Bevor wir uns vergessen - Éliette Abécassis - E-Book

Bevor wir uns vergessen E-Book

Eliette Abécassis

0,0
17,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Ein Balsam für die Seele in heutigen Zeiten Die Meisterin des lebensklugen französischen Liebesromans ist zurück. In "Bevor wir uns vergessen" erzählt Éliette Abécassis die Geschichte von Alice und Jules, ihrer  jahrzehntelangen Liebe voller gestillter und ungestillter Sehnsüchte. Eine mitreißende und berührende Erinnerung daran, dass es die dauerhafte Liebe – gegen alle Widerstände – doch geben kann. Alice und Jules sind fünfundachtzig Jahre alt. Sie treffen sich auf einer Bank im Jardin du Luxembourg, Kinder spielen vor dem Bassin, ein Sonnenstrahl bricht durch das Laub der Bäume. Ist es ein Déjà-vu? Denn das, was sie jetzt zu vergessen drohen und was vor sechzig Jahren begann, nahm hier seinen Anfang: ihr gemeinsames Leben. In ihrem neuen Roman dreht Éliette Abécassis die Zeit zurück, Schritt für Schritt erzählt sie die Geschichte von Alice und Jules vom Ende bis zum Anfang. Alter, Routine, Affären, Eifersucht, Eltern werden, Heirat, Leidenschaft: All das haben die beiden vor der Kulisse von Paris und den großen historischen Umbrüchen der letzten Jahrzehnte miteinander erlebt. Dieses hoffnungsvolle und zärtliche Buch fragt, wie Liebe bestehen kann und was uns zusammenhält.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 191

Veröffentlichungsjahr: 2024

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Éliette Abécassis

Bevor wir uns vergessen

Roman

Aus dem Französischen von Kirsten Gleinig

Die Originalausgabe erschien 2023 unter dem Titel Un Couple im Verlag Bernard Grasset, Paris.

 

Deutsche Erstausgabe © der deutschsprachigen Ausgabe:

2024 Arche Literatur Verlag, ein Imprint der Atrium Verlag AG, Zürich

© 2023 Éditions Grasset & Fasquelle

Alle Rechte vorbehalten

Covergestaltung: Designbüro Lübbeke Naumann Thoben, Köln

Coverabbildung: Fotografie von © CHRISTER STRÖMHOLM/STRÖMHOLM ESTATE

 

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

 

ISBN978-3-03790-152-6

 

www.arche-verlag.com

www.facebook.com/ArcheVerlag

www.instagram.com/arche_verlag

Für Ethan, der den Anstoß zu diesem Buch gab.

Paris, Mai 2022

»Darf ich mich zu Ihnen setzen?«

 

Der alte Mann starrt auf die Bank, wo die Frau aufrecht sitzt, sie hat eine Hand auf ihren Stock gestützt und sieht ernst aus; versunken schaut sie Richtung Horizont.

 

Sie wendet sich ihm zu, um ihn zu betrachten: Er sieht gut aus mit dem grau melierten, zurückgekämmten Haar, das noch voll ist für sein Alter. Sein Lächeln bringt das kantige, ausgemergelte Gesicht zum Strahlen, seine Haut ist übersät mit kleinen Flecken, und er hat tiefblaue Augen; das rechte hat einen ernsten, würdevollen Ausdruck, das linke ist fröhlich.

»Gern, Monsieur, setzen Sie sich.«

 

Er nickt ihr zu, betrachtet ihre hohen Wangenknochen, den rot geschminkten Mund, die dünne Pergamenthaut und die faltigen Hände, auf denen die Adern hervortreten. Sie lächelt ihn wohlwollend an.

 

Ihre Haare sind kunstvoll gelegt, als käme sie gerade vom Friseur, sie trägt eine leichte Hose und dazu ein beigefarbenes Woll-Twinset. Sie versucht, sich gerade zu halten und ihren krummen Rücken aufzurichten. Zierlich, dünn und wackelig, wie sie ist, wirkt sie, als würde sie sich gleich vornüberbeugen wie Schilfgras.

