sie nur in einer Sache: ihren etwas mehr als schulterlangen, meerjungfrauengleichen Ringellocken. Das glänzende tiefe Weinrot wirkte nicht billig genug, um offensichtlich künstlich zu sein, auch wenn es außerhalb von Bilderbüchern, Marvel-Filmen oder Aveda-Werbeclips nicht existierte. Joe nannte es das Haar einer Space-Kriegerprinzessin.

Bei der Arbeit steckte sie es mit einer großen Haarklammer hoch, was bewundernde Schülerinnen nicht davon abhielt, sie über Kosten und nötige Behandlungsdetails auszuquetschen, und die männlichen Zöglinge manchmal zur Frage anstiftete, warum sie einen »lila Dutt« habe.

Die zweite Besonderheit, die über Miss Walters bekannt war, bestand darin, dass ihr Lebensgefährte Joe Powell Drehbücher schrieb.

Vor drei Jahren hatte er eine Fernsehserie über ein Team von Super-Recognizern bei Scotland Yard geschrieben, Menschen mit einer außerordentlichen Begabung für Gesichtserkennung. Sie hieß SEEN. (Die trendigen Großbuchstaben waren das Markenzeichen der Programmmacher.)

Anfangs hatte Joes besonderer Beruf nur als Gesprächsstoff im Lehrerzimmer hergehalten, aber Klatsch und Tratsch ließen sich im Lehrerzimmer der Heathwood School nicht besser kontrollieren als ein durch Aerosole übertragenes Virus.

Sie hatte nicht damit gerechnet, dass Joes Serie zum nationalen Flurfunk-Megahit werden würde, von Millionen gesehen, und zu Roisins Verteidigung auch weder Joe noch die Fernsehbosse. Die ursprünglich unbekannten Schauspieler waren mittlerweile jedermann ein Begriff, die verwickelte Handlung Thema in Boulevardzeitungen, und an den Abenden der Ausstrahlung wurde auf Twitter von nichts anderem gesprochen.

Nach dem Cliffhanger am Ende der zweiten Staffel wurde Roisin in jeder Unterrichtsstunde gefragt, ob der Held Harry Orton tatsächlich tot sei oder ob er überlebt habe, als er angeschossen in die Themse stürzte.

Routinemäßig antwortete sie: »Ich weiß es nicht, und selbst wenn ich es täte, dürfte ich es nicht sagen!« (Die ehrliche Antwort von Joe lautete: »O Mann, ich wünschte, der divenhafte Jammerlappen wäre tot.«)

Sie war erleichtert gewesen, als SEEN vor der dritten Staffel trotz des landesweiten Aufschreis eine längere Unterbrechung verkündete.

Jedenfalls hatte sie Joes beruflicher Durchbruch nicht erwartungsgemäß in finanziell ruhigere, wärmere Fahrwasser geführt, sondern vielmehr wie eine Flutwelle ihr ganzes bisheriges Leben weggespült, während sie sich fassungslos an einen übrig gebliebenen Felsen klammerten. (Immerhin ein äußerst hübsch platzierter Felsen: Sie hatten sich ein Luxusapartment in einer umfunktionierten Kirche in West Didsbury gekauft. Bei der Schlüsselübergabe waren sie wie benommen gewesen und hatten sich wie Hochstapler gefühlt, als stamme das Geld aus einem Drogendeal.)

Für die Pause von SEEN war Joe mit Blankoschecks ausgestattet worden, die ihm erlaubten, zu schreiben, was immer er wollte, und er hatte sich Hunter ausgedacht, eine dreiteilige Serie über Jasper Hunter, einen eigenwilligen sex- und abenteuersüchtigen Detective in Manchester. »Viel düsterer und provokanter als SEEN«, wie Joe voller Stolz sagte.

Roisin hatte begriffen, dass sie auf dieser rauschhaften Achterbahnfahrt ohnehin nur ohnmächtige Passagierin war, und hatte in Bezug auf Hunter gemischte Gefühle. Sie wusste nicht, ob sie ein Scheitern oder den Erfolg fürchten sollte. Schon jetzt fand sie keinen Gefallen an ihrer unverhofften Berühmtheit an der Heathwood School, und sie hatte noch weniger Lust, mit Fragen zu einem Sexdrama gelöchert zu werden. Bettszenen, die der eigene Lebensgefährte geschrieben hatte, würden sich merkwürdig anfühlen, und ihr wurde noch nicht einmal zugestanden, sich im stillen Kämmerlein merkwürdig zu fühlen.

Doch was sollte sie zu Joe sagen? »Bitte schildere keine wilden Geschlechtsakte, bei denen jeder anfängt, über dich und deine Freundin der letzten neun Jahre nachzudenken.« Das Problem war unlösbar und außerdem das, was die Fachbereichsleiterin Wendy Copeland als »LSO« bezeichnete – leider suboptimal.

Also entschied sich Roisin für die unterschätzte Strategie namens »So tun, als sei nichts«, doch Amir hatte unbeabsichtigt klargemacht, dass sie sich Illusionen hingab.

 

Sie zerrte den Rollkoffer hinter dem Pult hervor.

Es würde schon gut gehen.

Der glamouröse Kurzurlaub im Lake District würde dem Ganzen das Unheilvolle nehmen. Sie würde die erste Folge im trauten Kreis ihrer Freunde ansehen und stolz darauf sein, weil sie indirekt Anteil daran hatte. Der Spott im Klassenzimmer würde an ihr abprallen wie Kiesel von einer Sicherheitsfrontscheibe, wenn sie über die Autobahn raste.

Roisin war bewusst, dass sie sich selbst zu beschwichtigen versuchte, und sie wäre erst überzeugt, wenn sie ein Glas Wein in der Hand hielt, und auch das würde kaum länger anhalten, als bis sie es wieder abgesetzt hatte. Ach, scheiß drauf! Es gab immer noch »So tun, als sei nichts«.

Den Wochenendurlaub hatten sie Dev zu verdanken, einem extrovertierten, unermüdlichen sozialen Motor und ehemaligen Reality-TV-Star, der vor knapp drei Jahren als Sieger des kurzlebigen, pikanten Formats Flatmates hervorgegangen war. Den Fotos in ihrer WhatsApp-Gruppe nach zu urteilen, hatte Dev als Unterkunft ein Schloss gebucht.

Heute Abend wollten sie beim Dinner die Verlobung von Dev und seiner Freundin Anita feiern. Morgen sollte es eine Party für Gina geben, die erst kürzlich Geburtstag gehabt hatte, und danach wollten sie in dem Vorführraum des Herrensitzes die Premiere von Hunter ansehen.

