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Was ist los mit Thilo? Er lässt sich von seiner Frau seine Tochter wegnehmen und von seiner Mutter sein ganzes Leben. Immer dichter gerät der Leser in den Strudel von Thilos Emotionen. Nur Milena, seine Tochter, weckt Thilo auf. Entsetzliche Erinnerungen kommen zurück... Nach zwei Schwarzwald Krimis wagt sich Helena Kugele an die Analyse eines Mannes, der nie ein eigenes Leben hatte.
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Seitenzahl: 157
Veröffentlichungsjahr: 2019
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Im Schatten sah ich
Ein Blümchen stehn,
Wie Sterne leuchtend,
Wie Äuglein schön.
Ich wollt´ es brechen,
Da sagt´ es fein:
Soll ich zum Welken
Gebrochen sein?
Johann Wolfgang von Goethe
Das Wiedersehen
Die Nacht
Die Lehrerinnen
Das Baby
Thilos Mutter
Mutter ist da
Das böse Mädchen
Fass mich nicht an
Yannick
Milena fehlt
Milena geht allein
Milena bewegt sich
Thilo hat das Ziel vor Augen
Thilo muss wieder brav sein
Der Sturm
Die Rückkehr zu Henry
Der Schutz
Das Monster redet
Der Mut des Löwen
Die Freiheit
Thilo strich über die glatte Oberfläche des Sekretärs und spürte sofort den Makel, der sich in der Mitte der Eichenplatte nach innen wölbte, wie eine krumm gebogene Wirbelsäule. Jemand musste mit einem Werkzeug eine Kuhle hineingearbeitet haben, vielleicht ein Kind. Thilo hatte nicht gefragt. Er fragte nie viel. Die Auftraggeber wollte er nicht kennen. Er wollte nur seine Arbeit tun, alleine, nur er und die alten Möbel, die er restaurierte.
Tischler hatte er gelernt und seine ehemalige Frau hatte er am Theater getroffen.
Als Assistentin des Regisseurs hatte sie ihm die Anweisungen für das Bühnenbild gegeben. Schon gleich hatte sie ihn gefragt, ob er mit ihr etwas essen gehen wollte, direkt nach der Arbeit. Sie lächelte bezaubernd und ihr rotblondes Haar glänzte im Bühnenlicht. Eine Woche später war er zu Hause ausgezogen, hatte seine Mutter verlassen.
Thilo begann, die Kuhle auszubohren, vervollständigte das Loch und wählte dann mit Bedacht ein Holzstück aus, das der Maserung des Sekretärs ähnlich war. Er drechselte es zu einem Zylinder, bis es die exakte Größe hatte, um das Loch zu verschließen.
Er befühlte sein Werkstück und verlor sich in der Maserung des Holzes. Das Holz war warm. Für einen Moment hielt er es sich an die Wange und spürte. Dabei wurde seine Atmung langsam und er hörte ein gleichmäßiges Rauschen in seinen Ohren, bis er von einem schrillen Läuten an der Tür aufschreckte, das seinen Körper regelrecht durchdrang.
Seine ganze Aufmerksamkeit, die er auf das Holz konzentriert hatte, zerbarst wie unter einem Blitzschlag. Das Geräusch dröhnte in seinem Kopf. Er wollte die Einigkeit mit sich und dem Holz nicht aufgeben. Mit Widerwillen ging er zur Tür, umfasste die Klinke. Er konnte durch das schmale Fenster an der Seite niemanden erkennen.
Es klingelte noch einmal. Mit einem Ruck öffnete er die Tür seiner Werkstatt mit Wohnung im Hinterhof.
Er musste nicht nachdenken. Seit fast genau drei Jahren hatte er sie nicht mehr gesehen, alle beide, seine Frau Vera und seine Tochter.
Vera, der Name fuhr in seinen Bauch, wo er als Angst explodierte. Die Angstpartikel klebten wie heißer Teer in seinen Eingeweiden.
