Bildspringer (Band 2) - Christina Wolff - E-Book

Bildspringer (Band 2) E-Book

Christina Wolff

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Beschreibung

Spring mit Vincent, Holly und Sam ins nächste Abenteuer!   Vincent, Holly und Sam sind die einzigen Bildspringer der Welt - niemand sonst kann in Gemälde hineinspringen und sich darin bewegen. Als Van-Gogh-Agency wollen sie verschollene Bilder wiederfinden und Fälschungen entlarven. Doch dieses Mal wurde nicht nur ein Bild gestohlen, sondern auch jemand entführt! Die drei Bildspringer planen sofort eine Rettungsaktion, bei der sie jedoch selbst in Gefahr geraten. Denn hinter der Entführung steckt die Geheimorganisation Novum Nexum, die mit Hilfe von Bilderseelen Unsterblichkeit erlangen will. Und die Einzigen, die diese Bilderseelen beschaffen können, sind Vincent, Holly und Sam … Band 2 der fantasievollen Kinderkrimi-Reihe: Noch mehr Spannung, noch mehr Action, noch mehr Mut! Mit detailreichen, großflächigen Illustrationen!

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Seitenzahl: 222

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Christina Wolff

Bildspringer

Der zweite Fall der Van-Gogh-Agency

Außerdem von Christina Wolff bei WooW Books erschienen:

Bildspringer – Der erste Fall der Van-Gogh-Agency (Band 1)

Die Geister der Pandora Pickwick (Band 1)

 

© Atrium Verlag AG, Imprint WooW Books, Zürich 2023

Originalausgabe

Alle Rechte vorbehalten

© Text: Christina Wolff

© Cover und Illustrationen im Innenteil: Florentine Prechtel

 

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

 

ISBN978-3-03967-031-4

 

www.WooW-Books.de

www.instagram.com/woowbooks_verlag

Für zwei großartige Malerinnen:

Hanne Sophie

und

Florentine Prechtel

Ärger in der National Gallery?

 

Londons größtes Kunstmuseum hat einen neuen Direktor:

John Williams ersetzt Nora Ferrara, die die National Gallery seit 2010 leitete. Der Wechsel kam überraschend, doch weder Mrs Ferrara noch die National Gallery gaben eine Erklärung dazu ab.

Deshalb schickten wir einen Sunday Times-Reporter nach Greenwich, wo die ehemalige Direktorin wohnt, um ihr ein offizielles Statement zu entlocken. Leider waren in Ferraras Etagenwohnung aber die Rollläden heruntergelassen.

»Da ist was faul! Die ist wie vom Erdboden verschluckt«, kommentierte Ferraras Nachbarin Rose Barton (57, Verkäuferin bei Walmart).

Tatsächlich sieht es ganz danach aus, als hätte Mrs Barton recht. Nur: Was ist faul in der National Gallery? Und wo ist Nora Ferrara?

Wir bleiben weiter für Sie dran!

 

Artikel von Brad Cooper

1. Kapitel

»Was sollen wir hier denn überhaupt machen, Vincent? Du hast uns noch gar nichts gesagt!« Holly wischte sich ein paar Kuchenkrümel von der Leggings. Ihre Landung in dem Gemälde war holperig ausgefallen, doch zum Glück gab es keine Verletzten – bis auf ein Milchkännchen und ein Stück Apfeltorte, die das Ganze leider nicht überlebt hatten.

Vincent lehnte über dem Terrassengeländer des Cafés, in das sie gesprungen waren, und betrachtete die Ruderboote im Alsterbecken unter ihnen. Auf dem Wasser tanzten goldene Lichtpünktchen, die gut zur hellen Sonntagskleidung der Bootspassagiere passten. Bis jetzt war Vincent noch nie in Hamburg gewesen, und er war auch noch nie in ein Gemälde von Max Liebermann gesprungen. Aber beides gefiel ihm. Hinter der Alster ragten hohe Kirchtürme in einen blitzblauen Himmel, während gerade ein kleiner Passagierdampfer am Café vorbeifuhr, geschmückt mit rot-grünen Girlanden.

Vincent gähnte. Die letzte Nacht war kurz gewesen. Er hatte abends mit John Williams wegen des heutigen Auftrags telefoniert und danach nicht einschlafen können, weil er über die Visitenkarten für die Agency nachgegrübelt hatte.

