Bianca Exklusiv Band 321 - Marie Ferrarella - E-Book

Bianca Exklusiv Band 321 E-Book

Marie Ferrarella

0,0
5,49 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

MEIN HERZ WILL ZURÜCK ZU DIR von CATHY MCDAVID
Nicht nur der Job hat sie nach Blue Ridge zurückgezogen. Das spürt Jolyn beim Wiedersehen mit Chase Raintree, ihrem Jugendschwarm. Wie damals sprühen die Funken zwischen ihnen. Doch durch eine Intrige scheint es, als ob Chase sich entscheiden muss: für seine Tochter oder für Jolyn …

UND PLÖTZLICH WIRD EIN MÄRCHEN WAHR von LAURA MARIE ALTOM
Die bildhübsche Emma hat das Leben von Jace Monroe auf den Kopf gestellt: Seitdem sie sich um seine Töchter kümmert, kann er es abends kaum erwarten, nach Hause zu kommen. Zu den Zwillingen - und zu Emma. Doch als Jace sie bittet, seine Frau zu werden, legt Emma ein erschütterndes Geständnis ab …

MIT DIR KOMMT DAS GLÜCK von Marie Ferrarella
Mitten in der Nacht bekommt sein kleines Baby hohes Fieber - Witwer Lucas Wingate ist froh, dass Kinderärztin Nikki keinen Hausbesuch scheut. Als er sie zum ersten Mal richtig anschaut, meint er, ein Blitz hätte sein Herz getroffen! Doch zu groß ist seine Angst, wieder verletzt zu werden …

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 590

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Cathy McDavid, Laura Marie Altom, Marie Ferrarella

BIANCA EXKLUSIV BAND 321

IMPRESSUM

BIANCA EXKLUSIV erscheint in der HarperCollins Germany GmbH

Redaktion und Verlag: Postfach 301161, 20304 Hamburg Telefon: +49(0) 40/6 36 64 20-0 Fax: +49(0) 711/72 52-399 E-Mail: [email protected]
Geschäftsführung:Katja Berger, Jürgen WelteLeitung:Miran Bilic (v. i. S. d. P.)Produktion:Jennifer GalkaGrafik:Deborah Kuschel (Art Director), Birgit Tonn, Marina Grothues (Foto)

Erste Neuauflage in der Reihe BIANCA EXKLUSIVBand 321 - 2020 by HarperCollins Germany GmbH, Hamburg

© 2008 by Cathy McDavid Originaltitel: „The Family Plan“ erschienen bei: Harlequin Enterprises Ltd., Toronto Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l. Übersetzung: Susanne C. Roth-Drabusenigg Deutsche Erstausgabe 2011 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg,in der Reihe BIANCA, Band 1779

© 2009 by Laura Marie Altom Originaltitel: „The Marine’s Babies“ erschienen bei: Harlequin Enterprises Ltd., Toronto Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l. Übersetzung: Tatjána Lénárt-Seidnitzer Deutsche Erstausgabe 2010 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg,in der Reihe BIANCA, Band 1733

© 2010 by Mary Rydzynski-Ferrarella Originaltitel: „Doctoring the Single Dad“ erschienen bei: Silhouette Books, Toronto Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l. Übersetzung: Valeska Schorling Deutsche Erstausgabe 2011 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg,in der Reihe BIANCA, Band 1766

Abbildungen: shironosov / Getty Images, alle Rechte vorbehalten

Veröffentlicht im ePub Format in 03/2020 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 9783733748746

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:BACCARA, JULIA, ROMANA, HISTORICAL, TIFFANY

Mein Herz will zurück zu dir

1. KAPITEL

Kaum hatte Jolyn Sutherland die schwere Tür des Pferdeanhängers geöffnet, stürmte Sindbad, ihr siebzehnjähriger Schecke, auch schon wiehernd und unter ohrenbetäubendem Hufgetrappel rückwärts aus dem Wagen. Hastig griff Jolyn nach seinem Halfter, bevor das Tier sich allein auf den Weg zu seinem Stall und dem Eimer mit Hafer machte.

„Dieses Pferd wird sich wohl nie ans Reisen gewöhnen.“

„Hallo, Dad!“

„Willkommen!“, rief Milt Sutherland seiner Tochter zu. „Wie war die Fahrt über die Berge?“

„Bis auf zwei kleine Staus lief alles prima.“ Ohne den Schmerz in ihrem linken Bein zu beachten, rannte Jolyn mit Sindbad im Schlepptau ihrem Vater entgegen.

Der schloss sie in die Arme, und für einen Moment war Jolyn wieder das kleine Mädchen, das sich bei ihrem großen, starken Daddy immer geborgen fühlen konnte.

„Es ist schön, wieder zu Hause zu sein“, seufzte sie und schmiegte sich an seine Brust.

„Und es ist schön, dich wieder hier zu haben, mein Schatz.“

Sie hatte solche Sehnsucht nach Blue Ridge gehabt, dieser kleinen Stadt, wo jeder jeden kannte und die Karaokenacht bei Sage’s als die Samstagabend-Unterhaltung schlechthin galt. Das Einzige, was hier noch schöner war, als den Sonnenaufgang hinter dem Gipfel des Saddle Horn Butte zu betrachten, war zuzusehen, wie sie am Abend hinter den weit entfernten Verde Mountains unterging.

Jolyn war in den letzten neun Jahren mit ihrer Rodeo-Showtruppe durch die Lande getingelt und hätte diese Zeit gegen nichts eintauschen wollen, außer für diese Umarmung ihres Vaters.

„Deine Mutter ist in der Küche und kocht, als wollte sie eine Armee verköstigen“, sagte ihr Vater lächelnd. „In den letzten Tagen war sie das reinste Nervenbündel. Sie hat sich wohl Sorgen gemacht hat, dass du die Fahrt von Dallas hierher nicht überstehen könntest. Besonders bei dieser Hitze. Ich sage dir, der Sommer kommt inzwischen jedes Jahr früher.“

„Jetzt sind wir ja da.“ Sie küsste ihn auf die Wange. „Glücklich und unversehrt.“

„Glücklich vielleicht. Aber unversehrt?“ Er nickte vielsagend in Sindbads Richtung.

Jolyn wirbelte herum. „Ach du Schande! Wie ist denn das passiert?“

Erst jetzt bemerkte sie die hässliche Wunde unterhalb von Sindbads linker Schulter. Sie war mindestens zehn Zentimeter lang, ziemlich tief und blutete.

„Ich habe den Anhänger vor der Abfahrt heute Morgen in Phoenix noch einmal genau überprüft“, erklärte sie bestürzt. „Und Onkel Leroy auch.“

Auf der viertägigen Fahrt von Texas in den Norden von Arizona hatte Jolyn bei Freunden und Verwandten übernachtet und heute Mittag bei ihrem Bruder in Pineville Station gemacht, um Sindbad – und sich selbst – nicht zu überanstrengen.

„Dann muss er sich irgendwo zwischen Pineville und hier verletzt haben. Vielleicht am Boxengatter.“

„Hm, wahrscheinlich. Dabei bin ich wirklich ganz langsam gefahren.“

„Dieses Pferd war schon immer ein Tollpatsch.“

Jolyn schluckte die Bemerkung hinunter, die ihr auf der Zunge lag. Manche Menschen gaben lieber dem Pferd als dem Reiter die Schuld. Doch Jolyn wusste es besser. Für ihre Missgeschicke war allein sie verantwortlich, auch für dieses. „Er ist eben sehr temperamentvoll. Deshalb hat er ja auch alle diese Rodeos gewonnen und es zum Star gebracht.“

Ihr Vater lächelte. „Ja, er war wirklich einsame Spitze damals. Und du auch.“

Mit zwanzig hatte Jolyn ihre Heimatstadt verlassen, sich einer Westernreitertruppe angeschlossen und war mit Sindbad kreuz und quer durch die Vereinigten Staaten gezogen. Ihr Sprung ohne Sattel über einen Planwagen voll mit Pappmascheesiedlern war der Höhepunkt der Show gewesen.

Doch vor etwas mehr als einem Jahr hatte ihre Karriere ein jähes Ende gefunden, als Sindbad bei diesem Paradesprung schwer gestürzt war. Sindbad hatte sechs Wochen gebraucht, um sich von diesem tragischen Unfall zu erholen – Jolyn sogar ein halbes Jahr. Dass sie überhaupt wieder laufen konnte, hatte sie nur den hervorragenden Ärzten zu verdanken.

Dieser Unfall war das Schlimmste, was ihr hatte passieren können, aber auch das Beste, wenn hier in Blue Ridge alles gut für sie liefe.

„Hast du noch Antibiotika im Haus?“, fragte sie ihren Vater, während sie liebevoll Sindbads Hals tätschelte.

„Nein, leider nicht.“

Das überraschte Jolyn nicht, denn seit sie von zu Hause weggegangen war, hielten ihre Eltern keine Pferde mehr.

Jolyn zog ihr Handy aus der Hosentasche. „Ich werde Chase anrufen.“

„Ist das wirklich nötig? Er wird wahrscheinlich gerade beim Abendessen sitzen.“

„Die Wunde ist recht tief und muss versorgt werden.“

„Wir haben noch etwas Jod im Haus.“

„Mir wäre aber wohler, wenn Chase einen Blick auf die Verletzung wirft.“

Chase Raintree war der Tierarzt von Blue Ridge, der Einzige im Umkreis von fünfzig Kilometern. Er und Jolyn waren Freunde, solange sie denken konnten. Und obwohl sie sich in den letzten Jahren nur selten gesehen hatten, war Jolyn überzeugt, dass er sofort kommen würde, wenn sie ihn anriefe.

„Das Pferd hält es gut bis morgen früh aus“, versuchte ihr Vater ihre Bedenken zu zerstreuen. „Du kannst gleich nach dem Frühstück in die Tierhandlung fahren und ein Medikament besorgen.“

„Das mache ich, falls Chase wirklich keine Zeit hat.“

Sie klappte ihr Handy auf, tippte Chase’ Nummer ein und hoffte, dass es noch dieselbe war wie früher. Seine Eltern waren vor einigen Jahren in Pension gegangen und hatten Chase das Haus in Mesa überlassen, in dem er seitdem mit seiner acht Jahre alten Tochter Mandy lebte.