 

Sie sind im Jardin du Luxembourg: Hier kommt sie gern her, immer an dieselbe Stelle, rechts vom Wasserbecken, neben den Reihen mit den grünen Stühlen.

 

Wieder schaut sie geradeaus, ganz konzentriert. Ihr Gesicht, in das die Zeit sich eingeschrieben hat, ist durchfurcht von tiefen Falten und nimmt erneut den ernsten Ausdruck an, als wartete sie auf etwas oder jemanden.

Ganz allein ist sie von zu Hause aufgebrochen, ist die Rue Lhomond hinaufstiegen und die Rue d’Ulm hinunter bis zum Pantheon, dann ist sie die prächtige Rue Soufflot entlanggegangen bis zum Jardin du Luxembourg, bevor sie sich auf die Bank gesetzt hat, wo sie sich gern ausruht und träumt, mit Blick auf das Becken, auf dem die kleinen, von den Kindern ferngesteuerten Boote fahren. Hier dämmert sie vor sich hin, denkt nach und taucht in ihre Erinnerungen ab. In ihrer Jugend hat sie die breite Allee genommen, um zur Sorbonne zu gelangen, wo sie studierte, zu den feministischen Treffen in den Cafés im Quartier Latin und abends in die Jazzklubs in Saint-Germain.

Sie schaut auf und betrachtet interessiert den Mann, der neben ihr Platz genommen hat. Er ist elegant gekleidet, trägt ein weißes Hemd unter einem Pullover mit V-Ausschnitt und eine beige Leinenhose: helle, zurückhaltende Farben an diesem Vormittag im Frühling, der Licht bringt und in dem die Tage länger werden.

Paris bereitet sich auf die Gedenkfeier zum Tag der Befreiung vor. Viele sind an diesem Feiertag weggefahren, und sie mag das Gefühl, das die leere Stadt in ihr weckt: Sie hat viele Sommer erlebt, in denen die brütend heißen Straßen vollkommen still waren. Das ist lange her, damals, als die Jahreszeiten noch Jahreszeiten waren, als sie noch nicht so schnell vergingen, noch nicht ineinander übergingen.

Sie sitzen ungelenk nebeneinander, bewegen sich müde und scheinen ganz woanders, in ihrer eigenen Welt zu sein, ein eingefrorenes Lächeln auf den Lippen. Sie strengen sich an, präsent zu sein, aber da sie nicht mehr gut sehen und hören, erscheint ihnen alles langsamer – ein Zeichen dafür, dass die Realität sich nach und nach entfernt, und damit auch das Leben.

Er wendet sich ihr zu und lächelt, traurig und verzweifelt. Sie schaut ihn an, verwirrt. Warum hat er einen blauen Fleck unter dem linken Auge?

Seine Herzschwäche macht ihm das Leben schwer. Er ist auf dem Wohnzimmerteppich ausgerutscht. Stundenlang lag er so, und niemand war da, um ihm aufzuhelfen. Nach diesem Sturz hatte er wund gelegene Stellen, und seither bewegt er sich nur langsam. Er tut sich schwer mit dem Gehen wegen der Arthrose. Manchmal vergisst er sie und pest durch den Flur, als hätte er es eilig, und dabei ist er ins Stolpern geraten. Er ist der Länge nach hingeschlagen, hat sich den Kopf an der Ecke des Couchtisches gestoßen und eine Narbe davongetragen, mit der er wie ein Pirat aussieht, wie ein Matador. Seitdem kommt eine häusliche Pflegekraft, aber er mag es nicht, wenn andere seinen Körper berühren, der schwer, behäbig und träge geworden ist trotz seines robusten Körperbaus und der vom Schwimmen kräftigen Muskulatur.