Roisin hatte eine Mitfahrgelegenheit bei Gina und Meredith, da Joe mit Dev bereits aufgebrochen war (weil Schriftsteller und ehemalige Reality-TV-Stars deutlich entspanntere Terminpläne hatten als Lehrerinnen in der Sekundarstufe). Ihr Kumpel Matt sollte direkt vom Flughafen kommen nach einer Art Weinverkostungstour in Lissabon mit seiner neuesten Freundin – klar, darunter machte Matt es nicht.

Roisin rollte den Koffer durch den Korridor und aus dem Haupteingang hinaus auf den Schulparkplatz. Überall wuselten Kinder herum, es ertönten Schreie, Bälle wurden herumgekickt, voller Vorfreude auf zwei freie Tage vor der letzten Woche in diesem Schuljahr.

Ginas orange-weiß lackierter Oldtimer-VW-Bus war nicht zu übersehen und von ein paar neugierigen Schülern bereits ausgemacht worden.

»Ahoi! Die bescheidene Kutsche erwartet dich schon. Schmeiß das einfach irgendwohin. Nur rein in den Ethel.« Meredith deutete auf die Schiebetür und Roisins Koffer. Gina hatte den Bus, den sie letztes Jahr bei einer Tombola gewonnen hatte, »Ethelred der Unfertige« getauft. Angesichts der laufenden Kosten war es etwas dreist von den Organisatoren der Lotterie gewesen, das Ganze als Preis und nicht als Adoption zu bezeichnen.

»Pass auf, dass du ihn richtig festklemmst, sonst nimmt Gina eine Kurve zu scharf, und der Gedanke an deinen Koffer ist das Letzte, was dir in diesem Leben durch den Kopf geht. Bist du einverstanden, wenn ich vorne sitze und das Navigieren übernehme?«

»Absolut einverstanden«, sagte Roisin und rückte ihr Gepäck in eine Position, sodass sie sich nach vorne beugen und Meredith umarmen konnte.

Sie trug ein typisches Meredith-Outfit aus goldschimmernden Birkenstock-Sandalen, hochgekrempelten Jeans, einem T-Shirt, auf dem stand: ALEXA PLAY CHER, einem ausgefransten Kopftuch um ihren wilden blonden Schopf voller Fusilli-Locken. Den Look nannte sie selbst »lesbische Spießermum geht aufs Latitude-Festival«. (Aufgrund einer längeren Single-Phase bezeichnete sie sich als »arbeitslose Lesbe«.)

»Ich muss mir kurz die Beine vertreten«, sagte Gina und umrundete Ethel. »Hi, Rosh. In der Sainsbury-Tüte unter deinem Sitz sind ein paar Dosen Pornstar Martini, bedien dich. Ich selbst halte mich aus offenkundigen Gründen noch zurück.«

Gina, die vollbusig und gleichzeitig schmal war, trug ein flatteriges gelbes Sommerkleid und pastellrosa Ballerinas. Ihr schulterlanges braunes Haar hatte sie mit einem einfachen Haargummi zusammengebunden. Von diesem winzigen Zugeständnis abgesehen sah sie nicht im Entferntesten aus wie jemand, der mit großer Selbstverständlichkeit einen Blecheimer mit einem Lenkrad, das die Größe eines Fahrradreifens besaß, über eine Entfernung von achtzig Meilen steuern könnte. Und doch konnte man sich keine sicherere und kühnere Fahrerin als sie vorstellen.

»Miss! MISS! MISS WALTERS?«

Alle blickten dorthin, wo Amir und Pauly winkend standen.

Amir schrie: »LASSEN SIE SICH EINE VON DIESEN MASSAGEN MIT ÖL GEBEN!«

3

Also, dieses Haus«, sagte Meredith, als sie sich ihrem Ziel näherten. »Zwölftausend für das Wochenende«, formte sie lautlos mit den Lippen und tat geschockt.

»Machst du Witze?« Roisin setzte die Dose des metallisch schmeckenden, schäumenden Pornstar-Cocktails ab und verzog ein wenig das Gesicht. Er erinnerte ein bisschen an Schleim mit Ananasaroma.

Als die gewundene baumbestandene Straße eine Kehre machte und einen ungehinderten Blick auf Benbarrow Hall freigab, verschlug es Roisin buchstäblich den Atem.

Sie hatte mit einem herrschaftlichen Haus gerechnet, trotzdem kam sie sich wie eine vom Herrensitz ihres Verehrers eingeschüchterte Jane-Austen-Heldin vor. Eigentlich hätte ihre Ankunft von Hufgetrappel untermalt werden sollen anstelle des murrenden Motorbrummens des VW-Busses und Paul Simons Graceland.

Benbarrow Hall lag auf einem Hügel und war ein Gutshaus wie aus dem Bilderbuch, mit schiefergrauen gotischen Türmchen und sandsteinfarbener Fassade. Filmtauglich schimmerten die riesigen Rundbogenfenster im warmen Sommerlicht des Spätnachmittags.

»Scheiße noch mal!«, sagte Meredith voller Ehrfurcht. »Das ist gigantisch.«

»Sieht aus wie der Schauplatz für einen Krimi«, sagte Gina, nahm den Fuß vom Gas und ließ Ethel ausrollen, um die Aussicht in Ruhe zu bewundern. »Als Nächstes stoßen wir auf Oberst von Gatow im Arbeitszimmer mit einem Kerzenleuchter in der Hand.«

Nachdenklich schwiegen sie einen Augenblick.

»Das sollte uns zu denken geben«, sagte Meredith.

»Mir gibt es allenfalls zu denken, dass es das Risiko wert ist«, meinte Gina. »Stellt euch vor, wie groß die Schlafzimmer sein müssen!« Scheppernd legte sie den Gang ein. »Ethel, bitte sei vernünftig. In Beziehungen geht es ums Geben und Nehmen.«

Ruckelnd fuhren sie wieder an.

»Ich habe ein total schlechtes Gewissen, weil wir zulassen, dass Dev so viel Geld ausgibt«, sagte Roisin. »Sollen wir wirklich nur die Lebensmittel beisteuern? Ist das moralisch vertretbar?«

»Ach was, Dev tut, was er will. Und er will viel«, erwiderte Meredith und wandte den Blick zurück zur Straße. »Im Ernst. Du weißt selbst, man kann Dev ein sagenhaftes Vorhaben genauso wenig ausreden, wie man eine 747 zum Absturz bringt, indem man ihr mit der Faust droht.«

Das stimmte. Sie betrachteten die sanften, grünen Hänge hinunter zum See, auf dessen glatter Wasseroberfläche sich die Umgebung spiegelte, und fuhren fort, unisono zu seufzen.

Brummend blieb der Bus auf einem Stellplatz neben Devs funkelndem blauem Geländewagen stehen. Nach dem Gewinn von siebzigtausend Pfund bei Flatmates hatte er eine Medienagentur gegründet und beschäftigte mittlerweile zwanzig Angestellte.

