Bienchen summ herum - Helena Kugele - E-Book

Bienchen summ herum E-Book

Helena Kugele

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Beschreibung

Wer hat die Biene im Kleingeld versteckt und ist schuld am Mord des Biobauern mit der Bienenstichallergie? Im zweiten Schwarzwald Krimi mit Damrongchai Hägle und seinem Kollegen Merten geraten die beiden zwischen die Fronten von aktiven Tierschützern und bitterbösen Geschäftsleuten der Fleischindustrie. Hägle rettet Hühner aus einem Legehennbetrieb und wird dabei erwischt. Der penible Merten fällt in eine Güllengrube. Ein Imker trauert um seine Lieblingsbiene. Die Rechtsmedizinerin Verena fordert eine Entscheidung von Damrongchai. Ist es Liebe oder nicht? Das bringt ihn an den Rand der Verzweiflung und zur Lösung des Falls ...

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Seitenzahl: 290

Veröffentlichungsjahr: 2018

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

1

Die Haxe drehte sich in einer Art Karussell vorbei an orange leuchtenden Heizstäben.

Aufgespießt zwischen weiteren Unterschenkeln von toten Schweinen, floss ihr austretendes Fett in langen Fäden in eine Art Dachrinne unterhalb des Grills.

Die gleißende Sonne brannte grell auf den weißen Stand und erhöhte die Innentemperatur um weitere Grad Celsius.

Der schwitzende Mann hatte die Farbe seines Grillguts. Triefende Tropfen sammelten sich an seiner Stirn, nicht in der Fettrinne. Er holte eine Haxe vom Drehspieß und legte sie auf einen Teller neben ein weißes, rundes Brötchen. Achtlos warf er ein Tütchen Senf dazu.

»Fertig?“, fragte die Frau mit großem Geldbeutel an der Hüfte und nach unten hängenden Mundwinkeln. Sie lehnte an der Imbissbude im Schatten.

»Siehst du doch«, antwortete ihr der Mann am Grill und schob den Teller ein Stück über die Theke.

Sie griff nach dem Rand des Tellers und umfasste mit ihrer anderen Hand die Henkel von fünf Bierkrügen. Ihr Handgelenk knickte ab, trotzdem stemmte sie die halben Liter in Brusthöhe.

Es war nicht weit bis zum ersten Tisch. Dort erwarteten sie leuchtende Gesichter. Rot glühend blickten sie milde aus halb geöffneten Augen.

Vor der Mauer staute sich die Julihitze, dahinter floss träge die Nagold, die zu wenig Wasser führte. Die langen grünen Fadenpflanzen lagen stellenweise trocken und verströmten zusammen mit dem feuchten, rötlichen Flusssand Gerüche einer Kläranlage. Der Wald, die Tannen, waren zu weit entfernt, um Kühle zu spenden.

Das Bier schwappte über den Handrücken der Kellnerin, als sie es wegen des Gewichts zu schnell abstellte.

»Wer bekommt die Haxe?«, fragte sie laut.

»Da hinten, der junge Kerle.« Der Rufer, vorne auf der rechten Bank, lachte über seinen eigenen Witz, damit dieser auch als solcher erkannt werde.

Dann rieb er sich über seine griechische Nase und sein unrasiertes Kinn. Er trug eine dunkelblaue Arbeitshose und roch nach Kuhstall.

Hinten auf der linken Bierbank streckte ein grauhaariger Mann, unbeeindruckt, dass über ihn gescherzt worden war, seine Arme mit den hochgekrempelten Hemdsärmeln zur Kellnerin.

Sie beugte sich weit über den Tisch, so dass ihr gebräuntes Dekolleté über der Trachtenbluse für alle gut einsehbar war, und hielt ihm den Teller entgegen. Sie musste sich aufstützen, damit sie nicht vornüber fiel.

Die Haare auf den Armen des Mannes waren auch grau und die Haut wellte sich schlaff über den sehnigen Strängen, als er nach der Haxe auf dem Einwegteller griff.

Der nach Stall riechende Komiker mit der griechischen Nase, vorne in der rechten Bankreihe, griff nach einem der Biergläser. Er tauschte es mit seinem Leergetrunkenen aus. Als er zu einem Schluck ansetzte, schlug ihm sein Sitznachbar freundschaftlich auf den Rücken, so dass er mit den Zähnen gegen den breiten Rand des globigen Glases stieß.

Der Sitznachbar fragte: »Ist das Bier überhaupt bio, Herr Ökolandwirt?«

Die dunklen Locken klebten verschwitzt um das Gesicht des Biobauern und betonten seine griechische Nase. Er strich über die Bierflecken auf seiner Arbeitshose, als würden diese dadurch verschwinden.

Nun lachte der Grauhaarige von hinten links mit vollem Mund über das Missgeschick des Landwirts, was der Bauer aber nicht einmal zu bemerken schien, denn er rechtfertigte sich in die Runde:

»Ich baue vielleicht bio an, aber deswegen kann ich doch trinken was ich will.«

Er setzte wieder seinen Krug an. Ein paar Tropfen Bier liefen ihm aus dem Mundwinkel. Sie befeuchteten den ausgefransten Kragen seines T-Shirts. Sein Kehlkopf bewegte sich bei den großen Schlucken, die er nahm.

Er stellte sein Glas halb leer wieder ab und fügte hinzu, als hätte er keine Trinkpause eingelegt:

»Mein Nachbar, der Hühnerbaron, isst ja auch nicht nur Grillhähnchen.«

Schweiß perlte dem Biobauern aus dem feuchten Haaransatz und sein Gesicht glänzte. Er zog sein Portemonnaie aus der Hosentasche seiner Latzhose hervor.