Er hört nicht gut, die Batterien des Hörgeräts sind immer zu schnell leer, und manchmal werden sie nicht rechtzeitig ausgewechselt: Darum überraschen ihn dann die Geräusche, die mit einem Mal so überdeutlich sind, sie kommen als ohrenbetäubender Lärm bei ihm an, dem er schließlich die Stille vorzieht. Außer wenn er fernsieht, vollkommen gefesselt von den unzähligen Nachrichtensendern, die für ihn wie ein Fenster zur Welt sind, zu jener Welt, zu der er keinen rechten Zugang mehr hat – abgesehen von seinen Erinnerungen: Erinnerungen, die er gern heraufbeschwört, aus jener Zeit, als er mit seinen Projekten die Welt mitbaute und sie bewohnbarer machte. Eine Schule, ein Rathaus, ziemlich viele Häuser, Wohnungen und zahlreiche Modernisierungen. Und diejenigen, die nie Gestalt annehmen werden: die Hotels in Island und Südamerika, Villen ganz aus Glas, exzentrische Türme, die er mit dem Bleistift auf seinem Reißbrett entwarf.

Sie spitzt die Ohren: Auch sie hört nicht mehr sehr gut, aber aus Eitelkeit weigert sie sich, Hörgeräte zu tragen. Architekt, ein schöner Beruf. Wie denkt er sich seine Häuser aus? Hat er Visionen? Woher nimmt er seine Inspiration? Mag er das Bauhaus?

Sie unterbricht sich, als ihr Telefon klingelt. Ganz langsam holt sie es aus ihrer kleinen roten Ledertasche, greift nach ihrer Brille und setzt sie auf, um auf die Taste zu drücken und den Anruf entgegenzunehmen. Wo bist du? Ich mache mir Sorgen, ich habe dich mehrmals angerufen, aber du bist nicht rangegangen. Du weißt genau, dass du nicht allein nach draußen gehen sollst.

Sie seufzt und schaut in den Park. Ein leichter Wind lässt die majestätischen, exotischen Bäume rauschen und die riesigen Sequoias, die ihn wie ein jahrhundertealtes Dach beschatten. Ein Sonnenstrahl bricht durch das Laubwerk. Die Luft ist mild, man könnte meinen, man wäre auf dem Land. Sie legt auf und steckt das Handy und die Brille mit größter Vorsicht zurück in die Tasche.

»Das war mein Sohn«, erklärt sie. »Er ruft mich zehnmal am Tag an. Als er klein war, hat er hier gespielt. Er konnte sich stundenlang beschäftigen, nur mit ein paar Steinen. Manchmal hat er sie sich in den Mund gesteckt, eines Tages wäre er beinahe erstickt, mein Mann hat ihn mit dem Heimlich-Manöver gerettet.«

Ihr Mann … es war hier, wo sie ihm gesagt hat, dass sie mit dem zweiten Kind schwanger war. Er ist nicht gerade vor Freude in die Luft gesprungen. Und dort, beim Wasserbecken, haben sie sich zum ersten Mal geküsst. Und auf dieser Bank haben sie sich an einem Nachmittag im Mai kennengelernt. Deshalb geht sie gern in diesen Park.

Sie streicht sich mit der Hand durchs Haar, um es zu bändigen, und schaut ihn dabei ernst an.

»Es ist so traurig«, sagt sie.

»Was?«

»Mein Leben fehlt mir. Mein altes Leben.«

»Welches Leben?«

»Das Leben, das ich mit meinem Mann und meinen Kindern hatte. Ich habe den Eindruck, alles ist leer. Ich empfinde das als Ungerechtigkeit.«

»Darin liegt keine Ungerechtigkeit: Ungerecht wäre es, gegen die Zeit anzuleben.«

Sie antwortet nicht. Er fragt sich, ob sie ihn überhaupt gehört hat. Er sagt es noch einmal, lauter jetzt, sie zuckt zusammen, dreht den Kopf und schaut ihn an.

»In meinem Kopf bin ich zwanzig Jahre alt«, murmelt sie.

