Bindung – eine sichere Basis fürs Leben - Fabienne Becker-Stoll - E-Book

Bindung – eine sichere Basis fürs Leben E-Book

Fabienne Becker-Stoll

0,0
15,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Die wichtigste Zutat für eine erfüllte Kindheit

Kinder brauchen ein stabiles Fundament – die sichere Bindung zu ihren Eltern. Die ganze Kindheit hindurch können Eltern ihr Kind bindungsstärkend begleiten. Warum sich das lohnt? Eine sichere Bindung ist der einzige Faktor, der nachweislich mit Resilienz, Lernerfolg, seelischer Gesundheit und stabilen Beziehungen im Erwachsenenalter einhergeht.

Was Eltern tun können, um ihren Kindern eine so stabile Basis zu schaffen, zeigen drei renommierte Bindungsforscherinnen. Schlafen, Schreien, Ernährung, Geschwisterstreit oder Grenzen setzen – zu allen wichtigen Familienthemen erfahren Eltern ganz konkret, wie sie ihre Kinder stärken können.

Alles Wissenswerte zu guten Familienbeziehungen – von drei hochkarätigen Bindungsforscherinnen und Expertinnen für Kleinkinder. So wird Wissenschaft zur Bereicherung für den Alltag! Wer dieses Buch gelesen hat, kann seine Kinder kompetent ins Leben begleiten.

In diesem neuen Standardwerk lesen Sie:

•Wie eine sichere Bindung entsteht

•Warum das Gehirn der Kinder bei starken Gefühlen Hilfe braucht

•Was beim Einschlafen, bei Wutanfällen oder in der Fremdbetreuung zu beachten ist

•Was hilft, wenn Eltern sich angestrengt oder überfordert fühlen

•Wie es gelingt, den Kindern liebevoll und klar Orientierung zu geben

Vierfarbig mit zahlreichen Fotos und liebevollen Illustrationen.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 573

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Über das Buch

Die wichtigste Zutat für eine erfüllte Kindheit

Kinder brauchen ein stabiles Fundament – die sichere Bindung zu ihren Eltern. Sie ist der Grundstein für Gesundheit, Resilienz, Selbstvertrauen und Lebensglück. Was Eltern tun können, um ihren Kindern eine so stabile Basis zu schaffen, zeigen hier drei renommierte Bindungsforscherinnen. Schlafen, Schreien, Ernährung, Geschwisterstreit oder Grenzensetzen – zu allen wichtigen Familienthemen erfahren Eltern ganz konkret, wie sie ihre Kinder stärken können.

In diesem neuen Standardwerk lesen Sie:

wie eine sichere Bindung entsteht,warum das Gehirn der Kinder bei starken Gefühlen ­Hilfe braucht,was beim Einschlafen, bei Wutanfällen, in der Fremdbetreuung zu beachten ist,was hilft, wenn Eltern sich angestrengt oder überfordert fühlen,wie es gelingt, den Kindern liebevoll und klar Orientierung zu geben.

Über die Autorinnen

Fabienne Becker-Stoll, Kathrin Beckh und Julia Berkic sind Bindungsforscherinnen und Mitarbeiterinnen des Staatsinstituts für Frühpädagogik (IFP) in München.

Fabienne Becker-Stoll, Kathrin Beckh, Julia Berkic

Bindung – eine sichere Basis fürs Leben

Das große Elternbuch für die ersten 6 Jahre

Kösel

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
Copyright © 2018 Kösel-Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH Neumarkter Straße 28, 81673 München Umschlag: Weiss Werkstatt München Umschlagmotiv: getty images/AleksandarNakic Fotos im Innenteil: Susanne Kraus und Nicole Zausinger Illustrationen: Jutta Wetzel Lektorat: Silke Foos Layout und Satz: Nadine Clemens, München ISBN 978-3-641-20348-1V002
www.koesel.de

Inhalt

Kapitel 1 – Bindung: eine sichere Basis fürs Leben

Bindung ist überlebenswichtig

Bindung entsteht im täglichen Miteinander

Die Eltern als sichere Basis und sicherer Hafen

Feinfühligkeit und gelingende Kommunikation

Kindliche Entwicklung – warum der Blick aufs Verhalten nicht ausreicht

Wie eine sichere Bindung das Kind in ­seiner ­Entwicklung fördert

Wie Bi ndungsmuster sich entwickeln

Kapitel 1: Das Wichtigste in Kürze

Kapitel 2 – Das erste Lebensjahr: Bindung entsteht

Der Aufbau einer Bindung – die erste große ­Entwicklungsaufgabe im Leben

Grundbedürfnisse im ersten Lebensjahr: ­zwischen Bindung und Erkundung

Was bedeutet Feinfühligkeit im ersten ­Lebensjahr?

Verschiedene Aspekte von Feinfühligkeit

Was tun, wenn es nicht klappt?

Die Entwicklung verschiedener Bindungsmuster

Feinfühligkeit im Alltag mit dem Baby

Elterliche Feinfühligkeit hilft dem Baby zu ­denken und zu verstehen

Kapitel 2: Das Wichtigste in Kürze

Kapitel 3 – Das Kleinkindalter: Die ganze Wucht der Gefühle

Wie sich die Bindungsbeziehungen im ­Kleinkindalter verändern

Der Kreis der Sicherheit: die Eltern als sichere Basis und als sicherer Hafen

Den Bedürfnissen von Kleinkindern feinfühlig begegnen

Die ganze Wucht der Gefühle

Feinfühligkeit im Alltag mit dem Kleinkind

Kapitel 3: Das Wichtigste in Kürze

Kapitel 4 – Das Kindergartenalter: Nun wächst Persönlichkeit

Entwicklungsschritte im Kindergartenalter

Aus Beziehungserfahrung wird Persönlichkeit

Die Bindung an die Eltern verändert sich

Kindergartenkinder in ihrer Entwicklung ­feinfühlig begleiten

Feinfühligkeit im Alltag mit Kindergartenkindern

Kapitel 4: Das Wichtigste in Kürze

Kapitel 5 – Bindung in der Familie und darüber hinaus

Elternschaft und die Beziehung zu den ­eigenen Eltern

Partnerschaft und Elternschaft

Familiäre Veränderungen feinfühlig gestalten

Der Übergang in außerfamiliäre Betreuung

Kapitel 5: Das Wichtigste in Kürze

Kapitel 6 – Alte Muster durchbrechen – neue Wege beschreiten

Alarmsysteme aus der Vergangenheit ­verstehen lernen

Sich auf den Weg machen zu mehr Feinfühligkeit

Umgang mit Stress und Belastung

Hilfen bei Überforderung

Kapitel 6: Das Wichtigste in Kürze

Anhang

Kurzbiographien von John Bowlby, Mary Ainsworth, Klaus und ­Karin Grossmann

Über die Autorinnen

Register

Anmerkungen

Bildnachweis

Vorwort

Allen Eltern gemeinsam ist der Wunsch, gute Eltern zu sein. Sie möchten das eigene Kind auf seinem Weg zu einem selbstständigen und selbstsicheren Erwachsenen begleiten und ihm dabei etwas mit auf den Weg zu geben, das es ihm ermöglicht, vertrauensvolle Beziehungen einzugehen und seine Ziele zu verwirklichen, und das es auch in schwierigen Zeiten und Krisen trägt. Als Bindungsforscherinnen und Mütter möchten wir deshalb in diesem Buch die vielfältigen und aktuellen Ergebnisse der Bindungsforschung für Eltern verständlich und alltagstauglich zur Verfügung stellen, damit sie ihrem Kind von Anfang an eine sichere Basis fürs Leben bieten können.

Mit diesem Buch möchten wir Eltern im Umgang mit ihrem Kind informieren, ermutigen und begleiten:

In diesem Buch informieren wir Eltern darüber, warum Bindungsbeziehungen von Geburt an so wichtig sind und wie die Erfahrungen, die Kinder mit ihren Eltern machen, sich auf ihre Entwicklung bis ins Erwachsenenalter auswirken. In unserem Buch erfahren Eltern auch, wie Kinder sich in den ersten sechs Lebensjahren entwickeln und was dabei im Gehirn des Kindes passiert. Auf dem aktuellen Stand der Forschung haben wir dargestellt, was Kinder von ihren Eltern brauchen, um sich gesund entwickeln zu können.Mit diesem Buch wollen wir Eltern ermutigen, auf die Bindungssignale ­ihres Kindes von Geburt an zu achten und diese als Ausdruck von Bedürfnissen zu verstehen. Wir wollen Eltern ermutigen, auf diese Bedürfnisse angemessen zu reagieren, ihrem Kind die körperliche und emotionale Nähe zu geben, die es braucht. Eltern werden damit für ihr Kind zur sicheren ­Basis, von der aus es die Welt entdecken kann, und zum sicheren Hafen, zu dem es jederzeit zurückkehren kann. Gleichzeitig ermutigen wir Eltern, auch auf sich und ihre eigenen Bedürfnisse zu achten und sich – falls ­nötig – rechtzeitig Hilfe zu holen.Wir möchten mit diesem Buch Eltern durch die verschiedenen Phasen der Bindungsentwicklung begleiten – ganz besonders in Situationen von emotionalem Stress, wenn das Kind sich nicht beruhigen lässt oder zum Beispiel bei der Suche nach guten »Schlaflösungen«. Dieses Buch soll Eltern ebenfalls im Umgang mit Wut und Trotzverhalten ihres Kindes begleiten oder bei herausfordernden Übergängen, wie den in eine außerfamiliäre Betreuung.

Nach über 50 Jahren weltweit intensiver Bindungsforschung und Tausenden von Studien kristallisiert sich immer mehr eine beruhigende Botschaft heraus, die wissenschaftlich mittlerweile als sehr gut belegt gelten kann: Eltern tragen alles in sich, was sie brauchen, um gute Eltern zu sein. Und wenn ein Kind auf die Welt kommt, dann ist es biologisch darauf vorbereitet, eine enge Bindung an seine Eltern (oder die Personen, die sich um das Kind kümmern) aufzubauen. Denn die Bindung an mindestens eine beschützende erwachsene Person, die sich verantwortlich fühlt und zuverlässig um das Kind kümmert, ist für das Baby überlebenswichtig.