Die Hose trug er immer, außer zum Schlafen und wenn seine Frau mal mit ihm zur Oper wollte. Das geschah nur noch selten. Seit sie den Hof und die Kinder hatten eigentlich fast gar nicht mehr.

Ihm war übel. Er fasste sich kurz an die Brust. Diese Kreislaufschwäche ereilte ihn in letzter Zeit öfter nach Genuss von Alkohol. »Ich will zahlen. Die Hitze hält ja kein Mensch aus.«

Die Kellnerin nahm den Bierdeckel und zählte die Striche ab, von denen jeder eine Halbe Bier symbolisierte. Dann zückte sie einen Block aus der Schürze und nahm den Kugelschreiber, der an einem Faden mit ihrem Gürtel verbunden war. Darauf schrieb sie in großer Schrift Zahlen, die sie addierte.

»Einundzwanzig Euro dreißig, Volker«, verlangte sie.

Volker wischte sich die Stirn. »Ist der Adler heute zu? Du bedienst doch sonst dort.«

Sie nickte und zog den Mund ein wenig breit, was ihre Mundwinkel nicht mehr so hängen ließ. Vom anderen Tisch winkte eine Familie zum Bestellen.

»Ich komme gleich«, rief sie rüber und schnaufte hörbar.

Volker holte aus dem abgegriffenen Lederbeutel langsam zwanzig Euro hervor.

»Stimmt so«, meinte er, obwohl noch Geld fehlte.

Die Tischrunde lachte wie immer über seinen Standardwitz, als hätte er ihn soeben erfunden.

Die Kellnerin reagierte nicht, sondern sah ihn nur mitleidig an.

Er öffnete den Druckknopf für das Fach, in dem das Kleingeld war. »Na gut, wenn Ihr das Geld so dringend braucht, dann sollt Ihr es haben.«

Er sah in die Runde, die gedämpft lächelte während er nach den Münzen griff. Es strengte ihn an, seine Cents zusammen zu suchen, aber für großzügige Trinkgelder waren die Zeiten zu schlecht. Er fasste tief in das Kleingeldfach. Wenigstens das war noch gefüllt.

Schlagartig durchfuhr ihn dieser schneidende Schmerz, der sich anders anfühlte, als die Verletzungen beim Zäune setzen, doch kannte er den Schmerz nur zu gut.

Neben ihm wohnte der Imker, mit seinen verfluchten Bienen, die im Heu saßen und ihn stachen.

Laut und durchdringend schrie Volker auf, zog seine Hand ruckartig nach hinten. Die Geldmünzen fielen klirrend zu Boden.

Volker starrte seine Hand an. An seiner Fingerkuppe zappelte eine Biene. Sie hatte ihn gestochen und ihr Stachel hing in seiner Haut fest. Sie flog und riss sich los. Taumelnd stürzte sie auf den Tisch und verendete einsam.

Ihr pulsierender Stachelapparat, den sie sich durch ihre Flucht selbst aus dem Körper gerissen hatte, pumpte hingegen noch immer Bienengift in Volkers Fingerkuppe.

Mit seinen rissigen Händen, in denen sich die schwarze Ackererde scheinbar für immer in die Furchen gelegt hatte, entfernte er den Stachel. Er hatte Mühe ihn zu greifen, konnte ihn nur verschwommen sehen und er zitterte.

So schnell wirkte das Bienengift doch sonst nicht. Ihm war schwindlig.

»Du brauchst deine Spritze!«, rief die Kellnerin und blickte ihn entsetzt an.

Die Umsitzenden redeten nicht mehr. Sie starrten alle zu dem ungewöhnlich erregten Volker, ungewöhnlich für einen Bienenstich.

Volker öffnete den Reißverschluss der Brusttasche seiner Latzhose. Zitternd griff er hinein und holte drei Päckchen Papiertaschentücher heraus.

Sein Gesicht schwoll an und er atmete schwer. Schweiß rann über seine leichenblasse Haut.

»Es ist nicht da«, hauchte der Biobauer und zeigte auf die Taschentücher.

Mit einem Schwall erbrach er sich über seine blaue Hose und in sein restliches Bier. Mit weit aufgerissenen Augen ergriff er den Arm der Kellnerin.

»Arzt«, konnte er noch hervor pressen, dann wurde es gnädig dunkel um ihn und er spürte nicht, wie er zur Seite kippte und sich den Kopf am Tisch stieß.

»Hallo, hallo!« Das Rufen und Tätscheln der Kellnerin nutzte nichts. Volker antwortete nicht. Die Haut in seinem Gesicht war bläulich verfärbt und mit Pusteln übersäht.

Wegen seiner geschwollenen Lider hätte er die Augen auch nur noch schwer öffnen können, wenn er noch bei Bewusstsein wäre.

»Ruft doch endlich einen Krankenwagen!« Der grauhaarige Mann hatte sich aus seiner Schockstarre gelöst.

Der vielleicht vierzehnjährige Junge vom Nachbartisch tippte auf seinem Smartphone und gab dann seiner Mutter das Telefon, die schnell und undeutlich redete.

Nach wenigen Minuten rief sie in die Runde: »Sie kommen.«

»Das reicht doch nicht mehr«, meinte der Junge, doch niemand antwortete ihm.

Alle lauschten Volkers pfeifenden Atemgeräuschen und hofften, dass seine Bronchien weiter pfeifen mögen.

Und so war es still um Volker, als er aufhörte zu atmen.

2

Was? Er wurde von einer Biene gestochen?« Kommissar Damrongchai Hägle stieg auf der Beifahrerseite in den Dienstwagen.