»Ja und, sind Sie denn nicht zwanzig Jahre alt?«, fragt er lächelnd.

»Beinahe neunzig. Und Sie?«

»Genau wie Sie.«

»Wir sind alt, nicht wahr?«

»Weniger alt als zu der Zeit, in der wir es nicht waren …«

Plötzlich ist ein Klingelton zu hören, es ist die Melodie von L’Été indien von Joe Dassin. Dieses Mal ist er es, der in seiner Tasche nach dem Handy kramt. Aber er nimmt nicht rechtzeitig ab, und das Lied bricht ab.

»Das war bestimmt meine Tochter«, murmelt er. »Ich glaube, sie wartet auf mich.«

Auf einmal schaut er sie besorgt an.

»Darf ich?«

Er traut sich, ihre Hand zu nehmen, ganz behutsam. Er hält sie einige Sekunden, bevor er sie an die Lippen führt, und für einen Moment schließt er die Augen.

Dann sagt er unvermittelt zu ihr:

»Ich habe auch eine Frau geliebt. Als ich ihr begegnet bin, habe ich ihr sofort vorgeschlagen, mich zu heiraten. Ich kannte sie nicht, ich wusste nicht, wo sie wohnte, also habe ich ihr einen Brief geschrieben …«

Seine Hände werden unruhig, und zittrig holt er aus seiner Umhängetasche einen alten, abgenutzten Briefumschlag hervor, grau und zerschlissen, aus dem er ein doppelt gefaltetes, vergilbtes und mit einer zierlichen, geneigten Schrift bedecktes Blatt zieht – das er ihr reicht und das sie aufgeregt entgegennimmt.

Dann stützt er sich auf der Bank ab, um aufzustehen, fällt beinahe hin und verabschiedet sich von ihr, indem er den Kopf neigt.

»Adieu, Madame«, sagt er. »Es war mir eine Freude, Ihre Bekanntschaft zu machen.«

Dann geht er langsam davon, mit zögerlichem Schritt.

Sie blickt ihm nach, während er sich auf der breiten Allee in Richtung Parkeingang entfernt.

»Bis bald«, murmelt sie mit Tränen in den Augen.

Port-des-Barques, August 2018

Auf der Terrasse des kleinen, an der Atlantikküste gelegenen Grundstücks liest Jules den Brief noch einmal. Er hat ihn in der Schublade des Schreibtischs gefunden, den er sich mit seiner Frau teilt: den Brief, den er ihr direkt nach ihrer ersten Begegnung geschrieben hat, im Mai 1955. Das dicke Papier hat der Zeit standgehalten, seine etwas geneigte Schreibschrift mit den ineinanderfließenden Buchstaben ist noch gut lesbar. Ein Lächeln auf den Lippen, liest er den Brief, als wäre es das erste Mal, und ist überrascht, wie ergriffen er so viele Jahre später davon ist und auch wie anmaßend er war, als er ihn schrieb. Er schaut ihn sich ganz genau an, um herauszufinden, welche sichtbaren Spuren die Zeit darauf hinterlassen hat, betrachtet die verblassende Tinte, die Striche und Rundungen, rät manche Wörter, die kaum noch zu entziffern sind, streicht über das vergilbte Papier, hält es gegen das Licht mit seinen gefleckten, verlebten Händen. Er findet, dass dieser Brief nicht gealtert ist, auch wenn er ihn vor Schmerzen nur schwer festhalten kann, und dabei überkommt ihn der Gedanke an den Tod. Seine Gliedmaßen machen ihm zu schaffen. Lauter Wehwehchen schränken seine Freiheit ein. Alice pflegt ihn, und er verlässt sich auf sie, Tag für Tag. Sie ist es, die die Medikamente abzählt und sie ihm jeden Morgen verabreicht: Er weiß noch nicht einmal, was er einnimmt, er kennt weder die Namen noch die Dosierung. Sie vereinbart die Arztbesuche, die Termine bei der Krankengymnastik, beim Friseur, beim Augenarzt, beim Gastroenterologen, ebenso wie die Treffen mit Freunden und der Familie und alles andere in seinem Alltag. Seit er in Rente ist, überträgt er ihr sein ganzes Leben: Inzwischen ist sie seine Mutter, seine Schwester, seine Freundin, seine Ärztin, seine Krankenschwester, seine Pflegekraft, seine Psychiaterin, seine Köchin und seine Privatsekretärin.