So oder so ähnlich sollte der Text aussehen. Vincent wollte die Karten an einigen sinnvollen Stellen in der Stadt verteilen. Sams, Hollys und seinen Namen würde er natürlich nicht abdrucken. Schließlich sollte niemand von ihnen und noch weniger von ihrem Bildspringer-Talent erfahren, daran hatte sich nichts geändert. Und dass sie erst dreizehn waren, mussten ihre Auftraggeber auch nicht unbedingt wissen.

»He, Vincent!« Holly boxte ihn leicht in die Seite. »Was wir in dem Bild machen sollen, hab ich gefragt.«

Vincent gähnte noch einmal und streckte sich. »Wir sollen prüfen, ob es echt ist«, sagte er.

»Sieht doch alles echt aus.« Sam klopfte leicht gegen das Terrassengeländer, das mit einem metallischen Plingen antwortete.

»Ja, und es riecht auch echt!« Naserümpfend zeigte Holly auf einen frischen Klecks Möwenkacke auf dem Geländer vor ihr.

Vincent schnüffelte. Für ihn roch es in dem Bild irgendwie nach Mayonnaise. Vielleicht aß jemand im Café Pommes frites. Obwohl: Das Bild war von 1910. Hatte es da überhaupt schon Pommes frites gegeben?

»Und wieso will Mr Williams das Bild prüfen lassen?«, fragte Sam. Er war der Einzige, der den neuen Direktor der National Gallery immer noch mit Mr Williams anredete. Holly und Vincent sagten John, immerhin hatten sie in den letzten Sommerferien einiges miteinander erlebt.

Zuerst waren sie der Beinahemörderin, Erpresserin und Ex-Direktorin der National Gallery Nora Ferrara auf die Schliche gekommen. Allerdings hieß die eigentlich gar nicht Nora Ferrara, sondern Isabella d’Este, war im fünfzehnten Jahrhundert geboren und damals eine einflussreiche Kunsthändlerin gewesen. Und ja: Natürlich hätte sie längst tot sein müssen. Doch schlauerweise hatte sie der Geheimloge Vita Aeterna, einer Vereinigung von Alchemisten, damals ein Ölporträt von sich hinterlassen, aus dem die Logenmitglieder sie mit einem komplizierten Rezept wieder zum Leben erweckt hatten. Um weiter lebendig bleiben zu können, brauchte Isabella allerdings von Zeit zu Zeit eine Bilderseele. Deswegen war sie in die Rolle der Museumsdirektorin geschlüpft, hatte Sams Vertrauen gewonnen und ihn schließlich erpresst, ihr die Bilderseelen zu besorgen. Dabei war sie vor nichts zurückgeschreckt. Beinahe hätte sie Holly bei lebendigem Leib in einem Ölbild verbrannt! Zum Glück war es ihnen am Ende gelungen, Isabella wieder in ihr Gemälde zu bannen.

Während dieser ganzen Aktion hatten Sam, Holly und Vincent außerdem erfahren, dass sie die »Erben Leonardo da Vincis« waren, die Nachfahren des ersten Bildspringers. Vincent konnte es immer noch nicht richtig glauben, dass sie mit dem berühmten Maler quasi verwandt sein sollten. Doch John, der heute ein Mitglied von Vita Aeterna war, hatte ihnen einige Aufzeichnungen mit Prophezeihungen von da Vinci gezeigt, und es stimmte. Vincent hatte gehofft, beim Durchsehen der Papiere auch Hinweise darauf zu finden, warum er, Holly und Sam in Bilder springen konnten. Doch bis jetzt war er in dieser Frage leider keinen Schritt weitergekommen. Träge strich er mit den Fingern über das schwarz gestrichene Terrassengeländer.

»John will dieses Bild hier für die National Gallery kaufen«, erklärte er Holly und Sam. »Aber dem Verkäufer fehlt ein Echtheitszertifikat. Deshalb meinte John, ich soll das Gemälde lieber noch mal unter die Lupe nehmen.«

»Du meinst wohl, wir sollen es unter die Lupe nehmen«, versetzte Holly. Sie hatte schon des Öfteren angemerkt, dass Vincent sich ihrer Meinung nach viel zu sehr als Chef der Agency aufspielte, obwohl er das doch gar nicht war. Vincent fand sich überhaupt nicht »chefig«. Er ärgerte sich umgekehrt darüber, dass Holly und Sam ihm die Organisation rund um die Aufträge immer allein überließen. Das war viel Arbeit.