Die Frauen in ihrer Freundesclique bezogen nach wie vor völlig normale Gehälter: Meredith arbeitete für die Steuer- und Zollbehörde, und Gina machte Presse- und Öffentlichkeitsarbeit an der Manchester University. (Gemeinsam hatten sie sich ein Haus in Urmston gekauft, eine Idee von Meredith, um ihnen beiden möglichst früh einen Platz auf der Immobilienleiter zu verschaffen.) Dev und Joe hingegen waren steinreich, und Matt, na ja, er arbeitete im Vertrieb eines Weinhändlers, also, wer wusste das schon so genau. Ein gutes Leben aber war für Matt so selbstverständlich wie das Atmen, da er einer Furcht einflößend wohlhabenden Familie entstammte. Roisin hoffte, dass die zunehmende Ungleichheit ihres Vermögens sie am Ende nicht entzweite.

Es war eine Sache, aufgrund von drei besonderen Anlässen eine obszön teure Reise zu unternehmen. Aber es durfte kein Präzedenzfall werden.

»Welche Tür nehmen wir?«, fragte Meredith, während sie ihr Gepäck zum Haus zerrten. »Da wäre ich echt nicht gern Paketfahrer auf der Suche nach einem sicheren Ablageort.«

Roisin hielt ihr Gesicht in den warmen Wind und atmete mehr Landluft ein als üblich. Im Allgemeinen überließ sie Joe die Künstlerhirngespinste, aber jetzt hatte sie das Gefühl, dass ein Ereignis bevorstand. Ihr Bauchgefühl sagte ihr, dass etwas Ungewöhnliches passieren würde. Möglicherweise lag das in der Natur eines jeden Urlaubs, weil er einen aus vertrauten Gefilden herausholte und einem kurzzeitig einen Blick aus der Vogelperspektive auf das eigene Leben erlaubte. Man wurde dazu gebracht, die eigene kleine Welt der Unendlichkeit an Möglichkeiten gegenüberzustellen.

Sie entschieden, sich von der Rückseite heranzutasten, vorbei an ein paar Nebengebäuden, aus denen der unverkennbare Bauernhofmief und faszinierende raschelnde Geräusche nicht menschlichen Lebens kamen. Die Rollen ihrer Trolleys klangen auf dem unebenen Boden wie Winkelschleifer.

Sie drückten die geschwungene, schmiedeeiserne Klinke einer Tür auf, die in eine gewaltige Vorratskammer aus rotem Backstein mit Regalen führte und von dort in eine atemberaubende Küche, eine Mischung aus modernen Einrichtungsgegenständen aus gebürstetem Stahl, Art-déco-Pendelleuchten, einem cremefarbenen AGA-Herd und einem alten Steinboden.

Roisin schwindelte beinahe vor lauter Begeisterung. Ihre eigene Küche war toll, aber im Vergleich dazu einfach nur scheiße.

»Hallo!«, rief Meredith. »Die Stripperinnen sind da!«

Joe tauchte im Türrahmen auf, in der Hand eine Bierflasche Camden Hells.

»Verdammt, das muss ein Missverständnis sein! Ich hatte um vollbusige Sexbomben gebeten, nicht um volltrunkene Hexen!«

Gina johlte vergnügt. Meredith schimpfte ihn »Blödmann!«, und Roisin machte »Pfff«. Er umarmte sie der Reihe nach, zuletzt Roisin.

Joe sieht gut aus, dachte Roisin, während sie ihn dabei beobachtete, wie er sein Gesicht voller Zuneigung an Ginas zarte Schulter presste.

Als Überflieger hatte er subtil, doch unverkennbar sein Aussehen aufpoliert. Seine Schriftstellerblässe hatte durch die kalifornische Sonne Konturen bekommen, die Kieferpartie war markanter und der Körper schlanker geworden von den Trainingsstunden im Waterside Leasure Club mit Eric, seinem unglaublich gut aussehenden ghanaischen Personal Trainer. Joe war so verzweifelt darum bemüht, dem schönen Eric zu gefallen, als wäre der schöne Eric ein emotional wankelmütiger Vater.

Er, der früher manchmal tagelang im selben Pixies-T-Shirt herumgelaufen war, trug jetzt unaufdringliche, perfekt sitzende dunkelblaue und graue Sachen aus weichen, dünnen Stoffen, die in dezenten, mit Logos versehenen Schachteln geliefert wurden.

Joe legte den Arm um Roisin und küsste sie geistesabwesend aufs Haar, ohne sie eines Blickes zu würdigen. Gina und Meredith wurden Wärmewogen zuteil, Roisin war bloß Mobiliar.

Wieder einmal fragte sie sich, ob die vergangenen sechs Monate nur eine steinige Phase waren oder den endgültigen Tod eingeläutet hatten. Sechs Monate? Nein, eher acht. Okay, wenn sie ehrlich war, ein Jahr.

»Nur dass ihr Bescheid wisst: Auf einer Skala von eins bis zehn ist Dev schon jetzt ungefähr bei Level sieben oder acht«, sagte Joe. »Es lässt sich immer weniger sagen, ob das, was wir seine übersprudelnden Phasen nennen, nicht womöglich Anzeichen eines manischen Zustands sind. Gott sei Dank trinkt und kokst er nicht mehr!«

Irgendwo in den Tiefen des Gebäudes dudelte Trash von Suede. Sie rollten und schleppten ihr Gepäck durch einen erstaunlichen Korridor mit Deckengewölbe, der mit Büsten auf Sockeln und einer riesigen Steinvase von der Größe eines Kleinkinds dekoriert war, darin ein riesiger Blumenstrauß aus weißen Lilien, lindgrünen Hortensien, Gladiolen und Löwenmäulchen, so was gab es normalerweise nur in Hotellobbys. Sie blickten die breite Treppe mit der verzierten Holzbalustrade hinauf, die von einem Buntglasfenster erhellt wurde.

»Auf solchen Treppen schreitet man hinunter zum abendlichen Diner«, sagte Gina, während ihnen bewundernde Oohs und Aahs entfuhren.

»Und das werdet ihr auch. Abendessen gibt’s um sieben. Angefangen mit Kanapees im Salon«, sagte Joe und schob sie weiter. Die Abmachung war, dass die Männer heute Abend kochten und die Frauen morgen. Diese Aufteilung war ein bisschen dämlich, aber keiner hatte mit einer anderen Idee aufgewartet.

Sie trafen Dev und Anita in der Bar an. Der Raum war mit einem Kristalllüster und einer unruhigen Velourtapete ausgestattet, und an der Wand stand in Leuchtschrift IRGENDWO IST JETZT MITTAG. Und unüberhörbar gab es auch eine Musikanlage.

Als Dev sie bemerkte, sprang er vom Hocker.

»LEUTE! Habt ihr das gesehen? Verdammt, wir haben HÜHNER!«, brüllte er und ballte die Fäuste, während er im Rhythmus der Musik das Becken bewegte und dabei grimassenhaft den Unterkiefer vorschob.

