Eine unwahrscheinliche Begegnung - Éliette Abécassis - E-Book

Eine unwahrscheinliche Begegnung E-Book

Eliette Abécassis

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Beschreibung

Kann ein einziger Augenblick das gesamte Leben verändern? Éliette Abécassis erzählt lebensklug und pointiert von einer ganz besonderen Begegnung: Zwei Fremde stürzen sich Hals über Kopf in ein kurzes, alles veränderndes Treffen. Ein berührender und lange nachhallender Roman über die Liebe und den Zufall, unterschiedliche Lebenswelten und den Mut zu großen Entscheidungen. Irgendwo in Frankreich fährt ein Zug durch die Landschaft. Darin sitzen eine Frau, versunken in Gedanken an ihren Freund, den sie schon lange verlassen will, und ein junger Mann, der weder eine Fahrkarte noch eine Aufenthaltsgenehmigung besitzt. Als an einem Bahnhof alle Reisenden aussteigen, hilft er ihr mit dem Koffer – und sie hilft ihm kurzentschlossen, sich vor der Polizei zu verstecken. Die beiden bleiben am Gleis zurück und merken schnell, dass sie sich zueinander hingezogen fühlen. Doch ihre Leben und Hoffnungen könnten unterschiedlicher nicht sein. Éliette Abécassis erzählt vom Aufblitzen einer Liebe und von der Sehnsucht nach einem anderen Leben. Die zentrale Frage dieses Romans haben wir uns alle schon einmal gestellt: Kann ein einziger Augenblick alles verändern?

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Seitenzahl: 115

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Éliette Abécassis

Eine unwahrscheinliche Begegnung

Aus dem Französischen von Kirsten Gleinig

Die Arbeit der Übersetzerin am vorliegenden Text wurde vom Deutschen Übersetzerfonds gefördert.

 

Die Originalausgabe erschien 2003 unter dem Titel Clandestin bei Éditions Albin Michel.

 

ISBN978-3-03790-146-5

 

Deutsche Erstausgabe

© der deutschsprachigen Ausgabe 2022 Arche Literatur Verlag AG, Zürich–Hamburg

© Éditions Albin Michel – Paris 2003

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Nina Hübner

 

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

 

ISBN978-3-0379-0146-5

 

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Für A., an jenem Tag auf dem Bahnsteig

Er stieg aus. Schaute nach rechts und links. Sah niemanden. Keinen Schaffner. Keine Polizei. Er beschloss zu warten, ohne genau zu wissen, was er sagen würde.

Ein paar Fahrgäste kamen heraus. Sie warfen ihm flüchtige Blicke zu. In ihren Augen sah er, dass er anders war. Ziemlich groß, braune Haare, blaue, stechende Augen, hohe Backenknochen, hohle Wangen. Er sah eigenartig aus. Ein weißes Hemd mit Kläppchenkragen und eine schwarze Hose verhüllten seinen muskulösen Körper – elegante Kleidung, aber ungewöhnlich für August.

Sie stieg aus dem Zug. Flink und trittsicher auf den Stufen. Sie schaffte es nicht, den Koffer herunterzuheben, der zu schwer für sie war. Niemand half ihr.

Er trat auf sie zu. Geschmeidig nahm er das Gepäckstück heraus und stellte es auf den Boden.

 

Warum fühlt man sich von einem Gesicht angezogen? Warum hefteten sich seine Augen ausgerechnet auf diese Frau? Sie war nicht sonderlich schön. Hatte etwas Merkwürdiges, etwas Verstörendes an sich, das seine Aufmerksamkeit erregte. Etwas, das für ihn bestimmt war. Ein Zeichen, das von woanders herkam, aus einer fernen, uralten Zeit, deutlich genug, dass er es im Getöse hören konnte, und doch so schwach, dass es für die Ohren anderer Menschen nicht wahrnehmbar war.