Diese Bindung schützt das Kind nicht nur vor dem Verhungern und gegen Gefahren aus der Umwelt, sondern gleichzeitig garantiert die Bindung auch ein sicheres Umfeld und den schützenden Rahmen, in dem das Kind allmählich alle Fähigkeiten erwirbt, um zunehmend selbstständig und unabhängig zu werden. Demgegenüber steht aufseiten der Eltern der intuitive Wunsch, auf das Bindungsbedürfnis des Babys einzugehen, es zu beschützen und zu umsorgen. Von Geburt an entwickelt sich die Bindung zwischen Eltern und Kind durch tausendfach wiederholte Momente von Schutz und Fürsorge. Die Ergebnisse der Bindungsforschung zeigen ganz klar: Das emotionale Bedürfnis nach Schutz und Nähe ist für die Entwicklung des Kindes genauso wichtig, wie die Erfüllung von körperlichen Bedürfnissen nach Nahrung, Körperpflege oder Schutz vor Kälte oder Hitze. Denn durch eine sichere Bindung ent­wickeln Kinder das Vertrauen, bei Bedarf Unterstützung zu finden. Dieses Vertrauen gibt ihnen wiederum das Selbstvertrauen, sich von den Eltern wegzubewegen, die Welt zu erkunden und mit den unvermeidbaren Schwierigkeiten, auf die sie im Laufe ihrer Entwicklung stoßen, fertig zu werden.

Vielleicht fragen Sie sich als Eltern, warum es so lange gedauert hat, bis die Bedeutung von Bindungsbeziehungen anerkannt wurde. Das liegt daran, dass im 20. Jahrhundert das Verhalten von Säuglingen und Kleinkindern und die besondere Beziehung zur Mutter vor allem aus der Sicht der Behavioristen verstanden wurden. Sie gingen davon aus, dass Babys Verhaltensweisen wie Lächeln oder Weinen zeigen, um das Verhalten ihrer Bezugspersonen zu steuern. Daher empfahlen die Behavioristen, Kindern nicht zu viel Liebe und Aufmerksamkeit zu schenken, da dies ihr Weinen verstärken würde und sie von der liebevollen Zuwendung ihrer Mutter abhängig würden. Diese For­derung passte fatalerweise auch sehr gut zu den preußischen und national­sozialistischen Erziehungsidealen, und sie passt leider ebenfalls zu manchen Vorstellungen unserer heutigen Leistungsgesellschaft. Dies erklärt die nach wie vor bestehenden Vorbehalte gegen die Erkenntnisse der Bindungstheorie und Bindungsforschung.

Der Begründer der Bindungstheorie, John Bowlby, war einer der ersten Forscher, die auf dem Gebiet der kindlichen Entwicklung interdisziplinär gearbeitet haben. Er hat die Erkenntnisse aus unterschiedlichen Disziplinen wie Medizin, Biologie, Entwicklungspsychologie und Kybernetik zusammengetragen, um diese in seine Bindungstheorie zu integrieren. Damit entwickelte John Bowlby eine neue Antwort auf die Frage, was die besondere Beziehung zwischen Mutter und Kind ausmacht. Er erkannte als Erster, dass Säuglinge aufgrund biologisch verankerter Verhaltenssysteme von Anfang an Bindungen zu den Personen aufbauen, die sich dauerhaft um sie kümmern – um ihr Überleben und damit das Überleben der ganzen Art zu sichern. Damit legte er den Grundstein für 50 Jahre weltweite Bindungsforschung, die maßgeblich von seiner Mitarbeiterin Mary Ainsworth vorangebracht und in Deutschland von Klaus und Karin Grossmann in bahnbrechenden Langzeitstudien weitergeführt wurde. Das vorliegende Buch beruht auf der Pionierarbeit von John Bowlby, Mary Ainsworth und Klaus und Karin Grossmann. Daher haben wir ihre Kurzbiografien im Anhang aufgeführt.

Neben allen wissenschaftlichen Erkenntnissen der Bindungsforschung und aller Anstrengung, die der Alltag und die Erziehung von Kindern mit sich bringt, möchten wir Eltern auch ermutigen, den besonderen Charme und die Lebensfreude ihrer Kinder immer wieder bewusst wahrzunehmen und sich in der Beziehung mit ihren Kindern daran zu freuen.

Fabienne Becker-Stoll, Kathrin Beckh und Julia Berkic

Kapitel 1

Bindung: eine sichere Basis fürs Leben

In diesem Kapitel lesen Sie:

Wie Bindung entsteht und warum sie überlebenswichtig istWarum der Wunsch nach Nähe und das Erkunden der Welt untrennbar zusammengehörenWie Eltern ihrem Kind helfen, seine Gefühle ­auszudrückenWarum die Beziehung zu den Eltern für die ­Entwicklung des Kindes so wichtig ist

»Wenn wir das Vorhandensein eines Bindungsverhaltenssystems im Organismus annehmen, das als Ergebnis der Evolution betrachtet wird und dessen biologische Funktion Schutz ist, dann (…) muss man den Drang, Nähe aufrechtzuerhalten respektieren, wertschätzen und fördern, da er zu potenzieller Stärke führt. Man soll nicht auf ihn als ein Zeichen der Schwäche bei einem Menschen herabsehen, wie dies bis jetzt so häufig geschehen ist.«

John Bowlby, 19911

Bindung ist überlebenswichtig

Bestimmt kennt jeder diese Erfahrung: Sobald wir intensive Gefühle erleben, entsteht das Bedürfnis, sie mit anderen zu teilen. Egal, ob es die Freude über die Geburt eines Kindes ist, die Angst, sich einer großen Herausforderung zu stellen, eine neue Partnerschaft, Liebeskummer, existenzielle Ängste durch den drohenden Verlust des Jobs – Gefühle mit anderen Personen zu teilen verändert die Art und Weise, wie wir diese Gefühle und damit auch uns selbst erleben. Oft reicht es schon aus zu wissen, dass es jemanden gibt, dem wir vertrauen und bei dem wir uns öffnen können, damit wir uns (selbst)sicherer und besser fühlen.

Und in der Tat entsteht aus den Befunden aus 60 Jahren Bindungsforschung ein immer klareres Bild über die immense lebenslange Bedeutung von Bindungen und zwischenmenschliche Beziehungen: Der Mensch ist von Natur aus sozial ausgerichtet.

Menschen jeden Alters fühlen sich sicherer und zufriedener, wenn es in ihrem Umfeld Menschen gibt, denen sie ihre Sorgen und Nöte, aber auch freudige Ereignisse mitteilen können, und auf deren Unterstützung sie vertrauen können. Und irgendwo spüren wahrscheinlich alle Eltern, spätestens sobald sie ihr Baby zum ersten Mal im Arm halten, dass genau dies ihre wichtigste Aufgabe ist: das Kind in allen seinen Gefühlen zu begleiten, ihm Halt und Orientierung zu geben, und es auf seinem Weg in die Welt zu beschützen und zu unterstützen.

In der Bindungsbeziehung zu den Eltern lernt das Kind so während der ­ersten Lebensjahre sich selbst als liebenswert zu erleben und dabei sowohl auf die Unterstützung anderer als auch auf sich selbst zu vertrauen. Aufgrund dieser Erfahrungen können echtes Selbstvertrauen und Selbstständigkeit entstehen – genauso wie die Fähigkeit, später im Leben enge Beziehungen einzugehen. Der nahe, verlässliche Kontakt zu den Eltern, erleichtert es dem Kind die Herausforderungen des Lebens gut zu bewältigen.

Bindung bietet Schutz vor Gefahren und unterstützt das Lernen

Unabhängig davon, wie alt Menschen sind, in manchen Situationen brauchen sie den Schutz und die Unterstützung von anderen, ihnen nahestehenden Personen. Für Babys und kleine Kinder ist dieser Schutz, der in Bindungen entsteht, jedoch von noch größerer Bedeutung: Sie könnten sonst die ersten Lebensjahre nicht überleben. Denn erst die zuverlässige Nähe einer erwachsenen Person, die als größer und stärker erlebt wird, garantiert auch den bestmöglichen Schutz vor den vielfältigen Gefahren, die in der Umwelt lauern – zum Beispiel fremde Personen, deren Vertrauenswürdigkeit man nicht einschätzen kann, Raubtiere oder die Folgen von Unwettern.2

Zu der Zeit, als unser Bindungssystem entstanden ist, war die Umwelt voller lauernder Gefahren. Auch heute noch sind Bindung und Schutz für ein Baby über­lebenswichtig.

John Bowlby, der Begründer der Bindungstheorie, nahm an, dass die Trennung von einer beschützenden erwachsenen Person für den Säugling die größte Gefahr überhaupt darstellt. Darum hat sich im Verlauf der Menschheitsgeschichte ein Verhaltenssystem herausgebildet, dessen Funktion es ist, die Nähe von mindestens einer erwachsenen Person zu sichern: das sogenannte Bindungsverhaltenssystem. Wenn ein Baby auf die Welt kommt, dann ist es genetisch dazu vorprogrammiert, eine schutzgebende Person zu suchen, sich an sie zu binden und dafür zu sorgen, die Nähe zu ihr aufrechtzuerhalten. Dies ist die erste große Aufgabe im Leben, und sie hat in den ersten Lebensjahren Vorrang vor allem anderen.3

Erst wenn das Kind sich in seiner Bindungsbeziehung sicher fühlt, fängt es an, seine Aufmerksamkeit stärker auf die Umgebung zu richten und sie neugierig zu erkunden. In der Bindungsforschung wird dieses Verhalten »Ex­ploration« genannt. Gemeint ist damit der ebenfalls angeborene Drang, sich ­aktiv mit der Umwelt zu beschäftigen und so all die Dinge zu lernen, die für das Leben als Erwachsener notwendig sind.

Bindung bietet also nicht nur Schutz, um das Überleben zu sichern, sondern bereitet gleichzeitig auch den Weg dafür, dass Kinder selbstständig werden und alles lernen, was für das Überleben in dieser Umwelt wichtig ist.