Holly zog ein Kaugummi aus ihrer Hosentasche und steckte es in den Mund.

»Ich glaub, das Bild ist okay. Die Leute in den Booten sehen doch total normal aus.« Sie kaute einen Moment. »Erinnert ihr euch noch an diese verwaschenen Gesichter in dem falschen Renoir? Das war echt Horror!«

»Stimmt«, sagte Sam. Er blinzelte nervös bei der Erinnerung.

Holly blies eine Kaugummiblase auf und ließ sie platzen. »Guckt mal!«, rief sie. »Da vorn ist das Kassenhäuschen für den Bootsverleih. Wollen wir fahren?«

Vincent verzog das Gesicht.

»Lieber nicht. Wir haben doch gar kein Geld. Ich weiß nicht mal, mit was die hier bezahlen.«

»Quatsch!«, winkte Holly ab. »Wir sind in einem Bild. Das kriegen wir schon hin. Los, kommt!«

Sie sauste bereits in Richtung Café-Ausgang davon, sodass Sam und Vincent nichts anderes übrig blieb, als ihr zu folgen. Über die Terrasse liefen sie in das altmodische Kaffeehaus hinein und dort an der riesigen Leinwand vorbei, die mitten im Raum aufragte – der vordere Bildrand. An dieser Stelle waren sie vorhin in das Gemälde gesprungen, und genau hier würden sie es später auch verlassen müssen.

Der Ausgang des Cafés führte sie zunächst auf eine Straße, aber schon hinter der ersten Häuserecke kam das Alsterbecken wieder zum Vorschein. An einem Steg schaukelten mindestens ein Dutzend Ruderboote auf dem Wasser, und rechts ragte das kleine Kassenhäuschen auf. Holly sprach mit dem Bootsverleiher, einem jungen Mann mit dunklen Locken. Irgendwann warf sie einen triumphierenden Blick über ihre Schulter, und während sie den Steg hinunterlief, winkte sie Vincent und Sam, ihr zu folgen.

»Benno hat gesagt, wir dürfen eine halbe Stunde fahren«, verkündete sie fröhlich, als die Jungen kurz nach ihr beim Boot eintrafen. Sie saß schon an der Ausguckseite der Jolle. Für Vincent und Sam hatte sie großzügig die Ruderplätze freigelassen.

»Benno?«, fragte Vincent abfällig. »Was hast du ihm denn gesagt?«

»Och, dies und das.« Holly spitzte die Lippen. »Jetzt rudert mal! Und ich schrei euch Kommandos zu – wie diese Trommler auf den Drachenbooten.«

»Nein, danke!«, wehrte Vincent ab. Er griff nach seinem Ruder. Das Holz fühlte sich glatt an und war angenehm warm. »Pass nur auf, dass wir nirgendwo gegenfahren«, wies er Holly an.

Es dauerte eine Weile, bis Sam und er einen gemeinsamen Rhythmus gefunden hatten, und am Ende musste Holly ihnen doch Kommandos zurufen, weil es gar nicht so leicht war, das Boot durch die vielen anderen Ruderboote im Alsterbecken zu lenken. Erst als sie sich ein wenig aus dem Gewusel um den Steg herum befreit hatten, wurde es entspannter. Jetzt konnten sie mit den Rudern weiter ausholen. Vincent merkte, dass ihm das Bootfahren Spaß machte. Vor ein paar Monaten wäre das überhaupt nicht denkbar gewesen, aber seit er mit Holly und Sam gemeinsam in Bilder sprang, hatte er seine Wasser-Angst immer besser in den Griff bekommen. Schocktherapie nannte man so etwas wohl, denn mit den beiden landete man regelmäßig in Flüssen, Tümpeln oder Seen oder gleich ganz irgendwo im Meer ohne Land in Sicht. Sogar in einem riesigen Glas Apfelsaft hatten er und Holly schon paddeln müssen. Langsam war Vincent daran gewöhnt, pitschnass aus den Gemälden zurückzuspringen. Aber nicht heute! Heute würden sie nur die warme Brise auf der Alster genießen.

»Was macht ihr eigentlich in den Osterferien?«, fragte Holly.

Vincent hob sein Ruder vorsichtig über eine dicke Möwe, die es offensichtlich aufgegeben hatte, den vielen Booten auszuweichen. »Weiß noch nicht.«

»Ich fahre mit meinen Eltern nach Brighton«, erklärte Sam. »Aber nur am ersten Ferienwochenende.«

Holly klatschte in die Hände.