»Willst du sie vögeln, oder was?«, fragte Roisin.

Dev fuhr mit seinen Rotationsbewegungen fort und kreischte: »ENTEN AUCH!«, wobei er sich mit einer beunruhigenden pantomimischen Geste auf den Po klatschte.

Seine Verlobte Anita stellte ihr Glas ab, in dem Wacholderbeeren in einem Gin-Tonic-Aquarium schwammen, ortete die Stereoanlage und regelte Suede auf eine Lautstärke, die eine Kommunikation ermöglichte.

»NAWASSAGTIHR?«, sagte Dev in die eingetretene Stille und breitete die Arme aus. »Ist das nicht der absolute Mega-Wahnsinn?!«

»Scheußlich, trostlos und schäbig«, meinte Meredith. »Findet ihr es nicht auch ganz schön heruntergekommen?«

»Ja, du solltest dein Geld zurückfordern«, stimmte Gina ihr zu. »Es ist so düster. Man müsste ein paar Velux-Dachfenster einbauen.«

»Im Ernst, Dev«, sagte Roisin, die nun, da der britische Teil erledigt war, aufrichtig sein konnte. »Es ist überirdisch. Wir haben weder dich noch das hier verdient.«

»Es gibt niemanden, den ich hier lieber hätte als euch.« Er strahlte über das ganze Gesicht und nahm sie alle gleichzeitig in seine langen Arme. Anita gesellte sich dazu.

»Wartet nur, bis ihr seht, wie viele Kleider ich mitgebracht habe«, sagte sie mit gedämpfter Stimme.

»Wir hätten fast einen Anhänger dafür gebraucht«, fügte Dev hinzu.

Die sinnliche Anita war Visagistin mit einer Spezialisierung auf asiatische Hautschattierungen und besaß eine riesige Gefolgschaft auf Instagram. Dev und sie hatten sich über den Austausch von Direktnachrichten kennengelernt.

Nach einem etwas holprigen Start hatte die Clique Anita ins Herz geschlossen. Sie war zu einem Zeitpunkt auf der Bildfläche erschienen, als Dev schon berühmt war, aber noch keinen Entzug gemacht hatte, und die Freunde waren äußerst argwöhnisch gegenüber jeglichen »neuen Kumpeln« von Dev und bemühten sich tatkräftig, ihm parasitäre Drogis vom Hals zu schaffen. Es war verheerend, wenn ein Drogenabhängiger mit einem prominenten Gesicht mit einer solchen Leichtigkeit und Offenheit Freundschaften schloss.

Deshalb war sich seine alte Garde anfangs ziemlich sicher, dass Anita mit dem berüchtigten Dev Doshi nur wegen seiner »Reichweite« angebandelt hatte. Tatsächlich aber stellte sie für ihn den reinsten Glücksfall dar – überschwänglich wie Dev, aber ohne seinen Hang zur Hyperaktivität. Sie hatte zu ihm gehalten, während er clean wurde, und schirmte ihn von jeglichem schlechten Einfluss ab.

Im Augenblick wohnten sie zur Miete, während in Alderley Edge ihr Traumhaus gebaut wurde.

Als Dev vor wenigen Monaten um Anitas Hand angehalten hatte, hatte die Clique aus ganzem Herzen und voller Kehle HURRA gebrüllt.

»O mein Gott! Da ist er ja, unser Gentleman-Künstler, Mr Staff WiFi!«, sagte Joe, der den Vorhang ein Stück angehoben hatte, um aus dem Fenster zu sehen.

4

Staff WiFi war einer von Joes neueren Spitznamen für Matt. Er rührte daher, dass Matt, wann immer sie irgendwo mit miesem öffentlichem WLAN waren, fröhlich Nachrichten verschickte. Wenn man ihn fragte, wie das möglich sei, zuckte er bloß mit der Schulter und meinte: »Ach, ich hab mir das Passwort für das interne WLAN geben lassen«, und deutete vage Richtung Geschäftsräume.

Es gab nicht den geringsten Grund, warum ein Gast, der das Passwort für die Belegschaft haben wollte, es auch bekommen sollte, außer man sah so aus, wie sich die Cosmopolitan einen Cowboy vorstellte.

Sie stellten sich ans Fenster und entdeckten Matt, der in einem Kurzmantel von Crombie, großen Stiefeln mit gelben (nur halb geschnürten) Schnürsenkeln und einem Seesack über der Schulter den Hügel heraufkam. Er hätte gewirkt wie jemand, der aus der Zeit gefallen und durch ein Loch im Weltall hereingeklettert war, hätte auf seinen Ohren nicht ein Sennheiser-Kopfhörer gesessen.

»Warum kommt er zu Fuß?«, fragte Meredith.

»Schaut euch diesen Vollpfosten an«, gackerte Joe. »Er sieht aus, als wollte er für die Rolle als der nächste Doctor Who vorsprechen.«

»Er hat ein Taxi vom Flughafen genommen. Er war in Portugal … mit …« Erfolglos zermarterte sich Roisin das Hirn. »Cassie?« Erwartungsvoll streckte sie die Hände wie im Gebet nach vorne und presste die Lippen aufeinander.

»Ha, Cassie ist LÄNGST passé«, schnaubte Meredith. »Du bist so April, Mai«, spottete sie. »Das war doch … fängt der Name nicht mit L an?«

Das Problem war, dass sie Matts glamouröse Freundinnen weniger nach Namen archivierten als nach dem hervorstechendsten Detail der postfaktischen Analyse.

Sie klangen wie die Episodentitel der Serie Friends. Die, deren Großvater die gestreifte Zahnpasta erfand. Die mit dem Chinchilla namens Shamone. Die mit dem nackten Videocall um drei Uhr nachts.

»Ruby«, steuerte Gina mit ruhiger, leiserer Stimme bei.

»Ruby! Natürlich«, sagte Meredith. »Die Bikram-Yoga-Begeisterte. Oder war das die andere?«

Schlagartig kamen sie darauf zu sprechen, wer Matt hereinlassen sollte, ein Themenwechsel, der aus unausgesprochener Rücksicht auf Ginas Gefühle häufig stattfand.

Gina liebte Matt ebenso heftig und ausdauernd wie unerwidert. Behutsam umschifften sie alle das Thema, während sie sich die Tatsache nicht wirklich eingestanden. Immer wieder einmal versuchten sie, einander erfolglos davon zu überzeugen, dass die Sache längst der Vergangenheit angehörte.

Da war nichts zu machen. Matt mochte Gina sehr. Egal, mit wem Gina sich einließ – und es herrschte kein Mangel an Männern, die sich in Ginas zarte Babyfüßchen verliebten –, doch den Freunden war immer klar, dass sie sich weiterhin vergeblich nach Matt verzehrte.

