Bildspringer (Bd. 1) - Christina Wolff - E-Book

Bildspringer (Bd. 1) E-Book

Christina Wolff

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Beschreibung

Vincent hat ein einzigartiges Talent: Er kann in Gemälde eintauchen und sich darin bewegen! Außer seiner Mutter und seinem Großvater weiß nur die Leiterin der National Gallery London davon, und sie erlaubt ihm, in die Gemälde zu springen, die im Museum hängen. Als aus einer Londoner Villa das Gemälde "Das Gewitter" eines alten niederländischen Malers gestohlen wird, beschließt Vincent, das Bild aufzuspüren. Im Laufe seiner Suche stößt er zu seiner großen Überraschung auf Holly, die genau wie er in Bilder springen kann. Bei seinem Ehrgeiz gepackt, schlägt er ihr einen Wettstreit vor: Wer "Das Gewitter" schneller findet, hat gewonnen! Vincent wähnt sich schon als Sieger, doch die Suche stellt sich als schwieriger heraus als gedacht. Außerdem ist da noch Die Sternennacht von Vincent van Gogh. Warum nur fühlt sich das Bild plötzlich wie eine Fälschung an, wenn Vincent hineinspringt?

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Seitenzahl: 218

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Christina Wolff

Bildspringer

Der erste Fall der Van-Gogh-Agency

Mit Illustrationen von Florentine Prechtel

Außerdem von Christina Wolff bei WooW Books erschienen:

Die Geister der Pandora Pickwick (Band 1)

 

Atrium Verlag AG, Imprint WooW Books, Zürich 2023

Alle Rechte vorbehalten

© Text: Christina Wolff

© Cover und Illustrationen: Florentine Prechtel

Lektorat: Neele Bösche

 

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

 

ISBN978-3-96177-604-7

 

www.WooW-Books.de

www.instagram.com/woowbooks_verlag

 

Für Hanne – meine liebste Malerin

Kapitel 1

Eigentlich hatte der Zwerg ganz harmlos ausgesehen. Freundlich sogar, mit seinen runden Bäckchen und der Stupsnase. Aber als Vincent neben ihm landete, wetterte der kleine Kerl sofort drauflos.

»Trampel! Hast du keine Augen im Kopf? Du hast meinen Kohlrabi plattgemacht. Raus da aus dem Beet, oder ich …« Er sprach nicht weiter, sondern schüttelte nur seine Faust.

Vincent blickte sich rasch um. Er war ein gutes Stück vor dem Höhleneingang gelandet – mitten in einem kleinen und sehr gepflegten Gemüsegarten. Den hatte man auf dem Gemälde gar nicht bemerkt. Aber so war es ja immer. In einem Bild steckte all das, was die Künstlerin oder der Künstler sich beim Malen vorgestellt hatte, und eben nicht nur, was auf der Leinwand zu sehen war. Deswegen wusste man leider auch nie genau, was einen erwartete.

Vincent rappelte sich auf und trat vom Beet. »’tschuldigung«, murmelte er.

Doch das beruhigte den Zwerg nicht. »Wer bist du überhaupt?«, fragte er. Dabei musterte er Vincent abschätzig von oben bis unten. »Du siehst aus wie ein Kind, bis auf diese Bärenquanten.« Mit seiner kleinen hölzernen Pfeife deutete der Zwerg auf Vincents Füße. »Und was hast du da am Leib? Bist du ein armer Schlucker? Deine Hosen sind ja völlig zerrissen.«

»Was? Ach so, nein«, winkte Vincent ab. »Das sind Jeans, die trägt man heute so.«

Er kannte solche Fragen bereits. Manche Leute aus den Gemälden wollten auch noch wissen, warum er eine dunkle Haut hatte. Dann versuchte Vincent immer zu erklären, dass seine Mum ursprünglich aus Indien stammte. Aber das stiftete meist nur Verwirrung. In der Regel wussten die Leute aus den älteren Gemälden nämlich weder, wo Indien lag, noch, wie die Menschen dort aussahen. Der Zwerg schien mit seiner Fragerei allerdings fertig zu sein und starrte ihn stumm aus großen Augen an.

