Billy Elliot - Melvin Burgess - E-Book

Billy Elliot E-Book

Melvin Burgess

0,0
6,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Billy Elliot ist der jüngste Sohn einer Bergarbeiterfamilie. Vater Jackie schlägt sich durch, so gut er kann, während er mit anderen Kumpels gegen die drohende Schließung der Minen streikt. Logisch, dass Billy boxen lernen soll. Doch der entdeckt in der Sporthalle seine Vorliebe fürs Ballett – ein Skandal in der rauen Arbeiterwelt. Fast schon gibt Billy seinen Traum vom Tanzen auf. Als dann aber ein Engagement an der Royal Ballet School winkt, steht er vor der Entscheidung seines Lebens.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Außerdem von Melvin Burgess im Carlsen Verlag lieferbar:Doing it Junk Nicholas Dane Sarahs Gesicht SchlachtenCARLSEN-Newsletter Tolle neue Lesetipps kostenlos per E-Mail!www.carlsen.de Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung, können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden. In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich die Carlsen Verlag GmbH die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt. Veröffentlicht im Carlsen Verlag Juli 2013 Die Originalausgabe erschien 2001 unter dem Titel „Billy Elliot“ bei The Chicken House, 2 Palmer St., Frome, Somerset, BA11 1DS, United Kingdom Copyright © 2001 by Melvin Burgess The Author has asserted his moral rights. All rights reserved. Original Screenplay by Lee Hall © 2001 Universal Studios Publishing Rights, a division of Universal Studios Licensing Inc. All rights reserved. Cover Art © 2001 Universal Studios Publishing Rights, a division of Universal Studios Licensing. All rights reserved. Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe: 2013 Carlsen Verlag GmbH, Hamburg Die Rechte an der deutschen Übersetzung von Heike Brandt liegen bei der Ravensburger Buchverlag Otto Maier GmbH, Ravensburg Umschlaggestaltung: formlabor Aus dem Englischen von Heike Brandt Satz und E-Book-Umsetzung: Dörlemann Satz, Lemförde ISBN 978-3-646-92491-6 Alle Bücher im Internet unterwww.carlsen.de

Billy

Mein Bruder ist ein Idiot, ich hasse ihn. Aber gute Musik hat er. Wenn ich da bin, setzt er immer die Kopfhörer auf, damit ich nichts hören kann. Als ob ihm die Luft gehört oder was. Der würde sich seine Musik einwickeln und sie sich in den Arsch schieben, wenn er könnte.

In letzter Zeit kann ich kaum noch für mich alleine sein, nur noch früh am Morgen, wenn mein Dad und Tony auf Streikposten sind. Als sie noch gearbeitet haben, war es besser. Ich kam aus der Schule und konnte stundenlang alles hören, was ich wollte. Nan mag die Musik auch. Dad meint, das ist moderner Müll, aber Nan ist zu alt, der ist das egal. Sie verpetzt mich nie. Wahrscheinlich kann sie sowieso nicht behalten, was wir beide immer gerade gemacht haben. Sobald Dad und Tony aus dem Haus sind, stelle ich die Musik an und mache dabei Frühstück. Nan liegt noch im Bett, da höre ich sie schon mitsingen. Sie kann ihre Füße nicht still halten. Manchmal steht sie auf und wir beide hopsen im Zimmer herum. Oder sie stellt sich in Position, reckt die Arme, versucht auf einem Bein zu balancieren und sich wie eine Balletttänzerin zu drehen – bloß, sie geht auf die achtzig zu, kann nicht mehr besonders gut gehen und tanzen schon gar nicht.

»Na los, Nan! Boogie-Woogie!«

Mein Dad und Tony lassen sie nicht tanzen, weil sie meinen, Nan macht sich zum Affen. Bloß – wer sieht sie schon? Sind doch nur wir, und wir sind ihre Familie. Wenn sie nicht mal vor ihrer Familie rumalbern kann, wo denn sonst?

