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Die Arbeit ist eine Auswertung von Interviews mit russischen Studierenden der Germanistik in Kaliningrad. Ausgehend von der Frage, welche Vorstellungen diese Studierenden von Deutschland haben, wurde bei der Analyse der Interviews deutlich, dass es zum einen in sich geschlossene, kohärente Bilder von Deutschland in den Köpfen der jungen Russinnen und Russen gibt. Darüber hinaus kam aber auch zum Vorschein, dass diese Bilder Lücken aufweisen. Die Lücken kommen erst im Gespräch, im Dialog zum Vorschein. Lücken gibt es in Bezug auf das gegenwärtige Deutschland, das von den Studierenden aus Kaliningrader Perspektive betrachtet wird, also auch in Bezug auf Kaliningrad. Der Ort Kaliningrad, das ehemalige deutsche Königsberg, ist ein deutsch-russischer Bezugspunkt, der zeitliche und räumliche Grenz-Verläufe aufweist, die jedoch in den Gesprächen als hybride erscheinen. Lücken sind hier als der Anfang eines Dialoges zu sehen. Bilder und Lücken sind Denkfiguren, die zwischen den Vorstellungen von der jeweils der anderen Kultur stehen und diese so operierbar/handhabbar machen. In der vorliegenden Arbeit wird die Dynamik von Bild und Lücke aufgezeigt.
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Seitenzahl: 539
Veröffentlichungsjahr: 2014
ibidem-Verlag, Stuttgart
Ich danke den Studierenden der Germanistik in Kaliningrad, vor allem aber meinen Interviewpartnerinnen und Partnern.
Ich danke allen, die mich beim Anfertigen der Arbeit unterstützthaben.
Bee gilt mein spezieller Dank.
Die von Katja Grupp vorgelegte Dissertation beschäftigt sich mit dem Deutschlandbild junger russischer Studierender an einem ganz besonderen Ort deutsch-europäisch-russischer Geschichte.
Dieser besondere Ort Kaliningrad, vormals Königsberg, war Jahrhunderte lang eine Schnittstelle deutsch-polnisch-russischer Beziehungen. Der größte Sohn der Stadt, der auch heute in dieser Stadt hochverehrte Immanuel Kant, drückte seine Wertschätzung für seine Heimatstadt so aus: „Eine große Stadt, der Mittelpunkt eines Reiches, in welchem sich die Landescollegia der Regierung derselben befindet, die eine Universität (zur Kultur der Wissenschaften) und dabei noch die Lage zum Seehandel hat, welche durch Flüsse aus dem Inneren des Landes, als auch mit angrenzenden entlegenen Ländern von verschiedenen Sprachen und Sitten, einen Verkehr begünstigt, - eine solche Stadt, wie etwa Königsberg am Pregelfluss, kann schon für einen schicklichen Platz zu Erweiterung sowohl der Menschenkenntnis als der Weltkenntnis genommen werden; wo diese, auch ohne zu reisen, erworben werden kann.“ (A.A. Bol. 7, 120f. Anm.).
Das Königsberg Kants hatte damals 40.000 Einwohner, doppelt so viel wie Berlin. Es war das wirtschaftliche und geistige Zentrum im Osten des Heiligen römischen Reiches Deutscher Nation. Königsberg war eine multikulturelle Stadt. Dort begegneten sich Deutsche, Polen, Russen und Balten, Mennoniten aus den Niederlanden, Hugenotten aus Frankreich und Kaufleute aus England. Es war eine geistig offene, eine aufgeklärte Stadt. Königsberg war neben Halle, Leipzig und Heidelberg, Impulsgeber großer Ideen und Gedanken. Hier formulierte Kant den Wahlspruch der Aufklärung, der noch heute unser gesamtes europäisches Denken prägt. „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen.“ Demokratisches Denken ist ohne diesen Leitsatz kaum vorstellbar. Fremdbestimmtheit unterhöhlt Demokratie, ja, letztlich zerstört sie diese. Friedrich Schiller, der Rebell unter den deutschen Dichtern seiner Zeit, war mit Kant bestens vertraut. Er schrieb dazu: „Es ist gewiss von einem sterblichen Menschen kein größeres Wort gesprochen worden als dieses kantische, was zugleich die Zukunft seiner gesamten Philosophie ist. Bestimme dich aus dir selbst. (zit. n. Immanuel Kant, Erkenntnis – Freiheit – Frieden, hrsg. v. Lorenz Grimoni/ Martina Will (2004), Duisburg, S. 168).
Dieser Ort, Jahrhunderte ein Zentrum deutscher Geistesgeschichte, ging im Gefolge des von Deutschland verschuldeten Zweiten Weltkrieges unter. Anfang April 1945 eroberte die Rote Armee die Stadt. Das Potsdamer Abkommen besiegelte seine Zugehörigkeit zu Russland. 1946 wurde aus Königsberg, zu Ehren des vormaligen sowjetischen Staats- und Parteifunktionärs, die russische Stadt Kaliningrad.
Die Oblast Kaliningrad ist die westlichste und eine der kleinsten Regionen der russischen Föderation, eine russische Exklavemitten in Europa, 600km nach Berlin, 1300km nach Moskau.Mit Ende des Krieges begann die komplette Neubesiedlung der Region mit Neubürgern, insbesondere aus Zentralrussland, aber auch aus den Sowjetrepubliken. Von den heute im Kaliningrader Gebiet lebenden ca. 950.000 Einwohnern sind heute mehr als die Hälfte dort geboren. Durch den Zusammenbruch der Sowjetunion und die Unabhängigkeit der baltischen Staaten wurde das Kaliningrader Gebiet 1991 zur russischen Exklave und ist seit 2004, dem Beitritt Polens und Litauens, von der Europäischen Union umschlossen.
Für die erste Zuwanderergeneration war die deutsche Vergangenheit ein absolutes Tabu. Nun ist es die Enkelgeneration, die immer stärker auf ihrer Identitätssuche die Vergangenheit einbezieht. Anlässlich der 750-Jahrfeier der Gründung Königsbergs wurde eine Umfrage über die Befindlichkeit der Kaliningrader durchgeführt. 54 Prozent fühlten sich zuerst als Kaliningrader, 44 Prozent in erster Linie als Russen und zwei Prozent zuerst als Europäer. Die jungen Leute Kaliningrads, die sich in erster Linie als Russen sahen, geben aber zu Protokoll, dasssie anders denken, als diejenigen in Moskau und St. Petersburg. Mehr als die Hälfte ist stolz auf Kaliningrad. Es hat sich eine Art Regionalbewusstsein herausgebildet, das Bewusstsein in einer Region zu leben, die gleichermaßen russisch und baltisch und europäisch ist. Sie ist eine Drehscheibe zwischen Ost und West, sie ist eine russische Region in Europa.
Die unmittelbare Nachbarschaft Kaliningrads zur Europäischen Union bedeutet sowohl für die russische als auch für die EU-Seite Chance und Herausforderung. Die Entwicklung Kaliningrads zu einer russisch-europäischen Musterregion liegt in beidseitigem Interesse.Es kann gelingen, wenn beide Seiten es gemeinsam wollen.Die Europäische Einigung und die damit verbundenen Werte, spiegeln sich in derartigen Zeugnissen, wie der vorliegenden Studie, wider und fördern eine gemeinsames Verständnis.
Arbeiten, wie die von Katja Grupp, sind die Bausteine, von denen aus der notwendige deutsch-russische Dialog „immer wieder neu und immer wieder anders“ geführt werden muss.
Martin Schulz
Präsident des Europäischen Parlaments