Vera war hübsch wie immer und irgendwie schien sie rosiger, lebendiger zu wirken als zu der Zeit, in der sie mit ihm zusammen war. Er hatte sie unglücklich gemacht.
Thilo starrte seine Tochter an. Milena war inzwischen dreizehn Jahre alt. Ihre roten Haare standen noch wilder und länger ab als an jenem Tag, an dem sie mit ihrer Mutter ausgezogen war.
Mit einem förmlichen ‚Auf Wiedersehen‘ hatten sie sich wie Erwachsene verabschiedet.
Dabei liebte er sie mehr als alles auf der Welt, aber er mochte es nicht, wenn sie ihn anfasste. Ab dem Tag, an dem sie das Laufen lernte, hatte er es vermieden, sie zu berühren.
Vera hatte sie ihm weggenommen.
Erst später hatte er geweint, trotz des Wissens, dass es besser wäre, wenn er seine Tochter nicht mehr sah, weil er ihr nur schaden würde.
Milenas dürre Beine steckten in schwarzen Jeans und sahen darin aus wie die Äste des kahlen Baumes hinter ihr. Starr durchzogen die Zweige den blassgrauen Himmel. Der Baum schien Milena zu bedrohen. So eine lange Zeit konnte Thilo seine Tochter nicht beschützen.
Sie war ihm fremd geworden. Am liebsten hätte er wieder darüber geweint, aber er wollte seinen Schmerz nicht zeigen.
Milenas Haare hüpften, und sie schrie: „Sie will mich loshaben.“
Ihre türkisfarbenen Augen funkelten aus ihrem Gesichtchen. Die Wut schien nicht neu zu sein. Das was jetzt geschah, musste eine weitere Demütigung in einer Reihe von stetigen Verletzungen sein.
Trotzdem klammerte sie sich an ihre Mutter, denn sie war ein Kind, auch wenn sie wütend war.
Vera presste die Hände gegen den Oberkörper ihrer Tochter und versuchte, das Mädchen von sich wegzuschieben.
„Du solltest dich nicht mehr in meiner Nähe aufhalten, sonst könnte es sein, dass ein Unglück geschieht“, sagte Vera, doch Milena klammerte sich nur fester um Veras Taille.
Thilo flüsterte: „Es ist nicht gut, wenn sie da ist. Das hattest du damals selbst gesagt.“
Vera stellte eine umgehängte Reisetasche in den Türrahmen.
„Ich weiß nicht, was mit ihr los ist“, sagte sie nach oben zu Thilo, der einen Kopf größer war als sie. „Sie ist überhaupt nicht mehr brav. Tut nicht, was ich sage. Ich will sie nicht länger bei mir haben.“
Wieder versuchte sie, Milena von sich wegzuschieben.
Thilo wurde heiß. „Du kannst sie nicht hierlassen.“
Vera wehrte Thilo mit erhobenen Handflächen ab. „Jetzt kannst du dir die Zähne an ihr ausbeißen. Sie ist genauso verkorkst wie du.“
„Sie kann nicht hierbleiben“, wiederholte er verzweifelt.
Seine Stimme verhallte ungehört und verfing sich in den schwarzen Ästen des Baumes.
Vera stieß Milena zu Boden. Thilo blickte auf das weinende Mädchen, das sich von ihm abwandte und auf allen vieren in die Wohnung kroch.
Hinter sich hörte er nur noch das Klappern der Absätze von Veras Schuhen. Er drehte sich um und sah, wie sie zum großen Hinterhoftor auf die Straße hinausging.
Thilo rannte Vera nach, raus aus seiner bis gerade eben noch sicheren Werkstatt. Er wollte ihren Namen rufen, aber das konnte er nicht, nicht so laut und nicht so, dass es alle hörten.
Fast hatte er sie eingeholt. Sie drehte sich zu ihm um. Er stoppte. Ihm fielen ihre schmalen Schultern auf, welche die Last des Lebens nicht tragen konnten.
„Lass mich in Ruhe“, spie sie ihn an und schlug ihm gegen den Brustkorb, dass er den Atem ausstieß.