Sie sollte den ganzen Tag lang tanzen und Musik hören dürfen, wenn sie das will, aber mein Bruder, der ist so gemein, bei dem kriegt niemand was anderes zu hören als dem seine Stimme.

»Cosmic Boogie« dröhnte durchs Haus.

I danced myself right out the womb,

I danced myself right out the womb.

Is it strange to dance so soon?

Is it strange to dance so soon?

Kannst du dir das vorstellen? Das ganze Haus bis oben hin voll mit Musik. Und, Mann, eh, das war einfach … schön.

Ich tanzte um den Tisch, tat so, als spielte ich Gitarre, und setzte dabei die Frühstückseier auf. Solche Musik bringt einen in Schwung.

Mein bester Freund Michael und ich, wir haben früher immer gespielt, wir sind Rockstars.

Michael hat sich den Satin-Pyjama seiner Schwester angezogen – so glamrockmäßig –, sich geschminkt und so, dass er aussah wie Bowie oder Marc Bolan. Mir war egal, wie ich aussah, ich mochte einfach die Musik. Toll war das. Zu Michael habe ich immer Tunte gesagt, und er ist dann jedes Mal auf mich los und wollte mir Prügel verpassen.    

»Cosmic Boogie« dauert so lange, wie die Eier brauchen, um so weich zu werden, wie Nan sie mag. Ich holte die Eier raus, versenkte sie in die Eierbecher und stellte alles schön ordentlich aufs Tablett. Dann nahm ich das Tablett hoch, drückte mit dem Fuß die Schiebetür zu Nans Zimmer auf und boogiete in ihr Zimmer.

»Halli, hallo, Nan, hier kommt der tanzende Kellner!« Ich wirbelte durch die Tür, gab mir dabei große Mühe, dass die Eier stehen blieben und … verdammt, die Alte war nicht da.

Scheiße! Ich knallte das Tablett auf den Tisch und rannte aus der Tür. Mein Dad bringt mich um, wenn mir meine Nan wegkommt. Einmal war sie einen ganzen Vormittag lang verschwunden. Schließlich hatte die Polizei Nan in der Nähe des Bahnhofs von Jesmond aufgesammelt, wo sie herumirrte. Gott weiß, wie sie dahin gekommen war. Dad meinte, sie wollte wahrscheinlich jemanden besuchen, der vor etwa fünfzig Jahren gestorben ist.

Ich stürzte aus der Hintertür, raste die Straße lang und brüllte, so laut ich konnte: »Nan! Nan!« Sie jagt mir schreckliche Angst ein, meine Nan. Sie kann sich nicht mehr selber versorgen. Du brauchst ihr nur eine Minute lang den Rücken zuzudrehen und paff! – weg ist sie. Dabei ist sie gar nicht so besonders schnell, aber es ist schon erstaunlich, wie weit sie kommt. Wenn sie erst mal unterwegs ist, bleibt sie einfach nicht mehr stehen.

Ich hätte sie umbringen können! Ich musste zur Schule. Aber gut, ist ja nicht ihre Schuld, dass sie alt ist, oder?

Wohin ist sie, wohin bloß, verdammt noch mal? Könnte sein, sie ist zum Meer. Von uns aus kann man das Meer sehen. Manchmal geht sie runter und guckt die Wellen an. Ich blieb stehen und guckte in die eine Richtung, dann in die andere. Wo lang? Ein paar Türen weiter saß die kleine Alison und knabberte an einem Zwieback oder so was, und die zeigte mit dem Finger den Hügel rauf.

Ich brauste los. Wenn Nan in die Richtung gegangen war, konnte ich mir vorstellen, wo sie war.