Ihr Haus in der Charente-Maritime ist ein moderner Bau mit weißen Mauern und einer großen Glasfront zum Meer, dessen Farben sie gern von morgens bis abends bewundern, egal ob bei Gewitter oder schönem Wetter, vom dunkelsten Grau bis zum kristallklarsten Blau. Sie sind hierhergezogen für den Ruhestand, nachdem Jules das Haus nach seinen Plänen hat bauen lassen, so, wie er es sich vorgestellt hatte, lichtdurchflutet und mit klaren Linien. Sie haben ihre Wohnung in Paris vermietet, haben eine kleine Bleibe im Quartier Latin gekauft, ihre Sachen, ihre Bücher, ihre Kleidung und ihre Gewohnheiten mitgenommen, um sich im Nirgendwo niederzulassen, an diesem abgelegenen Ort, den Jules während einer Reise aufs Land entdeckt hatte. Hier leben nicht viele Menschen, und im Winter kann der Ort manchmal durchaus trostlos erscheinen, aber ihnen gefällt es hier, sie machen Einkäufe und Ausflüge auf die Île de Ré und lange Spaziergänge an der Küste entlang, zur Westspitze mit dem Leuchtturm, dem Phare des Baleines, wo einem der Wind vom offenen Meer direkt ins Gesicht weht, ein Fleckchen Erde, das Jules sehr gefällt.

Alice hat sich schließlich an dieses Leben gewöhnt. Sie mag die Sonnenuntergänge in den verschiedenen Rot-, Gelb- und Violetttönen, wenn der Himmel am Ende des Tages in Flammen aufgeht, als würde eine Feuerkugel im Ozean versinken. Sie kann stundenlang vollkommen versinken, während sie diese atmosphärische Schönheit betrachtet, die sich erst zur Dämmerung zeigt, und sie malen. Hier, an diesem erstaunlichen, fast traumgleichen Ort, hat sie damit begonnen, Familienfotos und -dokumente zu sammeln, um ihren Stammbaum zu erstellen. Jetzt, wo sie Zeit dafür hat, vertieft sie sich, ausgehend von Ortsnamen, Personendaten, Heiratsurkunden, Familiendokumenten und alten Fotografien, völlig in die Recherche, wobei sie auf Webseiten zur Ahnenforschung zurückgreift, die es im Internet zuhauf gibt. Wie eine Detektivin führt sie eine Ermittlung zu ihrer Abstammung: Es ist ihr gelungen, ihren Stammbaum über fünf Generationen hinweg zu rekonstruieren. Sie ist die Tochter von Alexandre Edelman, Literaturprofessor, und Clara Aron, Geigerin. Ihre Eltern sind die Kinder von Moïse und Colette Edelman beziehungsweise Étienne und Judith Aron und die Enkelkinder von Richard und Alice Edelman, Isidore und Simone Dreyfus aus Phalsbourg in Lothringen. Unter ihren Vorfahren stößt sie auf einen Stoffhändler, der während der Napoleonischen Kriege für die Armee arbeitete, einen Geschäftsmann oder »Geschäftemacher«, wie man damals sagte, einen lothringischen Süßwarenfabrikanten, einen polnischen Viehverkäufer und sogar einen Minister, der Pädagoge und Generalinspekteur der Armee war und der die Gründung der École normale supérieure in Fontenay-aux-Roses mitvorangetrieben hat, um Lehrerinnen auszubilden.