»Diese Hoffnung ist echt toxisch«, hatte Meredith einmal gesagt. »Wer hätte gedacht, dass es so etwas gibt?«

Matts Karussell bedeutungsloser Affären wirkte wie ein Artilleriefeuer auf Ginas Herz. Gleichzeitig hatten alle Angst vor dem Tag, an dem Matt der »Richtigen« begegnen und es noch schmerzlicher sein würde.

Dev sprang auf, um Matt aufzumachen, und präsentierte ihnen einen Augenblick später einen nicht minder ehrfürchtigen Gast.

»Das hier ist echt nicht ohne. Dev, du hast dich selbst übertroffen. Hallo allerseits.«

»Das Ensemble ist vollständig versammelt! Es ist ein bisschen wie bei Peter’s Friends, nur mit noch schlimmeren Leuten«, sagte Joe. »Warte mal, was ist mit dir passiert?«

Üblicherweise trug Matt einen akkuraten Haarschnitt und war glatt rasiert, doch bei genauerer Betrachtung war auf seinem Gesicht ein dünnes Menjou-Bärtchen zu erkennen. Er legte die Finger an die Oberlippe.

»So schlimm? Ruby hat gemeint, es sieht gut aus.«

»Tut mir echt leid, aber Ruby arbeitet ganz offensichtlich für die gegnerische Seite«, sagte Joe.

»Warum bist du zu Fuß hergekommen?«, fragte Gina.

»Ich habe den Taxifahrer gebeten, mich früher rauszulassen. Es sah zu schön aus, um einfach herzufahren. Ich wollte es richtig genießen.«

»Eine gute Idee. Wenn ich nicht so faul wäre, hätte ich mir das auch überlegt«, sagte Meredith.

»Wir sind kurz stehen geblieben, das ist praktisch das Gleiche«, meinte Roisin. »War’s schön in Lissabon?«

»Wunderbar. Sonnig. Auch wenn der Fitnessraum im Hotel nicht dem Standard entsprach. Ich musste mich für das Rudergerät anstellen. Echt entwürdigend.«

»Wer geht im Urlaub ins Fitnessstudio?«, fragte Roisin.

»Jetzt weißt du’s«, sagte Joe.

»Nun, wo Matt da ist – lasst uns anstoßen!«, rief Dev.

Anita, die offensichtlich für diesen Augenblick instruiert war, stand bereits hinter der Bar, entkorkte eine Flasche Champagner und schenkte schwungvoll eine Reihe Gläser ein. Dev bekam einen trüben Kombucha.

»Auf den BRIAN CLUB!«, erklärte Dev, als die Gläser verteilt waren. Sie stießen mit den Sektflöten an und wiederholten lachend »Auf den Brian Club!«, und in diesem Sekundenbruchteil wurde Roisin klar, worum es dieses Wochenende wirklich ging.

Sie war so damit beschäftigt gewesen, über das Auseinanderdriften zwischen Joe und ihr nachzudenken, dass sie übersehen hatte, dass auch die Clique an den Säumen auszufransen drohte.

5

Der Name Brian Club war lange nicht mehr verwendet worden, obwohl ihre WhatsApp-Gruppe nach wie vor so hieß.

Er ging auf einen einschlägigen Vorfall vor zehn Jahren zurück, kurz nachdem sie sich bei der Arbeit in der Buchhandlung Waterstones an der Deansgate kennengelernt hatten. Brian war ein unglaubliches Arschloch, der sich fast jeden Tag als Wichtigtuer in der Buchhandlung aufspielte, unausstehlich und schwierig war und ständig fadenscheinige Beschwerden vorbrachte.

Nach einem Streit mit dem Filialleiter Dev um eine auf mysteriöse Weise beschädigte Biografie einer Cricketspielers hatte Brian eines Tages eine der Trittleitern im Laden in die Mitte der Abteilung für Biografien und Lebensgeschichten gezerrt. Er kletterte hinauf und deutete auf Invasion der Körperfresser-Art mit hervortretenden Augen und verzerrter Grimasse auf Dev.

»ARSCHLOCH«, kreischte er in einem Tonfall, als handle es sich um einen Feueralarm, und viele Kunden blieben wie angewurzelt stehen.

Dann fiel Brians Blick auf Roisin, die in der Nähe stand. »NOCH EIN ARSCHLOCH!«

»Arschloch, Arschloch, Arschloch«, zählte er auf und zeigte mit dem Finger nacheinander auf die bestürzte Meredith, Gina und Matt, die herbeigeeilt waren, um zu sehen, was den Tumult verursacht hatte.

Die Samstagsaushilfe Lia stand ebenfalls dabei, und als Nächstes fiel Brians Adlerauge auf sie.

»Du bist in Ordnung«, räumte Brian zur Überraschung aller ein.

Beim Anblick von Joe, der die Bühne von links betreten hatte, einen Stapel Bücher über Edmund Hillary im Arm, wirbelte er theatralisch herum.

Brian holte Luft, streckte den zitternden Zeigefinger aus und sagte: »EIN WICHSER!«

Roisin hatte sich gefragt, warum Dev nicht mehr Leute nach Benbarrow Hall eingeladen hatte – Platz hatten sie jedenfalls genug –, und jetzt wusste sie, dass er klarstellen wollte, wer dazugehörte. Er war der mildtätige Patriarch, der die verlorenen Söhne und Töchter zusammenführte, damit sie nicht vergaßen, wie wichtig die Familienbande waren.

»Weißt du, ich bin unentschlossen, was den Schnurrbart angeht«, sagte Roisin und begutachtete Matt nach einem halben Glas Moët. »Irgendwie hat er was Unwiderstehliches. Du siehst aus wie der Schuft in Royal-Air-Force-Uniform auf einem abgegriffenen alten Foto, das man beim Entrümpeln versteckt in einer Schublade findet. Und bei einem gigantischen Familienskandal stellt sich heraus, dass er der leibliche Großvater war.«

»Genau! Auf den Look des Air-Force-Sex-Opas hatte ich es abgesehen. Danke, Rosh«, sagte Matt.

Joe verdrehte die Augen.

»Wirst du Ruby also wiedersehen?«, fragte Gina, und alle Anwesenden versteiften sich.