Ich war ganz schön alle, als ich dort ankam, aber da war Nan, auf dem Feld unter dem Viadukt. Na bitte. Sie geht immer dorthin und das ist echt blöd: Dort ist ein Teich, sie könnte reinfallen und ertrinken. Niemand weiß, warum sie dorthin geht – sowieso weiß niemand, warum sie was tut. Wenn man sie fragt, guckt sie einen bloß an. Ich vermute, sie hat als Kind hier gespielt. Sie hat ihr ganzes Leben lang hier gelebt. Achtzig Jahre. Achtzig Jahre. Meine Fresse!

»Nan!«, brüllte ich. Sie drehte sich um und blickte mich an. Ich schob mich durch das hohe Gras. Es war nass. Die arme Alte, sie war patschnass. Und guckte ganz erschrocken. Das Problem ist nämlich, dass nicht nur wir meistens nicht wissen, was sie tut – sie weiß es selber nicht. Sie erschrickt sich selber mehr als alle anderen.

»Deine Eier sind fertig«, sagte ich.

»Du bist neu hier«, sagte sie.

»Nan, ich bin’s, Billy.«

Sie nickte und lächelte vorsichtig.

Es gibt einen Grund, warum ich mich gerade an den Morgen erinnere: Auf der Brücke, die sich über das Ende des Feldes spannt, hielten drei schwarze Mannschaftswagen und Polizisten stiegen aus. Das war wie eine Szene aus der Fernsehserie Dr. Who – die Wagen spuckten hinten unaufhörlich Polizisten aus, sie krabbelten raus wie Käfer aus Erdritzen. Die Polizisten trugen große Plastikschilde und Schlagstöcke. Wie im Kino sah das aus.

Nan merkte, dass ich hochguckte, und sie blickte auch dorthin. »Was sind das für welche?«, fragte sie.

»Polizisten, Nan. Polizisten.«

»Mistkerle!« Sie schüttelte drohend die Faust. »Mistkerle!«, schrie sie. Einige guckten zu uns runter, aber wir waren viel zu weit weg von ihnen, so dass sie nichts machten.

»Sind die wegen uns hier, Billy?«, flüsterte Nan. Sie mag eine verrückte alte Frau sein, meine Nan, aber sie hat schon allerhand erlebt.

Sie lebte in den Dreißigerjahren und während des Krieges. Sie kennt sich aus. Sie weiß alles über die Polizei. Sie weiß, auf welcher Seite die steht.

»Nicht wegen uns, Nan, uns beide wollen die nicht.«

»Aber Jackie, deinen Vater? Oder Tony?«, fragte sie. Ich antwortete nicht. Manchmal jagt mir meine Nan mehr Angst ein, wenn sie weiß, was los ist. Ich nahm sie am Arm und führte sie nach Hause.

Ich suchte mir mit einem Finger die Melodie von »Cosmic Boogie« auf dem Klavier zusammen und dachte an Mam. Tony rannte in der Küche hin und her, stopfte sich Margarinestullen in den Mund und bewunderte seine Pappschilder: »Nicht aufgeben!«, »Thatcher raus!«, »STREIKBRECHER! STREIKBRECHER! STREIKBRECHER!« Dad wuselte herum, spülte Geschirr, wischte den Boden, stellte die Tassen in den Schrank. Manchmal macht auch Susan – Susan Breitmaul, wie wir sagen – aus unserer Straße ein bisschen was bei uns im Haushalt. Nan saß nebenan auf dem Bett und sang laut mit. Das heißt, auf alle Fälle sang sie, ich meine aber, dass es nicht das war, was ich spielte.