»Okay, das ist super! Ich hab neulich in den Kalender geschaut. Unsere Agency wird am 12. April neun Monate alt, und ich finde, das könnten wir doch mal –«

Es machte Rumms. Holly schrie auf. Im nächsten Moment landete sie auf Sam und wischte ihm dabei unsanft die Brille von der Nase.

»Blöde Gören!«, schrie jemand. »Könnt ihr nicht aufpassen?«

Sie waren mit einem anderen Ruderboot zusammengestoßen. Ächzend kletterte Holly wieder auf ihre Bank.

»Wieso denn wir?«, brüllte sie dem Mann in dem Boot zu. Er war ziemlich kräftig und hatte rote Apfelbäckchen. »Sie sind uns doch in den Weg gefahren.« Besorgt wandte sie sich an Sam. »Alles okay, Sammy?«

»Ja, ja.« Sam klaubte seine Brille auf, die zum Glück heil geblieben war.

»Sie haben fast die Brille von meinem Freund kaputt gemacht!«, schrie Holly.

»Ist doch nichts passiert«, sagte Sam leise.

»Das wäre ganz schön teuer für Sie geworden!«, brüllte Holly weiter.

»Sag mal, Mädchen, hast du zu heiß gebadet, oder was? Ihr habt nicht geguckt! Hab doch gesehen, wie ihr die ganze Zeit getüddelt habt.« Die Wangenfarbe des Mannes wechselte inzwischen ins Kirschrote, aber Holly war nicht weniger wütend als er.

»Ich weiß zwar nicht, was das heißt, aber das nehmen Sie sofort zurück!«, drohte sie und fuhr mit funkelndem Blick in die Höhe. Leider erwies sich das Aufstehen in dem kleinen Boot als keine besonders gute Idee! Die Jolle schwankte wie wild, und es dauerte nur zwei Sekunden, dann platschte Holly mit viel Gespritze in die Alster.

Erschrocken beugten Vincent und Sam sich über den Bootsrand, aber zum Glück dauerte es nicht lange, bis Holly wieder an die Oberfläche tauchte. Und offenbar hatte das Wasser in der kurzen Zeit ihre Wut weggewaschen. Jedenfalls lachte sie.

»Kommt auch rein! Ist gar nicht kalt«, rief sie. Sie spritzte noch eine Ladung Wasser hoch, dann legte sie sich auf den Rücken und schwamm in Richtung Alstermitte.

»Warte!«, brüllte Sam ihr hinterher. Doch Holly hörte ihn nicht. Sie schwamm weiter. Flach auf dem Rücken und mit den Ohren unter Wasser. Das Ruderboot, auf das sie zuhielt, bemerkte sie nicht, und die Passagiere bekamen von ihr offensichtlich ebenso wenig mit. Noch bevor sie mit der Jolle zusammentraf, sauste ihr eins der schweren Ruderblätter auf den Kopf. Sie schrie nicht einmal. Vincent und Sam sahen nur noch, wie sie unterging.

»Holly!« Vincent sprang sofort über Bord. Im Eiltempo kraulte er zu der Stelle hinüber, an der Holly eben noch gewesen war. Die Leute in dem Boot hatten von all dem nichts wahrgenommen. Sie waren einfach weitergefahren.

Vincent holte tief Luft und tauchte. Holly hatte gelogen. Die Alster war eiskalt. Er zitterte, obwohl er in Bewegung war. Mit weit aufgerissenen Augen suchte er unter Wasser die Umgebung ab, aber in dieser Brühe konnte er kaum etwas erkennen. Alles war dunkelgrün, und tausend Algen versperrten ihm die Sicht. Schnell schwamm er aufwärts, um seine Lungen vollzutanken. Wo war sie denn, verdammt noch mal?

Beim nächsten Tauchgang streckte er die Arme weit von sich, um mehr Fläche absuchen zu können, und tatsächlich: Er stieß mit der Hand gegen etwas. Jetzt konnte er in dem Dunkel sogar Umrisse erkennen. Da war ein Mensch, aber es war nicht Holly …

Gemeinsam mit Sam stieß er durch die Wasseroberfläche. »Ich kann sie nicht finden!« Er drehte sich um die eigene Achse. Keine zwei Meter von ihnen entfernt schaukelte ein Boot auf dem Wasser. Es musste ihr eigenes sein, denn an Bord war niemand zu sehen. Vincent gab der Jolle einen kleinen Schubs, um freie Sicht zu haben, doch auch dahinter fand er keine Spur von Holly. Er schoss noch einmal in die Tiefe.