»Ähm, ich heiße übrigens Vincent … Vincent Fox. Und ich bin dreizehn Jahre alt … also kein Kind mehr«, stammelte Vincent, dem der bohrende Blick ein wenig unangenehm war. »Aber Sie haben recht, für mein Alter habe ich ziemlich große Füße.«

»Bärenquanten«, brummelte der Zwerg noch einmal mürrisch vor sich hin. Dann kramte er ein silbernes Tabakdöschen hervor, stopfte seine Pfeife und nahm paffend die Gartenarbeit wieder auf. An Vincent verlor er kein weiteres Wort mehr.

Auch das war für Vincent keine Überraschung. Selbst wenn sich in den Bildern alle regelmäßig über sein Aussehen wunderten, interessierten sie sich doch eigentlich nur für ihre eigene kleine Welt. Es gab Ausnahmen, doch noch nie hatte ihn zum Beispiel jemand gefragt, wieso er so plötzlich aufgetaucht war.

Blinzelnd sah Vincent den sanften Abhang hinab, der sich neben dem Gemüsegarten erstreckte. Er war ja sowieso nicht wegen des Zwerges gekommen, sondern weil er sich ein wenig in den Feldern herumtreiben wollte. Die Landschaften des Malers Carl Spitzweg[1] waren einfach toll, fand Vincent. Fast schöner als die echten.

Nach einem tiefen Atemzug lief er hinab ins Tal. Um ihn herum zirpten Grillen, Sonnenstrahlen blitzten zwischen weißen Wolken hervor, und es roch süß nach wilden Malven.

Das mit dem Geruch bekamen nicht viele Maler und Malerinnen hin. Bei den weniger guten roch es meist nach gar nichts – oder wenn man Pech hatte, stank es nach Ölfarbe.

Vincent kletterte gerade über einen Baumstamm, der quer auf dem Weg lag, da hörte er aus der Ferne ein sanftes Läuten. Eine Kirchenglocke.

Sofort stellten sich die feinen Härchen an seinen Unterarmen auf. Er mochte Glockengeläut nicht besonders. Es erinnerte ihn immer an den Abend, an dem er das erste Mal in ein Gemälde hineingesprungen war. Damals hatte allerdings eine andere Art von Glocke geläutet …

Es war kurz nach Vincents zehntem Geburtstag passiert, in Grandpa Arthurs Atelier. Vincents Mum war mal wieder auf Reisen gewesen. Arthur hatte das Dinner zubereitet und Vincent erlaubt, währenddessen mit den Aquarellkreiden zu malen. Doch noch bevor Vincent den Kreidekasten herausgeholt hatte, war sein Blick auf ein Ölgemälde gefallen, das er vorher noch nie im Atelier gesehen hatte: ein Bild mit einem Segelschiff auf hoher See, das von einem gewaltigen Sturm erfasst wurde. Die Farben des Gemäldes hatten Vincent sofort in ihren Bann gezogen – der gelbgrau verdunkelte Himmel und das Weiß der Gischt, die mit einer riesigen Welle über den Bug spülte.

Vincent erinnerte sich noch, dass es ihm vorgekommen war, als wäre das alles echt. Als müsse er nur seinen Finger ausstrecken, um das salzige Meerwasser berühren zu können. Und genau in diesem Moment hatte er das Läuten gehört.

Ding-ding-dingeliding.

Erst später war ihm klar geworden, dass es die Schiffsglocke gewesen sein musste. Ein kurzer Schwindel hatte ihn erfasst, und dann war er plötzlich über eiskalte, schlierige Planken gerutscht.

An diesem Abend wäre er beinahe ertrunken, hätte die See ihn nicht in letzter Sekunde pitschnass auf den Teppich in Grandpa Arthurs Atelier zurückgespült.

Seit diesem Tag waren fast drei Jahre vergangen, und inzwischen war ziemlich viel passiert.

Zuerst hatte Vincent natürlich den Schock überwinden müssen – genau wie seine ganze Familie. Keiner konnte fassen, was geschehen war. Schließlich war es nicht möglich, in Bilder hineinzuspringen. Niemand konnte so etwas! Nur dass Vincent es eben doch konnte.

Zwei Wochen nach der Sache mit dem Segelschiff traute er sich zum ersten Mal wieder, einen Blick auf ein Gemälde zu werfen: ein Stillleben mit Apfel, das auf Arthurs Flur hing.

Vincent konzentrierte sich auf die blaue Tonschale, in der die Frucht lag. Er hatte riesige Angst, aber gleichzeitig war er viel zu neugierig, um es nicht noch einmal zu probieren!