Milt griff nach der Hand seiner Tochter. „Das ist vielleicht keine so gute Idee.“

„Warum?“ Jolyn sah ihren Vater überrascht an.

„Deine Mutter und er … haben unterschiedliche Ansichten.“

„Bezüglich Mandy?“

„Hm.“

„Wirklich?“ Jolyns Mut sank. „Ich dachte, Mom hätte sich inzwischen damit abgefunden.“

„Sie hat ihre Meinung kürzlich geändert.“

„Warum hast du mir das nicht erzählt?“

Ihr Vater seufzte resigniert. „Ich wollte dich vor deiner Fahrt nicht aufregen, denn ich fand, dass du ohnehin schon genug um die Ohren hattest.“

„Und, wie kam es dazu?“

„Ganz genau weiß ich es nicht. Mandy fing an, Ballettunterricht zu nehmen … das war im letzten Herbst, glaube ich. Und seit ein paar Wochen wettert deine Mutter wieder gegen Chase.“

Dottie Sutherland betrieb im Gemeindezentrum ein kleines Tanzstudio und bot an drei Nachmittagen Unterricht an. Die meisten Mädchen in der Stadt und sogar der eine oder andere Junge lernten früher oder später bei ihr das Tanzen. Als Kind hatte auch Jolyn zwei Jahre Ballettunterricht über sich ergehen lassen, bis sie eines Tages ihre Tanzschuhe an den Nagel hängte und in Cowboystiefel geschlüpft war.

„Kannst du ihr nicht sagen, dass sie das lassen soll?“

Milt lachte trocken. „Das sollte wohl ein Scherz sein, wie?“

„Bei dieser leidigen Sache geht es nicht nur um Mom, sondern in erster Linie um die kleine Mandy. Sie weiß es immer noch nicht, oder?“

„Ich glaube nicht.“

„Ich kann mich nicht auf Moms Seite schlagen, wenn es bedeutet, Mandy zu verletzen.“ Oder Chase, setzte sie im Stillen hinzu.

Ihr Vater machte ein finsteres Gesicht. „Ich weiß auch nicht, was plötzlich in deine Mutter gefahren ist. Sie benimmt sich in letzter Zeit so komisch.“

„Wie komisch?“

„Einfach nicht wie sonst.“ Er atmete seufzend aus. „Ich habe sie immer wieder gefragt, was denn los ist, aber sie rückt nicht mit der Sprache raus.“

„Na, vielleicht kann ich sie doch dazu bewegen, mir ihr Herz auszuschütten.“

„Versuchen kannst du es ja“, meinte er, doch überzeugt klang er dabei nicht.

Als Sindbad unruhig mit den Vorderhufen scharrte und die Wunde wieder zu bluten begann, traf Jolyn eine Entscheidung. Sie wäre gern zu ihrer Mutter gelaufen, um sie zu begrüßen, doch zuerst musste Sindbad verarztet werden. Sie drehte ihn herum und führte ihn zurück zum Anhänger. „Ich fahre schnell rüber zu Chase.“

Ihr Vater folgte ihr. „Was ist mit dem Abendessen?“

„Es wird nicht lange dauern.“

„Nach allem, was dein Pferd dir angetan hat, verzärtelst du es viel zu sehr.“

„Bitte, Dad, nicht jetzt.“ Sie freute sich so, wieder zu Hause zu sein, und hatte keine Lust, alte Unstimmigkeiten aufzuwärmen. Um die Situation zu entspannen, gab sie ihm noch einen Kuss auf die Wange. „Ich bin bald zurück, versprochen.“

Bis zu Chase war es nur eine halbe Meile. Sie würde ihn von unterwegs anrufen. Und falls er nicht zu Hause sein sollte, würde sie auf ihn warten und Sindbads Wunde schon einmal mit dem Gartenschlauch reinigen.

Und wenn er sie nicht sehen wollte?

Natürlich will er mich sehen, sagte sie sich. Chase mochte vielleicht wütend auf ihre Mutter sein, würde sich aber niemals weigern, einem kranken oder verletzten Tier zu helfen.

Er hatte gut ausgesehen beim letzten Mal – zu Weihnachten vor zwei Jahren war das gewesen –, aber auch erschöpft. Seine tiefbraunen Augen hatten nicht so warmherzig gestrahlt wie sonst, und sein umwerfendes Lächeln war ihr etwas gezwungen erschienen. Die Scheidung und dieser schreckliche Sorgerechtstreit waren nicht spurlos an ihm vorübergegangen. Hatte er sich seitdem verändert?

Wenn Jolyn ehrlich war, musste sie sich eingestehen, dass ihr Entschluss, Sindbad so schnell wie möglich zu Chase zu bringen, auch etwas mit ihrer Sehnsucht nach ihm zu tun hatte, besonders jetzt, wo er wieder Single war.

Bevor sie Sindbad in den Anhänger verfrachtete, suchte sie den Innenraum und das Trenngatter nach scharfen Kanten oder anderen Verletzungsmöglichkeiten ab, konnte aber nichts entdecken. Anfangs weigerte er sich standhaft, wieder in den Anhänger zu steigen, doch nach gutem Zureden und vielen Streicheleinheiten ergab er sich in sein Schicksal.

Milt legte seiner Tochter die Hand auf die Schulter. „Das ist nicht allein die Schuld deiner Mutter. Du kannst sie nicht für alles verantwortlich machen.“

„Ja, da hast du recht.“

Schuld an der ganzen Misere war in erster Linie ihr Bruder Steven, der vor neun Jahren eine Affäre mit SherryAnne angefangen hatte, die damals Jolyns beste Freundin und gerade einmal drei Monate mit Chase verheiratet gewesen war. Und bis heute wusste niemand mit Sicherheit, wer von beiden Mandys Vater war. Nicht einmal SherryAnne – zumindest behauptete sie das.

Chase stürmte aus dem Haus, als er Jolyns Lastwagen in die Zufahrt einbiegen sah. Um seine Mundwinkel spielte ein Lächeln. Sie war nach Blue Ridge zurückgekehrt. Hoffentlich, um zu bleiben. Erst in diesem Moment wurde ihm bewusst, wie sehr er sie vermisst hatte.

Er winkte und bedeutete ihr, den Wagen neben dem Stall zu parken. Jolyn winkte im Vorbeifahren zurück, und Chase rannte hinter dem Gefährt her und erreichte es genau in dem Augenblick, als Jolyn aus dem Führerhaus sprang.

„Hallo, du.“ Breit lächelnd kam sie ihm entgegen.

Chase vermied es, ihr hinkendes Bein anzustarren, und sah ihr stattdessen ins Gesicht. Was ihm nicht wirklich schwerfiel. Jolyn war schon früher ein hübsches Mädchen gewesen und hatte sich inzwischen zu einer sehr attraktiven Frau entwickelt.

„Hallo.“ Er packte sie und schwenkte sie ausgelassen herum. Sie fühlte sich gut an in seinen Armen. So gut, dass er sie nicht gleich wieder absetzen wollte. „Schön, dich wiederzusehen, Bohnenstange.“

Jolyn machte sich von ihm los und starrte ihn bitterböse an. „Ich mache auf der Stelle kehrt und komme nie wieder zurück, wenn du mich noch einmal so nennst.“

„Bohnenstange Sutherland“, neckte er sie.

„Du bist so schlimm wie eh und je.“

„Manche Leute behaupten, ich bin noch schlimmer.“

Ihre Stimme wurde einen Tick leiser. „Ach.“

Flirtete sie etwa mit ihm? Die Jolyn, die er kannte, war immer zu schüchtern, zu ernst und zu gehemmt gewesen, um sich auf so ein anzügliches Geplänkel einzulassen. Was, außer dass sie beinahe ihr rechtes Bein verloren hätte, war mit ihr in diesen neun Jahren passiert?

Jetzt bemerkte Chase die kleinen Veränderungen. In ihrem braunen Haar leuchteten blonde Strähnen, es war kürzer und aufregender geschnitten. Und sie schminkte sich. Nicht viel, aber genug, um ihre haselnussbraunen Augen und ihre vollen Lippen zu betonen. Dallas hatte ihr sichtlich gutgetan. Chase gefiel die neue Jolyn, die sich selbst gefunden zu haben schien.

Langsam, Junge. Chase schaltete einen Gang zurück, erinnerte sich, dass Jolyn nicht nur seine älteste und beste Freundin war, sondern auch die Tochter von Dottie Sutherland, die alles daransetzte, ihm das Leben zur Hölle zu machen.

Ein dumpfer Schlag aus dem Pferdeanhänger riss ihn aus seinen Gedanken. Sindbad tat lauthals seinen Unmut kund.

„Ich hole ihn lieber raus, bevor er noch ein Loch in die Tür tritt.“

„Was hat er denn diesmal angestellt?“

„Es ging ihm prächtig, als ich ihn in Phoenix verladen habe, doch als ich ihn bei meinen Eltern aus dem Hänger holte, hatte er einen tiefen Schnitt an der linken Schulter.“

„Komm, schauen wir ihn uns mal an.“

Jolyn entriegelte die Tür und konnte sich gerade noch durch einen Sprung zur Seite retten, als Sindbad aus dem Hänger stürmte. Erst als sie ihn am Halfter zu fassen bekam, beruhigte er sich etwas. „War doch gar nicht so schlimm, oder?“

Chase lachte leise. „So viele Jahre, und du hast ihn immer noch nicht an den Hänger gewöhnen können?“

„Wir waren mit anderen Dingen beschäftigt.“

Wie er sehr wohl wusste. Er und seine Exfrau SherryAnne hatten während ihrer Highschoolzeit gemeinsam mit Jolyn an Reitwettbewerben teilgenommen. SherryAnne schaffte es damals bis zur Junior Rodeo Queen. Jolyn, die in Chase’ Augen eigentlich die bessere Reiterin war, hatte bei der Ausscheidung leider gepatzt und musste für eine Weile als SherryAnnes Assistentin arbeiten.