Hollys rotes FC-Arsenal-Shirt müsste doch selbst in dem brackigen Wasser leuchten. Aber da war nichts. Gar nichts. Er merkte, wie die Panik in ihm hochkroch.

Was, wenn wir sie nicht finden?

Es fühlte sich an, als würde sein Brustkorb sich mit Eiskristallen füllen. Diesmal hielt er es nicht lange unter Wasser aus. Er stieß nach oben.

Und dann sah er sie. Holly!

In ihrem roten T-Shirt. Ihr Oberkörper hing halb in das Boot hinein, das eben noch herrenlos auf dem Wasser getrieben hatte. Aber jetzt saß darin der Mann mit den Apfelwangen. Klitschnass und stöhnend mühte er sich ab, Holly an Bord zu ziehen.

»Ich helfe Ihnen!« Vincent schob von unten, und mit vereinten Kräften schafften sie es, Holly ins Bootsinnere zu befördern.

»Geht’s ihr gut?« Sam, der ebenfalls aufgetaucht war, wollte sich neben Vincent an die Reling klammern, doch das Boot schwankte zu sehr, deshalb ließ er sich wieder ins Wasser gleiten.

»Atmet sie?«, fragte Vincent.

Statt einer Antwort rollte der Mann Holly auf dem Bootsboden in die Seitenlage.

»Ihr Herz schlägt«, informierte er die Jungen, nachdem er zwei Finger auf Hollys Hals gedrückt hatte. Er streckte ihren Kopf etwas nach hinten, und dann fuhr plötzlich eine Welle durch Hollys Körper. Ihr Rücken zuckte, sie hustete und spuckte einen Schwall Wasser aus. Langsam und zittrig richtete sie ihren Oberkörper auf.

»Wo … wo bin ich?«

Der Mann lachte. Vincent hörte seine Erleichterung.

»Beim Alstervergnügen, Mädchen!« Er klopfte Holly sachte auf den Rücken. »Sei bloß froh, dass du ’nen Rettungsschwimmer angefahren hast. Sonst wär das Vergnügen für dich heute übel ausgegangen!«

Vincent atmete durch. Endlich hatte er das Gefühl, wieder Luft zu bekommen. »Danke! Ich weiß gar nicht, was wir ohne Sie –«

»Ja, ja«, unterbrach der Mann ihn unwirsch. »Ihr Jungs holt jetzt mal euer Boot, und ich fahr mit eurer Freundin zum Anleger, damit sie aus der nassen Kleidung rauskommt! Ist ja übrigens mal ganz was Neues: ’n Mädel in Hosen.« Er lachte wieder laut, während er mit Holly davonruderte.

Vincent und Sam erreichten den Steg nur wenige Minuten nach den beiden. Sam sprang an Land, vertäute die Jolle am Anlegehaken und lief zu Holly, die sich ein paar Meter weiter mit Benno vom Kassenhäuschen unterhielt. Vincent wollte ebenfalls aussteigen, doch da sah er etwas unter der Bank am Bug aufblitzen. Er streckte die Hand danach aus, weil er dachte, Holly oder Sam könnten etwas verloren haben. In dem Moment, in dem er den Gegenstand berührte, schoss ihm ein eigenartiges Kribbeln die Wirbelsäule hinauf. Er zuckte kurz zurück, hob das Ding dann aber doch auf. Es war ein Anhänger: ein Kettenanhänger aus grünem Glas. Den hatten seine Freunde bestimmt nicht verloren!

»Hey, kommst du?« Sam blickte vom Stegrand zu ihm herunter. Neben ihm stand Holly, der irgendjemand ein Handtuch umgehängt hatte. Vincent ließ den Anhänger blitzschnell in seiner Hosentasche verschwinden.

»Geht’s dir gut?«, fragte Holly besorgt, als er von Bord geklettert war. »Du bist total weiß im Gesicht.«

»Was? Ja. Mir … mir ist nur kalt«, stammelte Vincent. Er versuchte, sich die Gänsehaut von den Armen zu reiben. »Und du? Alles okay?«

Holly nickte.