Hitze schlug ihm entgegen.

Sein Kollege Merten antwortete ihm von draußen:

»Das war ein anaphylaktischer Schock, eine hochallergische Reaktion. Noch nie gehört?«

Damrongchai saß in dem überhitzten Auto.

Er wunderte sich: »Das gibt es? So schnell?«

»Eine viertel Stunde hat man normalerweise bei Insektenstichen Zeit, aber anscheinend gibt es da Ausnahmen. Bei RAST 6 kommen einfach die ganz heftigen Histaminreaktionen, die bis zum Kreislaufversagen führen können«, redete Merten in das Wageninnere.

Noch immer war er nicht eingestiegen, sondern hielt die Tür offen.

»RAST? Was bedeutet das?«, wollte Damrongchai vom medizinisch gebildeten Merten wissen.

»RAST ist die Einstufung der allergischen Reaktion des Körpers auf ein potentielles Allergen. Die Skala geht von null, wie keine Reaktion, bis sechs, lebensbedrohliche Reaktion.«

Merten hielt einen Moment den Arm in den Innenraum des Autos und prüfte die Temperatur.

Damrongchai winkte ihn herein. »Stell dich nicht so an. Das wird nicht besser, solange du nicht losfährst.«

Merten setzte sich auf die Fahrerseite und rieb das Lenkrad mit einem Desinfektionstuch ab. Die nassen Schlieren auf dem schwarzen Kunstleder trockneten sofort unter der Sonneneinstrahlung. Der Geruch von Desinfektionsmittel, den Merten ohnehin immer verströmte, intensivierte sich für einige Augenblicke durch die Verdunstung und stieg Damrongchai in die Nase.

Merten startete den Wagen. Sie fuhren über die neu gemachte Brücke.

In Hirsau zeigte Damrongchai auf den Bäcker mit der goldenen Brezel über der Tür. Aber Merten fuhr einfach weiter und fragte erst nach der nächsten Kreuzung:

»Hast du wieder nicht gefrühstückt?«

»Du bist mit Absicht vorbei gefahren, das ist doch das Letzte«, giftete Damrongchai.

»Deine Brezel-Krümel im Auto sind das Letzte.«

»Pedant.«

»Lieber etwas exakter als notwendig. In deinem Chaos könnte ich nicht leben.« Merten spitzte den Mund.

Damrongchai verdrehte die Augen, aber er gab auf, beendete das sinnlose Gespräch der Vertreter zweier Welten, die täglich aufeinander prallten und fühlte sich vernünftig. Er würde sich einfach auf den Fall konzentrieren und dachte über die schicksalshafte Biene nach.

Nach kurzer Zeit teilte er seine Gedanken Merten mit:

»Der Mann ist ohne Zweifel tragisch ums Leben gekommen, aber wieso ist es Mord?«

»Sattler war sehr kurz angebunden am Telefon. Ich weiß so viel wie du«, meinte Merten und reduzierte die Geschwindigkeit, denn er hatte das Fest erreicht.

Menschen standen auf der Straße herum. Merten fuhr im Schritttempo.

Ein paar Betrunkene, die noch immer nicht den Ernst der Lage verstanden, klopften gegen das Auto.

Damrongchai setzte das Blaulicht auf das Dach des Dienstwagens. Still gab es Lichtsignale ab. Gespenstisch blinkte es über die Gesichter.

Helene Fischer sang noch in Zimmerlautstärke aus einer der Lautsprecherboxen, bis auch sie verstummte.

Merten ließ den Wagen weiter rollen und hielt dann vor der größten Menschenansammlung.

Er öffnete die Tür einen Spalt. »Oh nein, überall Besoffene und es stinkt nach altem Fett.« Mit der Hand umhüllte er seine Nase und nuschelte den nicht ernst gemeinten Vorschlag: »Die Biene hat ihn ermordet. Wir verhaften sie und dann gehen wir wieder.«

Damrongchai sah sich um. Er stellte sich in den Türrahmen des Autos, damit er über die Köpfe hinweg blicken konnte, aber er entdeckte die Rechtsmedizin nicht. Verena war noch nicht da.

Allerdings bestimmte der Chef der Spurensicherung, in seinem weißem Papieranzug und dem verschwitztem, rötlichen Gesicht, laut wie immer: »Alle weg hier.«

Seine tiefe Stimme durchdrang das Gemurmel.

Zwei weitere Papierraschelmänner rollten ein rot weißes Absperrband um den Tatort – oder vielleicht auch nur um die Unfallstelle. Ganz eindeutig war das noch nicht zu benennen.

Merten hielt seinen Dienstausweis in die Höhe und bahnte sich einen Weg ohne Körperkontakt durch die Menge.

Damrongchai schloss die Autotür und folgte seinem Kollegen, der auf eine Kellnerin zusteuerte.

Merten legte sich sein Tablet auf den Arm für die Notizen und Damrongchai begann die Frau zu befragen.

Mit Jeanshose und Trachtenbluse bekleidet, nestelte sie an der Schnur, an welcher ihr Stift baumelte, während sie antwortete. »Natürlich kannte ich ihn, habe ihn auch schon im Alten Adler oft bedient. Er hatte mir mal sein Notfallset gezeigt. Das ist eine kleine Tasche mit Spritze und Asthmaspray drin. Das trug er in der Brusttasche seiner Arbeitshose. Die war schon ganz ausgebeult.«

Sie sah hinter die Absperrung zu dem toten Volker, dessen Gesicht und Körper zugedeckt auf dem Boden lagen.