„Ich bin dir wirklich sehr dankbar, dass du dir Zeit für Sindbad nimmst. Dad hat mir erzählt, dass Mom dir wieder übel zusetzt.“

„Ja, das ist leider wahr. Noch ist die Sache nicht bei Gericht, aber Dottie hat gedroht, einen Anwalt einzuschalten.“ Während er sprach, untersuchte er Sindbads Verletzung.

„Nur, damit das klar ist, Chase. Ich stimme mit ihr in dieser Sache absolut nicht überein.“ Sie legte die Hand auf seinen Arm. „Das habe ich noch nie getan.“

„Ich weiß.“ Er drehte sich um und lächelte sie an. „Und das bedeutet mir sehr viel. Deine Mutter ist wirklich ein harter Brocken und gibt nicht auf.“

„Hat sie in der Stadt schon etwas herumerzählt?“, fragte Jolyn besorgt. Sie streichelte Sindbad, während Chase einen Eimer mit Wasser füllte. „Hoffentlich weiß Mandy, dass …“

„Nein, sie hat keine Ahnung.“ Chase ging zu seinem Wagen, um aus dem Notfallkoffer, den er ständig mit sich führte, Desinfektionsmittel und sterile Tupfer zu holen. „Man kann Dottie ja viel nachsagen, aber eine Klatschbase ist sie zum Glück nicht.“

Während Chase die Wunde reinigte, verhielt Sindbad sich erstaunlich ruhig und ließ ihn gewähren, wohl auch, weil Jolyn ihn währenddessen liebevoll zwischen den Ohren kraulte.

„Du hast allen Grund, wütend auf Mom zu sein. Vielleicht solltest du dir auch einen Anwalt nehmen.“

„Das mache ich, wenn die Sache brenzlig werden sollte. Aber bisher droht deine Mutter nur.“ Insgeheim fragte er sich, wie lange das noch so bleiben würde.

Seitdem sie erfahren hatte, dass ihr Sohn Steven möglicherweise der biologische Erzeuger von Mandy war – Chase weigerte sich, das Wort Vater zu benutzen –, bedrängte sie Chase immer wieder, einen DNA-Test machen zu lassen. Zum Glück unterstützte niemand aus ihrer Familie dieses Ansinnen, auch Steven nicht, der schon vor Jahren nach Pineville gezogen war und keinen Kontakt zu Mandy suchte. Was Dottie jedoch nicht davon abhielt, ihre Forderung mit immer neuen Drohungen durchzusetzen.

Chase wollte davon nichts wissen. Mandy war seine Tochter, war es immer gewesen, von dem Moment an, als die Hebamme ihm den zappelnden und schreienden Säugling in den Arm gelegt hatte. Niemals würde er zulassen, dass Steven oder irgendjemand aus der Sutherland-Familie ihm Mandy wegnahm – nur über seine Leiche.

„Muss die Wunde genäht werden?“, fragte Jolyn, um das Thema zu wechseln.

„Besser wäre es, besonders bei so einem unruhigen Tier wie Sindbad.“

Jolyn stimmte ihm zu, und zu ihrer Überraschung ließ Sindbad die Prozedur klaglos über sich ergehen.

Chase gab ihr noch ein Antibiotikum mit und erklärte ihr die Dosierung. „Sollte die Naht aus irgendeinem Grund aufgehen oder die Wunde sich entzünden, dann ruf mich an.“

„Wann müssen die Fäden gezogen werden?“

„In zehn bis zwölf Tagen.“

„Gut, dann bringe ich Sindbad wieder vorbei.“ Jolyn wollte Chase den Weg zum Anwesen der Sutherlands und eine mögliche Konfrontation mit Dottie ersparen.

„Danke.“

„Was bin ich dir schuldig?“

„Ich schicke dir eine Rechnung.“

„Aber wirklich.“ Sie hob warnend ihren Zeigefinger.

„Du kannst dich darauf verlassen.“

„Also schön.“ Jolyn zupfte an Sindbads Halfter. „Los, alter Knabe, jetzt geht es noch mal in den Hänger.“

„Warum lässt du ihn nicht über Nacht hier und holst ihn morgen?“, schlug Chase spontan vor, obwohl ihm sein gesunder Menschenverstand sagte, dass er den Kontakt mit Jolyn einschränken sollte, bis Dottie einen Rückzieher gemacht hatte.

„Gute Idee. Vielen Dank.“ Jolyn lächelte ihn erleichtert an, und Chase war froh, dass er erst gesprochen und dann überlegt hatte.

Gemeinsam brachten sie Sindbad zum Stall, in dem er früher einmal viel Zeit verbracht hatte. Und Jolyn ebenso.

Auf dem Weg zu seiner ehemaligen Box wurde der Neuankömmling von den anderen Pferden interessiert beäugt. Chase öffnete die Boxentür und ging dann noch einmal hinaus, um frisches Heu zu holen.

Wenig später steckte Sindbad seine Nase ins Heu und schnaubte zufrieden. Chase und Jolyn sahen ihm beim Fressen zu und genossen das freundschaftliche Schweigen.

„Wie lange willst du bleiben?“, erkundigte sich Chase nach einer Weile.

„Kommt darauf an.“

„Worauf?“

„Wie das Geschäft läuft.“

„Was für ein Geschäft?“

Er bemerkte den Stolz in ihrer Stimme, als sie lächelnd antwortete: „Die Sutherland Construction Company.“

„Echt?“

„So wahr ich hier stehe. Ich habe mich vor Kurzem als Bauunternehmerin selbstständig gemacht. Irgendwie musste ich mich ja während der monatelangen Physiotherapie beschäftigen.“

„Wie bist du denn ausgerechnet auf das Baugewerbe gekommen?“

„Ganz einfach. Wir haben bei der Show die meisten Aufbauten selbst gemacht, und dabei habe ich meine Liebe fürs Hämmern und Sägen entdeckt. Und während der Ausbildung habe ich nebenbei als stellvertretende Projektleiterin bei einer Baufirma gejobbt.“

„Wow.“ Chase nickte Jolyn anerkennend zu, obwohl ihn ihr Erfolg nicht verwunderte. Sie war schon immer sehr zielstrebig gewesen, wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatte. „Ich bin beeindruckt.“

„Na ja, ein eigenes Geschäft zu führen, ist natürlich ein ganz anderer Stiefel, als ein paar Jungs zur Arbeit anzutreiben oder Zahlen in einen Computer zu tippen. Aber ich denke mir, dass Blue Ridge für den Anfang ein guter Ort ist.“

„Meinst du, die Jungs hier lassen es sich gefallen, wenn eine Frau in ihrem Territorium die Muskeln spielen lässt?“

„Ich muss mich beweisen, und das ist gut so. Und ich fange erst mal klein an. Sobald ich zwei, drei Aufträge an Land gezogen und ein bisschen Geld gemacht habe, werde ich mein Glück vielleicht in Pineville versuchen.“

„Hier gibt es genug zu tun.“

„Mag sein. Aber ich habe nicht vor, auf Dauer den Dorfhandwerker zu spielen.“

„Hm.“ Obwohl in seinem Kopf alle Alarmglocken schrillten, sprach Chase den Gedanken, der ihm gerade gekommen war, laut aus. „Zufällig liegen auf meinem Küchentisch Pläne für eine Kleintierpraxis mit Klinik, die ich eröffnen möchte. Hast du Lust, einen Blick darauf zu werfen?“

„Meinst du das ernst?“ Ihre Augen leuchteten vor Aufregung.

Er hatte ganz vergessen, wie grün ihre Augen im Sonnenlicht schimmerten. Und die Grübchen, die ihre Mundwinkel umrahmten, wenn sie lächelte. „Ist das ein Ja?“

„Wo willst du die Praxis denn einrichten?“

„Hier.“ Er deutete mit dem Daumen Richtung Haus. „Ich möchte meinen jetzigen Behandlungsraum für Kleintiere erweitern und einen Assistenten einstellen.“

„Dein Geschäft scheint ja zu boomen.“

„Tja, es ist hilfreich, wenn man keine Konkurrenz hat.“

„Auf ähnlich glückliche Umstände hoffe ich auch.“

„Aber stell dich darauf ein, dich krumm und bucklig zu arbeiten. Ich schufte sechzig bis achtzig Stunden pro Woche. Kein freies Wochenende, kein Urlaub, und krankfeiern kannst du auch vergessen.“

„Halst du dir nicht noch mehr Arbeit auf, wenn du deine Praxis erweiterst?“

„Das vielleicht schon. Aber andererseits wäre ich dann mehr zu Hause. Wenn alles gut läuft, überlasse ich die Großtiere dem Assistenten, besuche vormittags die Farmen und arbeite nachmittags in der Praxis, damit ich da bin, wenn Mandy aus der Schule kommt. So muss sie nicht dauernd ihre Zeit mit Babysittern verbringen.“

„Ich wette, Mandy kann es kaum erwarten.“

„Die Scheidung hat sie sehr bedrückt. Sie vermisst ihre Mutter.“

„Aber SherryAnne besucht sie doch regelmäßig, oder?“

„Einmal im letzten Jahr, für zwei Tage.“

„Oh, das tut mir leid.“ Jolyn machte ein betroffenes Gesicht.

„Mir auch. Aber für Mandy. Meinetwegen bräuchte sie sich hier überhaupt nicht mehr blicken lassen.“

Jolyn spürte Chase’ Stimmungswandel und wechselte das Thema. „Ich würde mich freuen, wenn ich dir ein Angebot für den Ausbau machen könnte.“ Sie drehte sich um und sah ihn direkt an. „Aber rechne nicht mit Sonderkonditionen, nur weil wir befreundet sind. Geschäft ist Geschäft.“

„Klar, nur sollst du wissen, dass ich bereits zwei Angebote von Baufirmen aus Pineville eingeholt habe, die beide die Summe übersteigen, die ich für mich als Limit angesetzt habe. Mein Budget ist nämlich ziemlich knapp.“ Er hatte für den Umbau eine Hypothek auf das Haus aufgenommen.