Das Bedürfnis nach Bindung ist aber weit mehr als nur ein Relikt aus der Steinzeit. Die Gefahr, die von gefährlichen Raubtieren ausgeht, ist für uns inzwischen vernachlässigbar. Doch auch heutzutage ersetzen liebevoll ein­gerichtete und sichere Kinderzimmer nicht die beständige Präsenz und Verfügbarkeit der Eltern. Bindung an mindestens eine erwachsene Person ist auch heute noch überlebenswichtig.

Erst wenn das Kind sich sicher fühlt, kann es beginnen, die Umwelt zu entdecken und selbstständiger zu werden.

Die Bindungssignale des Säuglings sorgen dafür, die physiologischen Bedürfnisse nach Nahrung, Körperpflege und Schutz vor Kälte oder Hitze ebenso wie die emotionalen Grundbedürfnisse des Babys zu stillen. Gleichzeitig dient die Bindung dem Schutz vor Gefahren, die aus der Umwelt kommen. Kinder lernen auf diesem Weg, ihrerseits Gefahren zu erkennen und sich zunehmend selbst zu schützen. Denn egal, welcher »Gefahr« man gegenüber­steht – Raubtieren, unübersichtlichem Autoverkehr, neuen Situationen oder fremden Personen –, um weder zu ängstlich noch zu vertrauensvoll zu handeln, müssen wir uns auf unsere Erfahrungen, unser Wissen, aber insbesondere auch auf unsere Gefühle verlassen können.

Gefühle wie Angst, Neugier, Ärger, Trauer oder Freude haben eine wichtige Signalfunktion, um Situationen besser einschätzen zu können und das Verhalten daran auszurichten. Die Fähigkeit, Gefühle zu verstehen und damit angemessen umzugehen, ist jedoch nicht angeboren, sondern muss erst gelernt werden. Die wichtigsten Grundlagen dafür werden in den ersten Lebens­jahren gelegt: in der Bindungsbeziehung zu den Eltern.4

Wie Selbstwertgefühl, Vertrauen und Autonomie entstehen

Wenn Babys auf die Welt kommen, können sie ihre Bedürfnisse noch nicht selbst erfüllen. Neben Nahrung, Körperpflege und Schutz brauchen Babys vor allem den Kontakt zu vertrauten Menschen, die sie im Umgang mit ihren ­Gefühlen unterstützen.

Um die Erfüllung dieser Grundbedürfnisse zu sichern, sind Babys von Geburt an mit einem gewissen Repertoire an angeborenen Verhaltensweisen ausgestattet. Sie helfen ihnen, mit ihren Eltern in Kontakt zu treten und ihnen zu signalisieren, dass sie ihre Nähe und Unterstützung brauchen. Hierzu gehören beispielsweise schreien und weinen, etwas später auch anklammern, hinterherkrabbeln oder -laufen, die Suche nach Aufmerksamkeit und Blickkontakt durch Lächeln und Brabbeln. Eltern verstehen viele dieser Signale ­intuitiv und reagieren darauf instinktiv mit Fürsorgeverhalten: Sie nehmen das Baby hoch und trösten es, wenn es schreit, sie erwidern das Lächeln des Babys und halten den Blickkontakt.5

Durch diesen beständigen emotionalen Austausch entsteht im Verlauf der ersten Lebensmonate allmählich die Bindung zwischen Eltern und Kind.6 Für das Kind ist diese Entwicklung existenziell: denn erst dadurch, dass es von seinen Eltern mit seinen Bedürfnissen wahrgenommen wird, fängt es an, sich selbst zu spüren, und lernt differenzierter wahrzunehmen und auszudrücken, was es braucht.

Die eigenen Gefühle zu verstehen, muss ein Kind erst lernen – die Beziehung zu den Eltern ist der beste Ort dafür.

Zunächst vor allem durch Körperkontakt und die Stimme der Eltern und etwas später auch durch Blickkontakt lernt das Kind, sich im Zusammensein mit anderen selbst als eigenständige Person wahrzunehmen. Die Erfahrungen in den ersten Bindungsbeziehungen legen damit den Grundstein dafür, wie das Kind sich selbst zukünftig wahrnimmt und mit seinen Gedanken und Gefühlen umgeht. In der Tat hat vieles, was sich Eltern für ihr Kind wünschen – Selbstbewusstsein, Beziehungsfähigkeit, Belastbarkeit im Umgang mit Stress –, seinen Ursprung in den ersten Bindungserfahrungen.7

Dies bedeutet nicht, dass die ersten Bindungsbeziehungen das weitere Leben für immer vorherbestimmen – Veränderungen sind jederzeit möglich – aber die frühen Erfahrungen bilden das Fundament, auf dem Kinder ihr ­weiteres Leben aufbauen.8 Dabei sind es nicht einzelne Erlebnisse, die entscheidend sind, sondern die sich im Alltag mit dem Kind hundert- und tausendfach wiederholenden Momente: Jedes Mal, wenn die Eltern das Kind trösten oder ermutigen, jedes Mal, wenn sie ihm bei der Erkundung der Welt zur Seite stehen, entsteht im Kind ein kleines Stückchen mehr Vertrauen in die Bindungsbeziehung und damit auch in sich selbst.

GUT ZU WISSEN

Eine sichere Bindung entsteht dann, wenn es der Bindungsperson gelingt:

dem Kind zu helfen, sich nach Angst oder Unwohlsein wieder sicher zu fühlen,dem Kind Sicherheit zu geben, um die Welt zu erkunden, zu wachsen und sich entwickeln zu können,dem Kind zu helfen, seine Gefühle zu ordnen und zu bewältigen.

Bindung entsteht im täglichen Miteinander

Die Bindung zwischen Eltern und Kind entwickelt sich ganz von allein – einfach dadurch, dass die Eltern sich um ihr Baby kümmern und es versorgen. Alle Kinder entwickeln im Verlauf des ersten Lebensjahres eine Bindung an eine Bezugsperson oder auch an einige wenige Personen, die größer und stärker sind und die das Kind pflegen und versorgen.

In der Regel sind dies die Eltern, das ist aber nicht notwendigerweise so. Für die Bindungsentwicklung ist nicht die biologische Verwandtschaft entscheidend. Das Kind bindet sich an die Personen, die die meiste Zeit mit dem Kind verbringen und die sich am zuverlässigsten um seine emotionalen Bedürfnisse kümmern. Je öfter ein Kind im Kontakt die Sicherheit und den Schutz findet, nachdem es sucht, umso wahrscheinlicher ist es, dass es sich an diesen Menschen bindet. In der Regel wird also zur Hauptbindungsperson, wer das Kind die meiste Zeit versorgt (siehe Kapitel 2).

Bindung entsteht zu denjenigen, die am meisten Zeit mit dem Kind verbringen und es am zuverlässigsten versorgen – vor allem auch emotional.

Kinder binden sich aber auch an vernachlässigende oder sogar gewalttätige Eltern – das zeigt, wie existenziell wichtig es für das Kind ist, wenigstens eine Bindung einzugehen, selbst wenn diese die Bedürfnisse des Kindes nicht erfüllt.9 Zwar entwickeln alle Kinder eine Bindung an ihre Eltern, es gibt jedoch deutliche Unterschiede in der Qualität der Bindung. Diese spiegeln wider, wie gut die Kommunikation und der emotionale Austausch zwischen Eltern und Kind im Alltag funktionieren.

Wenn das Kind die Erfahrung macht, dass die Eltern versuchen, seine Bedürfnisse zu erkennen und zu erfüllen, und dass dies meistens auch gelingt, dann wird es aus dieser Sicherheit heraus lernen, seine Bedürfnisse immer klarer auszudrücken. Das wiederum erleichtert es den Eltern zu erkennen, was das Kind gerade braucht.

Erlebt ein Kind dagegen häufig, dass die Eltern sich abwenden, seine Bedürfnisse ignorieren oder nur sehr unzuverlässig darauf reagieren, dann ist es für das Kind sehr viel schwerer, dieses Vertrauen zu entwickeln. Es wird seine Bedürfnisse selbst weniger deutlich wahrnehmen und mit der Zeit immer weniger klar zum Ausdruck bringen. Die Kommunikation mit den Eltern – und in der Folge auch mit anderen Personen – wird dadurch zunehmend schwieriger.

Aus diesen sich wiederholenden Interaktionsmustern entwickelt das Kind im Verlauf der Zeit allmählich Erwartungen darüber, wie die Eltern in bestimmten Situationen reagieren. An diesen Erwartungen richtet das Kind immer mehr sein Verhalten aus. In der Tat finden sich schon mit einem Jahr deutliche Unterschiede darin, wie klar Kinder ihre Bedürfnisse zeigen – Unterschiede, die eindeutig nicht auf Temperament oder angeborene Persönlichkeitseigenschaften zurückzuführen sind, sondern auf die Erfahrungen der Kinder im Verlauf des ersten Lebensjahres10 (siehe Kapitel 2).

Eine sichere Bindung hängt also weniger von einzelnen, konkreten elter­lichen Verhaltensweisen ab, sondern spiegelt vor allem wider, dass die Kommunikation zwischen Eltern und Kind gut funktioniert.

Bindung und Erkundung der Umwelt gehören zusammen

Um die Signale von Kindern richtig lesen zu können, ist es wichtig, ihre Bedürfnisse zu kennen. Eine der Hauptaussagen der Bindungstheorie ist, dass die Befriedigung von physiologischen Grundbedürfnissen nach Nahrung oder Schlaf alleine nicht ausreicht, sondern dass die Erfüllung von emotionalen Grundbedürfnissen für die Entwicklung des Kindes mindestens genauso wichtig ist. Dazu gehören einerseits die Bedürfnisse nach Bindung, Nähe und Schutz sowie andererseits nach Erkundung der Umwelt, Selbstständigkeit und Lernen. Beides, obwohl scheinbar so gegensätzlich, gehört untrennbar zusammen.

Die Bindungstheorie nimmt an, dass sich im Verlauf der Evolution verschiedene Verhaltenssysteme herausgebildet haben, deren Aufgabe es ist, die Erfüllung der wichtigsten physiologischen und emotionalen Grundbedürfnisse sicherzustellen. Das Bindungssystem und das Explorationssystem sind wie eine Wippe miteinander verbunden, das heißt, sie arbeiten abwechselnd und können nicht gleichzeitig aktiviert sein.12

Das Explorationssystem und das Bindungssystem des Kindes.