Nachdenklich sprach sie weiter: »Heute war der irgendwie so komisch, so langsam«, suchte sie die richtige Beschreibung, »die paar Halbe Bier steckt der Volker normal weg wie nichts.« Schnell und hektisch erzählte sie weiter: »Die Biene hat ihm in den Finger gestochen. Er wollte seine Rechnung bezahlen und fasste in den Geldbeutel. Da muss sie drin gewesen sein. Er schrie und griff gleich in seine Tasche Da zog er aber nur mehrere Päckchen Papiertaschentücher heraus und nicht sein Notfallset . Als hätte die jemand mit Absicht reingetan, damit Volker nicht auffällt, dass seine Spritze gar nicht da ist.«

Sie blinzelte und nahm die Hand vor den Mund. Merten hatte alles notiert und sah kurz von seinem Bildschirm auf. Damrongchai fasste die Frau leicht an ihrem sehnigen Oberarm. »Möchten Sie woanders reden?«

»Nein, es geht schon.«

Er nickte leicht und sprach leiser als vorher.

»Wussten noch andere von der Allergie?«

»Er hat am Stammtisch allen erzählt, dass er eine Allergie hat, aber er hat nie darüber gesprochen, was genau geschieht, wenn er gestochen wird.«

»Davor hatte er wahrscheinlich Angst«, sagte plötzlich Verena hinter Damrongchai und berührte ihn an der Schulter.

Er drehte sich zu ihr um. Ihre kurzen, dunklen Haare glänzten in der Sonne. Ein leichtes, weißes Oberteil umspielte ihre schmalen Schultern. Auch bei dieser Hitze war sie perfekt angezogen. Sie war überhaupt perfekt.

Freudig überrascht rief er: »Da bist du ja.«

Dann erschrak er. So direkt und emotional wollte er das nicht gesagt haben, aber es war ihm rausgerutscht und sie sah ihn jetzt ganz anders an.

Das machte ihm Angst und er stellte schnell eine banale Frage: »Brauchst du Handschuhe? Merten hat welche.«

»Habe ich selbst, danke.« Sie stellte ihren Koffer ab, den sie für die medizinischen Untersuchungen der Leichen vor Ort benötigte, und beugte sich über den Toten.

Das Tuch, eigentlich nur eine Isolierfolie wie sie zur ersten Hilfe bei Unfällen genutzt wird, legte sie zur Seite.

Damrongchai blieb hinter ihr. Über ihre Schulter hinweg blickend, konnte er das Gesicht von Volker sehen, doch seine Züge waren nicht mehr erkennbar.

Die Schwellungen entstellten ihn. Die Haut war mit Pusteln übersät. Seine Augen waren verdeckt von rötlichen Ödemen.

Verena öffnete seinen Mund. Sie sah in seinen Rachen und drückte die Zunge nach unten.

Eine Trachealkanüle war in einen Luftröhrenschnitt gesetzt worden, hatte aber offensichtlich nicht ausgereicht, um Volker zu retten.

»Alles komplett zu«, meinte sie und richtete sich auf, um den Notarzt zu begrüßen.

Er trug ein durchgeschwitztes weißes T-shirt und berichtete der Rechtsmedizinerin, was passiert war: »Die Frau dort hinten hatte schon mehrere Minuten Herzdruckmassage hinter sich, als wir kamen.«

Der Arzt wies mit der Hand zur Mauer, an der die Mutter mit ihrem Sohn und ihrem Mann lehnten. Der Mann hatte sie in den Arm genommen. Der Junge hatte den Kopf an ihre Schulter gelegt.

Der Arzt berichtete weiter:

»Wir haben Adrenalin gegeben, Antihistaminika H1 und H2, zwei Liter Volumengabe, Tracheotomie, Sauerstoff und Defi, dann Exitus 16:23 Uhr. Multiples Organversagen. War zu spät.«

Verena klopfte ihm seitlich an den Arm. »Mehr konnte nicht getan werden.«

Der Notarzt nickte und flüsterte fast: »Das ist nun Ihre Arbeit.«

Er wandte sich ab und verschwand grußlos.

Damrongchai hatte zugehört und fragte jetzt Verena:

»Hätte Volker überlebt, wenn der Arzt früher da gewesen wäre?«

»Das kann niemand sagen. Es kann sein, dass er ihn hätte retten können.« Sie fotografierte den Tatort und den Toten, wie er reglos dalag.

Dann winkte sie einem jungen Mann zu, der über die Masse herausragte und mit wippendem Schritt auf sie zu kam. Sein schwarzes Hemd trug er zugeknöpft. Damrongchai erkannte ihn als einen Mitarbeiter des Beerdigungsinstituts. Er und sein Kollege werden den Toten nach Tübingen in die Rechtsmedizin überführen.

Damrongchai legte seine Hand auf Verenas Unterarm.

»Hast du mal Zeit?«, fragte er.

»Was willst du noch wissen?« Sie hatte ihren Arm geschäftig weggezogen.

»Ob du mal Zeit hast?«, wiederholte er.

»Ach so, du meinst Zeit?«

»Ja, Zeit«

»Du kannst nachher zur Obduktion kommen.«

»Ich dachte da an was anderes.«

»Dann ruf mich an.« Sie zückte das Thermometer. »Ich muss jetzt endlich die Temperatur nehmen.«

Der junge Mann mit dem schwarzen Hemd hatte seinen Kollegen mitgebracht. Sie trugen einen Transportsarg.

Damrongchai verließ die eifrige Verena und ging zu Merten, dessen Stimme er gehört hatte.

Merten balancierte sein Tablet auf dem Unterarm und stand neben dem Grauhaarigen, dem der Appetit auf seine Haxe vergangen war.