Mam ist jetzt seit zwei Jahren tot. Ich glaube nicht, dass außer mir noch jemand an sie denkt. Ich vermisse sie, jeden Tag vermisse ich sie. Keiner sieht mir das an, aber es ist so. Ich vermisse sie, wenn ich in den Spiegel gucke, wenn ich die Türen aufmache und von einem Zimmer ins andere gehe oder wenn ich auf dem Klavier klimpere. Ich denke mir, hier, diesen Türknauf hat sie in der Hand gehabt, als sie die Tür öffnete. Auf die Art erinnere ich mich an vieles. Wie sie sich vor dem Spiegel im Flur geschminkt hat, wenn sie es eilig hatte. Unter dem Spiegel steht eine kleine Schachtel, in der sie ihr Zeug aufbewahrte. Da liegt tatsächlich immer noch ein Lippenstift drin. Und die Schachtel riecht noch ein kleines bisschen, wie Mam gerochen hat, aber der Geruch ist abgestanden. Wenn ich in den Spiegel im Flur gucke, ganz lange, überlege ich manchmal: Werde ich ihr Gesicht finden? Ich habe inzwischen schon jahrhundertelang dort reingeguckt und versucht ihr Gesicht in meinem zu finden. Wenn man sich selber lange genug anstarrt, scheint sich das Gesicht zu verändern, und das macht mir fürchterliche Angst. Erinnern und vermissen ist nicht ganz genau dasselbe, aber beides liegt dicht beieinander und eins geht nicht ohne das andere.

Ich habe einen Brief von meiner Mam, den sie mir vor langer Zeit geschrieben hat. Hör zu.

»Lieber Billy«.

Hörst du das? Hörst du die Stimme meiner Mutter?

Also.

»Lieber Billy, ich weiß, dass ich für Dich nur eine ferne Erinnerung bin. Was wahrscheinlich ganz gut ist. Es ist für Dich schon so lange her. Und ich habe nicht erleben dürfen, wie Du erwachsen geworden bist, wie Du geweint und gelacht und gebrüllt hast und wie ich Dich ausgeschimpft habe. Aber Du sollst wissen, dass ich immer bei Dir war, bei allem, was Du getan hast. Und das werde ich auch immer sein. Und ich bin stolz darauf, Dich gekannt zu haben. Und ich bin stolz, dass Du mein warst. Sei immer Du selbst. Ich liebe Dich für immer.«

Das ist meine Mam. Für immer, sagt sie. Bloß es gibt gar kein »für immer«, oder? Jedenfalls nicht für sie. Ich sollte den Brief erst lesen, wenn ich achtzehn bin, aber ich habe ihn trotzdem aufgemacht. Ich bewahre ihn in einer Schachtel unter meinem Bett auf, wo ich ihn manchmal rausnehme und lese – nicht allzu oft, denn das Papier wird sich irgendwann mal abgenutzt haben. Das wäre dann so, als wäre Mam selber weg. Ich habe eine Kopie gemacht, damit ich immer genau weiß, was sie geschrieben hat, für den Fall, dass das Papier zerfällt. Ich lese den Brief nur, wenn ich alleine bin. Einmal las ich ihn, als Tony im Zimmer war. Wir schlafen im selben Zimmer. Ich nahm den Brief heraus, während er da war, weil ich wollte, dass er sich mit mir an Mam erinnerte, er und ich zusammen. Aber er wollte nicht.

»Du hättest den Brief für später aufheben sollen, wie sie es gewollt hat. Außerdem, du weißt ja, was drinsteht, was soll das also?«, fragte er.

»Vermisst du sie nicht?«, fragte ich ihn.

»Ach, leck mich«, sagte er, drehte sich um und schlief ein.

Bitte, ich hab’s doch gesagt. Idiot.

Egal. Jedenfalls klimperte ich die Melodie von »Cosmic Boogie« auf dem Klavier und stellte mir dabei vor, wie Mams Finger über die Tasten fuhren und die Musik herauslockten. Mam hat immer für uns gespielt. Dann ist Nan durchs Zimmer getanzt, als wäre sie eine Ballerina. Ich kann nicht spielen, ich würde gerne Klavierstunden nehmen, aber ich frag gar nicht erst, denn weißt du, was mein Dad sagen würde?