Abb. nach K. Grossmann, K. E. Grossmann (2012)11

Das Bindungssystem wird durch inneren oder äußeren Stress aktiviert, zum Beispiel durch Fremdheit, Hunger, Müdigkeit und alles, was Angst und Unwohlsein auslöst. Das Kind beginnt zu schreien, zu weinen oder sich an­zuklammern. So versucht es, die Nähe der Bindungsperson zu sichern oder wiederherzustellen. Durch die Wahrnehmung der Bindungsperson und den liebevollen Kontakt mit ihr wird dieses System wieder deaktiviert.13

Bei sehr kleinen Kindern oder wenn das Bindungssystem stark aktiviert ist, braucht das Kind zur Beruhigung den Körperkontakt mit der Bindungsperson, es will sich an ihr festhalten und kuscheln. Bei älteren Kindern oder weniger beunruhigenden Situationen reicht häufig auch der Blickkontakt oder ein Zuruf.

Bindung und Selbstständigkeit sind keine Gegensätze, sondern gehören untrennbar zusammen.

Sobald das Kind sich wieder sicher fühlt, wird das Bindungssystem deaktiviert: Das Kind hört auf Nähe zu suchen und erkundet stattdessen seine Umwelt. Erkundungsverhalten bei kleinen Kindern setzt also voraus, dass die Bindungsperson anwesend ist oder dass das Kind genau weiß, wo sie sich befindet und wie sie zu erreichen ist. Erst durch diese Sicherheit kann sein Explorationsverhaltenssystem wieder wirksam werden und ihm ermöglichen, sich neugierig der Umgebung zuzuwenden, um Neues zu entdecken und Dinge auszuprobieren.

Bindung und Selbstständigkeit bilden also keine Gegensätze, sondern gehören untrennbar zusammen. Eine sichere Bindung fördert in jedem Alter auch die Unabhängigkeit, das Selbstvertrauen und damit das Lernen des Kindes.14

Keine Angst vor dem Verwöhnen!

Im Alltag wechseln Kinder also ständig zwischen dem Bedürfnis nach Bindung und Erkundung. Dabei sind sie sehr zuverlässig und deutlich in ihren Signalen, vorausgesetzt, man hindert sie nicht daran. Für viele Eltern kann es eine Herausforderung sein, den Signalen ihres Kindes als »richtig« zu vertrauen. So steht auch heute noch bei einigen Eltern die Angst im Vordergrund, ihr Kind zu sehr zu verwöhnen, wenn sie auf seine Bedürfnisse eingehen.

Das Bild der Wippe zeigt aber sehr deutlich: Es ist nicht möglich, Kinder zu verwöhnen, indem man auf ihre Bedürfnisse nach Nähe und Schutz eingeht. Sobald die Bindungsbedürfnisse eines Kindes erfüllt sind, schaltet das Kind sein Verhalten um – auf entdecken, lernen und selbstständig werden. Beide Seiten der Wippe zeigen gleichberechtigte, angeborene Grundbedürfnisse, die man Kindern nicht erst beibringen muss. Allerdings kann man dieses angeborene Verhalten Kindern auch nicht abgewöhnen – nicht einmal durch Zurückweisung oder Bestrafung.

Bindung und Erkundung sind Grundbedürfnisse, die die menschliche Natur ausmachen, und als solche sind sie tief im Organismus (im zentralen Nervensystem) verankert. Dagegen ist die Art und Weise, wie diese Bedürfnisse im kindlichen Verhalten zum Ausdruck kommen, stark von den Erfahrungen abhängig, die Kinder in ihren Bindungsbeziehungen machen. Ob Kinder zum Beispiel gelernt haben, dass sie mit all ihren Gefühlen, Wünschen und Bedürfnissen gesehen, akzeptiert und geliebt werden.

Je besser es Eltern gelingt, beide Seiten im Verhalten des Kindes zu sehen und ausgewogen darauf zu reagieren, desto eher führt dies zu einer natür­lichen alters- und situationsangemessenen Balance zwischen dem Wunsch nach Nähe und nach Selbstständigkeit. Und diese Balance ist nicht nur das wichtigste Kennzeichen einer sicheren Bindung, sondern auch die Grundlage für die Entwicklung von psychischer Flexibilität und Ausgewogenheit. Natürlich ist es jenseits der Säuglingszeit auch wichtig, Kindern in bestimmten ­Situationen angemessene Grenzen aufzuzeigen (siehe dazu Kapitel 3 und 4). Grenzen sollten jedoch nicht gesetzt werden, solange das Bindungsverhaltenssystem eines Kindes aktiviert ist und es nach Nähe und Schutz sucht.

Ein Kind, das ausreichend beruhigt und getröstet ist, macht sich von ganz allein wieder auf Entdeckungsreise.

Die Eltern als sichere Basis und sicherer Hafen

Je nachdem, ob das Bindungs- oder das Explorationssystem eines Kindes gerade aktiviert ist, richtet es seine Aufmerksamkeit also entweder auf die Bindungsperson oder auf die Umwelt. Dies lässt sich gerade bei kleinen Kindern im Verhalten deutlich beobachten. Aufgabe der Eltern ist es dabei, den kind­lichen Bedürfnissen soweit wie möglich zu folgen, bei Bedarf aber auch die Führung zu übernehmen – insbesondere dann, wenn Gefahr oder Überfor­derung droht.

Sicherheit entsteht in den kleinen Momenten

Häufig gelingt diese Balance zwischen Bindung und Erkundung im Alltag ­automatisch, ohne dass wir es überhaupt bewusst wahrnehmen oder viel darüber nachdenken müssen. So zum Beispiel dann, wenn ein Kind ganz ins Spiel vertieft ist, jedoch plötzlich aufspringt, zu seiner Mutter krabbelt oder läuft, sich kurz ankuschelt und dann wieder weiterspielt. Oder dann, wenn ein Kind bei einem unbekannten Geräusch erschrickt und den Blickkontakt der Eltern sucht, bevor es sich weiter der Erkundung seiner Umwelt widmet. Ebenso, wenn ein Kind hinfällt, weint, vom Vater auf den Arm genommen und getröstet wird, um sich kurze Zeit später wieder aus seinen Armen zu ­lösen und weiterrennt, als wäre nichts geschehen. Oder wenn es kurz zögert, zu den Eltern schaut, bevor es sich traut, die große Rutsche hinunterzurutschen. Wir können es auch beobachten, wenn sich ein Kind beim Bringen in den Kindergarten nochmal kurz umschaut, bevor es mit anderen Kindern zu spielen beginnt.

Es sind diese kleinen, unscheinbaren Alltagssituationen, in denen sich die Bindungssicherheit langsam und fast unbemerkt entwickelt und vertieft, und aus denen sich durch die ständige Wiederholung im Alltag Sicherheit und Vertrauen entwickelt.

Auf Kommunikationsprobleme aufmerksam werden

Die immense Bedeutung dieser kleinen, sich ständig wiederholenden Erfahrungen wird besonders deutlich, wenn man sich vor Augen hält, was passiert, wenn die Kommunikation zwischen Eltern und Kindern in diesen Situationen nicht funktioniert. Wenn also Eltern die Bedürfnisse ihrer Kinder in solchen Situationen dauerhaft nicht beachten, falsch einschätzen oder unangemessen darauf reagieren. Zum Beispiel: Wenn ein Kind hinfällt – und nicht getröstet, sondern geschimpft wird. Wenn ein Kind erschrickt und verunsichert ist – und die Eltern ihm zu verstehen geben, es soll sich nicht so anstellen. Wenn sich das Kind beim Abschied nochmal kurz nach der Mutter umschaut – und nicht beachtet wird. Wenn das Schokoladeneis auf dem Fußweg landet – und das Kind zu hören bekommt, es sei selbst schuld. Wenn das Kind kurz auf den Schoß möchte – und vom Vater zurückgewiesen wird, weil es doch kein Baby mehr ist. Wenn das Kind weint, weil ein anderes Kind ihm sein neues Spielzeug weggenommen hat, – und gesagt bekommt, es solle nicht selbstsüchtig sein und gefälligst sein Spielzeug mit anderen teilen.

Für sich genommen führt keine dieser Situationen zu einer unsicheren Bindung beim Kind. Alle Eltern kennen vielmehr solche Situationen, in denen sie die Bedürfnisse der Kinder verpassen oder sogar dagegen arbeiten. Das passiert ausnahmslos allen Eltern – auch Eltern von sicher gebundenen Kindern. Und solange solche Missverständnisse nicht zum dauerhaften Muster in der Beziehung werden, sind sie auch nicht schlimm oder schädlich.

Konflikte und Missverständnisse haben eine Signalfunktion.

Viel wichtiger, als solche Situationen um jeden Preis zu vermeiden, ist es deshalb, sich bewusst zu machen, dass sie eine wichtige Signal- oder Alarmfunktion haben. Sie zeigen uns, dass gerade etwas in der Beziehung zum Kind schiefläuft. Erst wenn wir bereit sind zu erkennen, dass gerade ein Missverständnis entsteht oder dass wichtige Bedürfnisse nicht gesehen oder falsch interpretiert werden, ist es möglich, das eigene Verhalten bewusst zu ver­ändern, um das Gleichgewicht in der Beziehung und damit die Sicherheit beim Kind, wiederherzustellen.

Wenn Eltern bemerken, dass sie mit ihrem Verhalten beim Kind (immer wieder) auf massive Widerstände stoßen, sollten sie dies als Chance nutzen. Dann ist es an der Zeit zu überlegen, welche Bedürfnisse sie in dieser Situation möglicherweise übersehen, anstatt ihre Bemühungen zu verstärken, mit dem immer gleichen Verhalten eine Veränderung beim Kind zu erreichen (zum Beispiel dem Kind seine Unachtsamkeit immer wieder vorzuwerfen und damit seine Gefühle in dieser Situation nicht ernst zu nehmen). Denn die Fähigkeit, solche Situationen zu erkennen, den negativen Kreislauf zu stoppen, und zurück zur Sicherheit zu finden, ist ein genau so wichtiger Bestandteil einer sicheren Bindung, wie die Situationen, in denen sich die Sicherheit automatisch einstellt.