»Sie kennen den Mann. Wie heißt er?«, fragte Merten.

»Das ist Volker Engels, der Biobauer, der hat drei kleine Kinder und bestimmt Schulden.«

»Wieso hat er Schulden?«, hakte Damrongchai nach, während Merten notierte.

Der ältere Mann gestikulierte mit seinen sehnigen Armen, um die Erklärung seiner These zu unterstützen.

»Die kommen doch alle nicht raus mit ihrem Bio. Außerdem trinkt er zu viel. Ich sehe ihn jedes Mal, wenn ich auch im Alten Adler bin.«

»Und das ist wie oft?« Merten sah einen Moment auf.

»Na ja, schon so drei, vier mal in der Woche. Wenn mal einer Geburtstag hat, auch mal öfter.« Der Grauhaarige rieb sich im Nacken und sah ein wenig schräg an Merten vorbei, dann ergänzte er noch: »Ich trinke zu Hause nie was, nicht dass Sie denken, ich wäre Alki.«

Doch Merten meinte nur: »Das zu beurteilen, steht mir nicht zu. Dürfte ich Ihren Personalausweis noch sehen?«

Der Graue suchte in seiner Hosentasche nach seinen Papieren.

Damrongchai überlegte, dass er sich über den Alkoholkonsum des Zeugen durchaus ein Urteil gebildet hatte. Aber so war Merten, diese Antwort, dieses sachliche Vorgehen.

Der Kleinbus des Beerdigungsinstituts fuhr langsam vorbei.

Es war nicht mehr so heiß. Die Sonne schien nicht mehr bis ins Tal.

Merten nahm die Personalien des Grauhaarigen auf und klemmte sich das Tablet unter den Arm.

Schweigend gingen sie zum Dienstwagen zurück.

Merten setzte sich auf die Beifahrerseite. »Hat Frau Dr. Simons noch etwas gesagt, was wir noch nicht wussten?«

Damrongchai startete den Motor.

»Nein, da war nichts Neues dabei.« Er hatte das abwertend gesagt und er wollte nicht, dass Merten bemerkte, worum es ihm wirklich ging, nämlich um sein Privatleben, darum, dass er nicht klar kam mit seinen Gefühlen.

Damit sein Kollege nicht allzu lange Zeit zum Nachdenken hatte, fragte Damrongchai schnell: »Wer sagt der Ehefrau, dass ihr Mann tot ist?«

»Ich schreibe mit.« Merten legte sein Tablet auf den Schoß und starrte auf den Bildschirm.

Damrongchai nickte nur. Diese Art von Gesprächen waren seine Aufgabe. Das konnte er, wenn schon das mit dem Privatleben nicht seine Stärke war.

Verena wollte keine Zeit für ihn haben. Er fühlte Schwere.

3

Rote Kindergummistiefel standen vor einer Scheune. Hühner rannten aufgescheucht und flatternd zur Seite, als der dunkle Dienstwagen auf den Hof einbog.

»So stellt man sich das vor, wenn man im Supermarkt Bio-Eier kauft.« Damrongchai parkte mitten auf dem gepflasterten Hof und machte den Motor aus.

An dem großen Scheunentor lehnte eine Mistgabel und hinten auf der Weide muhten Kühe.

Die Tiere standen unter knorrigen Birnenbäumen, die ihnen Schatten spendeten und kauten das, von der andauernden Hitze, nicht mehr so saftige Gras.

Aus dem Stall kam ein Geruch, den manche mochten, Merten jedoch nicht. Davor stand eine mächtige Linde mit imposanter Blätterkrone.

Damrongchai und Merten gingen an einem bunten Bauerngarten vorbei. Grüne Bohnen schlängelten sich an Holzstäben nach oben.

Eine schlanke Frau mit grauen kurzen Haaren sah aus dem Fenster des Wohnhauses. Sie hatte ein kleines Kind auf dem Arm.

Damrongchai klopfte gegen die verwitterte Eingangstür, denn eine Klingel konnte er nicht finden. Auf dem Türsturz aus Rotsandstein war die Jahreszahl 1895 kaum noch leserlich eingemeißelt. Das sollte das Alter des Hauses zeigen.

Eine jüngere Frau mit Pferdeschwanz öffnete. Ein paar dunkelblonde, gewellte Haarsträhnen ließen sich nicht bändigen und umspielten ihr fast kindliches Gesicht. Sie hatte einen traurigen Zug um den Mund.

Für einen Moment dachte Damrongchai, sie wisse schon vom Tod ihres Mannes, aber dann erkannte er, dass die Traurigkeit auch eine Erschöpfung sein könnte, die schon seit Jahren anhielt.

»Sind Sie Daniela Engels?«, fragte er sanft.

»Ja.« Sie musterte ihn.

Das kannte er schon. Er sah nicht aus wie ein Kommissar. »Dürfen wir herein kommen? Wir sind von der Polizei.«

Wortlos lief sie voraus, über die blassgelben Fließen durch den schmalen Flur in die Küche. Hier standen noch auf einem großen Holztisch die Teller der Kinder. Ein paar Fliegen machten sich über die restlichen Nudeln her.

»Die Kleinen essen immer zuerst zu Mittag. Bis die Großen aus der Schule nach Hause kommen, wird es oft spät. Heute haben beide bis um vier Schule und die Busse fahren auch so lange bis sie hier draußen sind.«

Daniela räumte ein paar Teller zusammen. Ein Kind kam in die Küche.

»Ich will dir helfen«, sagte das Mädchen mit dem schmutzigen Kleidchen und ihre Mutter gab ihr einen Teller, den sie zum Spültisch trug.