Es dauerte nur einen Moment, dann saß er wie durch Zauberei an einem Tisch in einer Bauernküche. Bienen summten vor dem offenen Fenster, und eine Katze strich um seine Beine. Das war viel schöner als das Erlebnis auf dem Segelschiff.

Danach sprang Vincent ein paar weitere Male in das Apfelbild. Nur in das Apfelbild. Mehr traute er sich noch nicht zu. Aber nach einer Weile fand er die Bauernküche doch etwas öde, darum tastete er sich langsam vor, und mit der Zeit wurde er immer mutiger.

Van Gogh, Renoir, Monet – zahlreiche Bilder dieser und noch vieler weiterer berühmter Maler und Malerinnen hatte Vincent mittlerweile besucht. Doch er blieb vorsichtig. Nie wäre er zum Beispiel in ein Schlachtengetümmel gesprungen. Und Bilder mit zu viel Wasser mied er sowieso, er war ja nicht lebensmüde. Außerdem wollte er seine Mum nicht beunruhigen. Die fand das alles nämlich viel zu gefährlich. Sie ließ ihn nur springen, weil sie wusste, dass sie es ohnehin nicht verhindern konnte. Aber gegen das Bild von Spitzweg, durch das Vincent im Augenblick spazierte, hätte bestimmt nicht einmal sie etwas einzuwenden gehabt. Friedlichere Bilder gab es ja kaum.

In nicht allzu weiter Ferne hörte Vincent eine Dampflok tuten. Er streifte durch einen kleinen Buchenwald und stieß dahinter auf leicht verwitterte Schienen.

Gut gelaunt begann er auf den Bahnschwellen herumzuhüpfen, doch bei einem besonders weiten Sprung glitt sein rechter Fuß auf einmal unter die Schiene, und sein Sneaker blieb mit einem leisen Quietschen stecken. Vincent stürzte nach vorn und schlug mit dem Knie gegen die Eisenschiene. Es tat höllisch weh. Er presste die Lippen aufeinander, richtete sich auf und betastete seine Kniescheibe. Zum Glück schien nichts weiter passiert zu sein. Vincent sah zwar Blut an seiner Jeans kleben, doch das stammte offenbar nicht vom Knie, sondern von einer kleinen Wunde an seinem rechten Handballen. Auch die Unterarme hatte er sich aufgeschürft.

Vorsichtig versuchte er, seinen Fuß aus der Schiene zu ziehen, aber der blöde Sneaker saß bombenfest. Vincent würde ihn ausziehen und dann aus der Schiene herausruckeln müssen.

Während er an seinem Schnürband riss, hörte er plötzlich einen Pfiff. Erschrocken fuhr er herum.

Weißen Zuckerwattedampf in den Himmel blasend, näherte sich ein Zug. Die Lok war noch ein gutes Stück entfernt, trotzdem brach Vincent augenblicklich der Schweiß aus. Hektisch fummelte er an seinem Schnürband herum. Der Knoten ging nicht auf, wahrscheinlich zog er ihn in der Aufregung sogar noch fester. Das Blut rauschte ihm in den Ohren.

So ein Mist! So ein verdammter Mist!

Es gab Hunderte furchterregende Gemälde, in denen es vor Drachen, Streitäxten und Dämonen nur so wimmelte. Und er würde ausgerechnet in einem Spitzweg sterben? Das war ja fast lächerlich! Vincent traten Tränen in die Augen.

Jetzt bloß nicht auch noch heulen!

Mit aller Kraft zog er erneut an seinem Schuh. Wenn er bloß ein Taschenmesser dabeihätte, dann könnte er das Schnürband aufschneiden.

Ein weiterer Pfiff tönte durch die Luft. Der Zug kam näher, sogar noch viel schneller, als Vincent befürchtet hatte.

»Anhalten!« Er wedelte mit den Armen, aber die Lok verlor nicht an Fahrt. Sah der Lokführer ihn denn nicht? In seiner Verzweiflung setzte Vincent den freien Fuß auf die Schottersteine neben dem Gleisbett und versuchte, sich so weit wie möglich von den Schienen wegzulehnen. Er kniff die Augen zusammen.

Schon wieder ein Pfiff, jetzt ganz nah. Sein Magen drehte sich um – und dann hörte er jemanden fluchen: »Verflixt noch mal!«

Etwas drückte hart auf Vincents Schuh, es machte Ratsch, und Vincent spürte, wie sein Fuß aus dem Sneaker glitt.

»Greif meine Hand!«, schrie der Zwerg.