Ein Mann in einem Auto hatte auf sie gewartet. Sie stieg zu ihm in den Wagen und er startete den Motor.
Kurz blickte der Mann zurück. Thilo sah ihm in die Augen, dann wich er dem Blick seines Nachfolgers aus.
Thilo bohrte seine Fingernägel in die Handballen, bis der körperliche Schmerz endlich größer war als die Erniedrigung, dass Vera noch immer über sein Leben bestimmte. Sie nahm ihm Milena weg oder gab sie ihm zurück, wie es ihr passte. Nie fragte sie, was er fühlte.
Er fror. Er zitterte.
Es nutzte nichts, Angst zu haben. Er musste nach Milena sehen und für sie da sein. Sie war zu ihm zurückgekommen, weil sie es musste. Er freute sich darüber, sein Mädchen zurückzuhaben, aber die Freude konnte er nicht zulassen. Es war nicht gut, dass sie bei ihm war. Was, wenn er ihr wehtat?
Mit steifen Schritten ging er zurück in die Werkstatt.
Alte Blätter, die noch vom Herbst übriggeblieben waren, wehten in sein ausgekühltes Zuhause.
Thilo legte dicke Holzscheite in seinen Kachelofen und beobachtete, wie die Flammen von dem rötlichen Buchenholz Besitz ergriffen.
Der Auftrag im Theater damals hatte sein Leben verändert. Der Bühnenbildner hatte eine Sommergrippe bekommen. Vera kennenzulernen war purer Zufall gewesen. Jetzt hatte er seit dreizehn Jahren eine Tochter und kein bisschen Hoffnung, dass er ihr gerecht werden könnte.
Von oben drang ein Schluchzen unter dem Türschlitz hindurch. Es floss tropfengleich die Stufen hinab und bildete um Thilos Füße eine traurige Pfütze Kinderleid. Er machte einen Schritt heraus aus der Pfütze, doch sie ging mit ihm, waberte über den Fußboden, kroch an ihm hinauf. Was sollte er nur mit diesem traurigen Kind tun?
Das Feuer loderte im Ofen. Thilo nahm Milenas Tasche mit nach oben und sah in das Kinderzimmer.
Seine Tochter saß auf dem Bett und drückte innig ihren alten Lieblingsteddybären, der so aussah, als hätte er all die Jahre geduldig auf sie gewartet. Die Farbe des kleinen Bären aus Milenas Kindertagen bot einen schrillen Kontrast zu ihrer schwarzen Kleidung.
Mit tränenüberströmten Wangen sah sie auf. „Mama hat Frido einfach nicht eingepackt. Einmal war ich nach der Schule hier und wollte ihn holen, aber du warst nicht da. Sie machte mir einen Riesenstress, weil ich zu spät von der Schule nach Hause kam und quetschte mich so lange aus, bis ich zugab, dass ich bei dir war. Am nächsten Tag kaufte sie mir einen anderen Bären. Den habe ich dem Nachbarjungen geschenkt. Da war sie wieder sauer.“ Plötzlich warf sie Frido voller Verachtung auf den Boden. „Jetzt bin ich zu alt für so einen Kinderkram.“
Sie schniefte und wischte ihre Tränen aus dem Gesicht.
Thilo nahm den Teddybären auf seinen Arm und setzte sich auf den Schaukelstuhl, den er für Vera gebaut hatte, damit sie das kleine Mädchen, das sie geboren hatte, bequem stillen konnte. Unter seinen Füßen spürte er durch seine warmen Strümpfe das glatte Holz des Bodens.
Ein wenig Sicherheit gab ihm das Holz, der feste Boden.
Trotzdem drehte sich der ganze Raum um ihn, und das nur, weil seine Tochter hier ganz dicht bei ihm auf dem Bett saß und ihm ihre Probleme erzählte. Dazu war ein Vater da und er wollte für sie da sein, nur schaffte er es kaum.