Warum die Vergangenheit rekonstruieren?, fragt Jules. Wozu soll das gut sein? Mein Gedächtnis funktioniert nicht mehr so wie früher, am liebsten würde ich die Zeit aufhalten und das Gefühl, dass sich alles verflüchtigt, und durch meine Vorfahren möchte ich die Toten wieder zum Leben erwecken. Kennst du eigentlich deine Familiengeschichte? Anhand von Heirats- und Geburtsurkunden versuche ich, die Schlüsselmomente herauszufiltern, in denen sich das Schicksal wendet, die Punkte, an denen sich die Konstellationen des Lebens verändern und die sonst häufig unbemerkt bleiben. Manchmal spüre ich die Art von Überdruss, die typisch für das Alter ist, und dann erinnere ich mich an meine Jugend. Ich schaffe es, die Angst zu verjagen, die mich lähmt, und das ständige Gefühl, hinter meinem Leben herzurennen, und dabei stellt sich das flüchtige Glück ein, das mich erfasst, wenn die Zeit stillsteht. Und in dieser neuen Lebensphase habe ich das starke Bedürfnis, etwas Unvergängliches von mir weiterzugeben, das sich nur über die Vergangenheit vermittelt. Bei der Ahnenforschung stelle ich mir grundsätzliche Fragen, Fragen zum Leben an sich und wie es entsteht und vergeht. Ich dagegen ziehe das Alleinsein vor, ich bin gern am Ende der Welt in einem kleinen Häuschen, da fühle ich mich am freiesten, denn ich bin von nichts und niemandem mehr abhängig und auch nicht von dieser seltsamen Welt, deren Eigenarten ich beobachte, seit ich in Rente bin. Aber wirklich existieren, ich weiß nicht, ob ich dazu noch in der Lage bin. Dafür müsste man intensiv leben, und ich glaube, dass mir dazu inzwischen der Mut fehlt. Ich hatte dir gesagt, ich würde dir helfen. Aber ich fühle mich unbehaglich mit den ganzen Toten. Wer von all den Personen ist überhaupt noch lebendig? Und bin ich es deiner Ansicht nach? Erinnerst du dich an die Schlafcouch in unserer kleinen Wohnung in der Rue Mouffetard, wo wir gelacht und geweint und von Luft und Liebe gelebt haben? Ich schlüpfte neben dich und flüsterte dir ins Ohr, dass ich dich schön finde. Sehr schön mit deinem dunklen Haar, das dir glatt auf die Schultern fiel, deinen Rehaugen und deinem süßen Duft nach Vanille und lieblichen Blumen.

 

Wenn sie jeden Tag zusieht, wie der Horizont sich purpurrot färbt und der Himmel seine schönsten Kleider anlegt, wie um einem himmlischen Maler eine ganze Farbpalette darzubieten, und in Erstaunen und Entzücken gerät, zwei kindliche Eigenschaften, die sie trotz ihres Alters nicht eingebüßt hat, dann erinnert Alice sich schließlich wieder an ihre Jugend. Ihr Gesicht, das die Sonne gebräunt und mit Altersflecken übersät hat, entspannt sich, ihre Züge werden weich, und sie ist glücklich. So sitzt sie da, mit den schmalen, von einem Schönheitsfleck betonten Lippen, den braunen Augen, der zierlichen Nase, den dichten Augenbrauen und darüber den dunklen, kurz geschnittenen Haaren mit Pony, wie ein Helm. Sie bewegt sich langsam, wie ein Schatten, und hinterlässt dabei den lieblichen Duft ihres Parfums, das sie seit jeher trägt. Unter einem Strohhut, den sie sich fest ums Gesicht schnürt, damit der Wind ihre Frisur nicht durcheinanderbringt, verharrt sie stundenlang und betrachtet den Horizont und die dahintreibenden Boote, und gedankenverloren lächelt sie, wenn ihr der eine oder andere Augenblick in den Sinn kommt. Es sind immer dieselben, an die sie sich erinnert, ein paar Tage in Neapel oder auf Capri während ihrer Hochzeitsreise, ein Aufenthalt in Venedig, eine Zweizimmerwohnung in der Rue Mouffetard, Kinder, die im Garten spielen, wie Momentaufnahmen, die sich überlagern, oder Fotos, die man wiederfindet, Bilder in einem Kaleidoskop, die zusammen den Film ihres Lebens ergeben.