Der Windzug der vorbeirasenden Waggons fegte Vincent zur Seite. Im Fallen sah er noch den Baumstumpf neben den Gleisen, aber er hatte keine Möglichkeit mehr, auszuweichen. Seine Stirn prallte hart auf, und alles wurde dunkel.

 

Als Vincent wieder zu sich kam, lag er auf dem Boden. Sein Rücken fühlte sich feucht an, und es roch nach frisch umgegrabener Erde. Benommen setzte er sich auf.

Er befand sich ungefähr dort, wo er beim Sprung in das Gemälde gelandet war – diesmal allerdings außerhalb des Gemüsegartens. Zum Glück!

»Dussel«, meckerte eine bekannte Stimme. »Lässt sich beinahe von einem Zug überrollen!« Der Zwerg hockte kopfschüttelnd auf einer geschnitzten Gartenbank.

»Ich bin hängen geblieben«, verteidigte Vincent sich, »und dann –«

»Schnickschnack«, unterbrach ihn der Zwerg. »Deinetwegen hab ich meine Brombeeren nicht geerntet, und morgen ist Einkochtag!«

»Das tut mir leid«, sagte Vincent kleinlaut. Aber seine Entschuldigung prallte mal wieder wirkungslos ab. In diesem Bild würde er sich wohl nicht mehr blicken lassen können.

Als Vincent aufstand, bemerkte er, dass er nur noch seinen linken Schuh trug. Vermutlich lag der andere zerfleddert auf den Gleisen.

»Danke!«, sagte er zu dem Zwerg. »Danke, dass Sie mir das Leben gerettet haben.« Er knibbelte nervös an seinem Daumennagel. »Aber wieso waren Sie eigentlich plötzlich da? Und wie … wie haben Sie mich hierhergebracht?«

Vincents Retter zog mit wichtiger Miene an seiner Pfeife. »Unterschätze nie die Magie eines Zwerges«, sagte er geheimnisvoll. Er stieß ein paar winzige Rauchkringel aus, dann erhob er sich ächzend von seiner Bank. Offenbar war die Unterhaltung für ihn beendet.

Vincent hatte nichts dagegen einzuwenden, denn er wollte nur noch in sein Bett. Allerdings befand sich das leider meilenweit entfernt. Heute war er extra zur National Gallery gefahren, um in den Spitzweg springen zu können. Und um vom Kunstmuseum nach Hause zu gelangen, musste er noch eine halbe Stunde U-Bahn fahren. Mit nur einem Schuh – großartig!

Vincent seufzte. Er verabschiedete sich von dem Zwerg und stapfte erschöpft auf den Rand des Gemäldes zu. Von dort aus war es am einfachsten, in die richtige Welt zurückzuspringen. Den vorderen Rand eines Bildes fand man immer leicht: Es war die Leinwand, die riesig irgendwo mitten in der Landschaft aufragte. Manche Bilder besaßen auch Ränder im hinteren Bereich oder an den Seiten, wo die Landschaft in eine Art dunkles Meer überging. Aber bei guten Malerinnen und Malern hatte Vincent so etwas bis jetzt noch nicht erlebt, bei ihnen schienen die Landschaften beinahe unendlich zu sein.

Der vordere Bildrand des Spitzweg-Gemäldes war allerdings ausnahmsweise keine Leinwand, sondern eine glatte Holzplatte. Spitzweg hatte den lustigen Einfall gehabt, das Bild mit dem Zwerg auf eine Zigarrenschachtel zu malen. Das machte den Sprung hinaus nicht gerade einfacher. Bei dünn bemalten Leinwänden oder Papierzeichnungen konnte Vincent manchmal schon die Umrisse des Raumes erkennen, in den er zurückspringen wollte.

Nun stellte er sich so dicht wie möglich vor die scheinbar undurchdringliche Platte und legte seine Hände auf das glatte Holz. Müde schloss er die Augen und dachte an das Zimmer, in dem er gleich landen wollte.

Kapitel 2

Vincent wohnte momentan bei seinem Grandpa Arthur in der Oakwood Lane in Kensington, einem Stadtteil von London. Dort teilten sich Arthur und sein guter Freund und Geschäftspartner Henry Wiggles ein Appartement. Die Wohnung war riesig, ging über zwei Etagen, hatte knarrende Holzfußböden und stuckverzierte Decken. Vincent mochte es, barfuß über die bunten Orientteppiche zu laufen, die überall herumlagen. Und er liebte Arthurs Ölgemäldesammlung. Die Bilder bedeckten fast sämtliche Wände, sogar die des Gästeklos, und die meisten hatten dicke, schnörkelige Goldrahmen.