»Billy, wir können uns nicht mal genug zu essen leisten, und erst recht nicht, dich auf dem Klavier klimpern zu lassen, mein Sohn.«

So ist mein Dad. Er und Tony, die sind beide gleich. Es geht immer um dasselbe: Man muss sich wehren, man muss was einstecken können und man muss zusammenhalten. Da bleibt keine Zeit, sich an andere zu erinnern, jedenfalls nicht für die beiden. Sie sind viel zu sehr damit beschäftigt, sich zu wehren. Im Kampf als Streikposten, da habe ich sie brüllen hören: »Streikbrecher! Streikbrecher! Streikbrecher!« Im Kampf unten im Schacht. Ich kann mir richtig vorstellen, wie sie da unten im Stollen kämpfen, wie zwei gottverdammte Maschinen, die Kohlebrocken rausbrechen. Und sie kämpfen gegeneinander und sie kämpfen gegen mich. Ist doch alles dasselbe, oder?

An dem Morgen stritten sie wieder einmal.

»Mach schon, Dad! Wir kommen zu spät! Hör auf mit dem Gefuddel!«

Tony hatte es eilig, er zog die Stiefel an, klatschte in die Hände. Aber Dad wollte, dass alles hübsch aussah. Er macht sich immer Sorgen, wenn er Nan alleine im Haus lassen muss.

»Ich werde doch deiner Nan noch das Frühstück machen können, oder?«

»Scheiß drauf! Das kann Billy machen! Komm jetzt!«

»Warte.« Dad rannte auf den Hof raus. Tony marschierte in der Küche auf und ab und gackerte vor sich hin. Ich saß bloß da und spielte auf dem Klavier rum. Immer ist das so. Zank und Streit. Was anderes fällt denen nicht ein.

Dad kam mit dem Kohleeimer zurück. »Wir haben nicht mehr viel Kohle.«

»Nächsten Monat holen wir wieder welche aus der Erde.«

Dad klappte der Unterkiefer runter. »Mach dir doch nichts vor«, sagte er.

Tony guckte Dad an, als wäre der ein Giftpilz oder so was. Man konnte richtig spüren, wie die Luft vereiste. Tony hasst solche Sprüche. »Wenn ich nicht da wäre, würdest du einfach aufgeben und im Bett bleiben, stimmt’s?«

»Tony«, fing Dad an, aber Tony hatte genug.

»Mach doch, was du willst, ich warte nicht!« Er packte einen Arm voll Pappschilder und ging zur Tür.

»Tony! Tony, warte!«, schrie Dad. Aber Tony war weg.

Dad lief ihm nicht hinterher. Er stand bloß da. Tony meint, Dad bringt’s nicht mehr. Er meint, Dad hat aufgegeben. Weiß nich, vielleicht hat er Recht.

Ich spielte weiter.

»Hör auf damit, Billy, ja?«, brüllte Dad mich plötzlich an.

Ich scherte mich nicht drum. »Mam hätte mich gelassen«, sagte ich und spielte weiter. Er trat hinter mich und schlug den Klavierdeckel zu. Verfehlte nur knapp meine Finger. Dann rannte er aus der Tür, Tony hinterher. Wieso soll ich aufhören, wenn er nicht mal da ist?

»Wir sehen uns nachher im Klub«, rief er mir noch zu.

Blödmann!, dachte ich. Ich hasse es, wenn er mir beim Boxen zusieht.

»Hör mal zu. Ich habe geboxt. Mein Dad hat geboxt. Du boxt.«

So ist mein Dad. Er hat vor zweihundert Jahren genau das gemacht, was sein Dad zweihundert Jahre davor gemacht hat, und was ich in zweihundert Jahren machen werde. Auf die Art weiß mein Dad, wo’s langgeht. Mein Bruder, als der jünger war, hat er meinen Dad fast verrückt gemacht.