„Gut zu wissen. Und jetzt zu meiner Mutter …“ Jolyn grinste schief.

„Ehrlich gesagt, macht sie mir ziemlich zu schaffen.“ Chase lehnte sich an die Boxenwand. „Sie ist nett zu Mandy, versteh mich nicht falsch. Und Mandy liebt den Ballettunterricht. Deswegen lasse ich sie ja auch tanzen, obwohl ich Dottie lieber auf Abstand zu ihr halten würde.“

„Vielleicht sollte ich das mit dem Angebot bleiben lassen.“

„Wie du gesagt hast, Geschäft ist Geschäft. Und wir könnten beide davon profitieren.“

„Solange wir meine Mutter aus dem Spiel lassen.“

Chase lächelte Jolyn aufmunternd an. Dottie hin oder her, er war jedenfalls froh, dass Jolyn wieder nach Hause gekommen war. Dass Steven sich mit SherryAnne eingelassen hatte, war ja nun wirklich nicht Jolyns Schuld.

„Eins nach dem anderen“, sagte er zu Jolyn. „Mach mir erst einmal ein Angebot. Dann sehen wir weiter.“ Ganz spontan nahm er sie am Arm. „Komm mit, ich zeige dir die Pläne. Bei der Gelegenheit kannst du auch gleich Mandy begrüßen.“

Jolyn in mein Leben zu lassen, das gibt Probleme, überlegte er und merkte gleichzeitig, dass er sich für die Vorstellung, sie in seiner Nähe zu haben, immer mehr erwärmte.

Damals, als sie noch in der Highschool waren, hätte einmal etwas zwischen ihnen entstehen können, doch über den einen Kuss am Abend ihres Abschlussballs auf der Veranda ihrer Eltern waren sie nicht hinausgekommen. Er hatte sich mal wieder mit SherryAnne gestritten, aber sich schon am nächsten Tag wieder von ihr herumkriegen lassen.

Das war Jolyn gegenüber nicht fair gewesen, doch die hatte damals kein Wort mehr darüber verloren. Ob es wohl möglich war, dass dieses zarte Pflänzchen der Zuneigung bis heute überlebt hatte?

2. KAPITEL

Jolyn stand in ihrem zukünftigen Büro und schaute sich um.

Das grelle Sonnenlicht, das durch das einzige, winzige Fenster fiel, machte den desolaten Zustand des Raumes noch sichtbarer. Staubflusen schwebten in der Luft, der durchgescheuerte Linoleumboden beulte sich an den Stellen, die nicht schon völlig abgetreten waren. Jolyn zählte sieben Löcher in den Wänden, das kleinste so groß wie ihre Faust, und von einem Anstrich war überhaupt nichts mehr zu sehen.

Sie musste nicht aus der Baubranche sein, um zu erkennen, dass der Raum absolut heruntergekommen war – und ideal für ihr junges Unternehmen. Er lag gleich neben Cutter’s Market, einem der beiden kleinen Supermärkte von Blue Ridge, besaß einen separaten Eingang, und Parkmöglichkeiten für Kunden gab es auch.

„Und, nimmst du ihn nun oder nicht?“, fragte Mrs. Cutter, die auf einem Plastikstrohhalm kaute, als Ersatz fürs Rauchen, das sie vor zwanzig Jahren aufgegeben hatte.

Jolyn versuchte, nicht allzu interessiert zu erscheinen. „Da muss man viel Arbeit hineinstecken“, erwiderte sie und strich mit dem Finger über einen vergilbten Lichtschalter.

„Na klar. Wenn nicht, hätte ich den Raum schon vor Ewigkeiten vermietet.“

Jolyn tat so, als würde sie das Angebot auf dem Tisch überdenken. Sie würde den Raum mietfrei bekommen, müsste ihn als Gegenleistung jedoch auf eigene Kosten renovieren und auch weiterhin instand halten.

„Haben Sie etwas dagegen, wenn ich ein Schloss an der Tür anbringe?“

„Nicht, wenn ich einen Zweitschlüssel bekomme.“

„Und ich brauche eine eigene Telefonleitung.“

„Von mir aus, wenn du sie bezahlst.“ Mrs. Cutter lehnte sich an den Türpfosten. Sie war immer noch gertenschlank und hatte kaum graue Strähnen im Haar, obwohl sie Jolyns Schätzung nach bestimmt schon fünfundsechzig sein musste.

„Gut, dann haben Sie ab sofort eine neue Mieterin.“

Ganz konnte Jolyn ihre Freude nicht verheimlichen. Die Sutherland Construction Company würde bald in ein solides Büro ziehen. Sobald sie den Raum renoviert hätte, würde sie ihre Lizenz rahmen lassen und gleich neben der Tür aufhängen, wo jeder sie sehen konnte.

„Haben Sie einen Mietvertrag, den ich unterschreiben soll?“, fragte Jolyn.

„Mietvertrag?“ Mrs. Cutter lachte. „Gütiger Himmel. Ich kenne dich doch schon dein ganzes Leben lang. Und deine Eltern seit über dreißig Jahren. Einen Vertrag brauchen wir nur, wenn du vorhast, ihn zu brechen.“

„Das habe ich ganz bestimmt nicht vor.“ Jolyn lachte ebenfalls und streckte Mrs. Cutter die Hand hin. „Aber einschlagen können wir wenigstens.“

Sie schüttelten sich gerade die Hände, als Dottie Sutherland durch die offene Tür spähte.

„Störe ich?“

Sie war auf dem Weg ins Gemeinschaftszentrum, wo ihre Balletttruppe am Nachmittag eine Probe hatte.

„Komm rein!“, rief Mrs. Cutter. „Ich bin allerdings am Gehen, denn ich bekomme heute Nachmittag eine Lieferung und muss noch Platz für die Kisten schaffen.“

„Ich bleibe noch eine Weile, wenn es Ihnen recht ist.“ Jolyn folgte ihrer neuen Vermieterin nach draußen. „Ich möchte den Raum noch ausmessen und ein paar Skizzen machen.“

„Lass dir Zeit, er gehört jetzt dir.“ Damit verschwand sie um die Ecke.

„Und, was sagst du dazu?“, fragte Jolyn ihre Mutter kurz darauf. Sie war immer noch in Hochstimmung, drehte sich im Kreis und stellte sich dabei vor, wie sie diese schäbigen vier Wände in ein schickes und funktionelles Büro umwandeln würde.

„Ich denke, dass du völlig verrückt bist. Das hier ist eine einzige Bruchbude.“

„Stimmt, aber du wirst überrascht sein, was man mit einem ordentlichen Boden und einem Eimer Farbe alles machen kann.“

„Ich verstehe gar nicht, wozu du überhaupt ein Büro brauchst. Du kannst doch auch weiterhin von zu Hause aus arbeiten.“

Jolyn war entschlossen, sich von ihrer Mutter nicht die gute Laune verderben zu lassen. „Zu Hause bin ich nur im Weg. Wenn du kochen willst, muss ich jedes Mal meine Pläne einrollen und den Küchentisch frei machen.“ Sie wollte einen eigenen Schreibtisch und einen Besucherstuhl und ein Regal für ihre Musterkataloge haben. „Wenn ich Erfolg haben will, brauche ich ein repräsentables Büro.“

„Eine Kammer hinter dem Supermarkt ist nicht wirklich repräsentabel.“

„Aber ein Anfang. Und die Lage ist einfach ideal. So sehen die Leute beim Einkaufen gleich, was ich aus dieser Bruchbude gemacht habe.“

Vielleicht sollte ich ein paar Handzettel drucken und an der Supermarktkasse auslegen, überlegte sie. Bisher hatte sie nur zwei mickrige Aufträge ergattert. Sie hatte einen begehbaren Kleiderschrank vergrößert und einen Kasten für eine Klimaanlage gebaut.

Aber da war immer noch Chase’ Praxis. Die Mappe mit dem getippten Angebot lag vorne in ihrem Lastwagen. Chase hatte sich den Nachmittag freigenommen, um Mandy bei der Probe zuzusehen. Anschließend wollten sie sich zusammensetzen.

Jolyn hatte ein gutes Gefühl. Sie hatte das Angebot etliche Male überarbeitet, gestrichen, wo es nur ging, ohne die Qualität zu vermindern, und sämtliche Lieferanten für Baumaterial bezüglich der Preise verglichen.

Wenn sie den Job bekam, wäre sie begeistert!

„Du bist gerade erst nach Hause gekommen, und schon verschwindest du wieder“, meinte ihre Mutter ein bisschen traurig.

Jolyn musste ihrem Vater recht geben; ihre sonst so lebhafte Mutter war in letzter Zeit sehr gefühlsduselig. Bei sentimentalen Werbungen im Fernsehen oder traurigen Songs im Radio bekam sie schnell feuchte Augen. Und sie schlief schlecht.

Keine Nacht verging, ohne dass Jolyn sie durchs Haus geistern hörte. Zweimal hatte sie sie schon darauf angesprochen, doch, wie ihr Vater prophezeit hatte, nicht in Erfahrung bringen können, was ihre Mutter beschäftigte.

„Ich ziehe ja nicht von zu Hause aus“, sagte Jolyn und drückte aufmunternd den Arm ihrer Mutter. „Jedenfalls nicht in naher Zukunft.“

„Gut“, sagte Dottie. „Denn ich bin glücklich, dich wieder bei uns zu haben.“

„Ich bin auch froh, wieder zu Hause zu sein.“ Jolyn wunderte sich, wie schnell sie sich nach diesen aufregenden Jahren des Umherziehens mit der Show wieder an dieses Kleinstadtleben und ihr ehemaliges Kinderzimmer im zweiten Stock gewöhnt hatte.