»Dazu gibt es eine unglaubliche Geschichte. Ich bin bei Ruby sozusagen einem Fake aufgesessen, so was wie Catfishing, nur umgekehrt.«

»Was ist umgekehrtes Catfishing?«

»Catfishing heißt ja, dass jemand sich hinter einer gefälschten Identität versteckt. Und wenn die wahre Identität herauskommt, ist das ein schlimmer Schock. In diesem Fall aber …«

»Weißt du was? Heben wir uns das für später auf«, unterbrach ihn Joe. »Ich habe den Eindruck, das ist etwas, wofür wir einen süßen, blumigen Dessertwein brauchen.«

Matt zuckte die Achseln und sagte, klar, und das Gesprächsthema wurde gewechselt, doch Roisin war peinlich berührt von der Unhöflichkeit, auch wenn ihr klar war, dass Joe sich ritterlich für Gina einsetzen wollte. Insgeheim nahm sie sich vor, sich bei Matt zu entschuldigen und es Joe gegenüber anzusprechen. Zwischen Joe und Matt hatte es schon immer leichte Spannungen gegeben, aber Roisin hatte die Befürchtung, dass sie sich auf der Seite von Joe in jüngster Zeit zu einer ausgewachsenen Antipathie entwickelt hatten. Matt verharrte in seliger Ahnungslosigkeit, doch Matts Leben schien grundsätzlich aus einer Menge Glückseligkeit und Ahnungslosigkeit zu bestehen.

Vor einem Monat hatte Roisin Joe schon einmal gerüffelt, weil er Matt schlechtmachte, und hatte damit eine Tirade ausgelöst.

»Was mir bei Matt McKenzie so auf den Keks geht, ist, dass du ihn hassen würdest, wenn er eine Frau wäre. Ich persönlich finde ihn bloß nervig und hin und wieder …« Joe machte eine Pause, um nach Art eines Wort-Feinschmeckers den passenden Begriff zu wählen, »… zermürbend. Aber stell dir vor, er wäre eine Frau! Du lieber Himmel. Du würdest ihn so verurteilen und hättest ihn schon vor Jahren abgefertigt. Ich finde, du solltest nicht mich dafür verurteilen.«

»Warum?! Weil er öfter mal die Freundin wechselt? Dev kommt gut mit ihm aus!«

»Dev war der Sieger einer Reality-Sendung, weil er mit jedem gut auskommt. Öfter mal die Freundin wechseln klingt ziemlich beschönigend, als wäre er Michael Caine in den Sechzigerjahren. Vergiss nicht, dass ich aus den Gesprächen unter Männern mehr Einzelheiten kenne als du.«

Achselzuckend gestand Roisin ihm zu, dass er damit recht hatte.

»Der schlägt unerbittlich Profit aus seinem Aussehen und seinem ganzen ausgetüftelten …«, Joe wedelte mit den Händen, »… unbeschwerten Casanova-Gehabe. Dabei spielt er mit den Frauen wie mit Katzenminzebällchen. Er schubst sie herum, bis der verlockende Duft des Neuen verflogen ist. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es für die Frauen besonders schön ist, und für Gina ist es schrecklich.«

»Matt kann nichts für Ginas Gefühle. Oder seine eigenen nicht vorhandenen.«

»Hm, mag sein. Ich denke, er kann nicht mit ihr zusammen sein, weil es eine Bedeutung hätte, und dieses Risiko kann er nicht eingehen. Meiner Einschätzung nach wird er ihrer beider Leben ruinieren, weil er erst erkennen wird, dass sie zusammengehören, wenn es zu spät ist. Was typisch Matt ist.«

»Warum sollte er dann für Gina der Richtige sein, wenn er so schrecklich ist?«

»Er wäre nicht der Richtige. Aber so traurig es ist, Gina wird nie mit jemand anderem glücklich werden. Manchmal ist es einfach so, dass jemand über eine unglückliche Liebe nicht hinwegkommt.«

Roisin fand diese Aussage ein bisschen pathetisch. Typisch Schriftsteller eben.

»Denk an meine Worte«, sagte Joe. »Er erkennt erst, dass sie seine große Liebe ist, wenn er an ihrer Türschwelle steht und seinen drei Kindern nachtrauert, mit denen er keinen Umgang mehr haben darf. Bis dahin hat er außerdem ein Alkoholproblem, seine Hypothek im Krypto-Crash verloren und verwendet riesige Mengen Haarwuchsmittel. Und Gina wird ihre einigermaßen funktionierende Ehe in den Wind schlagen und ihn zu sich nehmen.«

Insgeheim hatte Roisin einen Verdacht, was Joe an Matt tatsächlich so auf die Palme brachte, aber sie war nicht so tollkühn, es zu erwähnen.

Joes Selbstverständnis – wenn nicht gar sein beruflicher Erfolg – basierte auf seinem Talent für spitze Bemerkungen und geistreiche Einzeiler. Doch unter uns gesagt war Matt darin nicht weniger gut. Er machte nur nicht so viel Wind darum. Beiläufig und unentgeltlich ließ er Bemerkungen fallen, die für Joe liebevoll gehegtes Zahlungsmittel waren.

Joe witterte den Konkurrenten, aber am schlimmsten war, dass dieser Konkurrent keinerlei Anstalten machte, sich mit ihm zu messen.

Als Joe seine Suada über Matts kriminellen Charakter beendet hatte, entsperrte er sein Handy und tippte ein paar Dinge, die er gesagt hatte, in die Notizen-App. Eine Geste, die Roisin mittlerweile allzu vertraut war.

6

Musstest du Matt vorhin so runterbügeln, als er einfach nur eine Frage beantworten wollte?«, fauchte Roisin, kaum dass ihr die Sache wieder einfiel.

Roisin kam in ein Handtuch gewickelt und mit dem Kajalstift in der Hand aus dem Badezimmer, ein »Smokey Eye« geschminkt, das andere von der heißen Dusche leicht gerötet.

Joe saß im Schneidersitz, barfuß und in einer schicken Hose, auf der Tagesdecke ihres Himmelbetts. Ihr Zimmer war auf so royale Art verschwenderisch, dass Roisin einerseits Ehrfurcht, aber gleichzeitig eine leichte Übelkeit empfand, als hätte sie einen erhöhten Cholesterinspiegel. Verwendete man bei diesem Zustand den Ausdruck »weiche Knie bekommen«?

Als sie die schwere Tür aufgezogen hatten, hatten sie einen gigantischen Topffarn, einen gekachelten Jugendstil-Kamin und ein Himmelbett erblickt, in dem wahrscheinlich früher Frauen im Kindbett gestorben waren. Die dunkelroten Wände besaßen die Farbe von Blutgerinnseln. Wäre die himmelhohe Decke nicht gewesen, hätte es düster und erdrückend wirken können. In dem Badezimmer mit Marmorfliesen gab es eine frei stehende scharlachrote Badewanne und eine begehbare Dusche.

Joe hatte konzentriert auf sein silbernes MacBook Air gestarrt und blickte jetzt verblüfft auf.

»Was meinst du?«

Sie war sich sicher, dass Joe sehr genau wusste, wovon sie sprach. Es kam ihm nur gelegen, Verwunderung vorzutäuschen, weil er Roisin auf die Weise als klinisch zwanghaft Schrägstrich mega Nervensäge abtun konnte.