Sie bedankte sich mit einem Nicken. Sie hatte Augen dunkel wie ein Traum.

Ein sommerlicher Windstoß, der warme Wind der Stadt, versetzte ihr Kleid in Bewegung. Die Luft fuhr in den dichten, beinahe harten, aufgeplusterten Leinenstoff.

Da sagte er sich, dass er sie bis zum Ende des Bahnsteigs in seinen Bann ziehen musste.

Er hatte sie einsteigen sehen, aber sie hatte ihn nicht bemerkt. Er schaffte es kaum, sie nicht anzuschauen. Sah ihren Blick, weniger die Farbe ihrer Augen. Er mochte ihre Art zu gehen. Sie war ihm vertraut.

Er war allein. Es hatte ihn in den Süden verschlagen, beinahe zufällig. Nun fuhr er in die Hauptstadt zurück, so schnell wie möglich. Er hatte eine Verabredung um Mitternacht vor dem Bahnhof. Er durfte nicht zu spät kommen.

Er sah aus dem Fenster.

Am Himmel zeichneten sich noch violette Streifen ab. Auf den Schienen nahm der Zug den Weg zwischen Wasserläufen, raste dahin, folgte der vorgegebenen Route.

Er war schon so lange unterwegs, schon immer, schien es. Ständig im Aufbruch begriffen. Er mochte die Pausen, wenn die Welt ruhig wirkte, vom Zug aus gesehen. Das Leben wurde zahm. Das Leben, das einen unwillentlich mit sich reißt, je nachdem, was gerade geschieht, und das manchmal, für die Dauer einer Zugfahrt, angenehm sein kann, wenn man sich einfach wiegen lässt, ohne etwas zu tun.

Er musste sie wiedersehen. Wieder in ihre Nähe gelangen. Sie konnte nicht weit weg sein.

Ohne noch länger zu warten, stand er auf. Steuerte auf den nächsten Wagen zu.

Als er ihn betrat, saß sie ihm zugewandt. Ihr helles Haar zu einem Knoten hochgesteckt. Ihre Augenlider gesenkt, als schliefe sie. Ihre Züge waren eben. Ihr weißes, makelloses Kleid stach zwischen all den grauen und schwarzen Anzügen hervor. Sie saß ruhig da. Ihr leicht geneigter Oberkörper ließ den Ansatz ihrer Brüste erkennen. Er hatte Lust, sie anzufassen, die Hände auf sie zu legen, auf ihre Schultern, auf ihren Körper, sie zu berühren.

Er sah den freien Sitz gleich vorn im Wagen.

In der ersten Klasse gab es noch Plätze, mehr als in der zweiten, wo die dicht gedrängten Reisenden es sich so bequem wie möglich machten und die vorbeiziehende Landschaft betrachteten.

Hier saßen überwiegend Männer, die Akten bearbeiteten. Manche führten, das Handy am Ohr, lange Gespräche über Geschäftsbilanzen, Sitzungen, die Finanzkrise, über Märkte und die Börse. Sie sprachen laut. Man hörte deutlich, was sie sagten.

Er betrachtete sie unauffällig. Er musste sie beobachten, so viel wie möglich über sie erfahren anhand ihrer Gesten, ihres Ausdrucks, ihrer Gesichtszüge. Er lauerte auf ein Zeichen, eine Zäsur, einen Hinweis, damit er sie ansprechen konnte. Inmitten des Stimmengewirrs las sie. Ihre Augen flogen über den Text, ohne zur nächsten Seite zu wechseln. Es schien kein Zeitvertreib für sie zu sein. Sie las nicht wie jemand, der sich einer Geschichte vollkommen hingibt. Sie sah auf den Text, um ihn aufzusaugen, ihn auswendig zu lernen. Sie zwang sich zum Lesen. Er las Langeweile und Missmut in ihrer Miene.