Im Sommer geht sie bei Flut schwimmen und entfernt sich von der Küste, als wollte sie den Atlantik überqueren, während Jules sie besorgt mit abgeschirmten Augen beobachtet. Manchmal verharrt er eine ganze Stunde so und hält Ausschau nach ihr, während sie aufs offene Meer schwimmt. Immer stellt er sich das Schlimmste vor. Er kann nicht umhin, es zu tun. Plötzlich sieht er sie nicht mehr, und er gerät in Panik. Sein Herz fängt erst wieder an zu schlagen, wenn er sie endlich entdeckt. Er macht ihr Zeichen, damit sie umkehrt, aber sie entfernt sich weiter, allein, wie um ihre Kraft und ihre Freiheit unter Beweis zu stellen. Sie hat währenddessen das erhebende Gefühl, irgendwo zwischen Himmel und Erde zu sein, schwerelos. Jedes Mal, wenn sie zurückkommt, begrüßt er sie überschwänglich und erleichtert, als wäre sie einer großen Gefahr entgangen. Trotzdem gibt er sich Mühe, ihr nicht zu zeigen, dass er Angst um sie hatte, fürchterliche Angst.

 

Mehrmals im Jahr besuchen ihre Kinder oder Enkelkinder sie in Port-des-Barques. Seit seiner Scheidung verbringt ihr Sohn Alexandre den gesamten August mit seinen Töchtern bei ihnen. Dank Social Media hat er seine Jugendliebe wiedergefunden, die junge Frau, die er während des Studiums im Hörsaal kennengelernt hatte. Über Weihnachten und Ostern kommt ihre Tochter Émilie. Sie lebt mit ihrem Mann und den drei Kindern in London, in Soho, wo die Besuche ihrer Eltern immer seltener werden. Jules traut sich nicht mehr zu reisen, sodass Alice schließlich allein und dann gar nicht mehr hingefahren ist. Es ist weit, zu kompliziert und bringt sie, die inzwischen am liebsten zu Hause bleibt, durcheinander.

 

Clara und Léa, ihre Enkeltöchter, interessieren sich nicht für märchenhafte Sonnenuntergänge an der Küste, außer wenn es darum geht, eine Story dazu zu posten mit glatten, langen Haaren, von falschen Wimpern umrahmten Augen, rosa geschminkten Lippen und einem breiten Lächeln, das ihre weißen und dank jahrelanger Kieferorthopädie perfekt aufgereihten Zähne zeigt, wobei sie ein umgedrehtes Victory-Zeichen mit ihren Fingern samt rosa lackierten Nägeln machen.

Auf das Wohnzimmersofa gelümmelt, beugen sie sich, die Kopfhörer in den Ohren, über ihre Handys. Auf dem Tisch daneben hat Jules seinen Computer platziert, den er von Zeit zu Zeit anschaltet, um nach seinen E-Mails zu sehen und Online-Zeitungen zu lesen, insbesondere die von ihm und einem Kollegen gegründete Zeitschrift für moderne Architektur. Dank Skype kann er mit seinem Sohn sprechen, der ihn täglich anruft, seit er die Firma übernommen hat und erfolgreich an der Mediathek arbeitet, die Jules selbst nie geschafft hat fertigzustellen. Auf dem Schreibtisch im Wohnzimmer steht eine hübsche Art-déco-Lampe mit einem Fuß aus Zinn und einer Kugel aus weißem Glas – ein Geschenk von Jules an Alice, das er nach langem Suchen auf einem Trödelmarkt gefunden hat und ihr triumphierend an einem Sonntag im Juni zum Muttertag mit nach Hause gebracht hat. Seither macht sie sie jeden Abend an und freut sich über das sanfte Licht, das die Lampe im Zimmer verbreitet.