»Du kannst mir gar nichts sagen – ich weiß selber!«, hat Tony gesagt. Das war früher, bevor er anfing sich auch wie mein Dad aufzuführen. Jetzt ist Tony so schlimm wie er. Und wegen den beiden hänge ich mir jeden Sonnabendmorgen die Boxhandschuhe um den Hals, geh in den Klub und hau einem anderen auf die Schnauze.

Ich könnte was werden beim Boxen, wenn sie mich machen ließen. Es ist nämlich so, dass ich mir selber was ausgedacht habe, aber das passt denen nicht. Beim Boxen kommt’s gar nicht so sehr auf die Hände an. Sondern auf die Füße. George, der Trainer, und Dad, die verstehen das nicht. Die denken, es geht nur darum, wie hart man zuschlägt, aber das ist falsch. Guck doch Muhammad Ali an. Den kann man nicht treffen, der ist gar nicht da. »Fliege wie ein Schmetterling, stich wie eine Biene.« In der Sprache von George würde das heißen: »Steh still wie ein gottverdammter Stein und schlag zu wie ein gottverdammter Rammbock.« Immer brüllt er mich an, ich soll aufhören herumzutanzen.

Er hasst das. »Schlag zu! Schlag zu! Bleib stehen und kämpfe!«, schreit er mich an. Bleib stehen und lass dich verprügeln, meint er damit. Er denkt, ich tu das bloß, um ihn zu ärgern. Einmal ist er sogar in den Ring geklettert und hat mich festgehalten, so dass der andere Typ richtig zuschlagen konnte.

Wenn sie mich nur lassen würden. Ich würde die anderen Typen mürbemachen, bis sie müde Beine kriegen, und dann schlage ich zu. Aber so lange können George und Dad nicht warten. Weil sie nicht denken. Es ist eine Frage der Taktik, weiter nichts. Aber sie benutzen einfach ihren verdammten Kopf nicht.

Jackie Elliot

Der Junge macht mir Sorgen. Seit seine Mam tot ist, hat er keinen, der sich um ihn kümmert. Ich tu, was ich kann, aber ein Junge braucht seine Mutter. Besonders ein Junge wie er.

Da ist jetzt der Kampf, in dem wir stecken. Es ist ein Kampf für unsere Zukunft, für unsere Gemeinde. Dafür, dass alle ihre Arbeit behalten und nicht bloß ein paar von uns. Ein Kampf für meine Arbeit und für Tonys Arbeit – aber ist es auch ein Kampf für Billy? Stell dir unseren Billy eine Viertelmeile unter der Erde vor, wie er Kohle hackt, wie ihm der Schweiß schwarz in die Augen, den Rücken runterläuft. Das ist nicht unser Billy. Das Einzige, was ich je für ihn tun konnte, war für seinen Lebensunterhalt aufkommen, und nicht mal das kann ich jetzt.

Und ich bin nicht sicher, ob ich das je wieder können werde.

Tony denkt, ich lasse nach. Uns ist man was schuldig. So sieht Tony das. Ja, klar, er hat Recht, na und? Vornehme Schuldner – schlechte Zahler. Ich kann mich noch erinnern, wie mein Dad damals in den Dreißigerjahren gestreikt hat. Damals war ihnen keiner was schuldig – sie hatten Macht. Mit der Kohle, die sie förderten, wurden die Fabriken betrieben, wurden die Straßen und Häuser beleuchtet, fuhren die Schiffe übers Meer. Ohne Kohle kam das ganze verdammte Land zum Stillstand. Und heute? Erdgas, Öl, Atomenergie. Öl und Gas braucht man nicht mit den bloßen Händen aus der Erde zu graben, man braucht bloß eine Leitung nach unten zu legen und dann schießt das Zeug wie eine Fontäne nach oben. Einfach und bequem. Und billig.

Und außerdem – natürlich, der Luxus, auf dem unsereiner besteht. Goldene Wasserhähne. Kaviar zu jeder Mahlzeit. Deswegen ist es billiger, die Kohle aus Argentinien herzuschippern, als uns dafür zu bezahlen, sie aus der Erde zu holen. Glaube ich nicht.