»Als Gina Matt nach seiner Lissaboner Freundin gefragt hat. Pscht, Matt, dafür brauchen wir einen Drink. Klar wollen wir alle Gina beschützen, aber er hat doch nichts Falsches getan.«

»Oh, er hatte offensichtlich vor, mit unanständigen athletischen Sexpraktiken zu prahlen – das muss Gina nun wirklich nicht hören.«

»Du weißt doch gar nicht, was er sagen wollte. Außerdem ist er nie wirklich vulgär oder anzüglich.«

»Ach, komm schon. Du kennst Matt. Der nutzt jede Gelegenheit, sich wichtig zu machen. Für den ist jede Kerze ein Rampenlicht. Und das umgekehrte Catfishing klang für mich reichlich verdächtig.«

»Na ja, immerhin hat Gina ihn gefragt, wie es gelaufen ist. Sie mag verliebt sein, aber sie ist kein Kleinkind.«

»Und Matt genauso wenig. Trotzdem handle ich mir eine Standpauke ein, bloß weil ich ihm gegenüber ein bisschen schnippisch war.«

Ratlos hob Joe die Hände und lächelte, um die Geste zu entschärfen. Diplomatisch legte Roisin den Kopf zur Seite und senkte ihre Stimme.

»Weißt du, ich fühle mich unter Druck, weil Dev dieses Wahnsinnszeichen setzen will. Er will nicht, dass wir uns kabbeln und alles kaputt machen. Um seinetwillen sollte das hier ein Erfolg werden.«

Oder zumindest wie einer aussehen, dachte sie.

»Du hast recht. Keine Kabbeleien«, sagte Joe. »Wie … das hier zum Beispiel.«

Er hatte Roisin ausgebremst.

Sein Blick wanderte zurück zum Bildschirm.

»Ich versuche gerade, mich auf meine PR-Termine in Amerika zu konzentrieren. Wenn das okay ist, Schatz.«

Roisin war diesen leicht bevormundenden Ton gewohnt, wenn Joe sie daran erinnerte, dass er VIP-Angelegenheiten zu klären hatte. Anfangs war es noch ironisch gemeint gewesen, mittlerweile aber galt das eigentlich nicht mehr.

7

Roisin erinnerte sich an die Zeiten, als sie für Joes Zugtickets nach London und für seine Klamotten aufgekommen war, die über ausgebleichte Band-T-Shirts hinausgingen. Es hatte sie nicht gestört, und heute konnte Joe mit Recht darauf hinweisen, dass sich ihre Investition tausendfach ausgezahlt hatte. Die Eigentumswohnung war auf beide Namen eingetragen.

Sie sehnte sich nicht aus egoistischen Motiven nach den Zeiten zurück, in denen Joe von ihr abhängig gewesen war. Sie wünschte sich einfach, es hätte nicht zu diesem Ergebnis geführt.

Früher war Joes Karriere ein zu hundert Prozent gemeinsames Abenteuer gewesen; auf der Achterbahnfahrt hatte sie auf dem Platz neben ihm gesessen. SEEN war anfangs ein Projekt mit ungewissem Ausgang gewesen, das Drehbuch entworfen in Cafés und die überraschenden Wendungen in der Handlung zuerst an Roisin erprobt.

Augenblick: Also, er stellt sich als der Mann heraus, der auf der Überwachungskamera vor der Haustür zu sehen ist? Wow, das hätte ich nun wirklich nicht kommen sehen. Das ist wirklich ausgeklügelt, Joe.

Schließlich wurde daraus eine Pilotfolge im Texteditor – Roisin hatte mit Vergnügen den Text der weiblichen Hauptrolle laut für ihn vorgelesen. Sie war fast ein wenig beleidigt gewesen, als eine Schauspielerin ihr Haar herumschwenkte und, die Hände auf den Schreibtisch gestützt, sagen durfte: »Harry, ich verwette mein Leben darauf, dass wir es hier mit eineiigen Zwillingen zu tun haben. Und wenn unser Plan nicht aufgeht, dann habe ich mein Leben verwettet!«

Roisin hatte nicht nur die Wucht seines Erfolgs unterschätzt, sondern war ganz und gar selbstzufrieden gewesen. »Das Tolle ist ja, dass Joe Schriftsteller ist und nicht Schauspieler«, hatte sie der Clique gegenüber verkündet, »so kann er sich kreativ austoben, und niemand stellt ihm auf der Burton Road nach.«

Als die Verträge für SEEN unterschrieben waren, hatten sie Fish and Chips und eine Flasche Cava für zehn Pfund gekauft und ein Picknick im Park gemacht, statt in ein schickes Restaurant zu gehen. Es war ein Statement gewesen: Wir bleiben so, wie wir sind, plus ein nettes Extra.

Früher hatte Joes Leben so ausgesehen: aufstehen, eine Tasse schwarzer Kaffee, wenn möglich eine Dusche, schreiben, etwas in den Ofen schieben, weiterschreiben. Und am nächsten Tag dasselbe von vorne. Mittlerweile war sein Alltag kompliziert und voller Trara. Roisin lernte die Begriffe »Kopro«, »Splitscreen« und »Jump-Cut« kennen.

Nach einem Tag intensiver Frühstücks- und Mittagsmeetings in der Hauptstadt kam Joe abends mit dem Zug in Manchester Piccadilly an, und Roisin und er trafen sich zum Abendessen im Restaurant.

Er redete zu schnell, und sie tranken zu schnell, und sie kostete jede Einzelheit der neuesten Entwicklungen aus. Sie freute sich für ihn und war der Überzeugung – soweit sie es unvoreingenommen beurteilen konnte –, dass er das nötige Talent besaß, um groß rauszukommen.

Schließlich nahm die Arbeit derart zu, dass er oft über Nacht in London blieb, und dann kam der Ruf aus Hollywood, und er flog regelmäßig zwischen Los Angeles und England hin und her.

Eine Produktionsfirma in New York kaufte die Rechte an einer seiner Ideen. Irgendwann identifizierte Roisin den Spruch, »sie müssten nur diese Woche überstehen, dann würde es schon ruhiger werden«, als eine bewältigungsstrategische Lüge aus der Erwachsenenwelt.

Es störte Roisin nicht, dass Joe unterwegs war. Sie wusste sich auch allein zu beschäftigen und hörte gern zu, wenn er von seinen Abenteuern erzählte.

Doch irgendwann wurde aus hektisch und geistesabwesend kühl und distanziert.

Es brachte nichts, Joe Nachrichten zu schreiben, wenn er auf Reisen war, weil sie kaum je eine Antwort erhielt. Vermutlich war er der einzige Mann auf Erden, dachte sie, der das Herz-Emoji zum Abwimmeln verwendete.