Dann stand die große, fast magere Frau, die vorhin am Fenster war, im Türrahmen.

»Soll ich mit den Kleinen rausgehen? Die Herren möchten sicher in Ruhe mit Dir sprechen«, bot sie an und nickte Damrongchai und Merten zu. Sie stellte sich als Gisela Saumburg vor, die Mutter der Bäuerin.

Ihr Blick war besorgt und nach den Falten im Gesicht zu urteilen, war sie nicht gerade jetzt besorgt, sondern dauerhaft, wie auch die Traurigkeit im Gesicht ihrer Tochter einfach da war.

Das Kind, das sie vorhin auf dem Arm getragen hatte, war ein kleiner Junge. Er stand neben ihr, hielt sich an ihren Beinen fest und hatte den Daumen im Mund.

»Warum nicht? Ihr könntet die Großen von der Bushaltestelle abholen«, schlug die Mutter aufgesetzt lustig ihren kleinen Kindern vor.

»Nö, das ist langweilig.« Das Mädchen schob scheppernd den Teller in das für sie zu hohe Spülbecken. »Ich will zum Kälbchen.«

Der Junge, der bei der Oma stand, strahlte, ließ aber den Daumen trotzdem in seinem Mündchen. Eilig rannte er seiner Schwester hinterher.

Beide waren barfuss. Die Oma lief schnell und elegant den Flur entlang. Sie schloss leise die Haustür hinter sich.

»Ihre Mutter bewirtschaftete früher den Betrieb nicht, oder?« Das war das erste, was Merten gesagt hatte.

Selbstverständlich fiel ihm auf, dass die Großmutter, die so gepflegt aussah wie er, nicht in so einem geruchsintensiven Umfeld ihr Leben verbracht haben konnte.

Daniela Engels antwortete ihm nicht, sondern fragte:

»Können Sie mir endlich mal sagen, warum Sie hier sind? Ist er wieder betrunken gefahren und dieses Mal ist wirklich etwas passiert?«

Ihre Traurigkeit schwenkte dann doch kurz um in eine hilflose nervenzerreißende Verzweiflung. Sie setzte sich auf die geblümten Kissen der Eckbank Damrongchai gegenüber, der auf einem der klebrigen Kinderstühle Platz genommen hatte.

Er musste es ihr jetzt sagen. »Ihr Mann hatte einen anaphylaktischen Schock, den er nicht überlebte.«

Er sah ihr in die Augen, bis sie begriff, was er ausgesprochen hatte.

»Wieso? Wo war sein Notfallset? Das hat er immer dabei!« Sie war aufgesprungen und ihre Stimme überschlug sich.

Damrongchai versuchte ruhig zu reden.

»Kann es jemand genommen haben?«

»Sie meinen, jemand hat das geplant? Er wurde ermordet?«

»Das ist leider nicht auszuschließen, denn es war auch noch eine Biene in seinem Portemonnaie.«

Jetzt ließ sie den Tisch los und schlug die Hände vor Mund und Nase.

»Die Biene hat jemand versteckt. Das kann nicht anders sein. Mein Mann rennt schon, wenn er eine von den Viechern von Weitem hört. Und wo ist dieses verfluchte Notfallset?«

Sie hetzte los, raus aus der Küche, die Treppe nach oben in das moosgrüne Badezimmer.

Damrongchai und Merten waren ihr gefolgt. Aus einem hohen, schmalen Schrank, der hinter die Tür gequetscht stand, zog sie Handtücher, mehrere Quietsche-Entchen und angebrochene Shampoo-Flaschen heraus und warf sie auf den Boden.

Sie eilte weiter, an den Kommissaren vorbei.

Im Schlafzimmer riss sie die Kleidung aus dem alten Bauernschrank.

Dann lief sie wieder nach unten, durchsuchte im Flur die Jacken in allen Größen, die schon seit Wochen, bei diesem heißen Wetter, niemand mehr getragen hatte.

Dabei schrie sie immer wieder:

»Es ist weg!«

Im Wohnzimmer ließ sie sich auf das Sofa fallen und weinte.

»Er hatte das Set immer dabei. Er wusste um die Gefahr.« Schwer verständlich zwischen den Tränen presste sie die Worte heraus.

Damrongchai fragte: »Wäre es möglich, dass jemand hier im Haus war? Wo lässt Ihr Mann seinen Geldbeutel liegen, wenn er zu Hause ist?«

»Hier steht den ganzen Tag die Tür offen und oft ist niemand im Haus, die Kinder sind mit mir im Stall oder meine Mutter bringt sie zum Musikunterricht in die Stadt. Wir haben überhaupt keinen Schlüssel für unsere Tür.«

Sie schüttelte aufgeregt den Kopf. Es lösten sich noch mehr Strähnen aus den nach hinten gebundenen Haaren. »Jeder kann hier ein und aus gehen. Das ist kein Geheimnis. Das Portemonnaie liegt im Flur auf dem Schuhschrank und die Arbeitshose hängt daneben.«

Sie zog ein gebrauchtes Papiertaschentuch aus der abgeschnittenen Jeans, die sie trug, und wischte sich damit die vielen Tränen aus dem Gesicht. »Kann ich ihn sehen? Sie müssen mich nicht so betroffen ansehen, ich weiß, dass er entstellt sein wird.«

»Sie müssen ihn sogar identifizieren.« Damrongchai presste die Lippen zusammen.

»Wir bringen Sie hin«, sagte Merten stockend.

Die Mutter von Daniela Engels kam durch die Tür. Damrongchai sah durchs Fenster, wie draußen die Kinder auf einem großen Sandhaufen mit Schaufeln und bunten Förmchen spielten.