Wenn seine Mum unterwegs war – was bei einer Reisefotografin recht häufig vorkam –, durfte Vincent Arthurs Dachgeschoss in Beschlag nehmen. Hier oben hatte er seine Ruhe und einen eigenen kleinen Balkon.

In der Oakwood Lane angekommen, schloss Vincent leise die Wohnungstür auf. So geräuschlos wie möglich stahl er sich über die Treppe hinauf in sein Reich.

Puh, dachte er, erleichtert darüber, von Henry und Arthur nicht entdeckt worden zu sein.

Er wusch sich an dem winzigen Waschbecken im Zimmer seine aufgeschrammten Hände – was wirklich übel brannte – und klebte auf den rechten Handballen ein Pflaster.

Bevor er sich eine neue Jeans und frische Socken anzog, untersuchte er noch einmal sein Knie. Wegen der blauen Flecken sah es ein wenig so aus wie ein Heidelbeermuffin, fand Vincent, aber wenigstens war es bislang nicht dick geworden.

Um auch nicht den geringsten Eindruck zu erwecken, heute Nachmittag beinahe von einem Zug überrollt worden zu sein, seifte Vincent sich zu guter Letzt noch das Gesicht ab und kämmte seine Haare. Zum Glück hatte der Sturz auf den Baumstumpf nur eine leichte rötliche Schwellung auf seiner Stirn hinterlassen. Kaum zu sehen. Vincent strubbelte einige Haarsträhnen darüber und schlich wieder nach unten.

»Hallo?«, rief er in den Flur hinein. Er schmiss seinen Rucksack unter die Garderobe, so wie er es immer tat, wenn er gerade nach Hause kam.

»Vincent?«

Eine kleine, rundliche Gestalt lugte aus der Küche. Henry. Er trug eine Kochschürze mit der Aufschrift: Wenn es kein Fleisch mehr gibt, ess’ ich Vegetarier.

»Kochst du heute?«, fragte Vincent.

Die Frage war ein wenig entsetzter herausgerutscht, als er beabsichtigt hatte. Doch normalerweise gab es bei Henry und Arthur eine strickte Aufgabenteilung: Die Küche war zu hundert Prozent Arthurs Bereich. Das lag vor allem daran, dass Henrys Kochkünste sich auf ein einziges Gericht beschränkten – Plumpudding Spezial. Und eigentlich war das noch nicht einmal ein ordentliches Gericht, sondern eine Nachspeise. Aber das kümmerte Henry nicht, er liebte Plumpudding Spezial und konnte ihn zum Frühstück, mittags zum Lunch und abends zum Dinner essen. Vermutlich hätte er das auch getan, wenn Arthur ihn nicht ständig wegen seiner »Linie« ermahnt hätte. Das Spezial in Plumpudding Spezial war nämlich eine Soße aus Butter, Sahne und geschätzt fünfzig Kilogramm Zucker.

»Ja, ich koche heute«, sagte Henry. Er klang nur ein kleines bisschen beleidigt. »Dein Grandpa musste unbedingt allein die Kiste mit den Wasserflaschen hochschleppen«, erklärte er. »Jetzt hat er es natürlich im Kreuz und macht drüben Gymnastik, deswegen versuche ich …«

»Gymnastik?«, dröhnte es aus dem Wohnzimmer. »Meine Güte, Henry! Wie oft soll ich das noch sagen? Tai-Chi ist keine Gymnastik. Es ist eine …«

Henry verdrehte die Augen. »Eine alte chinesische Kampf- und Bewegungskunst«, sprach er leiernd mit. Dabei zwinkerte er Vincent zu. Es gehörte zu seinen Hobbys, Arthur auf die Palme zu bringen, und bei Arthur war es umgekehrt genauso.

Vincent kamen die beiden manchmal vor wie ein altes Ehepaar. Sie kannten sich schon ewig, und seit sie auch zusammen arbeiteten, traf man sie nur noch im Doppelpack an. Der Einfachheit halber war die Familie irgendwann dazu übergegangen, von den Grandpas zu sprechen, wenn sie Henry und Arthur meinten. Ein paar Jahre nach dem Tod von Vincents Grandma Flora war Henry dann sogar bei Arthur eingezogen, damit der sich nicht so einsam fühlte.