In den Jahren, die er allein verbracht hatte, hatte er die Gefühle seiner Andersartigkeit, seiner Angst vor Nähe vergessen. Seitdem Milena da war, drängten sie sich auf wie Schmeißfliegen, die um einen Kadaver kreisten.
Zittrig streichelte er das Kuscheltier, als er mit Milena redete.
„Ich hätte ihn dir gerne gebracht, aber ich wusste nicht, wo ihr wohnt.“
Sie verschränkte die Arme. „Das hast du dich nicht getraut.“
„Ich wollte deiner Mutter nicht nachspionieren“, verteidigte er sich und bemerkte nicht, dass es um Milena und nicht um Vera ging.
Das Mädchen rückte an den Bettrand und setzte ihre Füße auf den Boden. Sie wollte wütend sein und hart, aber Thilo spürte ihre verzweifelte Traurigkeit.
Sie war ein stilles Kind damals, aber nicht traurig. Erst als sie mit ihrer Mutter gegangen war, da hatte er eine Veränderung in ihren Augen entdeckt. Sie hatte ihn nur angesehen, die ganze Zeit angesehen, bis Vera sie an der Hand aus dem Haus gezogen hatte.
Milena sah auf den Boden des Kinderzimmers. Sie breitete ihre dünnen Arme aus, als klagte sie Gott an.
„Immer muss ich machen, was sie will. Sonst tickt sie aus.“
Ihre blasse Haut schimmerte rosarot.
Thilo schluckte. Er kannte Vera nicht anders. Genau so war sie. Er rieb über seine Handballen. Die Abdrücke der Fingernägel hatten sich blau verfärbt.
Frido purzelte von Thilos Schoß zu Boden.
„Und was hast du Falsches getan?“, fragte Thilo und räusperte sich.
„Ihr passt gar nichts an mir.“ Milena blinzelte und sah dann trotzig auf. „Es ist mir egal. Sie ist mir egal.“
Thilo begann, zu schaukeln, zuerst leicht, dann wippte er immer wilder auf dem Stuhl.
Milena starrte ihn an. Thilo stoppte. Er schämte sich für sein sonderbares Verhalten, das ihm ein wenig Erleichterung verschafft hatte. Seine Tochter sagte einfach, was sie fühlte. Das machte ihm Angst.
Er lächelte schief und lenkte ab. „Jetzt, da du erwachsen wirst, möchtest du dein Zimmer so lassen oder soll ich etwas umbauen? Vielleicht möchtest du auch andere Möbel, ein neues Bett? Wir können auch die Spielsachen auf den Speicher räumen.“
Milena nickte, richtete ihren Blick aus dem Fenster und tauchte ihn in den weißen Himmel hinein.
„Aber zuerst fahren wir ans Meer. Da bin ich frei, so frei wie das wilde Meer. Und ich darf machen, was ich will.“
Schon öfter wurde ihr Wunsch übergangen. Das hörte Thilo an ihrer trotzigen Stimme, die in Erwartung der erwachsenen Antwort sich bereits im Vorfeld widersetzte.
Und auch er wusste nichts Besseres zu sagen.
„Das geht jetzt nicht. Du hast doch Schule und es ist auch viel zu kalt.“
Milena stand vom Bett auf.
„Typisch Erwachsene, immer eine Ausrede haben. Sei es die Arbeit, die Schule oder das Wetter. So ein Unsinn. Dem Meer ist das alles egal. Es ist immer für uns da. Ihr spinnt doch, als ob irgendetwas wichtiger wäre als das Meer.“
Thilo lauschte den weisen Worten seiner Tochter.
„Du hast recht, aber so überstürzt geht das nicht. Wir müssen das planen.“
Sie rollte ihre funkelnden Augen und zog ein Schnütchen. Dann wandte sie sich von ihrem Vater ab und sah ihr altes Regal durch, auf dem staubfrei ihre Schneekugel und ein paar Bilderbücher standen.