Ich will dir was sagen. Wenn die Thatcher heute hier herkäme und zu mir sagte, sieh mal, wir müssen die Bergwerke schließen und wir werden stattdessen eine Stadt mit lauter nigelnagelneuen Fabriken aufbauen … Ich weiß wahrhaftig nicht, ob ich Ja oder Nein sagen würde, aber jedenfalls wäre da so was wie Hoffnung. Nicht so wie jetzt. Nach dem Motto, ihr seid nicht kostengünstig, also verpisst euch. Das ist die Thatcher. Wo andere Leute ein Herz haben, sitzt bei der eine Faust. Unsere ganze Gemeinde wird über den Jordan gehen. Das ist der Thatcher egal. Wir sind ihr egal – das braucht gar nicht gesagt zu werden –, aber ihr ist auch alles andere egal, solange sie auf ihre Art regieren kann, auch wenn im ganzen Land alles dichtgemacht wird. Die Hälfte hat sie schon dichtgemacht. Die Spinnereien sind alle weg, die Hälfte unserer Industrie ist weg oder ans Ausland verkauft. Jetzt sind wir dran. Anfangs habe ich gedacht, wir können’s packen. Ich habe gedacht, wir könnten ihr eine Lektion erteilen, was die anderen Arbeiter nicht geschafft haben. Jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher.

Tja. Vielleicht hat Tony Recht. Vielleicht lasse ich wirklich langsam nach. Ich habe es selber gesehen – alte Kerle wie ich, die viel zu viel zu verlieren haben, die schon zu viel verloren haben. Und ich, ich habe schon fast alles verloren. Meine geliebte Sarah ist gegangen, für immer von mir gegangen. Jeden Tag wache ich auf und denke, kann sie wirklich tot sein? Wie konnte das geschehen? Ich kann es einfach nicht glauben. Und trotzdem, obwohl ich nicht arbeite und jede Menge Zeit habe, ergibt sich einfach keine Gelegenheit, um über sie nachzudenken. Da sind die Jungs, die ich ganz alleine großziehen muss. Da ist der Streik. Du verstehst schon. Es ist schwer, sehr, sehr schwer. Ich mach wegen Tony weiter, weil … was bleibt für Tony, wenn wir verlieren? Denn wenn die Welt morgen stehen bleibt – ich habe gelebt und ich habe gearbeitet und geliebt und meine Kinder gehabt. Aber Tony? Was bleibt ihm? Er wurde großgezogen, um Bergmann zu werden, und was ist ein Bergmann ohne Bergwerk?

Also, so ist das. Ich kämpfe für Tony, obwohl ich nicht weiß, ob wir gewinnen können. Ich kämpfe für Billy, obwohl ich ihm nichts bieten kann, selbst wenn wir gewinnen.

Mehr habe ich nicht für die beiden. Keine Arbeit. Keine Mutter. Keine Zukunft. Nur mich, hier und jetzt. Mehr ist mir nicht geblieben.

Wenn ich sonnabends kann, gehe ich Billy beim Boxen zusehen. Den Anfang verpasse ich, weil ich auf Streikposten bin, aber da komm ich jedenfalls schon mal in die richtige Stimmung fürs Boxen. Draußen an der Streikfront geht’s ganz schön rau zu. Dass der Polizei das nicht befohlen wird, kann mir keiner erzählen. Die brauchen uns ja nicht mit Samthandschuhen anzufassen, aber so grob müssten sie auch nicht sein. Klar, das will ich dir sagen, wenn wir die Männer, die in den Bussen durch unsere Streikpostenkette brechen, jemals in die Finger kriegen, reißen wir die Scheißkerle in Stücke. Einige von den jungen Burschen, solche wie Tony, die wollen Blut sehen. Manchmal brüllen sie das sogar: »BLUT, BLUT, BLUT!« Stell dir vor, du sitzt in dem Bus und hörst das. Und du weißt, dass du uns am nächsten Tag im Laden oder auf der Straße oder sonst wo begegnen wirst …