»Hallo, Grandpa!«, rief Vincent ins Wohnzimmer hinüber.

Und Henry rief hinterher: »Mach dein Chopsuey mal etwas schneller, Arthur. In fünf Minuten gibt’s Essen!«

»Taaaiii-Chiiiii!«, brüllte Arthur zurück.

Vincent half, den Tisch zu decken. Und weil er wusste, dass Arthur länger brauchen würde als fünf Minuten – allein, um Henry zu ärgern –, ging er noch einmal nach oben. Dort setzte er sich an den Schreibtisch und arbeitete an einer Zeichnung weiter, mit der er vor ein paar Tagen begonnen hatte. Wenn er nicht gerade in der Schule war oder in Gemälde sprang, zeichnete oder malte Vincent eigentlich ständig.

Er wusste, dass die Grandpas es gut fänden, wenn er sich stattdessen ab und zu mit jemandem aus seiner Klasse treffen würde. Aber dazu hatte Vincent keine Lust. Seine Mitschüler hatten ganz andere Interessen als er.

Vorletzten Sommer hatte er sich mit Nick, einem Jungen aus dem Zeichenkurs in der National Gallery, angefreundet. Sie hatten sich richtig gut verstanden, aber dann hatte Nicks Vater eine neue Arbeit in Edinburgh angenommen, und die ganze Familie war nach Schottland umgezogen.

Vincent legte den Stift auf der Schreibtischunterlage ab. Er bekam langsam Hunger und hoffte, dass Arthurs knurrender Magen ihn inzwischen in die Küche getrieben hatte – und tatsächlich: Als Vincent unten eintraf, thronte sein Grandpa bereits am Tisch. Er thronte wirklich. Arthur besaß eine Art angeborene Vornehmheit, die ihn sogar unrasiert und in Jogginghose immer noch aussehen ließ wie einen Adligen aus dem Hochglanzmagazin. Ärgerlicherweise hatte Vincent diese Eigenschaft nicht geerbt, obwohl er seinem Grandpa sonst ziemlich ähnelte. Nur die dunkle Hautfarbe stammte von seiner Mutter, also von der anderen Seite der Familie.

»Na, wie war dein Tag?«, war das Erste, was Arthur fragte.

Auf dem Tisch standen ein Topf mit Spaghetti und ein Teller mit angesengten Hähnchenkeulen. Henry hatte sich sichtlich Mühe gegeben, mal etwas anderes zu servieren als Plumpudding Spezial. Das Ergebnis sah allerdings … nicht sehr lecker aus.

Vincent ließ sich gegenüber von Henry auf den Stuhl plumpsen. »Mein Tag war super!«, log er. »In der Schule ist nicht mehr viel los. Sind ja nur noch drei Tage bis zu den Sommerferien.«

»Und warst du im Museum?«, hakte Arthur nach. Er liebte es, sich mit Vincent über das Bildspringen zu unterhalten. In den Siebzigerjahren hatte er am Royal College of Arts in London Kunst studiert. Und obwohl es mit einer Künstlerkarriere nicht geklappt hatte, malte Arthur auch heute noch. Er verehrte vor allem alte Meister wie Rembrandt oder Tizian. Das war nicht gerade Vincents Geschmack, denn der mochte die Impressionisten – van Gogh oder Monet zum Beispiel.

»Hab nur kurz reingeschaut«, erklärte Vincent knapp. Er hoffte, sein Grandpa würde aufhören, ihn auszufragen, aber natürlich tat Arthur ihm diesen Gefallen nicht. Er wollte wissen, was genau Vincent sich angesehen hatte.

Vincent seufzte innerlich, dabei hätte er normalerweise gern von seinem Nachmittag in dem Spitzweg erzählt. Schließlich konnte er nicht mit vielen Menschen über die Bildausflüge sprechen. Außer den Grandpas und seiner Mum wusste nur Nora Ferrara davon, die Direktorin der National Gallery.

Nachdem Vincents Familie sich an seine Gabe gewöhnt hatte, war Arthur mit ihm in die Gallery gegangen. Er hatte gehört, dass Nora Ferrara bekannt dafür war, neue Talente zu fördern. Sie gab Zeichenkurse und verschaffte jungen Künstlerinnen und Künstlern Stipendien in aller Welt. Arthur hoffte, Mrs Ferrara könne Vincent helfen, mit seiner besonderen Fähigkeit umzugehen, und ihm vor allem Zugang zu den großen Kunstwerken verschaffen – und das tat sie auch. Außerdem war sie glücklicherweise verschwiegen. Weder Vincent noch seine Familie hatten nämlich Lust, von Reportern belagert zu werden, die den Jungen, der in Gemälde springen kann fotografieren wollten.