„Na ja, vielleicht könnte man aus diesem Kabuff doch ein hübsches Büro machen“, räumte Dottie ein und ging ans Fenster. „Hier könntest du deinen Schreibtisch hinstellen, da hast du gutes Licht.“

„Ja.“ Jolyn deutete auf die gegenüberliegende Wand. „Und noch einen neben die Tür.“

„Zwei Schreibtische?“

„Wenn alles gut läuft, werde ich wohl eine Bürokraft brauchen.“ Sie studierte die Decke mit den braunen Flecken, die auf ein undichtes Dach hindeuteten. Die Renovierungskosten würden höher ausfallen, als sie gedacht hatte. „Wenigstens halbtags.“

„Das übernehme ich.“

„Was?“ Jolyn sah ihre Mutter an.

„Ich kann doch halbtags für dich arbeiten. Du brauchst mich nicht einmal zu bezahlen.“

„Hm …“

„Ich bin gut am Computer, das weißt du“, erwiderte sie. „Seit über fünfundzwanzig Jahren mache ich die Buchhaltung für die Tanzschule. Ich kenn mich mit den Büchern aus. Die Leute mögen mich und …“

„Schon gut“, unterbrach Jolyn ihre Mutter. „Du musst dich nicht anpreisen wie Sauerbier.“

„Entschuldige.“ Ihre Mutter lächelte unsicher. „Ich wäre nur gern Teil deiner Firma. Wenn du mich willst.“

Jolyn wusste, dass sie sich ihre Antwort gut überlegen musste, denn es war gut möglich, dass ihre Mutter mit diesem Angebot gewisse Hintergedanken verband, besonders, wenn sie von Chase den Zuschlag für den Umbau erhielt. Das Thema Mandy, und wer ihr Vater war, hatte sie in Gegenwart ihrer Mutter bisher vermieden, doch es stand im Raum, groß und unübersehbar.

Vielleicht aber will Mom mir nach meiner langen Abwesenheit einfach nur nahe sein, überlegte Jolyn und hoffte das Beste. „Ich denke, wir warten erst einmal ab, wie sich das alles entwickelt“, erklärte sie ausweichend.

„Im Vorbeigehen habe ich zufällig gesehen, dass in unserem Trödelladen ein Aktenschrank zum Verkauf steht. Und der Büro-Discounter in Pineville hat Ausverkauf. Dort findest du sicher einen günstigen Schreibtisch.“

„Guter Tipp. Da schaue ich in den nächsten Tagen mal vorbei.“

Dottie sah auf ihre Uhr. „Ich muss rüber ins Gemeindezentrum. Einige Mütter kommen früher, um mir mit den Kostümen zu helfen.“

„Hals- und Beinbruch.“

„Kommst du später auch?“

„Ist doch Ehrensache.“

„Ich freue mich.“ Ihre Mutter strahlte übers ganze Gesicht, und Jolyn war froh, dass sie zugesagt hatte.

Früher musste Jolyn sich jede Aufführung ansehen, auch dann noch, als sie selbst das Tanzen schon aufgegeben hatte. Doch jetzt freute sie sich darauf. Außerdem würde sie das von dem Gespräch mit Chase ablenken.

Dottie fischte ihre Schlüssel aus der Handtasche. „Hör mal, wegen der Sache mit Mandy und Chase …“

Warum fing ihre Mutter ausgerechnet jetzt mit diesem leidigen Thema an? Jolyn bekam auf der Stelle Magenschmerzen. „Du weißt, dass ich da mit dir nicht übereinstimme.“

„Ja, und dein Vater auch nicht.“

„Warum lässt du Mandy und Chase dann nicht in Ruhe? Sie verdienen es, glücklich zu sein, nach allem, was SherryAnne ihnen angetan hat.“

„Weil dieses kleine Mädchen meine Enkelin sein könnte“, erklärte Dottie mit einer so schmerzlich verzogenen Miene, dass Jolyn erschrak. „Und deine Nichte.“

„Ich möchte nicht herzlos erscheinen, Mom, aber es ist ja nicht so, dass du niemals Enkelkinder haben wirst.“

„Von wem denn? Steven trägt sich nicht mit Heiratsgedanken, und du steckst erst einmal deine ganze Zeit und Energie in diese Baufirma.“

Zumindest hatte ihre Mutter nicht den Unfall und ihr Hinken als Grund für ihr Singledasein angeführt. „Ich bin erst neunundzwanzig“, gab sie zurück.

„Als ich so alt war wie du, war Steven im Kindergarten, und du gingst schon in die Vorschule.“

„Ja, damals. Heutzutage warten die Paare mit dem Kinderkriegen, bis sie sich im Leben eingerichtet haben.“

„Und die Großeltern zu alt sind, um ihre Enkel zu genießen!“

„Du bist doch noch keine Greisin, Mom.“ Jolyn unterdrückte ein Lächeln. „Außerdem könnten Steven und Bethany dir diesen Wunsch bald erfüllen. Sie sind ja schon eine ganze Weile zusammen.“

Dottie verdrehte die Augen. „Auf diese Beziehung gebe ich nicht allzu viel.“

„Was ist denn verkehrt an Bethany?“ Sie hatte die Freundin ihres Bruders kürzlich kennengelernt und auf Anhieb gemocht.

„Sie ist so viel jünger als Steven und noch auf dem College. Deshalb bezweifle ich, dass sie in nächster Zeit heiraten möchte.“

Da es dagegen nichts zu sagen gab, versuchte es Jolyn anders. „Steven glaubt nicht, dass Mandy seine Tochter ist. Das hat er von Anfang an ganz deutlich gesagt.“

„Er geht der Sache aus dem Weg. Das hat er immer getan.“

„Er ist nur realistisch und vernünftig.“ Was man von Dottie nicht behaupten konnte. „Chase ist Mandys Vater. Er liebt sie über alles. Willst du unbedingt ihr Leben zerstören?“

„Ich will Chase die kleine Mandy ja gar nicht wegnehmen. Ich möchte sie einfach nur als meine Enkeltochter anerkannt wissen und ein Besuchsrecht haben. Sie ist ein so liebes kleines Mädchen.“ Der Stolz in Dotties Augen war nicht zu übersehen. „So hübsch und klug, sie erinnert mich an dich, als du so alt warst.“

„Mom.“ So recht konnte Jolyn die plötzliche Zuneigung ihrer Mutter für Mandy nicht verstehen. Vielleicht war sie eifersüchtig auf ihre Freundinnen und wollte auch ein Enkelkind haben, das sie auf den Knien schaukeln konnte. „Chase hat erzählt, dass du dich an einen Anwalt gewandt hast.“

„Ja, letzten Monat. Er war nicht sonderlich hilfreich.“

„Was hat er gesagt?“

„Dass ich nichts tun kann, solange Chase einen DNA-Test ablehnt, und SherryAnne behauptet, dass er der Vater ist.“

Kluger Mann. „Hört sich an, als solltest du seinen Rat annehmen und die Sache auf sich beruhen lassen.“ Jolyn ging zur Tür, um ihr Notizbuch aus dem Wagen zu holen.

Dottie folgte ihr. „Ich weiß nicht, ob ich das kann.“

Jetzt hatte Jolyn die Nase voll. Sie fuhr herum. „Sag mal, was ist denn plötzlich in dich gefahren?“

„Warum fragst du mich das immer?“

„Weil ich den Eindruck habe, dass irgendetwas nicht stimmt.“ Jolyn senkte die Stimme. „Bitte, Mom, ich will dir doch helfen.“

Ihre Blicke trafen sich, und für einen kurzen Moment glaubte Jolyn, dass ihre Mutter ihr endlich sagen würde, was sie bedrückte. Stattdessen meinte sie nur schnippisch: „Warum? Mir geht es gut. Ausgezeichnet sogar.“

Jolyn seufzte. So kam sie nicht weiter. „Ich wünschte nur, du würdest endlich aufhören, Chase zuzusetzen. Das hat er wirklich nicht verdient.“

„Du ergreifst seine Partei, weil du ihn immer schon gemocht hast.“

„Ich ergreife Mandys Partei. Und natürlich mag ich Chase. Wir sind Freunde.“

„Es gab einmal eine Zeit, da hast du dir mehr von ihm erhofft.“

„Das ist doch lächerlich. Zwischen mir und Chase war nie etwas“, widersprach Jolyn und erinnerte sich im gleichen Moment daran, wie Chase und sie sich damals auf der Veranda ihres Elternhauses geküsst hatten. Chase hatte dieser Kuss offenbar nichts bedeutet, doch ein paar Tage lang hatte Jolyn darauf gehofft, dass er SherryAnne für sie verlassen würde.

„Ich bitte dich nur darum, dass du dich von deinen Gefühlen für Chase nicht beeinflussen lässt und die Möglichkeit in Betracht ziehst, dass Mandy tatsächlich meine Enkelin sein könnte.“

Jolyns Nerven waren inzwischen zum Zerreißen gespannt; das bevorstehende Meeting mit Chase und die Unterhaltung mit ihrer Mutter setzten ihr ordentlich zu. „Eine Frage, Mom“, schnappte sie. „Willst du wirklich dem kleinen Mädchen erzählen, dass der Mann, der sie großgezogen hat, den sie über alles liebt und Daddy nennt, nicht ihr Vater ist?“

„Die Frage ist nicht fair.“

„Doch. Und solange du nicht bereit bist, mit der Schuld zu leben, zwei Menschen das Herz zu brechen, hast du kein Recht, von Chase einen Vaterschaftstest zu fordern.“

Ihre Mutter betrachtete sie mit einem Blick, aus dem Trauer und Unnachgiebigkeit zugleich sprachen. „Sollte es dazu kommen, was ich nicht hoffe, werde ich dazu stehen.“

Jolyn stieß die Tür zum Gemeindesaal auf, der beinahe bis auf den letzten Platz besetzt war. Etwa hundert Familienangehörige und Freunde hatten sich zur halbjährlich stattfindenden Ballettaufführung eingefunden.