Sie hob den Kopf. Ihre dunklen Augen verschlangen sein Gesicht. Es lag etwas Besonderes darin. Ein Schleier verhinderte, dass man in diesen Augen versank. Sie war unerreichbar.

Ein anderer Zug fuhr vorbei. Während die Züge sich kreuzten, wurde es einen Moment lang etwas dunkler. Ihr Gesicht spiegelte sich im Fenster. Sie wandte die Augen nicht ab. Ihre Blicke kreuzten sich flüchtig im Spiegel der Scheibe, dann trennten sie sich wieder.

Sie las weiter.

Er lächelte. Sie hatte ihn gesehen, endlich.

 

Vor ihm saß eine Mutter mit ihrem Kind, das laut vor sich hin schimpfte. Sie war um die vierzig: mittellanges, dunkelbraunes Haar, perfekt geföhnt, und ein aufgedunsenes Gesicht. Sie trug schwarze Kleidung, die auf schlichte, elegante Weise ihre Figur verhüllte.

Die Mutter war überfordert mit ihrem energiegeladenen Sohn. Das Kind war ebenfalls zu dick, zu wohlgenährt. Es machte Lärm. Es fragte nach Geschenken, nach seinem Taschengeld. Ein Kind, das äußerte, was Erwachsene durch Umgänglichkeit, Höflichkeit und Bildung verschleiern: das Streben nach Dingen und Geld. Das Kind tat alles, was seine Mutter ihm verbot, um Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, denn es war allein. Es breitete sich überall aus, um sein Revier abzustecken, wie ein König, ein Eroberer. Was würde es wohl später einmal machen? Welchen Beruf würde es ergreifen?

Als er den Blick von dem Kind abwandte, schaute sie ihn an.

Sein Herz machte einen Sprung. Er wollte ihr ein Lächeln schenken. Aber es war etwas anderes, das sich auf seinem Gesicht abzeichnete. Eine unendliche Traurigkeit.

Sie schaffte es nicht, sich auf die Lektüre einzulassen. Las immer wieder dieselbe Seite. Ihr Geist prallte an den Worten ab und schweifte in die Ferne, zu Gedanken, Erinnerungen, Fragen. Sie langweilte sich.

Sie betrachtete ihn erneut. Den Unbekannten, hinten im Abteil. Den Mann mit der würdevollen Stirn, dem ausgemergelten Gesicht, dem tiefblauen, intensiven, verwirrenden Blick. Er war schön.

Es gelang ihr nicht, sich zu konzentrieren. Sie musste sich den Text merken. Er war langweilig. Während des Studiums hatte sie ihr Gedächtnis trainiert. Manchmal vertrieb sie sich die Zeit damit, alle Schauspieler eines Films aufzuzählen oder alle Filme, die sie im Lauf des Jahres gesehen hatte. Das war gar nicht so einfach. Denn das Gedächtnis vergisst ständig, ordnet und verwirft, was es für unwichtig oder für zu wichtig hält. Das Leben geht weiter und gewinnt wieder die Oberhand. Das Leben mag das Gedächtnis nicht, das sich ihm in den Weg stellt. Das Gedächtnis behindert das Leben. Lässt das Leben erstarren, legt den Filter seiner unerbittlichen Wahrheit darüber. Es hindert am Handeln. Würde man sich an alles erinnern, gäbe es keine Überraschungen. Staunen entsteht aus Vergessen. Unglück auch.

 

Die zum Licht geneigten Köpfe der Sonnenblumen zogen mit voller Geschwindigkeit an ihr vorbei. Es war Sommer über den Feldern. Auch über dem kleinen Haus mit den drei Zypressen war noch Sommer. Sie hatte Urlaub. Allein war sie Wanderwegen gefolgt, vorbei an Brunnen, an goldenem Nebel über Weinbergen, an Gebäuden am Ende von Pfaden, im Gesang der Zikaden, mittags im grellen Licht oder um Mitternacht, weit weg von den Geräuschen der Stadt. In braunen Furchen inmitten von Bäumen, Blumen, Mohn, Lavendel und Lavendelduft. Im Halbdunkel hatte sie Gras brennen sehen und wie der Schäfer sich davonmachte … Das Gestein der Felsen und Berge, von Glyzinien überwucherte Dörfer, um vier Uhr nachmittags die Stille über Weinbergen und Hügeln, das Blaugrün der weiten Abenddämmerung.