Wie lief es bei Fox Searchlight? Herzchen. Hast du Ersatz für das Mietauto bekommen? Herzchen. O Gott, dieser durchgeknallte rote Kater kackt wieder in unseren Garten! Dabei vibriert der Schwanz so komisch, und er starrt einen total gruselig an. Herzchen. Du Herzchen kotender Kater.

Sie hatte es nicht angesprochen. Wenn jemand nach fünf Tagen Abwesenheit mit einer Toblerone aus dem Duty-free-Shop zur Tür hereinkommt, nörgelst du nicht gleich an ihm herum.

Roisin kam ein Gedanke, und als sie ihn einmal gedacht hatte, konnte sie ihn nicht mehr abschütteln: Die länger werdenden Abwesenheiten glichen einer Übung für die Trennung. Bei jeder Rückkehr war er noch ein bisschen distanzierter als zuvor.

Das Leben hatte sich von Grund auf verändert, oder vielleicht bestand die eigentliche und schmerzhaftere Erkenntnis darin, dass Joe sich verändert hatte. Veränderte der Erfolg einen Menschen wirklich, fragte sie sich. Vielleicht brachte er nur etwas an die Oberfläche, das auch vorher schon da gewesen war.

Der Humor, der sie früher verbunden hatte, fühlte sich wie ein von Verachtung geprägtes Duell an. Wie eine Runde Armdrücken, bei der es um den Sieg ging.

Verabredungen mit ihren Freunden wurden zu einer Pflichtveranstaltung oder gar einem Ärgernis – Joe hatte immer eine herablassende Bemerkung parat.

O Mann, gehen wir schon wieder dorthin? Was sind wir für Spießer geworden. Demnächst kleben wir uns noch »Ich wäre so gerne Müllionär«-Sticker auf die Mülltonnen.

Sie fragte sich sogar, ob die Abneigung gegen Matt ihm den Weg ebnen sollte, sich elegant aus dem Brian Club zu verabschieden. Sorry, nicht, wenn er dabei ist. Ich kann den Kerl einfach nicht ausstehen.

Der Sex war immer mehr versiegt, und wenn es doch mal dazu kam, dann herrschte unmissverständlich das Gefühl vor, eine Deadline erreicht zu haben, im Sinne von: Lieber tun wir es, bevor das Nichttun zu einem Aufreger wird.

Als sie sich kennengelernt hatten, hatte es auf Anhieb gefunkt. Allerdings hatte Joe sofort erwähnt, dass er eine Fernbeziehung mit seiner Freundin Bea in seiner Heimatstadt York führte.

Zwischen Roisin und Joe war nichts vorgefallen – und das wäre auch so geblieben, hätte seine Beziehung angedauert, denn Roisin hielt nichts von Betrügen. Doch sie ertappte Joe dabei, wie er sie über den Tisch hinweg beobachtete – in den Abendstunden, wenn der Alkoholgehalt im Blut anstieg und das Licht nachließ.

An einem Freitagnachmittag hatte Joe Roisin allein in einer Ladenecke angetroffen, wo sie »Vom Autor signiert«-Aufkleber auf Bücher von Terry Pratchett klebte.

»Ich wollte dir Bescheid sagen. Ich werde mich von Bea trennen.«

»Okay«, meinte Roisin.

»Wenn das erledigt ist, werde ich dich fragen, ob du mit mir ausgehst.«

»Okay«, antwortete Roisin und bemühte sich, nicht knallrot anzulaufen.

Er ging. Puh. Der stille Joe, der Comic-Romane von Alan Moore mochte und eine bestechende Ähnlichkeit mit dem jungen John Cusack hatte, besaß echtes Selbstvertrauen. Das wirkte unbestreitbar sehr anziehend.

Zu jener Zeit hatten sie einander an den Lippen gehangen. Sie hatten nichts anderes gemacht als reden: bei einem gemeinsamen Ausflug, beim Spaziergehen im Park, beim Stöbern im Plattenladen, bei zahllosen Gläsern Bier in Pubs voller alter Männer. Alles war interessant, wenn sie zusammen waren. Ach, was gäbe sie darum, wieder so jung zu sein, als sich alles neu und aufregend angefühlt hatte.

Sie waren das erste – und wie sich herausstellte, einzige – Paar der Clique, dessen Wohnung zur Anlaufstelle wurde, wenn sie kurz vor Zahltag kein Geld mehr hatten, um auszugehen. Joe war für Musik und Snacks zuständig, Roisin fürs Kerzenanzünden und die Cocktails. Als Team schufen sie ein Fundament und errichteten darauf ihr Reich.

Hatte er mittlerweile einer anderen Frau dasselbe Versprechen gegeben wie ihr damals in der Fantasy-Ecke von Waterstones? Roisin hatte die Sache vorwärts und rückwärts durchdacht und geschlussfolgert, dass 1. Der Anfang ihrer Beziehung zeigte, dass Joe in der Lage war, mit erbarmungsloser Entschlossenheit vorzugehen, und ein einjähriges Purgatorium ohne Intimitäten hatte nichts von erbarmungsloser Entschlossenheit, und 2. sprach er darüber, dass sie sich einen Hund anschaffen sollten.

Nach knapp einem Jahrzehnt ähnelte ihre Liebe einem vernachlässigten, mit Herbstlaub übersäten Pool. Im Grunde genommen existierte er noch, aber Joe hatte Zentimeter für Zentimeter das Wasser abgelassen. Wenn man hineinsprang, war dort nichts mehr. Man würde sich die Knöchel brechen.

Roisin hatte eine Therapie angefangen, ohne Joe etwas davon zu erzählen.

Glauben Sie, dass er Sie betrügt?

Ha, nein. Bei der Termindichte wäre das auf jeden Fall eine echte organisatorische Herausforderung.

Kann die Beziehung gekittet werden?

Ich weiß es nicht.

Wollen Sie die Beziehung kitten?

Ich weiß nicht. Ich glaube schon. Ich möchte, dass es wieder so wird wie früher. Aber ich weiß nicht, ob das nicht für immer vorbei ist.

Ständig redete sich Roisin ein, dass sie dies oder das aus dem Weg räumen müsste. Bringen wir Devs Downton-Abbey-Wochenende hinter uns, warten wir ab, bis Hunter in der Welt ist und ich Joe über eventuelle schlechte Kritiken hinweggetröstet habe. Danach ist immer noch Zeit für eine Bestandsaufnahme.

Offen gesagt rechnete sie damit, dass Joe irgendwann diese Bestandsaufnahme einfordern würde, doch sie war stolz und wollte ihm zuvorkommen.

Es schien sinnvoll, abzuwarten, aber Roisin durchschaute durchaus diese sinnlose Verzögerungstaktik, die sie sich selbst ausgedacht hatte. Es war das Äquivalent aus ihrem Privatleben zu Amirs Frage, ob Shades of Grey in der Zukunft zur Weltliteratur gezählt werden würde.

Selbsttäuschung funktionierte im Grunde nie.

 

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