»Dann kommt«, sagte sie, »wir müssen John erzählen, dass das Bild keine Fälschung ist, und dann will ich mich umziehen.«

Auf dem Rückweg über den Anleger, tastete Vincent noch einmal nach dem Glasstein in seiner Tasche. Er war nicht sicher, ob die Gänsehaut wirklich von der Kälte kam. Vielleicht hatte sie eher mit dem zu tun, was er gerade entdeckt hatte …

2. Kapitel

Als Vincent die Wohnungstür in Notting Hill aufschloss, wirbelte ihm seine Mum entgegen. Sie trug ihr altes Rolling-Stones-T-Shirt, schwang einen Putzlappen und sah schon auf den ersten Blick gestresst aus. »Da bist du ja endlich! Du musst mir unbedingt die Ganesha-Statue vom Speicher holen.«

Vincent war bereits im Museum in die Wechselklamotten geschlüpft, die er dort deponiert hatte. Er wollte nicht, dass seine Mum etwas von dem unfreiwilligen Bad in der Alster erfuhr. Aber so durch den Wind, wie sie wirkte, hätte sie bestimmt nicht mal bemerkt, wenn er ohne Hose nach Hause gekommen wäre. Sie hatte rote Flecken am Hals, und in ihren Haaren hingen Staubfäden.

»Wieso denn Ganesha?«, wollte Vincent wissen. »Amana kommt doch erst Weihnachten.«

Rani, seine Mum, kramte fahrig ihr Handy aus der Jeans. Sie tippte kurz darauf herum und hielt es Vincent dann vor die Nase.

Komme heute gegen 18 Uhr, stand da. Koche Aloo Gobi für uns. Bitte besorg die Zutaten. Und stell Ganesha auf den kleinen Tisch im Wohnzimmer (ja, ich weiß, dass du ihn im Kleiderschrank versteckst, wenn ich nicht da bin). Und hol die Kristallleuchter vom Speicher, die ich dir zum Geburtstag geschenkt habe. Die waren sehr teuer und sehen hübsch aus!!!

Hab euch lieb! Bis nachher

Amana

Vincent kratzte sich am Kopf. »Wo ist Ganesha denn jetzt? Auf dem Speicher oder im Kleiderschrank?«.

Seine Mum stöhnte auf.

»18 Uhr, Vincent! Sie kommt aus Delhi, meine Güte. Kann sie da nicht mal ein paar Tage vorher Bescheid geben? Ich putze seit fünf Stunden, und gleich muss ich noch meinen Sari aus der Reinigung abholen und den Blumenkohl für das Aloo Gobi kaufen.«

»Das kann ich doch machen.« Vincent zog sein Handy hervor und schaute auf die Zeitanzeige. Es war Viertel vor vier. »Erst hole ich den Sari, dann gehe ich einkaufen, und dann erledige ich auch noch das mit Ganesha und den Kerzenhaltern.«

Ein Glück hat Amana ihren Besuch nicht früher angekündigt, dachte er. Seine Mum flippte immer völlig aus, wenn ihre Mutter aus Indien anreiste. Dann kochte sie plötzlich indisches Essen (das bei ihr seltsamerweise genauso schmeckte wie englisches), und sie kontrollierte Vincents Hausaufgaben – das tat sie sonst nie.

Vincents Großeltern, Amana und Hamal, waren vor vierzig Jahren gemeinsam aus Delhi nach England ausgewandert und hatten hier zwei Kinder bekommen: Rani und Priya. Später, als beide Töchter studierten, waren die Eltern nach Indien zurückgekehrt. Sie dachten natürlich, Vincents Mum und seine Tante würden nachkommen, doch Priya lebte inzwischen mit ihrem Mann Dinesh und drei Söhnen in Australien und Rani war hier in England geblieben.

»Danke, mein Schatz.« Rani lächelte erleichtert. Sie machte eine schnelle Bewegung, die aussah, als wollte sie gleich weiter rotieren, doch dann fiel ihr noch etwas ein: »Kannst du auch Servietten mitbringen? Und am besten holst du noch ein paar Flaschen Mango-Lassi.« Sie legte einen Finger an die Lippen. »Ach, und eigentlich müssten meine Pakete noch zur Post. Ma regt sich immer so auf, wenn ich Klamotten im Internet bestelle. Und Weißbrot brauchen wir! Kauf das aus dem Bakehouse. Das mag sie am liebsten. Nimm dir Geld aus der kleinen Truhe im Flur, ja?!« Den letzten Satz rief sie bereits aus der Küche, in der sie mit wehendem Putzlappen verschwunden war.