„Für dich muss das alles lange her sein“, sagte Thilo. „Ich kann mich noch an jedes Detail von dir erinnern.“
Milena nahm die Schneekugel herunter und schüttelte sie. Darin fing ein kleines Mädchen manche der goldglitzernden Flöckchen mit seinem Hemdchen auf.
„Das Märchen vom Sterntaler“, meinte Thilo, „das habe ich dir immer vorgelesen.“
Das Mädchen hatte auch keine Eltern, dachte er.
Milena schüttelte die Schneekugel mit dem Goldschnee noch einmal und wartete, bis alle Flocken herabgeregnet waren. Dann stellte sie die Kugel zurück.
Ihr Gesicht verfinsterte sich. „Du musst zu meiner Lehrerin in die Schule.“
Thilo umklammerte die Armlehnen des Schaukelstuhls.
„Wieso? Was soll ich da? Auf welcher Schule bist du jetzt?“
„Immer noch auf der gleichen.“ Milena schüttelte den Kopf. „Dorthin hättest du Frido auch bringen können, aber du hast Angst vor Vera.“
Sie hatte nicht Mama gesagt. Sie hatte ihre Mutter beim Vornamen genannt. Das erschreckte Thilo und die Wahrheit, die sein kleines Mädchen aussprach, erschreckte ihn noch mehr.
Milena kletterte auf ihr Bett, als wäre sie viel kleiner und jünger. Sie zog ihre Beine heran und umschloss sie fest mit ihren Armen.
Sie redete in ihre Knie. „Die Lehrerin wird dir erzählen, dass mit mir etwas nicht stimmt. Das macht sie immer so. Vera ist froh, wenn sie nicht mehr zu der muss.“ Sie lachte wie ein Kind nicht lachen sollte, gehässig und fast schon bitter.
Thilo fühlte einen Druck auf den Schläfen. Er wollte da nicht hin. Er wollte nicht zur Schule. Er wollte nicht mit einer Lehrerin sprechen und schon gar nicht über sein Kind und sich selbst.
Als läge ein Bleigewicht auf seinen Schultern, drückte er sich nach oben.
„Ich muss sehen, wann ich Zeit habe.“, nuschelte er.
„Das ist morgen Vormittag.“
Thilo nickte und verließ das Kinderzimmer, das keines mehr war.
Milena aß am Tisch zu Abend. Thilo sortierte währenddessen den Kühlschrank und nahm ein paar Happen Käse.
Sie redeten nicht viel. Er wusste nicht, was er sie fragen sollte und von ihm gab es ohnehin nichts zu erzählen.
Er dachte darüber nach, was Vera damals mehrfach wiederholt hatte. Er, Thilo, sollte sich nicht an ihr festklammern, sie könnte und wollte ihn nicht retten. Er hatte keine Ahnung, wovon sie gesprochen hatte.
„Ich gehe hoch“, meinte Milena.
Sie wischte sich den Mund ab und ließ alles stehen.
Thilo räumte ihre Reste vom Tisch und spülte das Geschirr ab.
Er sah zu den schwarzen Scheiben. Das Draußen war nicht mehr da. Verschluckt von der Dunkelheit, hörte Thilos Welt an den Fenstern auf.
Wahrscheinlich versuchte Milena, zu schlafen. Er musste leise sein, wenn er noch arbeiten wollte und das wollte er. Vor zehn Uhr abends hörte er selten in seiner Werkstatt auf.
Thilo schloss den Geschirrschrank und ging hinüber zu dem Sekretär, mit dem er heute Morgen begonnen hatte.
Mit einem feinen Schmirgelpapier glättete Thilo den reparierten Teil der Oberfläche und ging dann mit etwas Klarlack darüber.
Thilo hatte schon lange nicht mehr nachmittags seine Arbeit ruhen lassen. Das machte ihn nervös. Milena brachte ihn aus seinem klaren Konzept. Arbeiten, unterbrochen von Mahlzeiten und Schlaf.
Er hielt den Schein einer Lampe noch einmal dicht an die Oberfläche des Sekretärs und war zufrieden mit dem vorläufigen Ergebnis. Morgen würde er den zweiten Anstrich vornehmen.