Während Vincent ein paar von Henrys wabbeligen Spaghetti um seine Gabel wickelte, überlegte er, wie er das Gespräch vom Bildspringen weglenken könnte.

Doch da kam Henry ihm unverhofft zu Hilfe: »Hast du eigentlich von dem Einbruch heute Nachmittag gehört?«,

Vincent hob den Kopf. »Welcher Einbruch?«

»Na, der bei Peter Bramford«, antwortete Arthur an Henrys Stelle. Mit kraus gezogener Nase suchte er nach dem am wenigsten angekokelten Hühnerbein und legte es auf seinen Teller.

»Ist das dieser Kunstsammler?«, fragte Vincent neugierig.

Arthur nickte. »Ja, der aus Chelsea. Irgendjemand ist in seine Villa eingebrochen und hat einen van Goyen mitgehen lassen. Wir haben es vorhin im Radio gehört.«

»Van Goyen?« Der Name sagte Vincent überhaupt nichts.

»Ein niederländischer Maler«, erklärte Arthur. Er winkte ab. »Nicht so bekannt. Das gestohlene Gemälde soll nur etwa 300.000 Pfund Wert sein. Es heißt Das Gewitter.«

Vincent wollte einwenden, dass er 300.000 Pfund eigentlich gar nicht so wenig fand – seine Mum brauchte bestimmt zehn Jahre, um so viel zu verdienen. Aber in diesem Moment klingelte es an der Wohnungstür.

Vincent sprang auf und lief in den Flur.

»Abendpost«, trällerte jemand in die Gegensprechanlage. Und dann schnaufte ein dürrer Bote mit Pferdeschwanz die Treppe hinauf und reichte Vincent eine armlange Versandrolle mit Arthurs Namen und Adresse darauf.

Vincent übergab das Paket in der Küche. »Hast du ein Bild bestellt, Grandpa?«

»Ein Bild? Nein.« Arthur betrachtete den Absender auf der Rolle. Er zog die Brauen zusammen, und kurz zuckten seine Augenlider.

»Wasch ischt esch denn?«, fragte Henry neugierig mit vollem Mund.

»Es ist … für uns«, sagte Arthur knapp. Er stellte die Rolle beiseite und warf Henry einen durchdringenden Blick zu, den dieser im Gegensatz zu Vincent nicht zu bemerken schien.

»Sind das etwa die –«, setzte Henry an.

»Hmmkrmmm!« Arthur räusperte sich laut.

»Oh, ausgezeichnet, dann kann ich mich heute ja endlich dransetzen und die –«

»Ja-ha«, unterbrach Arthur ihn unwirsch. »Lass uns das bitte nachher besprechen, Henry, in Ordnung? Jetzt will ich erst mal in Ruhe essen.« Er wandte sich wieder seinem Enkel zu und knipste ein breites Lächeln an. »Vincent muss uns doch noch erzählen, in welchem Bild er sich heute herumgetrieben hat.« Sein Lächeln bekam etwas Forschendes, das Vincent gar nicht gefiel. »Wo genau hast du dir denn die aufgeschrammten Hände geholt, hm?«

 

Vincent war stolz auf sich. Er hatte nicht gelogen, noch nicht einmal ein bisschen. Er hatte lediglich gekürzt. Irgendwann hatte Arthur ihn endlich in Ruhe gelassen und sich mit Henry über die Spaghetti gezankt, die seiner Ansicht nach ungenießbar waren.

Froh darüber, endlich keine unangenehmen Fragen mehr beantworten zu müssen, war Vincent in sein Zimmer hinaufgegangen und hatte sich dort müde den Pyjama angezogen. Als er noch mal nach unten lief, um sich im Bad die Zähne zu putzen, bemerkte er, wie Arthur und Henry tuschelnd vor Henrys Computer saßen. Was die beiden bloß ausheckten? Und was sollte diese merkwürdige Geheimnistuerei mit dem Paket?