In den hinteren Reihen erspähte sie einen freien Stuhl. Sie setzte sich, lächelte bekannten Gesichtern zu und nickte, wenn ihr jemand zuwinkte. Aber sie bemerkte auch, dass einige Leute hinter vorgehaltener Hand flüsterten. War ihre Heimkehr der Grund für das Getuschel? Ihr Unfall? Die Affäre ihres Bruders mit der Exfrau des örtlichen Tierarztes? Oder bildete sie sich das alles nur ein?

Wahrscheinlich von allem ein bisschen.

Zum Glück wurde es kurz darauf dunkel im Saal, und die erste Gruppe hübsch kostümierter Mädchen tänzelte auf die kleine Bühne. Videokameras wurden angeschaltet, Fotoapparate gezückt.

Die Vorstellung dauerte knapp eine Stunde und endete mit tosendem Applaus. Als Dottie anschließend die Bühne betrat, war sie ganz in ihrem Element. Umgeben von Eltern und Schülern, strahlte sie vor Stolz, nahm huldvoll die Glückwünsche der Eltern entgegen und lobte jedes einzelne Kind für seine harte Arbeit.

Unwillkürlich musste Jolyn lächeln. Die Leute mochten ihre Mutter wirklich, und sie würde sicher eine gute Sekretärin abgeben.

Plötzlich entdeckte sie Chase. Ein leichter Schauder überkam sie.

„Dafür, dass sie erst so kurz dabei ist, war Mandy wirklich prima.“ Jolyn drehte sich auf ihrem Stuhl herum und sah hoch in sein Gesicht, das nur eine Handbreit von ihrem entfernt war, und in ein dunkelbraunes Augenpaar, das sie intensiv musterte.

Chase schien ihre Nähe nicht verlegen zu machen. Und sie auch nicht. Kein bisschen. Sie zupfte nur am Kragen ihrer Bluse, weil der Stoff sie kratzte.

„Mandy möchte noch ein bisschen mit ihren Freundinnen reden“, sagte er. „Ich dachte, wir könnten uns draußen an einen der Tische setzen und dein Angebot besprechen. Was meinst du?“

„Gute Idee.“

„Ich sage Mandy kurz Bescheid, wo wir sind.“

Chase berührte ihren Arm, nur mit den Fingerspitzen, und doch fühlte Jolyn so viel mehr. Verwundert sah sie ihm hinterher, wie er sich seinen Weg zur Bühne bahnte.

Mit seiner Größe, den schwarzen Haaren und den breiten, muskulösen Schultern war er selbst in dieser Menschenmenge nicht zu übersehen.

„Hallo, Jolyn.“

Aus ihren Gedanken gerissen, drehte Jolyn sich um und stand Susan und Joseph Raintree gegenüber, Chase’ Tante und Onkel.

„Hallo.“ Sie schüttelte beiden die Hand.

„Willkommen zu Hause“, sagte Susan freundlich. „Wie lange bleibst du denn bei uns?“

„Das weiß ich noch nicht genau.“ Jeder hier stellte ihr die gleiche Frage. Und sie gab allen die gleiche Antwort: „Das hängt davon ab, wie das Geschäft läuft.“ Wenn sie nicht genügend Aufträge bekäme, würde sie sich vielleicht schon vor Ende des Sommers wieder auf den Weg machen. „Wie geht es eurer Familie?“

Susan strahlte. „Bestens. Gage und Audrey haben im Frühling geheiratet.“

Jolyn erinnerte sich gut an Chase’ Cousin Gage, Audrey kannte sie nur flüchtig, fand sie aber sehr sympathisch.

„Hannah geht in Pineville aufs College und studiert Landwirtschaft.“ Susan kreuzte Zeige- und Mittelfinger. „Wenn sie ihre Prüfungen schafft, ist sie im Herbst fertig.“

„Können wir gehen?“, grummelte Joseph, der offenbar genug von kichernden Mädchen und überschwänglich plaudernden Eltern hatte.

Susan verdrehte die Augen. „War nett, dich wiederzusehen.“ Sie hakte sich bei Joseph unter und lächelte ihn milde an.

„Gleichfalls.“

Kaum waren die beiden gegangen, stand Chase hinter ihr. „Sollen wir?“

Jolyn nickte. Ihre Kehle war plötzlich staubtrocken. Jetzt kam die Stunde der Wahrheit. Ihre erste offizielle Präsentation vor einem potenziellen Kunden. Davon hing eine Menge ab. Die Zukunft der Sutherland Construction Company, und wie lange sie in Blue Ridge bleiben würde.

Sie würde sich um einiges sicherer fühlen, wenn ihre Mutter nicht ständig versuchte, Chase’ Leben zu ruinieren.

3. KAPITEL

Chase stand im Garten seiner Tante und seines Onkels und rief durch die offene Tür: „Jemand zu Hause?“

„Komm rein“, antwortete seine Cousine Hannah von drinnen.

Mandy zwängte sich an ihm vorbei und hüpfte in die Küche. Sie trug noch ihr Ballettkostüm und war ganz aufgekratzt vor Aufregung.

„Hast du die Vorstellung gesehen, Tante Hannah?“, fragte sie und vollführte eine etwas schiefe Pirouette.

„Nein, meine Süße, leider nicht.“ Sie applaudierte und schloss Mandy dann in die Arme. „Ich bin gerade erst von der Schule gekommen. Aber Tante Susan hat alles auf Video aufgenommen. Nach dem Abendessen schauen wir uns das dann alle an.“

„Du musst zur Schule?“

„Leider.“

„Aber es sind doch Ferien.“

„Auf dem College ist das anders. Da muss man sogar im Sommer hin.“

Mandy zog ein Gesicht. „Das ist doof.“

„Das sagt man nicht“, mahnte Chase.

Hannah sah ihn belustigt an und stellte die zappelnde Mandy wieder auf die Füße. „Aber sie hat recht.“

„Tja, bei mir war das auch nicht anders.“

Chase hatte sein Tiermedizinstudium in Rekordzeit absolviert, weil er damals eine Frau und ein Baby zu Hause hatte. Eine Frau, mit der er zu der Zeit kaum ein Wort sprach.

Inzwischen waren sie so weit, dass sie sich gegenseitig tolerierten. Manchmal kamen sie sogar ganz gut miteinander aus. Als SherryAnne erklärt hatte, dass sie sich scheiden lassen und eine Profikarriere als Rodeoreiterin anstreben wolle, war Chase enttäuscht gewesen, aber nicht überrascht.

Sie hatten nach Mandys Geburt vereinbart zusammenzubleiben, damit ihre Tochter mit beiden Elternteilen aufwachsen konnte. Sieben Jahre hatte dieses Versprechen gehalten.

Um das Sorgerecht hatten sie nie gestritten. SherryAnne wollte ihre Freiheit, und Chase wollte seine Tochter. Seine Tochter. Obwohl er noch während ihrer Schwangerschaft von SherryAnnes Seitensprung erfahren hatte, war er bis zu Mandys Geburt bei ihr geblieben und hatte anschließend auf einen Vaterschaftstest verzichtet. Er brauchte keinen Test, der ihm bestätigte, was sein Herz ihm sagte.

„Hallo, ihr beiden.“ Chase’ Tante kam in die Küche und ließ es nicht an begeistertem Applaus fehlen, als Mandy noch einmal eine Kostprobe ihrer Aufführung zum Besten gab. „Audrey und Gage bringen auf dem Heimweg von der Arbeit Pizza mit“, sagte sie, nachdem Mandy sich verbeugt hatte.

„Pizza, Pizza“, trällerte Mandy und machte sich auf die Suche nach Onkel Joseph, um auch ihm ihre Ballettkünste vorzuführen.

„Sie ist so niedlich“, sagte Susan lächelnd. Sie und Joseph hatten für Mandy die Großelternrolle übernommen, nachdem Chase’ Eltern nach Mesa gezogen waren. Sie kamen zwar in den Ferien zu Besuch, aber längst nicht so oft, wie Chase sich das wünschte. „Du hörst es vielleicht nicht gern, aber Mandy ist SherryAnne wie aus dem Gesicht geschnitten“, fuhr Susan fort.

„Das stimmt.“ Mit dem roten Haar und den Sommersprossen kam Mandy mehr nach ihrer Mutter, was Chase freute.

Seine größte Sorge war, dass Mandy verstörende Gerüchte über ihre Mutter und ihre Affäre mit Steven zu Ohren kommen könnten, doch brachte er es nicht übers Herz, mit ihr darüber zu sprechen. Dafür war sie noch viel zu jung und zu verletzbar. Außerdem hing sie sehr an ihrer Mutter und litt darunter, dass sie sie so selten besuchte.

Doch als Chase sie jetzt in ihrem Ballettkostüm durch die Küche tänzeln sah, musste er sich widerwillig eingestehen, dass Dottie Sutherland und ihr Ballettunterricht wieder Glanz in Mandys Augen gebracht hatten. Und wie versprochen hatte Dottie bisher Mandy gegenüber SherryAnnes Affäre mit keinem Wort erwähnt.

„Ich habe Jolyn bei der Aufführung gesehen“, bemerkte Tante Susan, während sie einen Stapel Pappteller aus dem Schrank nahm. „Sie sieht gut aus.“

Chase zog sich einen Stuhl an den Küchentisch und setzte sich. „Ja, das finde ich auch.“

„Wäre das Hinken nicht, käme niemand auf die Idee, dass sie im letzten Jahr einen so schrecklichen Unfall hatte. Sie musste erst wieder laufen lernen, habe ich gehört.“

„Ja, unglaublich, dass sie sich jetzt einen Beruf gesucht hat, wo sie so viel auf den Beinen sein muss“, setzte Susan hinzu und schüttelte verwundert den Kopf. „Jolyn ist schon ein verrücktes Huhn.“

„Das kann man wohl sagen.“ Chase hatte ihr Hinken ganz vergessen, weil er sich auf andere Dinge konzentriert hatte, zum Beispiel ihre aufregenden Beine und ihre Hände, die ihm viel zu zart erschienen, um einen Hammer zu schwingen oder Holzbalken zu zersägen.