Noch war Sommer, der Himmel klar, die Erde ockerfarben, die Berge warm, und über der kleinen Steinmauer beobachtete sie das flirrende Farbenspiel des Regenbogens im Dorf mit den verwitterten Gemäuern. Sie spazierte zwischen berankten Dachziegeln umher, über den Marktplatz voller großer Körbe, dann durch den Staub auf dem Weg, ein Schatten, der sich schwankend aus der Erstarrung löst, vorbei an den Steinbrüchen des Bergdorfes, erfüllt von einer seligen Klarheit. Sie fühlte sich allein.

 

Er betrachtete die Wölbung ihrer Schultern, ihre bloßen Arme, ihren Hals, ihre Haut. Die Haltung ihres Kopfes, ihren Mund, den Schwung ihrer Wimpern, ihr Kinn, noch einmal ihren Hals, ihre Schultern, ihre Brüste. Wieder hatte er Lust, zu ihr zu gehen, sie zu streifen, zu berühren. Unvermittelt schloss er die Augen angesichts der Bilder aus seiner Erinnerung und der Zukunftsvisionen, die ihn erschauern ließen und in extreme Spannung versetzten. Er öffnete die Augen. Er durfte keinen Fehler machen. Es war zu riskant, eine Unbekannte anzusprechen. Er brauchte eine Strategie. Zunächst musste er abwägen, wie seine Chancen standen. Schlecht. Er kannte sie nicht, wusste nichts über sie. Aber nicht gleich null, denn sie hatte ihn angesehen. Es bestand eine Möglichkeit. Er musste sie kennenlernen, bevor er sie ansprach, sie beobachten, ihre Zeichen lesen, herausfinden, wer sie war, abwarten, was sie von sich preisgab. Sie überraschen. Wortgewandt, einfallsreich und anregend sein. Stärke, Vertrauen, Vernunft, Ruhe und Beherrschung ausstrahlen.

 

Sie stand auf. Stürmte in seine Richtung.

Ein Duft im Gang erfasste ihn. Rose, Myrrhe und Sandelholz. Ein erlesener, flüchtiger Hauch, plötzliche Vertrautheit. Er zögerte, bevor er noch einmal Luft holte. Er hielt den Atem an.

Sie ging an ihm vorbei, wobei ihr Blick ihn streifte. Ihr Kleid wirbelte um ihre Beine. Die Männer beobachteten sie. Also war er nicht der Einzige, dem sie aufgefallen war. Der Gedanke gefiel ihm. Er grüßte sie im Vorbeigehen, indem er den Kopf ein wenig neigte, aber sie lief weiter, ohne seinen Gruß zu erwidern, gefolgt von ihrem Sitznachbarn, einem jungen Mann, der attraktiv und gut gekleidet war. Wer war er? Ein Kollege? Ein Bekannter? Ein Freund? Ihr Lebensgefährte? Ihr Verlobter? Vielleicht ihr Ehemann?

Rose, Myrrhe und Sandelholz – Düfte, die ihre Haut verströmte wie Atem und ihn in eine andere Welt beförderten: bekannt und unbekannt zugleich, archaisch und künftig, eine ruhige, friedliche Oberfläche, ein Brückenschlag zu einer Insel, eine windstille Nacht, die Milchstraße, ein unberechenbarer Ozean, der ihn überwältigte und überraschte.