Die werden doch nicht wieder …?, ging es Vincent durch den Kopf, während er die Badezimmertür hinter sich schloss. Er traute sich aber nicht einmal, den Gedanken zu Ende zu denken. Es war ja auch Blödsinn! Diese Zeiten waren längst vorbei.

Wenig später legte Vincent sich ins Bett und schaltete das Licht aus. Doch jedes Mal, wenn er kurz vor dem Einschlafen war, meinte er plötzlich einen Pfiff oder ein lautes Brummen zu hören und schreckte auf. Die Ereignisse des Tages ließen ihn einfach nicht los.

Als er kurz vor Mitternacht immer noch nicht schlief, stand er auf und schlich die Treppe hinunter, um in der Küche einen Schluck Wasser zu trinken.

Das Licht auf dem Flur war gelöscht, nur der Mond schien matt durch die Fenster, und ein leises Schnarchen erfüllte die Luft – Henrys Schnarchen. Vincent konnte das inzwischen eindeutig unterscheiden. Arthurs Schlafgeräusche klangen pfeifend, während Henrys ihn ein wenig an Wildschweingrunzen erinnerten.

In der Küche holte Vincent ein Glas aus der Vitrine und hielt es unter den Hahn. Er musste wieder an die Versandrolle denken. Zu gern hätte er gewusst, was darin steckte. Natürlich war es nicht in Ordnung, anderer Leute Post zu lesen, das war Vincent klar. Aber er machte sich schließlich nur Sorgen um Henry und Arthur. Irgendjemand musste ja ein Auge auf die Grandpas haben, während seine Mum fort war.

Vincent ließ das leere Wasserglas in der Küche stehen und schlich über den Flur bis zu Henrys Zimmertür, die einen Spaltbreit offen stand. Der Raum lag im Dunkeln, nur auf dem Schreibtisch blinkte eine Vielzahl stecknadelgroßer Lämpchen. Henry besaß eine ausgetüftelte EDV-Anlage mit mehreren riesigen Flachbildmonitoren, die kaum auf die Tischplatte passten. Nachdem Arthurs Künstlerkarriere den Bach hinuntergegangen war, hatte er mit Henry eine Alarmanlagenfirma gegründet. Arthur war für die Kundengespräche zuständig und Henry war der Computer-Experte gewesen. Auch jetzt nahmen sie ab und zu noch private Aufträge an, obwohl sie eigentlich offiziell im Ruhestand waren.

Ob die Versandrolle mit so einem Auftrag zusammenhängt?, rätselte Vincent. Aber warum dann die Heimlichtuerei?

Vorsichtig tippte er mit seinem Zeigefinger gegen die Zimmertür. Sie knarrte leise, als sie aufschwang, und Vincent hielt die Luft an. Erst jetzt begriff er, was er hier eigentlich tat. Wenn Henry nun aufwachte und ihn beim Durchsuchen seines Zimmers erwischte? Besser, er brach die Aktion sofort ab.

Er wollte gerade den Rückzug antreten, da sah er die Rolle, die verführerisch am Schreibtisch lehnte. Jetzt, wo die Tür weiter geöffnet war, fiel das Mondlicht durch das Flurfenster direkt darauf. Er bräuchte nur ein paar Schritte auf den Tisch zuzugehen …

Vincent holte tief Luft und glitt leise in das Zimmer hinein. Als er genau in der Mitte zwischen Tür und Schreibtisch angelangt war, knarrte eine Bodendiele. Für Vincent hätte genauso gut eine Motorsäge anspringen können, so sehr erschrak er. Reglos blieb er stehen und lauschte.

Stille.

Und dann ertönte endlich wieder Henrys tief rasselndes Schnarchen.

Vincent schlich vorsichtig weiter und erreichte den Schreibtisch. Er griff nach der Rolle, nahm den Deckel ab und fasste hinein.

Nichts!

Die Rolle war leer.

Enttäuscht ließ Vincent sie sinken. Dabei segelte ein kleiner Zettel heraus, den er vorher gar nicht bemerkt hatte. Schnell hob Vincent ihn auf und las im Schein des Mondlichts:

Lieber Arthur, lieber Henry!

Wie verabredet sende ich euch die Pläne. War nicht ganz einfach, sie zu kopieren, aber für Mario ist nichts unmöglich. Das wisst ihr ja! Bezahlung auf dem üblichen Weg. Haltet die Ohren steif, und sagt Bescheid, wenn ihr hier seid. Dann trinken wir einen Espresso im Feffo.

Viele Grüße

Euer Mario