Hannah, die nur selten ein Blatt vor den Mund nahm, fragte ungeniert: „Und, hat sie dir ein Angebot für den Umbau gemacht?“

„Hat sie. Ihr Preis liegt fast fünfzehn Prozent unter dem der anderen Anbieter.“

Hannah ließ einen Pfiff hören. „Das ist eine Stange Geld.“

„Hm.“ Jolyn hatte Chase mit ihrer Detailgenauigkeit beeindruckt und ihm die einzelnen Posten so erklärt, dass er sie verstehen konnte, und nicht mit Fachbegriffen um sich geworfen.

„Aber Geld ist nicht alles“, mahnte Susan zur Vorsicht. „Man muss auch die Erfahrung und den Ruf in Betracht ziehen, und von beidem hat sie nicht viel vorzuweisen, fürchte ich.“

„Da magst du recht haben. Aber ich habe mich bei den Firmen nach ihr erkundigt, die sie als Referenzen angeführt hat, und nur das Allerbeste gehört.“

„Kein Wunder“, erwiderte Susan. „Man gibt ja nicht die Namen von Leuten an, die schlecht über einen urteilen.“

„Auch richtig. Aber ich habe den Herren genau beschrieben, um was es geht. Und sie haben absolutes Vertrauen in ihre Fähigkeiten.“

Tante Susan setzte sich Chase gegenüber an den Tisch. „Ich habe kein Recht, mich in deine Angelegenheiten zu mischen, und ich halte auch den Mund, wenn du das möchtest.“ Sie warf einen Blick ins Wohnzimmer, wo Mandy immer noch vor ihrem Großonkel herumhüpfte, der sich alle Mühe gab, ihr zuzusehen und gleichzeitig die Sechsuhrnachrichten im Fernsehen zu verfolgen. „Ich weiß, dass Jolyn deine Freundin ist, aber sie ist auch Dotties Tochter. Eine enge Zusammenarbeit mit ihr könnte Probleme bringen. Große Probleme.“

„Das ist mir bewusst, glaub mir.“ Chase rieb sich den verspannten Nacken. „Aber Jolyn unterstützt mich, was Mandy betrifft.“

„Bist du dir da ganz sicher? Blut ist dicker als Wasser.“

„Ziemlich sicher“, antwortete Chase wahrheitsgemäß.

„Dottie könnte versuchen, Jolyn für ihre Zwecke zu missbrauchen, ohne dass sie es merkt.“

„Jolyn kennt die Absichten ihrer Mutter und ist klug genug, sich nicht manipulieren zu lassen.“

„Also ich denke, dass Jolyn eine gute Wahl ist“, erklärte Hannah. „Sie braucht diesen Auftrag und wird alles tun, um ihn nicht zu vermasseln. Und Dottie wird ihr keine Steine in den Weg legen.“

Hannah sah ihre Mutter an, wartete auf eine Widerrede. Aber Susan zuckte nur unverbindlich die Schultern.

„Und da ist noch etwas.“ Chase lehnte sich zurück und streckte die Beine aus. Er war es nicht gewohnt, so lange zu sitzen. „Die beiden anderen Baufirmen sagten mir zwar zu, dass die Arbeiter jeden Tag auf der Baustelle seien, der Bauleiter jedoch nur zwei, dreimal pro Woche aus Pineville herüberkäme. Sollte etwas schiefgehen, wäre Jolyn nur fünf Minuten entfernt.“

„Ich finde es cool, dass du einer Frau den Job gibst. Und das Geld, das du dabei sparst …“ Hannah rieb vielsagend Daumen und Zeigefinger aneinander. „Damit kannst du eine Menge anfangen.“

Chase rechnete kurz nach. „Ja. Zum Beispiel die Einrichtung fürs Wartezimmer kaufen und die Leasingrate für das Röntgengerät bezahlen.“

Susan stand auf, um in die Küche zu gehen. „Hört sich an, als hättest du dich bereits entschieden.“ Der missbilligende Unterton in ihrer Stimme war nicht zu überhören.

„Noch nicht“, sagte Chase. „Ich werde noch einmal darüber schlafen.“

„Ich bin froh, dass du keine überstürzten Entscheidungen triffst.“

Hannah grinste Chase wissend an und sagte so leise, dass ihre Mutter sie nicht hören konnte: „Und wann sagst du Jolyn, dass sie den Job hat?“

„Gleich morgen früh“, erwiderte er ebenfalls grinsend. „Da bringt sie Sindbad zum Fädenziehen vorbei.“

Hannah stand auf, um ihrer Mutter beim Tischdecken zu helfen, und klopfte Chase im Vorbeigehen auf die Schulter. „Du hast die richtige Entscheidung getroffen.“

Davon war Chase ebenfalls überzeugt. Gut, er ging zwar ein gewisses Risiko ein, aber sein Bauchgefühl gab ihm grünes Licht. Außerdem gefiel ihm die Vorstellung, mit Jolyn zusammenzuarbeiten. Es fühlte sich richtig an, und dieses Gefühl hatte er schon sehr lange nicht mehr gehabt.

Jolyn zog die Zügel an und unterstrich das Kommando „Schritt“ mit sanftem Schenkeldruck. Sindbad gehorchte und fiel, wenn auch widerwillig, in einen langsamen Trott. Was Jolyn ihm nicht übel nahm. Er war seit der Rückkehr aus Dallas und seiner Verletzung nicht mehr ausgeritten und hasste es, in der Box zu stehen. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte er die ganze Meile zu Chase’ Haus im gestreckten Galopp zurückgelegt.

Jolyns Vorsicht galt in erster Linie ihr selbst. Sie ritt erst seit vier Monaten wieder, und das gegen den ausdrücklichen Rat ihrer Ärzte. Doch sie wusste, dass sie sich sonst vielleicht nie wieder in den Sattel gewagt hätte.

Manchmal träumte Jolyn noch von dem Sturz, der ihre Karriere so abrupt beendet hatte. Wie beinahe täglich in den vergangenen neun Jahren war sie mit Sindbad über den Planwagen gesprungen, während die Zuschauer gebannt den Atem anhielten. Doch diesmal wurde die Stille von einem scharfen Plock zerrissen, als Sindbads Huf gegen die Außenwand des Wagens prallte. Sie spürte, wie sein schwerer Körper das Gleichgewicht verlor, sah die Wiese auf sich zurasen und hörte das dumpfe Geräusch des Aufpralls.

Ein ungeheurer Schmerz schoss durch ihr Bein, der sie derart lähmte, dass sie nicht mehr abspringen konnte, ehe Sindbad wie eine gefällte Eiche zu Boden stürzte und sie mit seinem Körpergewicht von einigen Hundert Kilos unter sich begrub.

Später erzählte man ihr, dass Sindbad beim Versuch, wieder auf die Beine zu kommen, ihr noch weitere schwere Verletzungen zugefügt hatte. Gebrochene Rippen, eine ausgekugelte Schulter und gerissene Sehnen waren nur einige davon. Aber das spürte sie nicht mehr; sie hatte schon vorher das Bewusstsein verloren.

In Gedanken hatte sie den Unfall oft genug nachgespielt, um zu wissen, dass es genau das gewesen war: ein Unfall, der jedem hätte passieren können. Doch er war ihr passiert und hatte ihr Leben für immer verändert. Dennoch hatte sie Glück gehabt. Sie hätte bei dem Unfall ihr Leben verlieren können.

Sie erreichten Chase’ Farm, als die Sonne hinter den fernen Bergen aufging. Jolyn liebte den frühen Morgen und war froh, dass Chase sie und Sindbad um diese Zeit herbestellt hatte.

Ihre Besprechung am vorhergehenden Nachmittag war gut verlaufen. Das war zumindest ihr Eindruck gewesen. Chase hatte sich dazu nicht geäußert, nur gesagt, er werde ihr in den nächsten Tagen seine Entscheidung mitteilen.

Das Warten fiel ihr schrecklich schwer. Doch sie war entschlossen, das Angebot und die Praxis an diesem Morgen mit keinem Wort zu erwähnen, auch wenn sie sich dafür ständig auf die Zunge beißen müsste.

Chase musste Sindbads Hufgetrappel gehört haben, denn er kam in dem Moment aus dem Haus, als Jolyn gerade abstieg. Vorsichtig stellte sie ihren Fuß auf den Boden und wappnete sich gegen den stechenden Schmerz. Während sie Sindbad mehrmals im Kreis herumführte, um ihn zu beruhigen und ihr Knie wieder einzulaufen, flüsterte sie ihm zu: „Na, das war doch gar nicht so übel.“

Chase kam mit einem dampfenden Kaffeebecher in der ausgestreckten Hand auf sie zu. „Guten Morgen.“

„Du bist mein Lebensretter.“ Dankbar griff sie nach dem Becher.

„Hoffe, du trinkst ihn immer noch mit Milch und Zucker.“

„Ich trinke ihn, wie ich ihn kriegen kann, aber am liebsten mit Milch und Zucker.“ Sie hob die Tasse an die Lippen und trank einen Schluck.

„Und, wie geht es unserem Patienten?“

„Gut, glaube ich.“ Sie führte Sindbad in den Stall und machte ihn an einem Pfosten fest.

Chase begutachtete die Wunde. „Hm, heilt prima“, meinte er zufrieden. „Er wird nur eine kleine Narbe zurückbehalten.“

Nachdem Chase die Fäden gezogen hatte, fragte er Jolyn beiläufig: „Wann kannst du mit dem Umbau anfangen?“

Jolyns Herz machte einen Satz. „Sobald die Baugenehmigung vorliegt.“ Sie zwang sich, keine voreiligen Schlüsse zu ziehen. Das war noch keine Zusage.