Jetzt reparierte er die Schublade, die ihm eine ältere Dame hatte bringen lassen. Das würde auch nicht zu laut sein. Milena brauchte ihren Schlaf.
Er drehte das Schubfach um und entfernte die Randleisten, die erneuert werden sollten. Vorsichtig zog er die kleinen Nägel heraus. Vertieft in eine scheinbar heilsame Tätigkeit, drang ein Schrei in ihn hinein.
Milena rief nach ihrer Mutter. Schnell rannte Thilo die Treppe hinauf. Er wusste nur zu gut, wie es war, allein als Kind im Bett zu liegen und Angst zu haben, einfach Angst. Die Fesseln, die einen festbanden, dass man sich nicht mehr regen konnte, nicht wehren konnte, nicht weglaufen.
Panisch riss er die Tür auf. Sein Herz klopfte.
„Was ist denn?“ Seine Stimme überschlug sich.
Milena starrte ihn an und weinte.
Er musste doch ruhiger sein, dem Kind helfen, ihm Kraft geben. Noch immer schnaufte er aufgeregt. Langsam ging er zu Milena und machte ihre Nachttischlampe an, die mit ihrem Lichtkegel nur in einem kleinen Bereich der Dunkelheit trotzte. Thilo sah das nassgeweinte Kopfkissen und gab Milena ein Papiertaschentuch aus seiner Arbeitshose, damit sie ihre Tränen trocknen konnte.
Das Mädchen schnäuzte hinein und wirkte viel jünger, fast so klein, wie sie ihn damals mit ihrer Mutter verlassen hatte.
„Ich will zu dir ins Bett“, forderte sie.
„Das geht nicht“, sagte er schnell und viel zu hart.
Dann versuchte er, freundlicher zu sein: „Ich bleibe lieber hier sitzen, hier auf dem Schaukelstuhl. Von da kann ich viel besser auf dich aufpassen.“
Frido, der kuschelige Bär war aus dem Bett gefallen. Thilo nahm ihn auf und bot ihn Milena an. Sie griff nach ihm, nahm ihn fest in die Arme, so fest, dass sein weicher Körper nachgab und sich der Kopf nach hinten bog.
Thilo zeigte auf den nassen Fleck auf dem Kissen und fragte unsicher: „Soll ich dir ein anderes Kopfkissen bringen?“
„Nein.“ Ihr Stimmchen war klar und zerbrechlich.
Mit Frido im Arm drehte sie sich zur Wand um. Thilo sah nur noch ihre roten, wilden Haare, umrandet von dem grünen Überzug mit den bunten Wichteln darauf.
Er setzte sich auf den Stuhl, löschte das Licht und beobachtete seine Tochter, wie sie schon bald wieder in einen unruhigen Schlaf fiel. Sie schob ihre Decke zur Seite, drehte sich auf den Rücken. Mit offenem Mund atmete sie schnell, ihre dünnen, weißen Arme leuchteten im Halbdunkel des Zimmers. Der Mond schien blass durch die hellen Vorhänge.
Thilo holte sich eine Wolldecke aus dem Schrank. Er wickelte sich ein und starrte auf Milena, bis auch ihm die Augen zufielen.
Am nächsten Morgen kroch die Dämmerung durch die Vorhänge und Thilo schreckte auf. Er hörte seinen Wecker von drüben im Schlafzimmer klingeln.
Er musste sich zuerst räuspern, damit er reden konnte. „Was möchtest du frühstücken?“
„Nichts“, krächzte sie zurück.
Er ließ sie und ging nach unten, wo er einen Tee für sie beide kochte und Haferflocken mit Milch erhitzte.
Milena kam in ihrem Schlafanzug herunter. Sie fror in dem kurzärmeligen Oberteil und Thilo heizte den Holzofen an. Schnell löffelte sie das Essen in sich hinein. Den Tee schlürfte sie mit großen Schlucken aus einer Tasse, die sie mit beiden Händen umschloss.