Vincent seufzte. Um nichts von der kilometerlangen Liste zu vergessen, tippte er schnell alles in sein Handy ein. Erst über eine Stunde später war er mit den Erledigungen fertig. Im Bakehouse stand er mindestens fünfzehn Minuten in der Schlange.

Zu Hause lud er alle Einkäufe ab und suchte dann auf dem Speicher nach der Ganesha-Statue. Eigentlich hätte er sie leicht finden müssen. Sie war kniehoch und nicht gerade unauffällig: Im Hinduismus wurde Ganesha als Glücksgott verehrt und als Elefant mit vier Armen dargestellt. Vincents Grandma betete jeden Morgen zu ihm, und es wäre ihr bestimmt lieb gewesen, wenn Vincent und Rani das ebenfalls getan hätten. Aber es war ja nicht so, dass Vincent nie betete. Er hatte eine kleine Postkarte von Ganesha an seiner Pinnwand, und seit er Holly kannte, betete er tatsächlich sogar noch häufiger, weil man mit ihr ständig in lebensgefährliche Situationen geriet. Rani hatte fürs Beten allerdings so überhaupt nichts übrig. Die rosa-goldene Elefantengottstatue, die natürlich Amana ihnen geschenkt hatte, fand sie (Zitat) potthässlich und saukitschig. Deswegen musste Ganesha immer schnell wieder auf dem Speicher verschwinden, wenn Amanas Besuche vorüber waren. Nur konnte Vincent die Statue hier oben beim besten Willen nicht finden. Dafür entdeckte er aber die Kristallkerzenleuchter, und als er wieder in die Wohnung kam, stürmte seine Mum gerade mit Ganesha unter dem Arm aus ihrem Schlafzimmer. Sie sah noch verstörter aus als zuvor.

»Er war in meinem Kleiderschrank! Das ist gruselig, Vincent! Woher wusste sie, dass er in meinem Kleiderschrank ist?« Schnaubend lief sie in die Küche und bearbeitete Ganesha mit dem Putzlappen. Vincent polierte derweil die Kerzenständer. Um Viertel vor sechs ließen er und seine Mum sich völlig erledigt aufs Sofa im Wohnzimmer plumpsen. Vincent trug eine Kurta, ein langes Hemd mit Stickereien am Kragen, und Rani hatte ihren Sari aus orangefarbener Seide angezogen. Sie sahen aus, als wollten sie zu einer Hochzeit gehen.

»Boah, ich kann nicht mehr«, stöhnte Rani. »Hab ich das Bett im Gästezimmer überhaupt bezogen?«

Vincent wusste es nicht, aber ihm blieb sowieso keine Zeit zum Antworten, denn in diesem Moment klingelte es, und Rani machte einen erschrockenen Hechtsprung vom Sofa. Vor dem Flurspiegel prüfte sie noch einmal ihr Aussehen. Dann nahm sie behutsam den goldenen Teller von der Kommode, den sie dort bereitgestellt hatte, darauf eine Schale mit Reis, eine mit Kurkuma und eine mit Sindur, einem roten, mit Wasser vermischten Pulver. Mit dem Teller in der Hand und einem zurechtgerückten Lächeln auf den Lippen öffnete sie die Tür.

Amana trug wie immer ihren Reisemantel. Trotz des warmen Wetters bedeckte eine Wollmütze ihre kurzen grauen Haare. Neben ihr stand keuchend ein junger Mann, bepackt mit zwei riesigen Koffern.

»Namasté, Ma!«, rief Rani. Sie drehte den goldenen Teller vor Amana: ein Ritual, um böse Geister abzuwehren. Dann stellte sie ihn schnell wieder auf der Kommode ab und bückte sich, um zur Begrüßung die Füße ihrer Mum zu berühren.

»Bin ich froh, dass ich hier bin«, stieß Amana erschöpft aus. »Der Flug war furchtbar. Ständig diese Luftlöcher! Über dem Irak dachte ich schon, wir schaffen es nicht, und da will man als Frau doch nun wirklich nicht abstürzen! Kümmerst du dich mal um ein Trinkgeld für den Taxifahrer, Rani?« Schnaufend schlüpfte sie aus ihren Schuhen und hielt freudestrahlend auf Vincent zu.

»Meine Güte, bist du gewachsen«, rief sie.