„Die Genehmigung kann jederzeit abgeholt werden. Ich muss nur den Namen der zuständigen Baufirma einsetzen.“ Das Lächeln um seine Augen erreichte jetzt auch seine Lippen. „Die Sutherland Construction heißen wird.“

„Wirklich?“

„Ja, wirklich.“

Jolyn konnte sich gerade noch zurückhalten, Chase um den Hals zu fallen. Bauunternehmer umarmten ihre Kunden nicht. „Danke, Chase. Du wirst nicht enttäuscht sein, versprochen. Ich habe schon mal einen vorläufigen Zeitplan aufgestellt, nur für den Fall, und drei Arbeiter …“ Sie merkte, dass sie abschweifte, und konzentrierte sich aufs Wesentliche. „Soll ich nach Globe fahren und die Genehmigung abholen?“

„Wenn du Zeit hast, wäre das prima.“

„Kein Problem.“

„Und was steht sonst noch an?“, fragte Chase.

Jolyn führte Sindbad aus dem Stall, Chase ging neben ihr her. Am Zaun blieben sie stehen. „Wir könnten einen Vertrag aufsetzen. Wie der aussieht, hängt von deinem Kreditgeber ab, wenn du einen hast, und dessen Forderungen.“

„Habe ich nicht.“

„Gut, dann gibt es verschiedene Möglichkeiten. Was hältst du davon, wenn ich am Nachmittag die Baugenehmigung und die anderen Papiere vorbeibringe? In der Zwischenzeit rufe ich die Zementfirma an und frage, wann sie frühestens liefern können.“

„Komm lieber am frühen Abend. Nach dem freien Nachmittag gestern habe ich heute volles Programm. Ich rufe dich an, wenn ich fertig bin.“

„Ist gut.“ Jolyn begann in Gedanken bereits, ihren Tag zu planen. „Und vergiss nicht, du musst die alte Praxis ausräumen. Ich kann dir heute Abend dabei helfen.“

„Danke, das schaffe ich schon.“ Er zog eine Visitenkarte aus seiner Brieftasche. „Hier. Da steht meine Handynummer drauf, falls es Fragen gibt.“

Jolyn steckte die Karte ein und unterdrückte nur mühsam einen Freudenschrei. Sie hatte es geschafft, hatte ihren ersten großen Auftrag ergattert. Die Sutherland Construction Company war nicht mehr nur ein Traum.

Sindbad stupste sie am Arm.

„Da möchte jemand nach Hause“, sagte sie und hoffte, dass Chase nicht merkte, wie aufgeregt sie war. „Gibt es hier etwas, was ich zum Aufsteigen benutzen kann?“

„Ich helfe dir.“ Chase beugte sich vor und verschränkte die Hände zu einem Steigbügel.

Zögernd legte Jolyn ihre Hand auf Chase’ kräftige Schulter, stellte den linken Fuß in seine Hände und hoffte, dass das verletzte Bein der Anstrengung standhielt.

Gleich darauf hob Chase sie in den Sattel, wie er es früher so oft getan hatte, nur ließ er heute seine große, warme Hand noch eine kleine Weile auf ihrer Wade liegen.

Augenblicklich schoss ein Gefühl der Erregung durch ihr Bein, elektrisierender, als es unter den Umständen angebracht war. Chase war ihr Kunde, ihr Tierarzt, ihr alter Freund. Doch seine Hand an ihrem Bein weckte Gefühle in ihr, die mit Geschäft und Freundschaft recht wenig zu tun hatten.

Sindbad, den es nach Hause zog, scharrte mit den Hufen.

„Lass es mit ihm in den nächsten ein, zwei Wochen langsam angehen“, riet Chase, dessen Hände immer noch Jolyns Bein hielten. „Er soll möglichst nicht springen oder galoppieren.“

„Kein Problem.“ Seit ihrem Unfall hatte sie weder das eine noch das andere getan.

„Dann bis heute Abend.“ Er drückte ihre Wade und trat dann einen Schritt zurück.

Jolyn winkte zum Abschied nur, da sie ihrer Stimme nicht recht traute.

4. KAPITEL

Jolyn machte Platz, als die letzte Ladung Flüssigzement in das Fundament von Chase’ neuer Praxis gepumpt wurde. Anschließend reichte der freundliche junge Fahrer ihr den Lieferschein. „Wenn Sie hier bitte unterschreiben wollen, Ma’am.“

Ehe Jolyn unterschrieb, prüfte sie den Preis und die Liefermenge. „Vielen Dank“, sagte sie, nahm die Kopie für den Kunden an sich und gab dem Fahrer die restlichen Papiere zurück.

„War mir ein Vergnügen.“ Der Blick des jungen Mannes blieb einen Moment länger als notwendig an ihr haften, bevor er sich umdrehte und zu seinem Wagen ging.

Er war nicht der Einzige, der sie mit unverhülltem Interesse beäugte. Ähnliche Blicke hatte Jolyn bereits von dem Angestellten im Bauamt und dem Baggerfahrer geerntet, der das Fundament ausgehoben hatte.

Offenbar waren die Männer in dieser Gegend nicht an den Umgang mit einer weiblichen Bauleiterin gewöhnt. In manchen Blicken las sie deutliches sexuelles Interesse, in anderen pure Neugier. Und obwohl es keiner der Männer an Respekt hatte fehlen lassen, hatte sie doch mitunter so etwas wie Herablassung gespürt. Aber wenn ihr nichts Schlimmeres widerfuhr, konnte sie sich glücklich schätzen.

Zufrieden mit den ersten Arbeiten, ging sie zu ihrem Laster, um ein Maßband und die Wasserwaage zu holen. Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser, sagte sie sich, konnte jedoch beides nicht finden.

„Was machst du denn?“, hörte sie Mandys Stimme hinter sich.

„Ich suche meine Wasserwaage und das Maßband. Und du?“

„Nichts. Mir ist langweilig.“

Zu Mandys Füßen saßen zwei Hunde. Der eine war klein, bullig und unglaublich hässlich, dem anderen fehlte ein halbes Ohr. Als Kind hatte Chase ständig irgendwelche streunende oder verletzte Tiere angeschleppt, erinnerte sich Jolyn, und das hatte sich anscheinend bis heute nicht geändert.

„Kann ich dir ein bisschen zugucken?“

„Wenn dein Dad damit einverstanden ist.“ Sie fand, dass Mandy eher unglücklich als gelangweilt aussah.

„Er ist im Haus und redet mit Mrs. Payne. Sie hat heute auf mich aufgepasst“, erklärte Mandy. „Nach dem Abwaschen und Bügeln sind wir dann zu ihr nach Hause gegangen. Aber sie hat nicht mal Satellitenfernsehen.“

„Blöd“, befand Jolyn, die in ihrer Werkzeugkiste nach dem Maßband kramte.

„Ja“, seufzte Mandy.

„Hat sie keine Spiele?“

„Nee. Sie näht Patchworkdecken.“

Endlich fand Jolyn das Maßband und die Wasserwaage. „Lass mich raten. Du nähst nicht gern.“

„Ich tanze lieber.“

„Ich habe dich letzte Woche bei der Aufführung gesehen. Du warst echt klasse.“ Gefolgt von Mandy und den Hunden ging Jolyn zurück zur Baustelle.

„Tanzt du auch?“

„Ich? Nein.“ Jolyn winkte einem der Arbeiter und deutete auf eine unebene Stelle im Zement. „Einige Zeit lang habe ich Unterricht gehabt, aber dann aufgehört. Ich hatte nicht so viel Talent wie du.“

„Dad sagt, dass ihr beide zusammen Pferde dressiert habt. Und Mom auch.“

„Stimmt“, erwiderte Jolyn abwesend, die gerade den Zementboden mit der Wasserwaage nachmaß. „Deine Mom und ich waren beste Freundinnen.“

„Echt?“

Jetzt drehte Jolyn sich zu Mandy um. „Hat dein Dad dir das nicht erzählt?“

„Nein.“ Auf Mandys Gesicht spiegelten sich Überraschung, Freude und Enttäuschung wider. „Er sagte, dass ihr Freundinnen wart, aber nicht beste Freundinnen.“

„Doch, seit dem Kindergarten.“ Jolyn versuchte aufzustehen, aber ihr linkes Bein wollte das Gewicht nicht tragen. Sie stöhnte leise und stützte sich mit der Hand am Boden ab.

„Hast du Schmerzen?“, erkundigte sich Mandy.

„Mein Bein tut heute ein bisschen weh.“

„Warte, ich helfe dir.“ Mandy nahm Jolyn beim Ellbogen und schaffte es tatsächlich, sie mit ihren dünnen Armen hochzuziehen.

„Dad hat erzählt, dass du dir dein Bein verletzt hast, als du vom Pferd gefallen bist. Aber ich soll dich nicht danach fragen, weil du sonst …“ Sie verzog den Mund. „… vielleicht gekränkt bist.“

Jolyn lachte. „Unsinn. Du kannst mich alles fragen, was du willst.“

„Erzähl mir von meiner Mom.“

Ich sollte mich wirklich wieder an die Arbeit machen, dachte Jolyn, aber der verzweifelte Ausdruck auf Mandys Gesicht brach ihr fast das Herz. Es war ihr vollkommen unverständlich, dass SherryAnne ihre Tochter einfach so zurücklassen konnte und sie in zwei Jahren nur einmal besucht hatte. Auch professionelle Rodeoreiterinnen mussten doch hin und wieder Urlaub haben. „Du siehst genauso aus wie sie.“

„Das sagen alle.“

„Weil es stimmt.“ Dottie bildete sich etwas ein, wenn sie glaubte, etwas von Jolyn in Mandy zu sehen. „Aber du benimmst dich mehr wie dein Dad.“

„Hat er auch kein Gemüse gegessen?“

„Na ja, vielleicht gibt es doch ein paar Unterschiede.“

„Außerdem mag er Pferde lieber als ich. Ich habe ein Pony und alles, aber trotzdem tanze ich lieber.“