Der Kreis der Sicherheit

Im Alltag kommt es aus den verschiedensten Gründen immer wieder dazu, dass Eltern die Bedürfnisse ihrer Kinder nicht sehen, falsch verstehen oder gerade nicht darauf reagieren können. Damit solche kleinen Brüche in der Kommunikation nicht zum vorherrschenden Muster in der Beziehung werden, ist es für alle Eltern hilfreich, eine Art Landkarte zu haben, an der sie sich bei Bedarf orientieren können. Neben der im vorangegangenen Abschnitt vorgestellten Wippe erfüllt diese Aufgabe vor allem der von den Bindungsforschern Cooper, Hoffman, Marvin und Powell entwickelte »Kreis der ­Sicherheit«, in dem die Beziehungsdynamik einer sicheren Bindung grafisch dargestellt wird (siehe Kapitel 3).15

Der Kreis der Sicherheit

Die Bindungsperson ist die sichere Basis für das Kind, wenn es die Umwelt erkundet (obere Kreishälfte) und der sichere Hafen, wenn es überfordert ist und Hilfe braucht (untere Kreishälfte).

Abb. nach G. Cooper, K. Hoffmann, R. Marvin, B. Powell (2000)16

Um eine sichere Bindung zu entwickeln, brauchen Kinder drei Dinge:

Die Freiheit und die Sicherheit, sich von der Bindungsperson wegzubewegen, um die Welt zu entdecken. Die Bindungsperson wird für das Kind zur sicheren Basis, die es zur Entdeckung der Welt ermutigt und dabei aufmerksam und verfügbar ist. Sie bietet wenn nötig Hilfe und Unterstützung an und freut sich mit dem Kind über seine Entdeckungen und Abenteuer.Die Sicherheit, dass es bei Bedarf jederzeit zur Bindungsperson zurückkommen kann, um Schutz und Geborgenheit und Trost zu erfahren. Die Bindungsperson wird für das Kind zum sicheren Hafen, in den es jederzeit einlaufen und emotional auftanken kann. Das Kind sollte sich jederzeit willkommen fühlen und das Gefühl haben, dass es beschützt, getröstet und verstanden wird.Eine Bindungsperson, die vom Kind als größer, stärker, erfahrener und liebenswürdig erlebt wird. Aufgabe der Bindungsperson ist es immer, den kindlichen Bedürfnissen so weit wie möglich zu folgen, aber bei Bedarf die Leitung zu übernehmen, um dem Kind Schutz und Orientierung zu geben.

Für Eltern ist es wichtig, sich immer wieder zu fragen, was gerade im Moment das Bedürfnis des Kindes ist. Ist sein Bindungssystem aktiviert, dann braucht es Nähe, Trost, Schutz und Unterstützung bei der Bewältigung seiner Gefühle. Solange das Bindungsverhaltenssystem aktiviert ist, wird das Kind sich aktiv gegen (gut gemeinte) Angebote wehren, deren Ziel es ist, das Kind zur Selbstständigkeit und Erkundung zu ermutigen.

Ist dagegen das Explorationsverhaltenssystem des Kindes aktiviert, möchte das Kind »alleine« die Welt entdecken. Das Kind möchte nun Auf­gaben und Herausforderung auf seine eigene Art und Weise bewältigen – auch wenn dies manchmal nicht sofort zum Erfolg führt. Ein aktives (wenn auch gut gemeintes) Eingreifen der Eltern in seine Aktivitäten wird es als Einschränkung seiner Autonomie erleben und sich dagegen wehren.

Die unterstützende Präsenz der Eltern und bei Bedarf den emotionalen Austausch mit ihnen brauchen Kinder jedoch nicht nur, wenn ihr Bindungsverhaltenssystem aktiviert ist, sondern auch beim Erkunden und Erforschen der Umwelt.17

In den folgenden Kapiteln werden wir darstellen, wie sich das Gleichgewicht zwischen den Bedürfnissen nach Schutz und Nähe sowie nach Selbstständigkeit und Unabhängigkeit in jedem Alter anders darstellt – auch in ­Abhängigkeit von der Persönlichkeit und der Situation. Der grundlegende Mechanismus bleibt jedoch immer der gleiche: Jedes Mal, wenn Eltern und Kind diesen Kreis der Sicherheit durchlaufen, entsteht beim Kind ein Stück Sicherheit und Vertrauen in sich selbst und in die Beziehung.

Die Unabhängigkeit eines Kindes sollte nie vorrangiges Entwicklungsziel sein. Es geht immer um die richtige Balance ­zwischen Selbstständigkeit und ­Verbundenheit.

Auch Eltern brauchen Sicherheit

Der Kreis der Sicherheit gilt auch für Erwachsene. Menschen jeden Alters geht es besser, wenn sie jemanden an ihrer Seite haben, den sie als sichere Basis und sicheren Hafen empfinden. Gerade für Eltern ist dies jedoch besonders wichtig: Kinder brauchen über Jahre hinweg sehr viel Zeit und Aufmerksamkeit. In vielen Situationen müssen Eltern vorübergehend ihre eigenen Bedürfnisse hinten anstellen und zunächst für das Kind sorgen. Die Gefühle und Bedürfnisse der Kinder wahrzunehmen, zu akzeptieren und zu befriedigen konfrontiert uns dabei gleichzeitig auch mit unseren Bedürfnissen und damit, wie wir gelernt haben, mit ihnen umzugehen. Und natürlich sind wir in vielen Situationen unsicher, was jetzt gerade das Richtige ist. Dazu kommen Schlafmangel und andere Aufgaben wie Beruf oder Haushalt, die häufig mit der Sorge um die Kinder in Konflikt geraten. Oder es gibt eigene Interessen, die vielleicht phasenweise oder dauerhaft zu kurz kommen.

Eltern zu sein führt also unweigerlich auch immer wieder zu Belastungssituationen, in denen das eigene Bindungsverhaltenssystem aktiviert wird, und in denen Eltern Unterstützung brauchen. Für Eltern kann es also sehr hilfreich sein, sich in belastenden Situationen immer wieder selbst zu fragen: »Wo auf dem Kreis der Sicherheit befinde ich mich gerade? Was brauche ich, um mich sicher zu fühlen?« Denn um zuverlässig für Kinder da sein zu können ist es für Eltern wichtig, dafür zu sorgen, dass auch sie die nötige Unterstützung bekommen, um sich sicher zu fühlen. Häufig kommt die Unterstützung vom Partner oder der Partnerin, aber auch die eigenen Eltern, gute Freunde, Verwandte oder auch eine professionelle Begleitung durch einen Psychotherapeuten können zur sicheren Basis werden (siehe auch Kapitel 5 und 6).

Immer unabhängig und stark zu sein, kann auch für Eltern kein Ziel sein. Denn dies führt nicht zu der Sicherheit, aus der heraus man gut für Kinder sorgen kann.

Feinfühligkeit und gelingende Kommunikation

Die elterliche Fähigkeit und Bereitschaft, das Kind in allen seinen Erfahrungen – egal ob positiv oder negativ – zu begleiten und wenn nötig aktiv zu unterstützen, wird in der Bindungsforschung mit dem Begriff der Feinfühligkeitbezeichnet.18 Die elterliche Feinfühligkeit ist die wichtigste Voraussetzung, um eine sichere Bindung aufzubauen und aufrechtzuerhalten. Nichts unterstützt Kinder in ihrer Entwicklung so gut wie elterliche Feinfühligkeit.19

Was heißt feinfühlig?

Der deutsche Begriff der Feinfühligkeit geht auf Klaus und Karin Grossmann zurück, die diesen Begriff gewählt haben, »um den besonderen Charakter (der Bindungsqualität / Bindungsbeziehung ) durch ein vielleicht altmodisch klingendes, aber nicht theoretisch vorbelastetes Wort zu betonen.«20 Sie berufen sich dabei auf die Pionierarbeit von Mary Ainsworth, die aufgrund ihrer intensiven Beobachtung von Eltern-Kind-Paaren im ersten Lebensjahr zu dem Schluss kam, dass die Sensibilität (engl. »sensitivity«) der Bindungsperson im Umgang mit den kindlichen Signalen und Bedürfnisäußerungen den Kern der Bindungsqualität ausmacht21 – eine Beobachtung, die mittlerweile in einer Vielzahl von Studien bestätigt wurde.22 In einer sehr allgemeinen Definition bezieht sich Feinfühligkeit auf die Fähigkeit und Bereitschaft von Eltern, die kindlichen Signale wahrzunehmen, richtig zu interpretieren und prompt und angemessen darauf zu reagieren.

Unabhängig davon, wie alt das Kind ist, bedeutet dies, das Kind als eigenständige Person mit eigenen Wünschen, Bedürfnissen und Zielen zu sehen und wertzuschätzen. Besonders wichtig ist in diesem Zusammenhang die Bereitschaft, sich auf das kindliche Erleben einzulassen, sich in das Kind einzufühlen, die Welt mit seinen Augen zu betrachten, und die eigenen Bedürfnisse von denen des Kindes zu unterscheiden. Denn erst dadurch wird es möglich zu verstehen, welchen Wunsch oder welches Bedürfnis das Kind mit seinem Verhalten zum Ausdruck bringt.23

Die Wahrnehmung der Signale und Mitteilungen des Babys

Um die Signale des Kindes wahrnehmen zu können, muss die Bindungsperson ausreichend aufmerksam und emotional verfügbar sein. Dabei lassen sich bei Eltern unterschiedliche »Schwellen« der Wahrnehmung beobachten: Während sehr feinfühlige Eltern schon feine oder eher geringfügige Zeichen des Babys wahrnehmen und so rechtzeitig reagieren können, bevor das Baby völlig aufgelöst ist, scheinen andere Eltern nur die deutlichsten und offensichtlichsten Mitteilungen wahrzunehmen.