 

Clara öffnet eine neue Dating-App, um die Unterhaltung fortzusetzen, die sie tags zuvor begonnen hat, und ihrem Match zu schreiben.

»Was machst du beruflich?«

»Reisen … Ich bin Pilot.«

»Hammer! Hältst du das gut durch? Das ist bestimmt ein ziemlich irres Leben, oder? Langstrecke oder Kurzstrecke?«

»Beides. Jetzt zum Beispiel fliege ich gleich nach Berlin.«

»Geschieden mit Kind, wie ich sehe.«

»Ja, ich habe ein Kind und führe ein Doppelleben, mit dem ich rundum zufrieden bin. Jedes zweite Wochenende bin ich mit Leib und Seele Papa, und unter der Woche bin ich Single, ich mag die Abwechslung. Das ist perfekt! Du hast Kinder und gleichzeitig Spaß.«

»Mit wem schreibst du dir da?«, fragt Alice, die den Chat neugierig über die Schulter ihrer Enkelin verfolgt.

»Mit jemand, den ich nicht kenne.«

»Bist du dafür nicht ein bisschen jung?«

»Das ist nur zum Spaß, Mamy. Ich treffe ihn nicht in echt.«

»War es gut in Berlin?«

»Voll, ich war auf Afterhours in verschiedenen Bars.«

»Berlin«, murmelt Alice. »Weißt du eigentlich, dass ich beim Mauerfall 1989 dort war?«

»Was hast du da gemacht, Mamy?«

»Und was machst du?«

»Ich habe damals eine Reportage für eine Zeitung gemacht. Das war eine Zeit, in der alles kippte. Das Ende einer Ära. Der ganze Ostblock brach zusammen! Zwei Jahre später gab es die UdSSR nicht mehr.«

»Ich bin Journalistin.«

»Und Papy, war er zusammen mit dir dort?«

»Nein. Er hat gearbeitet.«

»Für welche Zeitung?«

»Für welche Zeitung hast du gearbeitet, Mamy?«

»Für den Nouvel Économiste.«

»Nouvel Économiste.«

»Gibt’s den noch?«

»Und Papy, ist der auch gereist?«

»Eine Zeit lang ja. Papy war viel außerhalb von Paris unterwegs für seine Projekte.«

»Sag mal, Mamy«, schaltet Léa sich ein, »wie alt warst du, als du Papy kennengelernt hast?«

»Achtzehn.«

»Das ist jung!«

»Damals galten noch andere Konventionen. Er hat mich gefragt, ob ich ihn heiraten will, bevor er mich geküsst hat.«

»Und zwar sofort, als ich sie zum ersten Mal gesehen habe«, ergänzt Jules.

»Aber ihr habt doch den Mai 68 miterlebt, oder, Mamy?«, fragt Clara weiter. »Das muss der Wahnsinn gewesen sein!«

»Ja. Wir haben gekämpft. Papy war Trotzkist und ich Feministin.«

»Hast du Lust zu facetimen, Clara?«

»Wart ihr für die sexuelle Revolution, Papy und du?«

»Wir waren … wie alle anderen. Na ja, ich war dafür. Ich war bei der Demonstration im November 1971 dabei, beim großen Marsch, um die Ketten zu zerschlagen, mit denen die Frauen gefesselt waren. Wir haben das Recht auf Abtreibung und den Zugang zu Verhütungsmitteln gefordert. Die Leute auf der Demo haben eine Kirche gestürmt, in der gerade eine Hochzeit stattfand, um das Ganze zu stoppen. Alle schrien: Hochzeit ist Verarschung! Drei Jahre später hat Simone Veil das Gesetz zur Legalisierung von Abtreibung zur Abstimmung gebracht.«