»Namasté, Badima«, sagte Vincent. Er legte die Hände zum Gruß zusammen und ging dann genau wie seine Mum vor Amana in die Hocke, um ihr mit den Händen kurz auf die Füße zu tippen. Bis hierhin hatten sie alles richtig gemacht. Das sah man Amanas leuchtendem Gesicht an. Doch leider dauerte es keine zehn Sekunden, bevor ein paar dicke graue Wolken vor ihrer Stirn aufzogen.

»Das ist doch jetzt nicht dein Ernst, Rani!«

»Wie?« Rani, die gerade damit beschäftigt war, die schweren Koffer in die Wohnung zu wuchten, folgte alarmiert Amanas Blick, der wie festgeleimt auf den bunten Gemälden im Flur haftete. Vincent sah, wie seine Mum sich versteifte.

»O nein, bitte nicht schon wieder dieses Thema, Ma«, sagte sie flehend. »Du bist ja noch nicht mal richtig angekommen.«

Amana schüttelte missbilligend den Kopf.

»Wie kannst du die Bilder von diesem Nichtsnutz in deiner Wohnung aufhängen, Rani? Das ist nicht gut für dich. Und für Vincent auch nicht.«

»Dieser Nichtsnutz ist immer noch Vincents Vater und übrigens auch mein Mann«, sagte Rani scharf. »Wir sind nicht geschieden. Auch wenn er uns verlassen hat. Und jetzt leg deinen Mantel ab, Ma. Wenn ich mir die Riesenkoffer so ansehe, bleibst du doch ein paar Tage. Da hast du noch genug Zeit, mir zu erzählen, wie viel besser mein Leben wäre, wenn ich einen Inder geheiratet hätte.«

»Du musst das gar nicht so spöttisch sagen.« Amana stach energisch mit dem Zeigefinger in Ranis Richtung. »Jaspal Devi wäre eine sehr gute Partie für dich gewesen. Er ist heute Chirurg in Pittsburgh, hat drei Kinder und ein großes Haus.«

Rani sah plötzlich noch müder aus. »Kann ja sein, Ma. Aber ich hab mich nun mal in Tom verliebt, und ohne ihn hätte ich jetzt Vincent nicht. Außerdem habe ich heute ewig für dich geputzt und bin viel zu geschafft, um zu streiten. Lass uns Aloo Gobi kochen, ja? Darauf freue ich mich schon den ganzen Tag.«

Amana hob die Schultern.

»Na gut. Ich weiß doch, wie gern du Aloo Gobi magst.« Sie schenkte ihrer Tochter ein versöhnliches Lächeln. »Ich kenne übrigens noch jemanden, der eine Schwäche dafür hat«, plauderte sie, während sie ihren Mantel auszog. »Der Sohn meiner Tempelfreundin Desna. Er heißt Navin, ist sehr attraktiv und Single! Ich zeige dir nachher mal ein Bild von ihm …«

 

Das Essen verlief zum Glück harmonisch. Bis auf den Moment, als Vincent aus Versehen seine Grandpas Arthur und Henry erwähnte. Amana hielt nicht besonders viel von den beiden. Erstens, weil Arthur der Vater von Tom war, der ihre Tochter vor drei Jahren verlassen hatte, und zweitens, weil sie einmal durch einen dummen Zufall herausgefunden hatte, dass Henry und Arthur ihr Geld früher als Kunstdiebe verdient hatten. Diese Zeiten waren zwar längst vorbei, aber seitdem nannte Amana die beiden nur noch die Kriminellen. Zumindest, wenn sie nicht anwesend waren.

Nach dem Aloo Gobi räumte Vincent den Tisch ab, und weil Amana der Flug in den Knochen steckte und seine Mum von der ganzen Anstrengung fast schon am Tisch einschlief, gingen alle früh zu Bett.

Vincent wartete, bis es in der Wohnung ganz still war. Er musste noch etwas erledigen, zu dem er den ganzen Tag nicht gekommen war und das mit dem grünen Stein aus dem Liebermann zu tun hatte. Leise huschte er ins Bad und holte dort mit einem klammen Gefühl in der Brust die Schmuckschatulle seiner Mum aus dem Regal. Vorsichtig klappte er den Deckel auf. Sofort jagte ihm wieder ein kaltes Kribbeln den Rücken hinauf. Er nahm den grünen Stein aus dem Kästchen und hielt ihn neben den Anhänger, den er heute Vormittag in dem Bild gefunden hatte.

Sie sahen vollkommen gleich aus!

Wie zum Henker kam ein Abbild des Schmuckstücks seiner Mum in ein Gemälde?