Die rechtzeitige Wahrnehmung der kindlichen Signale führt jedoch nicht zwangsläufig auch zu feinfühligem Verhalten. So gibt es beispielsweise auch Eltern, die bereits die geringsten Mundbewegungen des Säuglings fälschlicherweise als Hunger interpretieren oder selbst minimale Anspannung oder Unruhe fälschlicherweise als Erschöpfung interpretieren.24

Die Herausforderung für Eltern besteht also auch hier wieder in der richtigen Balance: Diese besteht darin, einerseits aufmerksam genug zu sein, um auch die feinen Signale und Mitteilungen der Kinder nicht zu übersehen, diese Signale andererseits aber auch nicht überzuinterpretieren und in der Folge vorschnell zu reagieren.

Feinfühlige Eltern nehmen die kindlichen Signale ­zuverlässig wahr, interpretieren sie richtig, ­finden eine angemessene Antwort darauf und ­reagieren prompt.

Die Signale des Babys richtig interpretieren

Die Fähigkeit der Eltern, die kindlichen Signale nicht nur wahrzunehmen, sondern auch richtig zu interpretieren, entwickelt sich allmählich, im Verlauf der ersten Lebensmonate mit dem Baby. Denn während die kindlichen Signale anfangs noch sehr unspezifisch sind, verfeinert sich mit der Zeit die Fähigkeit des Babys, durch sein Verhalten auszudrücken, was es gerade braucht. Während manche Eltern von Beginn an intuitiv wissen, ob ihr Baby gerade vor Hunger schreit oder weint, weil es müde ist, ist das richtige Zuordnen der kindlichen Signale bei den meisten Eltern ein kontinuierlicher Lernprozess, der sich über die ersten Lebenswochen bis -monate erstreckt (siehe Kapitel 2).

Für die sich entwickelnde Bindungsqualität spielt dies keine Rolle – entscheidend ist vielmehr, dass Eltern die Signale ihres Kindes nicht dauerhaft fehlinterpretieren, zum Beispiel wenn es ihnen schwerfällt, sich in das Baby einzufühlen.25 Eine verzerrte, wenig objektive Wahrnehmung der kindlichen Signale entsteht oft dann, wenn Eltern bei der Wahrnehmung ihrer Kinder zu Interpretationen neigen, die mehr ihren eigenen Wünschen, Stimmungen und Fantasien entsprechen als dem, was das Baby gerade im Moment zum Ausdruck bringt.

Die Herausforderung besteht darin, klar erkennen und trennen zu können, welche Gefühle, Bedürfnisse oder Erwartungen wir an das Kind in einer bestimmten Situation haben, und welche Gefühle und Bedürfnisse das Kind mit seinem Verhalten in diesem Moment zum Ausdruck bringt.

GUT ZU WISSEN

Gelingt die Trennung eigener und kindlicher Bedürfnisse nicht …

so besteht die Gefahr, dass Eltern, die selbst müde und erschöpft sind, das Quengeln des Kindes um Aufmerksamkeit als Müdigkeit interpretieren,könnten Eltern, die gerade unter Zeitdruck stehen, jede Verlang­samung des Essens beim Füttern als Sättigung interpretieren,oder könnten Eltern, denen es schwerfällt, die Bedürfnisse des Kindes zu akzeptieren, das Verhalten des Kindes als aggressiv ihnen gegenüber oder als zu fordernd interpretieren.

Solche Verzerrungstendenzen haben ihre Ursache meist entweder in der aktuellen Überforderung mit einer Situation oder auch in eigenen negativen Bindungserfahrungen.26 Aber sie sind veränderbar, wenn man sie erkennt (siehe Kapitel 1 und 6). Die Signale der Kinder vergleichsweise objektiv und verzerrungsfrei wahrnehmen zu können, setzt also eine gewisse Einsicht in die eigenen Wünsche und Bedürfnisse voraus und ein Bewusstsein darüber, dass das eigene Verhalten und die eigene Stimmung auch das Verhalten des Kindes beeinflussen kann.

Um zu erkennen, was das Baby gerade in diesem Moment braucht, müssen sich die Eltern zudem in das Baby einfühlen können und die Situation aus der Perspektive des Kindes betrachten. Gelingt das nicht, kann das beispielsweise dazu führen, dass Eltern nicht erkennen, wie schlimm eine Situation für das Kind in dem Moment gerade ist, und das Kind beispielsweise necken, damit es wieder gute Laune hat, oder es nachmachen, auslachen oder einfach ignorieren.

Angemessen auf die Signale des Kindes reagieren

Angemessen bedeutet im Wesentlichen, dass die elterliche Reaktion immer die aktuelle Situation, den Entwicklungsstand des Kindes und die Persönlichkeit des Kindes berücksichtigen sollte. Zumindest im ersten Lebensjahr bedeutet dies, dem Baby möglichst immer das zu geben, was es seinen Äußerungen nach gerade möchte. Mary Ainsworth beschrieb dies folgendermaßen:

»Sie (gemeint ist die Mutter, soll heißen die Eltern, Anm. der Autorinnen) antwortet sozial auf seine (des Kindes) Versuche, eine soziale Interaktion zu beginnen, und spielerisch auf seine Versuche, ein Spiel zu beginnen. Sie nimmt es auf, wenn es so aussieht, ob es sich das wünscht, und setzt es ab, wenn es explorieren will. Wenn es verzweifelt ist, weiß sie, welche Art und welches Ausmaß an Trost es braucht, um sich wieder wohlzufühlen – und sie weiß, dass manchmal nur ein paar Worte oder Ablenkung alles sind, was es braucht. Wenn es hungrig ist, sorgt sie dafür, dass es bald etwas zu essen bekommt, und sie gibt ihm vielleicht eine Kleinigkeit zu essen, wenn sie ihm seine regelmäßige Mahlzeit noch nicht sofort geben will. Auf der anderen Seite versucht eine Mutter, die unangemessen antwortet, mit dem Baby in soziale Interaktion zu treten, wenn es hungrig ist, mit ihm zu spielen, wenn es müde ist, oder es zu füttern, wenn es versucht, mit ihr eine soziale Interaktion zu beginnen.«27

Ab dem zweiten Lebensjahr kommt es auch vermehrt zu Situationen, in denen Eltern den Wünschen des Kindes nicht mehr uneingeschränkt nachkommen können und auch nicht sollen. Dies kann eine Gratwanderung werden, zwischen einerseits der Notwendigkeit, manchmal auch Grenzen zu setzen und gegen den Willen des Kindes zu entscheiden, und andererseits der Gefahr, dem Kind den eigenen Willen aufzudrängen, gegen seine Bedürfnisse zu handeln und es zu Unterordnung und Gehorsam zu erziehen.

Je jünger das Baby, desto schneller sollten Eltern auf seine Signale ­reagieren.

Das Thema »Grenzen setzen« wird in den Kapiteln 3 und 4 noch weiter thematisiert – wichtig ist dabei vor allem, Grenzen im Sinne des Kindes zu setzen, sodass seine emotionalen Grundbedürfnisse dabei so wenig wie möglich verletzt werden.

Ein weiterer wichtiger Aspekt der Angemessenheit besteht darin, Situationen klar zu strukturieren, sodass die Interaktion für das Kind nachvollziehbar, abgerundet und vollständig ist – zum Beispiel das Kind nach einem Schreck so lange auf dem Arm zu behalten und zu trösten, bis es sich wieder erholt hat. Die Eltern können das daran erkennen, dass es von sich aus seine Aufmerksamkeit wieder auf andere Dinge lenkt und sich selbst beschäftigt. Erst dann ist ein »sicherer Interaktionszyklus« abgeschlossen. Weniger feinfühliges Verhalten zeigt sich beispielsweise darin, dass Eltern das Kind zu früh absetzen und zum Spiel ermutigen oder dass sie in schneller Abfolge eine Vielzahl von Strategien oder Lösungsmöglichkeiten ausprobieren, was beim Kind Unsicherheit und Verwirrung auslösen kann.

Prompt auf die Signale des Babys reagieren

Dies ist ein weiterer wichtiger Aspekt der elterlichen Feinfühligkeit, denn (gerade für sehr kleine) Babys ist es wichtig, einen Zusammenhang zwischen eigener Mitteilung und Reaktion der Eltern zu erkennen. Nur so lernt es, sich selbst als kompetent und selbstwirksam wahrzunehmen. Auch wenn das Baby sich noch nicht selbst trösten kann, wenn es Kummer hat oder sich nicht selbst etwas zu essen holen kann, wenn es Hunger hat, lernt es, dass es durch die Mitteilung dieses Zustands etwas an seiner Situation verändern kann, anstatt sich diesem unangenehmen Gefühl oder Zustand vollständig ausge­liefert zu fühlen.

Je jünger das Baby ist, desto wichtiger ist es, sofort auf seine Signale zu ­reagieren. Wenn dies nicht möglich ist, dann sollten Eltern zumindest sig­nalisieren, dass sie bereit sind, dem Wunsch nachzukommen – zum Beispiel indem sie beruhigend mit dem Kind sprechen, während sie das Fläschchen zubereiten. Die Promptheit der Reaktion zeigt sich nicht nur beim Füttern, sondern darüber hinaus auch in fast allen sozialen Situationen: zum Beispiel das Baby hochnehmen, wenn es seine Arme ausstreckt, das Lächeln des Babys erwidern, aber auch den Rückzug des Babys akzeptieren, wenn es seinen Blick abwendet.28

GUT ZU WISSEN

Feinfühliges Elternverhalten zeigt sich in der Bereitschaft …

das Kind in allen seinen Gefühlen, Wünschen und Bedürfnissen zu begleiten,wenn nötig die Leitung zu übernehmen, um dem Kind Schutz und Orientierung zu bieten,Brüche und Missverständnisse in der Beziehung möglichst frühzeitig zu erkennen, zu reflektieren und wieder gutzumachen.

Feinfühligkeit als Merkmal der Eltern-Kind-Beziehung

Es ist die wichtigste Aufgabe der Eltern-Kind-Beziehung, als Eltern die kindlichen Bedürfnisse zu erkennen, zu akzeptieren und emotional verfügbar zu sein. So gelingt es, das Kind in möglichst all seinen Gefühlen und Erfahrungen liebevoll und einfühlsam zu begleiten.