Ich bin nicht für Gewalt. Das führt zu nichts, Streikbrecher wird’s immer geben – aber verstehen kann ich’s schon. Da stehen unsere Männer, Reihe für Reihe, mit leeren Händen, haben für die Gemeinde und für die Zukunft ihre eigenen Familien zurückgestellt – und im Schutz der Polizei kommen diese Scheißkerle, um uns fertig zu machen. Streikbrecher. Da siehst du Männer, neben denen du gearbeitet hast, Männer, die du für Freunde gehalten hast, Männer, mit denen du zur Schule gegangen bist, Leute, denen du vertraut hast – und die fahren im Schutz eines fünf Mann dicken Polizeikordons in den Stollen ein! Tja. Da hat man schon Lust, denen die Schädel einzuschlagen. Als wenn es nicht schon reichen würde, gegen die Bosse zu kämpfen. Und dann noch gegen die eigenen Leute!

Also – am Sonnabend bin ich hin, um zu sehen, wie mein Junge ein paar Dinger austeilt. Ich kann mich noch genau an das Gefühl erinnern, wenn die Hand richtig im Handschuh sitzt – klack! – das geht den ganzen Arm rauf bis in die Schulter. Das ist was, was ich getan habe, was mein Dad getan hat und Tony auch. Jetzt ist Billy dran. Ich sage ihm immer: »Du musst kämpfen können, Junge. Wenn du nicht kämpfen kannst, dann kannst du dich nicht wehren, und wenn du dich nicht wehren kannst … tja, dann kannst du’s gleich vergessen.«

Das untere Stockwerk vom Bergarbeiter-Klub wurde als Suppenküche für die Streikenden benutzt, deshalb fand auch der Ballettunterricht seit Wochen oben im Turnsaal statt. Lauter kleine Mädchen in Rosa, die auf und ab wippten, auf und ab.

»Pobacken zusammen!«, rief eine Frau, die den Unterricht leitete. Ich dachte, Scheiße! Ballett und Boxen – was für eine Mischung! Kichernd setzte ich mich hin. Ballett und Boxen. Sie sollten den kleinen Mädchen Boxhandschuhe anziehen und den Jungen diese tuntigen rosa Schühchen. Das wär ein Lacher!

Unser Billy war im Ring.

»Na los, Billy!«, rief ich.

Ich sah, wie sich die kleinen Mädchen nach mir umdrehten. Ich nickte unserem Jungen zu. Ich dachte, sollen die sich den Jungen mal ansehen, sollen mal sehen, was er draufhat. Ich war eine ganze Weile lang nicht da gewesen. Besonders gut war er nie, aber in letzter Zeit hat er sich verbessert, hat er mir gesagt. Sagt, seine Fußarbeit ist besser und seine Schläge kommen auch. »Fußarbeit«, habe ich gesagt, »klar doch, von mir aus mach deine Fußarbeit, Hauptsache, du schlägst zu, zwischen deinen Schritten.«

George überprüfte die Handschuhe, dann konnte es losgehen.

»Los, Jungs. Kämpft fair. Zeigt, was ihr könnt!«

Der andere Junge war ein dicker, rundlicher Kerl. Er war größer und stärker als unser Billy, aber eher so eine Art Mastschwein. Fußarbeit, dachte ich – den packt Billy im Stehen!

Dann legte er los. Und ich dachte … ach, du lieber Gott!

Meine Güte. Was sollte denn das? Wollte er Muhammad Ali spielen? Das sah eher nach Fred Astaire aus. Billy hopste und tänzelte und scharwenzelte herum. Einmal drehte er sich sogar ganz und gar um sich selbst und bot seinem Gegner den Rücken an!