Ohne ein Wort zu sagen, ging Gisela Saumburg direkt zu ihrer Tochter. Sie umarmten sich. »Was ist denn passiert?«

Die große Frau strich ihrer Tochter leicht über die Wange. Bevor Daniela antworten konnte, schrie draußen der kleine Junge, als ob er den Schmerz seiner Mutter spüren könnte.

Die Oma wollte nach draußen eilen, aber das Kind patschte schon mit seinen Sandfüßen auf dem Wohnzimmerteppich.

Er weinte: »Maria hat mein Gebautes kaputt gemacht mit ihrem blöden Kuchen.«

Daniela nahm ihren Sohn auf den Arm und drückte ihn fest. Auch bei ihr liefen wieder Tränen. Dann gab sie das Kind ihrer Mutter.

»Es ist wegen Volker, ich muss mit den Polizisten mit.« Und nur mit den Lippen formte sie das Wort tot.

Gisela Saumburg war offensichtlich gewohnt die Contenance nicht zu verlieren, ihr Gesicht erinnerte an eine neutrale Maske, selbst die Besorgnis war weg, obwohl sie nun mehr als sonst angebracht gewesen wäre.

Sie starrte zu ihrer Tochter, ohne dass der Junge etwas davon bemerkte, und flüsterte:

»Wir sagen es den Kindern später, zusammen, wenn du wieder da bist.« Dann wandte sie sich dem Kleinen zu. »Die Mama muss mal weg fahren. Wir winken ihr nach und bauen dann im Sand eine lange Straße für deine Autos.«

»Tausend Kilometer lang?«

»Ja, bis nach Afrika.« Sie küsste auf die Wange.

Alle drei schaufelten schon wieder im Sand, als Merten vom Hof fuhr und in die Straße einbog.

Das Auto roch ein bisschen nach Stall. Die Bäuerin hatte sich umgezogen und ihre Haare hochgesteckt. Sie war eine hübsche Frau, wie ihre Mutter.

Schweigend sah sie aus dem Fenster.

Damrongchai freute sich auf Verena, hatte aber gleichzeitig Angst vor ihr. Trotzdem wollte er sie noch einmal fragen, ob sie mal ein paar Minuten Zeit für ihn hätte.

Den Fahrtwind ließ er sich durch einen Fensterspalt über das Gesicht streichen, als ob er seine Gedanken verdünnen könnte, mit Frischluft anreichern und dadurch alles leicht würde wie ein Hauch.

4

Merten hielt am Ortsschild von Tübingen an der Ampel. Links ragte erhöht die betongraue Uniklinik empor. Er setzte den Blinker und bog ab, als die Ampel grün zeigte.

Den Parkplatz, auf den Merten nun den Wagen abstellte, hatte Dam schon genutzt, als er noch seinen Opa in der Klinik besuchte. Sein Opa, der auf eigenen Wunsch entlassen wurde und zu Hause starb.

Dam brauchte sehr lange, um seiner Mutter zu verzeihen, dass sie nichts unternahm, sondern einfach die Entscheidung seines Großvaters akzeptiert hatte.

Kurz lächelte er, denn erinnerte er sich daran, wie er zusammen mit ihm in den Wald ging und sie Pilze sammelten.

Damals hatte er gedacht, sein Opa wäre allwissend und unsterblich.

Damrongchai und Merten begleiteten Daniela Engels über den Parkplatz und dann durch den langen Gang zur Rechtsmedizin. Ihr Schritte hallten an den Wänden wider. Der süßliche Geruch gepaart mit Formaldehyd intensivierte sich, je näher sie dem Ort kamen, in dem Leichen darauf warteten ihre Geschichten den Pathologen zu erzählen.

Merten klopfte an die verschlossene Stahltür. Er hatte Verena darüber informiert, dass die Ehefrau kommen würde.

Die Ärztin öffnete ihnen die Tür in den Obduktionssaal. Auf einem der Sektionstische lag, bedeckt mit einem chirurgengrünen Leintuch, der Körper von Volker Engels.

Die mutige Ehefrau ging selbst zu ihrem toten Mann und klappte das Tuch zurück, so dass sie seinen Oberkörper und sein Gesicht sehen konnte.

Die Rötung war verschwunden. Blass und aufgedunsen lag er vor ihr. Daniela atmete erschrocken ein, berührte ihn dann aber für einen Moment. Sie fuhr ihm mit der flachen Hand über das aufgeschwemmte Gesicht.

»Das ist mein Mann.« Sie ließ ihre Hand sinken und sah dann zu Merten. »Ich muss zu den Kindern.«

Sie schwankte und hielt sich kurz am Sektionstisch fest. Merten eilte zu ihr und unterstützte sie beim Hinausgehen.

Verena verabschiedete sich und schloss die Tür hinter ihnen.

Dann holte sie das Obduktionsbesteck aus einer Art Spülmaschine. Dampf stieg nach oben, als sie das Gerät öffnete. Sie trat einen Schritt zurück und stieß gegen Damrongchai, der ihr gefolgt war und hinter ihr stand.

Er fing sie auf und sah ihr von hinten ins Gesicht. »Ich nehme an, du hast seit vorhin nicht mehr Zeit?«

Verena lachte und schüttelte den Kopf. »Ich muss jetzt arbeiten. Ich ruf dich an.«

Sie löste sich aus seinen Händen.

Scheppernd hob sie das Sektionsbesteck heraus und stellte es auf einen Wagen. Sie legte die Skalpelle und Pinzetten einzeln auf ein Handtuch. Gedankenverloren zog sie Latexhandschuhe an und widmete sich jetzt dem Toten, der vor ihr lag. An seinem Kopf begann sie mit einer Pinzette die Augen zu öffnen und sich die Schleimhäute anzusehen.