Das Kind mit all seinen Gefühlen, Wünschen und Bedürfnissen begleiten

Die Erfahrung, von den Eltern mit möglichst allen Gefühlen – den angenehmen und den unangenehmen, den erfreulichen und den bedrohlichen, den ­erwünschten und unerwünschten – gesehen und angenommen zu werden, bietet die wichtigste Grundlage, um später mit diesen Gefühlen allein gut umgehen zu können. Persönlichkeitsaspekte, Bedürfnisse oder Gefühle, die von den Eltern dauerhaft nicht gesehen, ignoriert, verzerrt oder abgewertet werden, können dagegen nur schwer in das eigene Selbstbild integriert werden. Dadurch können sie auch kaum bewusst gesteuert und reguliert werden, was eine häufige Ursache für Stress, Belastung und Beziehungsschwierigkeiten im späteren Leben darstellen kann.

Gleichzeitig ist es so, dass alle Eltern bestimmte Bedürfnisse, Gefühle und Wesenszüge ihrer Kinder leichter akzeptieren können als andere. Für Eltern ist es also eine wichtige Herausforderung, ihre eigenen blinden Flecken zu erkennen (siehe Kapitel 6). Wenn Eltern ihre Kinder aufmerksam beobachten, dann zeigen diese ihnen meist von selbst, wo die eigenen Schwachpunkte liegen. Kinder bringen ungesehene Gefühle und unbefriedigte Bedürfnisse in ihrem Verhalten zum Ausdruck. Gerade unerwünschtes, unangemessenes oder wenig kooperatives Verhalten von Kindern sind oft ein Hinweis darauf, dass wichtige Gefühle oder Bedürfnisse übersehen werden.

Die wichtigste Aufgabe für Eltern: die kindlichen Bedürfnisse zu ­erkennen, zu akzeptieren und l­iebevoll zu begleiten.

Die Leitung übernehmen und Grenzen setzen

Das Kind in allen seinen Gefühlen liebevoll zu begleiten, bedeutet natürlich nicht, dass man als Eltern sein ganzes Leben an den Gefühlen des Kindes ­ausrichten muss oder sich diesen völlig unterzuordnen hat. Gefühle haben ­einen wichtigen Platz im Leben, aber das Leben besteht auch nicht nur aus Gefühlen.

Verhaltensbiologisch betrachtet, besteht die Funktion von Gefühlen in erster Linie darin, uns in unseren Entscheidungen und Handlungen zu unterstützen und sicherer zu machen. Dies setzt voraus, dass wir dazu in der Lage sind, unsere Gefühle wahrzunehmen und ihre Bedeutung verstehen – ebenso müssen wir sie aber auch regulieren und Abstand gewinnen können, um nicht von der Intensität der Gefühle völlig überwältigt zu werden. Babys und kleine Kinder brauchen dafür noch die Unterstützung ihrer Eltern.

Bereits John Bowlby betonte, dass die Aufgabe der Bindungsperson nicht allein darin besteht, liebenswürdig zu sein. Um dem Kind Sicherheit zu geben, muss die Bindungsperson gleichzeitig immer auch größer, stärker, erfahrener als das Kind sein und wenn nötig, die Leitung übernehmen.29

Um einem häufigen Missverständnis vorzubeugen: Gefühle zu regulieren bedeutet nicht Gefühle übermäßig zu kontrollieren, sie zu unterdrücken oder zurückzuweisen. In einer sicheren Bindung lernen Kinder, dass Gefühle jeder Art etwas Normales, Annehmbares und Nützliches sind. Allein das Akzeptieren der Gefühle reicht häufig schon aus, um sie nicht unkontrollierbar erscheinen zu lassen oder intensiver oder länger anhaltend als es der Situation nützlich ist.

Feinfühlig mit den Bedürfnissen des Kindes umzugehen heißt nicht, jedem Wunsch sofort nachzugeben.

Gefühle nicht überbewerten

Genauso wichtig, wie die Kinder in all ihren Gefühlen wahrzunehmen und zu begleiten, ist es also auch, diesen Gefühlen keine unangemessen große Bedeutung zukommen zu lassen. Etwa wenn Eltern feinfühlig mit den Bedürfnissen der Kinder umgehen, dabei aber übersehen, dass sie den Kindern unbeabsichtigt beibringen, dass jede ihrer Gefühlsregungen absolute Priorität vor allem anderen hat und sofort darauf reagiert werden muss. Langfristig schadet dies der sich entwickelnden Fähigkeit, gut mit Gefühlen umzugehen, meist eher.

Denn gerade diese Fähigkeit, alle Gefühle wahrzunehmen, zu akzeptieren, aber das Verhalten nicht vollständig davon abhängig zu machen, ist eine wichtige Voraussetzung für die Entwicklung von selbstbestimmtem und reflektiertem Handeln, gesunder Impulskontrolle und der Fähigkeit zur Selbstregulation.30 Und deshalb ist es so wichtig, wenn es die Situation erfordert, auch Grenzen im Sinne des Kindes zu setzen. Dies dient dem Kind nicht nur als Schutz vor Gefahren, die es selbst noch nicht einschätzen kann (beispielsweise Steckdosen oder der Straßenverkehr), sondern gleichzeitig lernt es auch einen guten Umgang mit seinen Gefühlen. So kann übermäßiges Austesten von Grenzen bei Kindern beispielsweise ein Hinweis darauf sein, dass sie Halt und Orientierung brauchen und die Eltern die Leitung – wieder – übernehmen müssen (siehe auch Kapitel 3 und 4).

Selbstreflexion, wohlwollende Selbstkritik und Wiedergutmachen

Ein dritter wichtiger Aspekt der Eltern-Kind-Beziehung besteht darin, das ­eigene Verhalten und die eigenen Reaktionen auf das Verhalten des Kindes aufmerksam zu beobachten und zu reflektieren. Denn alle Eltern machen Fehler, das ist unvermeidbar. Wichtiger als Fehler um jeden Preis zu vermeiden – was unmöglich ist –, ist die Bereitschaft, den eigenen Anteil an schwierigen Situationen zu erkennen, sich die eigenen Fehler einzugestehen und die, sich zu bemühen, diese wieder gutzumachen.

Eine Beziehung, in der ein Partner immer versucht perfekt zu sein und den Anspruch an sich selbst hat, alles richtig zu machen, wird nie gut funktionieren. Wenn jemand nicht dazu in der Lage ist, eigene Fehler zuzugeben und daran zu arbeiten, Missverständnisse aus der Welt zu schaffen und verletzte Gefühle zu heilen, dann wird sich der Beziehungspartner zwangsläufig missverstanden und alleingelassen fühlen.

Genauso ist es auch zwischen Eltern und Kindern. Für Kinder ist es wichtig, ihre Eltern als Menschen zu sehen, die auch Fehler machen, die aber gleichzeitig bereit sind, sich mit ihrem Anteil daran zu beschäftigen, warum gerade etwas nicht gut läuft. Diese enorm wichtige Fähigkeit zur Selbstreflexion ­lernen Kinder nicht dadurch, dass man ihnen ihre Fehler und Unzulänglichkeiten vorhält – dies führt nur zu einer verstärkten Abwehrreaktion und zu Gefühlen von Schuld und Scham – sondern dadurch, dass man mit gutem Beispiel vorangeht und den Kindern dieses Verhalten vorlebt.

Eltern kommen unweigerlich immer wieder in Situationen, in denen sie die Kinder mit ihren Bedürfnissen missverstehen oder zurückweisen. Dies kann absichtlich geschehen, weil sie beispielsweise gerade einen wichtigen Anruf entgegennehmen müssen, das Geschwisterkind sich wehgetan hat oder sie unter der Dusche stehen – oder auch unbeabsichtigt aus Unaufmerksamkeit, weil sie gerade müde, gestresst oder zu sehr in ihre Arbeit vertieft sind. Solche »Brüche« passieren im Alltag unweigerlich immer wieder, und wenn es gelingt, die Verbindung zum Kind wieder herzustellen, ist das nicht nur in Ordnung, sondern für das Kind sogar eine sehr wichtige Lernerfahrung.

Konkret bedeutet dies: Sobald man merkt, dass man das Kind in seinem (legitimen) Bedürfnis nach Nähe zurückgewiesen hat, ist es wichtig, wieder auf das Kind zuzugehen. Eine Möglichkeit ist beispielsweise das Kind in den Arm zu nehmen und sich beim Kind zu entschuldigen: »Tut mir leid, ich bin heute leider ein bisschen unaufmerksam.« So lernt das Kind, dass Menschen – und auch Eltern – Fehler machen, dass dies aber nicht die Beziehung gefährdet. Im Laufe der Zeit wird das Kind diese innere Haltung übernehmen und lernen, sein eigenes Verhalten zu reflektieren, was eine wichtige Voraussetzung für spätere Beziehungen ist.

Feinfühligkeit bedeutet also nicht, keine Fehler machen zu dürfen. Im Gegenteil, es bedeutet zu erkennen und zu akzeptieren, dass es nicht darum geht, perfekt zu sein oder immer alles richtig zu machen. Viel wichtiger ist es zu erkennen, wenn die Beziehung aus dem Gleichgewicht gerät, und sich zu bemühen, den Weg zurück zum Kind zu finden.

Selbstreflexion und wohlwollende Selbstkritik ohne Schuldgefühle oder Schuldzuweisungen sind ein weiterer ­wichtiger Aspekt elterlicher Feinfühligkeit.

Kindliche Entwicklung – warum der Blick aufs Verhalten nicht ausreicht

Babys und kleine Kinder lernen nicht in erster Linie dadurch, dass man ihnen etwas direkt beibringt, sondern vor allem durch die Art und Weise, wie man mit ihnen feinfühlig in Beziehung tritt. So kann man einem Kind zum Beispiel noch so oft sagen, dass es zu Schwächeren »lieb« sein oder teilen soll – wenn es diese Grundeinstellung nicht im Alltag vorgelebt bekommt, bleibt sie abstrakt und wird nicht verinnerlicht. Die Art und Weise, wie Eltern mit ihren Kindern und deren Gefühlen, Wünschen und Bedürfnissen umgehen, trägt maßgeblich dazu bei, wie die Kinder sich selbst erleben und wie sie ­später im Leben mit sich selbst und anderen umgehen. Dies sollte man zumindest bedenken, bevor man sich für Erziehungsmethoden entscheidet, die in erster Linie auf Verhaltensänderungen der Kinder abzielen.