Da kam sie auch schon zurück. Allein. Sie hielt einen Becher in der Hand. Er hatte die Gelegenheit versäumt, sie zum Speisewagen zu begleiten. Er ärgerte sich über sich selbst.

Der Zug schwankte ein wenig. Sie geriet ins Straucheln und verschüttete dabei Kaffee auf ihn. Sie murmelte: »Oh, das tut mir leid«, beugte sich hinunter und berührte ihn dabei ganz leicht, verstohlen, und er, er hatte sich verbrannt und wusste nicht, was er sagen sollte.

Hinter ihr war jemand. Sie musste weitergehen und sich wieder auf ihren Platz setzen.

 

Da begriff er. Die Erinnerung erfasste ihn zusammen mit dem Geruch ihres Parfums und belebte sein störrisches Gedächtnis, ganz mühelos. Er wusste wieder, wo er sie getroffen hatte.

Als er sie zum ersten Mal bemerkt hatte, trank er gerade einen Kaffee, um sich aufzuwärmen. Das hatte ihm gutgetan, ihm neue Kraft gegeben, als er fror, seinen Durst gestillt und den Schmerz in seinem leeren Bauch gelindert. Sie war ganz in seiner Nähe gewesen in der Kirche, und er hatte ihr Parfum gerochen, wie etwas, das nicht zu dieser Situation passte, eine Wohltat.

Er wusste weder, wer sie war, noch, warum sie ausgerechnet an jenem Tag gekommen war. Er hatte sie zuvor noch nie gesehen. Die Art ihrer Kleidung, ihr strenges Kostüm, ihre kühle, distanzierte Haltung, obwohl sie aufmerksam beobachtete, wer kam und ging, führten dazu, dass man sie trotz der vielen Menschen bemerkte. Nein, er hatte den kurzen Augenblick in der Kirche nicht vergessen, als dort die Angst herrschte.

Und sie, hatte sie ihn wiedererkannt?

Er strich sich mit der Hand über die Wange. Er hatte sich mehrere Tage lang nicht rasiert, sein Bart kratzte auf der Haut. Am Morgen hatte er unterwegs eine heiße Dusche genommen. Beinahe hätte er sich vom Lastwagenfahrer einen Rasierer geliehen, aber er hatte sich nicht getraut. Jetzt bereute er es. Er achtete auf sein Äußeres, selbst unter schwierigen Bedingungen ließ er sich nicht gehen. Er machte sich viele Gedanken darüber, wie er wirkte. Seit er unterwegs war, war er ständig mit dem Bild konfrontiert, das andere von ihm hatten.

Er hatte Erfolg bei Frauen. Schon sehr früh wusste er, dass er anziehend war. Er sah es in ihrem Blick. Sie musterten ihn, und er tat dasselbe mit ihnen. Er mochte sie. Er schmeichelte ihnen gern. Er mochte es, wenn sie ihm widerstanden. Er brachte sie gern zum Lachen, roch gern ihren Duft, betrachtete sie gern und forderte sie gern zum Tanzen auf. Er hörte ihnen zu. Sprach mit ihnen über ihr Leben. Sie schenkten ihm ihre bedingungslose Liebe. Er machte Gebrauch von dieser Macht. Missbrauchte sie. Aber das war in einem anderen Leben.

 

Sie kramte in ihrer Tasche, holte einen kleinen Beutel hervor und öffnete ihn. Rasch tupfte sie sich das Gesicht vor dem Spiegel ihrer Puderdose ab. Sie nahm einen Stift und fuhr damit über ihr Augenlid. Dann einen Lippenstift, den sie auf ihre ohnehin schon roten Lippen auftrug.

Sie betrachtete sich in dem kleinen Spiegel. Sie sah jetzt anders aus. Hatte ein Bild rekonstruiert. Ihr eigenes Bildnis geformt. Ihr Gesicht wie eine Leinwand bemalt. Sie hatte es verhüllt, aber er hatte es nackt gesehen.