Der Kommissar zog es vor zu gehen, bevor er noch mehr sehen musste als umgebogene Augenlider.

Verena schien ihn ohnehin vergessen zu haben.

Merten und Damrongchai hatten Daniela Engels nach Hause gebracht und fuhren jetzt weiter nach Oberhengstett zu Damrongchais Dachbodenwohnung im Haus seiner Oma.

Merten lenkte den Wagen die Schwarzwald-Serpentinen bergauf und überlegte:

»Wenn jemand das Notfallset entwendet hat, dann muss doch auch derjenige die Biene in das Portemonnaie gesetzt haben.«

Damrongchai sah aus dem Fenster. Links der Straße stieg der Wald steil an und rechts fiel das Gelände ab. Die Bäume wuchsen ungeachtet der Steigung oder des Gefälles in Richtung Himmel. »Wer hat denn Bienen? Imker haben doch Bienen. Oder sie fliegen einfach auf den Wiesen herum«, meinte Damrongchai.

Merten zog einen Mundwinkel zur Seite. »Das ist alles schwierig zu beweisen. Das Notfallset könnte sonst wer entwendet haben. Die Biene könnte auch zufällig im Geldbeutel gelandet sein.«

»Wir brauchen ein Motiv. Ich gehe heute Abend auf das Haxenfest.« Damrongchai gab dem Arm seines Kollegen einen Klaps.

Merten rümpfte die Nase über den Plan. »Wozu willst du dir das antun?«

»Die Leute, die auf Dorffeste gehen, kennen sich alle untereinander und wissen alles voneinander«, erklärte Damrongchai und er drehte sich kurz zu Merten.

»Sie glauben alles zu wissen«, formulierte dieser.

Damrongchai beobachtete wieder die Fauna.

»So kann ich das soziale Umfeld des toten Biobauern kennenlernen«, verteidigte er seinen Plan.

»Du mit deinen eigenwilligen Methoden. Aber wie du meinst. Ich sehe mir mal seine finanzielle Situation an«, plante Merten großzügig und hielt vor Oma Sofias Häuschen.

Die Stiefmütterchen im Garten ließen schon wieder ihre Köpfchen hängen und auch die essbaren Blüten der Kapuzinerkresse sahen welk aus. Jeden Abend goss Dam die Blumen, denn seine Oma schaffte das nicht bei der Hitze.

»Möchtest du noch reinkommen?«, fragte er höflich nach.

»Nein, danke, ich muss fahrtüchtig bleiben.«

»Du musst ja keinen ihrer Tees trinken.«

Aber Merten winkte ab. Er musste ins Büro, die Fakten sortieren. Damrongchai wusste das. Sein Kollege brauchte die Ordnung wie die Luft zum Atmen.

Er stieg aus und Merten brauste schnell davon.

Die Sonne funkelte durch die vielen Blätter der Birken neben der Kirche. Die Andeutung von Schatten tat gut. Bis zum Haus reichte er jedoch nicht.

Sofia hatte die Fensterläden geschlossen, um die Hitze nicht herein zu lassen. Nachts machte sie die Fenster auf und ließ die kühle Frische des Schwarzwalds an ihrem Bett vorbeiziehen.

Dam ging über die Hofeinfahrt. Der Asphalt brannte schwarz und unerbittlich zurück. Er beeilte sich, ins Haus zu kommen. Kühle kam ihm entgegen und schnell schloss er die Haustür hinter sich.

Sofia saß in der Küche vor einer Kanne kalten Tees und las im Schwarzwälder Boten.

»Kommst du schon?« Sie lachte ihn an und er beugte sich über sie, nahm sie kurz in den Arm. Klein und weich und zerbrechlich fühlte sie sich an.

Damrongchai holte sich ein Glas Wasser. Er trank grundsätzlich nicht von ihren Tees.

»Bevor ich es vergesse«, sagte Sofia, »die Cannabisaussaat muss dieses Jahr nun doch noch mal auf den Dachboden.«

Dam sah seine Großmutter an. Die kleine Frau war der festen Überzeugung, dass Cannabis besser war für sie als jedes Schmerzmittel, das sie gegen Ihre Rheumabeschwerden jemals eingenommen hatte.

»Das habe ich mir schon gedacht«, sagte er.

Er hatte sein Glas leer getrunken und ließ noch mehr Wasser aus dem Hahn hineinlaufen.

»Die Verhandlung für die Erlaubnis zum Selbstanbau zieht sich mehr in die Länge, als ich dachte«, klagte sie und klappte die Todesanzeigen der Zeitung zu.

»Damit kommst du nie durch« versuchte Dam, seine Großmutter zu überzeugen. »Für Rheuma gibt es tausend andere Mittel.« Er lehnte am Spülbecken, das seit Jahrzehnten immer gleich stählern glänzte. »Aber wie du meinst, dein Anwaltsfreund verlangt ja wenigstens nichts. Hat er dich schon über die Kosten für das Gericht aufgeklärt?«

»Papperlapapp, wenn man immer den Misserfolg sieht, kann man sich gleich aufhängen«, stellte Sofia klar und rieb sich die Nasenwurzel, dass ihre Brille dabei tanzte.

Er seufzte über den aus seiner Sicht sinnlosen Optimismus seiner Großmutter und stellte sein leeres Glas in die Spüle. »Heute Abend gehe ich auf das Haxenfest.«

»Da bist du doch noch nie hin?«, wunderte sie sich.