Lernen durch Belohnung und Strafe?

Natürlich ist es möglich, das Verhalten eines Kindes durch Belohnungssysteme, Auszeiten oder Bestrafungen bis zu einem gewissen Grad zu lenken. Es ist nicht schlimm, das Kind auch mal mit einer Handvoll Gummibärchen zu bestechen, wenn gerade gar nichts anderes hilft. Ebenso ist es vielleicht kurzfristig wirksam, das Teilen von einem neuen Spielzeug durch die Ankündigung einer Belohnung oder einer Strafe zu erzwingen – aber echte Veränderung und Entwicklung erreicht man mit solchen Methoden in der Regel nicht. Denn wenn man nur auf das Verhalten der Kinder reagiert, ohne dessen emotionale Bedeutung zu verstehen und zu berücksichtigen, bleibt der Wunsch oder das Bedürfnis, das die Kinder mit ihrem Verhalten zum Ausdruck bringen, ungesehen. Den Kindern bleibt dann nichts anderes übrig, als das Bedürfnis zu unterdrücken oder anders zu äußern, wodurch sich die Probleme meist nur verstärken oder auf andere Bereiche verlagern.

Erziehungsmethoden, die vor allem auf eine Verhaltensänderung abzielen, haben eine lange Tradition und greifen dabei vor allem auf behavioristische Annahmen zurück. Natürlich sind die lerntheoretischen Annahmen über Konditionierungsprozesse, also die Verstärkung und Löschung von Verhaltensmustern durch Belohnung und Bestrafung nicht gänzlich falsch – sie ­berücksichtigen jedoch die Rolle von angeborenen Grundbedürfnissen nicht ausreichend. Das Bedürfnis nach Bindung, Nähe und Schutz ist genauso wie das Bedürfnis nach Exploration und Lernen weder gelernt noch lässt es sich durch Lernerfahrungen wie Belohnung oder Bestrafung abtrainieren. Gelernt ist nur die Art und Weise, wie dieses Bedürfnis in einer Beziehung zum Ausdruck gebracht wird. So zeigen die Ergebnisse der Bindungsforschung beispielsweise, dass Babys, deren Bedürfnisse nach Nähe überwiegend befriedigt wurden, gegen Ende des ersten Lebensjahres deutlich seltener schreien als Babys, deren Bedürfnissen weniger Beachtung geschenkt wurden.31 Ein Kind zu trösten verstärkt also nicht das Schreien, sondern führt zu weniger Stress und mehr Zufriedenheit (siehe auch Kapitel 2).

Ein unterdrücktes Bedürfnis ist nicht ­verschwunden – es wird an anderer Stelle wieder auftauchen.

Den Blick auf die Bedürfnisse richten

Die Bindungstheorie geht davon aus, dass Menschen in ihrem Verhalten von Natur aus prosozial, das heißt auf die Kooperation mit anderen ausgerichtet sind. Das Bedürfnis nach Bindung und die elterliche Bereitschaft, diesem Bedürfnis nachzukommen sind angeboren und die Bindungsbeziehung bildet den Rahmen, den das Baby braucht, um zu überleben und um sich zu ent­wickeln.32 Die umfangreiche Forschung der letzten 60 Jahre zeigt dabei unmissverständlich, dass die Befriedigung der kindlichen Bedürfnisse nach Bindung und nicht deren Frustration die Entwicklung optimal fördern.33 Vor diesem Hintergrund ist es verwunderlich, dass bei der Erziehung immer noch vor allem auf das Verhalten und die Förderung von Selbstständigkeit geachtet wird. Möglicherweise liegt dies daran, dass es das Verhalten ist, was nach außen hin am deutlichsten sichtbar wird. Sich nur auf das Verhalten zu fokussieren ist aber vergleichbar damit, wenn nur die Symptome einer Krankheit behandelt werden, während die Ursache ignoriert wird.

Wenn ein Kind also unangemessenes oder unerwünschtes Verhalten zeigt, dann ist es hilfreich, zuerst darüber nachzudenken, was sich hinter diesem Verhalten verbergen könnte, anstatt direkt auf das Verhalten zu reagieren. Ein Kind weigert sich jeden Morgen wütend und unter Tränen eine Jacke anzu­ziehen und es entsteht jedes Mal eine sehr lange Diskussion über warme Kleidung. Ein anderes Kind gerät oft in Konflikte mit anderen Kindern im Kindergarten, wenn es irgendwo mitspielen möchte. Wieder ein anderes Kind weigert sich partout, sich in irgendeinem neuen Kontext auf andere Kinder einzulassen, je mehr man es dazu drängt, desto standhafter will es auf Mamas Schoß bleiben. Sehr viele Eltern lassen sich dazu verleiten, tatsächlich die meiste Energie in die Diskussionen um warme Jacken, prosoziales Verhalten oder die angemessene Offenheit gegenüber anderen Kindern zu stecken.

Anstatt darüber nachzudenken, wie sie bestimmte Verhaltensweisen des Kindes unterbinden können, sollten Eltern sich jedoch eher fragen: Welches Bedürfnis bringt das Kind mit diesem Verhalten zum Ausdruck? Kann es selbst spüren, wann es ihm zu kalt ist oder wann der richtige Zeitpunkt für es gekommen ist, vom Schoß runterzugehen? Was macht es dem Kind so schwer, sein Bedürfnis in anderer Weise zu kommunizieren? Kann es vielleicht seinen Wunsch nach Zugehörigkeit in einer Gruppe nur über Aggression ausdrücken? Was kann ich als Mutter oder Vater tun, um dieses Bedürfnis zu befriedigen? Wie kann ich meine eigenen Bedürfnisse und die meines Kindes in Einklang bringen? Was kann ich tun, um die Beziehung zu meinem Kind zu verbessern?

Fragen Sie sich in Konfliktmomenten: Welches Bedürfnis drückt mein Kind ­gerade aus? Was kann ich tun, um ­dieses Bedürfnis zu befriedigen?

Für alle oben beschriebenen Szenen gibt es keine Patentrezept-Lösung. Aber viele schwierige Situationen lösen sich von selbst, wenn man den eigenen Blickwinkel vom Verhalten weg auf ein dahinterstehendes Bedürfnis lenkt (zum Beispiel den Wunsch, in manchen Bereichen mehr selbst zu entscheiden, oder den Wunsch nach mehr Sicherheit, bevor man explorieren möchte). Bei all diesen Fragen ist es wichtig, im Hinterkopf zu behalten: Die Beziehung zu den Eltern ist für das Kind existenziell, das heißt ohne zunächst das Vertrauen in der Beziehung wieder herzustellen und damit verbunden die Möglichkeit, Bedürfnisse und Gefühle in klarer Form zu kommunizieren, ist es sehr schwer eine anhaltende, dauerhafte Verhaltensveränderung zu erzielen.

Wie eine sichere Bindung das Kind in ­seiner ­Entwicklung fördert

Wenn man die wissenschaftliche Literatur zum Thema Bindung betrachtet, so zeigt sich, dass eine sichere Bindung sich positiv auf beinahe alle Merkmale auswirkt, die in der Psychologie messbar sind.34 Bedeutet das nun aber, dass (nur) sicher gebundene Kinder immer glücklich, prosozial und beliebt, gut in der Schule und stets vergnügt und kerngesund sind? Das ist nicht der Fall, denn es handelt sich dabei lediglich um statistische Zusammenhänge über eine große Anzahl von Personen hinweg. Auch sicher gebundene Kinder sind nicht die immer glücklichen Sonnenscheinchen, denen alles sofort gelingt. Auch sie haben ihre Stärken und Schwächen, sie tun sich mit manchen Dingen leicht, während sie in anderen Bereichen zu kämpfen haben. Und auch sicher gebundene Kinder können in große Schwierigkeiten und Krisen ge­raten.

Dass eine sichere Bindung mit so vielen positiven Entwicklungsergebnissen zusammenhängt, lässt sich vielmehr dadurch erklären, dass sie die Grundlage schafft, um auf Anforderungen und Schwierigkeiten des Lebens flexibel und angemessen zu reagieren. So kann ein Kind mit sicheren Bindungserfahrungen beispielsweise besser um Hilfe bitten und diese auch ­annehmen, wenn es in eine missliche Lage geraten ist – angefangen von Streitereien im Kindergartenalter bis hin zu Sinnkrisen in der Pubertät. Die positive Auswirkung von Bindungssicherheit zeigt sich auf verschiedenen Ebenen: In der Gehirnentwicklung, in physiologischen Reaktionsmustern im Umgang mit Stress und Belastung, im Hinblick auf Muster der Emotions- und Selbstregulation, im Hinblick auf Denkprozesse und Reflexionsfähigkeit, in der Fähigkeit, befriedigende Beziehungen einzugehen, sowie in der Fähigkeit zu lernen.

Gehirnentwicklung und Reaktionsmuster im zentralen ­Nervensystem

Mithilfe von Methoden der Gehirnforschung lässt sich heute sehr deutlich nachweisen, wie eine sichere Bindung die Entwicklung des Gehirns und des zentralen Nervensystems beeinflusst – was zumindest teilweise auch den dauerhaften Charakter der frühen Erfahrungen erklärt.35 Zwar weiß man heute, dass das Gehirn lebenslang offen für Veränderungen bleibt, im Baby- und Kleinkindalter geht die Entwicklung aber natürlich besonders schnell. Viele Wissenschaftler sprechen in diesem Zusammenhang sogar davon, dass durch eine sichere Bindung eine Art Immunisierung gegen Stress entsteht, ähnlich einer Impfung.36 Mindestens vier Punkte scheinen hier besonders wichtig:

Wenn Kinder die Erfahrung machen, dass sie bei Stress oder Unwohlsein zuverlässig getröstet und beruhigt werden, dann zeigt sich das auch auf der Ebene des zentralen Nervensystems durch eine Ausgewogenheit zwischen aktivierenden und hemmenden Systemen. Dieses Gleichgewicht ist die physiologische Grundlage einer guten Regulationsfähigkeit.