Handbuch Kinderkrippe - Fabienne Becker-Stoll - E-Book

Handbuch Kinderkrippe E-Book

Fabienne Becker-Stoll

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Beschreibung

Damit sich Kinder in den ersten Lebensjahren optimal entwickeln, brauchen sie eine hohe Betreuungsqualität. Erzieherinnen, Tagesmütter, aber auch Studierende, Dozenten und Träger finden hier fundierte Informationen und praxisnahe Unterstützung. Die Autorinnen fassen das aktuelle pädagogische und entwicklungspsychologische Fachwissen zusammen und benennen die notwendigen Voraussetzungen, ohne die es keine gute Qualität in der Betreuung gibt.

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Fabienne Becker-Stoll/ Renate Niesel/Monika Wertfein

Handbuch Kinderkrippe

So gelingt Qualität in der Tagesbetreuung

Impressum

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2014

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Umschlagkonzeption: R·M·E Roland Eschlbeck/Rosemarie Kreuzer

Umschlaggestaltung: Verlag Herder

Umschlagabbildung: Klara Killeit

Fotos im Innenteil: Hartmut W. Schmidt, Freiburg

E-Book-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

ISBN (Buch) 978-3-451-32833-6

ISBN (E-Book) 978-3-451-80193-8

Inhalt

Vorwort

1 Die Bedeutung pädagogischer Qualität in Kinderkrippen

1.1 Pädagogische Qualität geht vom Kind und seinen Bedürfnissen aus

1.2 Pädagogische Qualität wirkt sich auf Kinder aus

1.3 Aspekte der pädagogischen Qualität

1.4 Pädagogische Qualität kann man messen

1.4.1 Messmethoden in der Frühpädagogik

1.4.2 Einschätzen pädagogischer Qualität und ihrer Bedingungen

1.4.3 Qualität muss fortlaufend überprüft werden

2 Theoretische Grundlagen zu Entwicklung und Bindung

2.1 Entwicklung als Aufgabe

2.2 Körperliche und seelische Grundbedürfnisse

2.3 Bindungsentwicklung in den ersten Lebensjahren

2.3.1 Entwicklung von Bindungsbeziehungen

2.3.2 Bindung und Exploration gehören zusammen

2.3.3 Elterliche Feinfühligkeit als Voraussetzung für Bindungssicherheit

2.3.4 Feinfühligkeit fördert Bindung und Exploration

2.4 Emotionsregulation und Stressbewältigung

2.4.1 Emotionale Erfahrungen und Gehirntätigkeit

2.4.2 Die Entwicklung der Emotionsregulation

2.4.3 Eine besondere Situation: das Einschlafen

2.5 Sichere Bindung und Kompetenzentwicklung

2.6 Frühkindliche Entwicklung und außerfamiliäre Betreuung

2.6.1 Auswirkungen auf die Gesundheit

2.6.2 Auswirkungen auf die Eltern-Kind-Bindung

2.6.3 Trennungsangst und Trennungsstress

2.6.4 Auswirkungen auf die kognitiv-sprachliche und soziale Entwicklung

3 Beziehungs- und Interaktionsqualität in Kinderkrippe und Tagespflege

3.1 Eingewöhnung: von der Eltern-Kind-Bindung zur Erzieherin-Kind-Beziehung

3.1.1 Der Übergang von der Familie in die Kita oder Tagespflege

3.1.2 So gelingt die Eingewöhnung

3.2 Merkmale der Erzieherin-Kind-Beziehung

3.3 Kriterien guter Erzieherin-Kind-Interaktionen

3.4 Kriterien für die gelingende Erzieherin-Kind-Beziehung

3.4.1 In Zweiersituationen das Miteinander stärken

3.4.2 Interaktionen und Beziehungen in Kindertageseinrichtungen organisieren

3.4.3 Erstes Lebensjahr: Beziehungsaufbau durch liebevolle Pflege

3.4.4 Zweites Lebensjahr: Umgang mit Fremdeln, aggressivem Verhalten und negativen Gefühlen

3.4.5 Drittes Lebensjahr: zielkorrigierte Partnerschaft, Explorationsunterstützung und Abschied

3.5 Keine Fürsorge ohne Selbstfürsorge

4 Miteinander spielen, streiten, Freundschaft schließen: Peerinteraktionen der ersten Lebensjahre

4.1 Erweiterung des Beziehungsnetzes

4.1.1 Die sichere Basis: Ausgangspunkt für neue Beziehungen

4.1.2 Einen Platz unter Gleichaltrigen finden

4.2 Die Welt der Peers in den ersten Lebensjahren

4.2.1 Krippenkinder bringen bereits soziale Kompetenzen mit

4.2.2 Entwicklungsschritte auf dem Weg zur Feinabstimmung im Miteinander

4.2.3 Kleinkinder in Dyaden und Gruppen

4.3 Spielbeziehungen und Freundschaften

4.3.1 Freundschaften anbahnen und vertiefen

4.3.2 Du und Ich: Entwicklung des Selbstbildes

4.3.3 Kriterien für Freundschaftsbeziehungen

4.4 Konflikte und Konfliktmanagement

4.4.1 Konflikte zwischen Kleinkindern besser verstehen

4.4.2 Konfliktursachen erkennen und vorausschauend handeln

4.4.3 Zum Umgang mit Beißen

4.5 Die Bedeutung des Wirgefühls

5 Bildung: Recht jeden Kindes von Geburt an

5.1 Bildung, Erziehung und Betreuung in den ersten Lebensjahren

5.2 Aspekte der Entwicklungspsychologie: Entwicklung und Lernen sind eins

5.2.1 Aufmerksamkeit, Nachahmung, Eigeninitiative und wachsende Selbstständigkeit

5.2.2 Sprache – zentrales Werkzeug für Kommunikation und Bildung

5.2.3 Kernwissen als Basis für ein großes Lernpotenzial

5.3 Vom Kernwissen durch Exploration und Spiel zum Weltwissen

5.3.1 Von der Exploration zum Spiel

5.3.2 Beobachtung und Imitation: eine wichtige Lernstrategie

5.3.3 Beiläufiges und absichtsvolles Lernen

5.3.4 Engagiertheit – entscheidend für den langfristigen Lernerfolg

5.3.5 Spielen ist mehr als Lernen

5.4 Bildungsbegleitung im Dialog mit dem Kind

5.4.1 Kommunikation (fast) ohne Worte

5.4.2 Ko-Konstruktion: ein pädagogisches Prinzip

5.4.3 Perspektive des Kindes und Kindzentrierung

5.4.4 Anregungen für einen gelingenden Bildungsdialog

5.4.5 Mädchen und Jungen in Bildungsprozessen

5.5 Kinder stärken durch das Zusammenwirken von Kita und Eltern

5.5.1 Die Erzieherin als Vorbild

5.5.2 Herausforderungen und Potenziale in der Zusammenarbeit mit Eltern

6 Von der Beobachtung zur Entwicklungsbegleitung

6.1 Beobachten, um Kinder besser zu verstehen

6.2 Bildungsprozesse beobachten und wertschätzen

6.3 Beobachten, um Eltern teilhaben zu lassen

6.4 Beobachten, um die Entwicklung optimal zu unterstützen

6.5 Aufgaben und Herausforderungen für Fachkräfte

6.6 Voraussetzungen für professionelle Beobachtung und Dokumentation

7 Ein- und Zweijährige in Gruppen mit erweiterter Altersmischung

7.1 Aufgaben der Träger

7.2 Leitfaden für den Weg zu einer erweiterten Altersmischung

7.3 Wie jüngere, aber auch ältere Kinder von der Altersmischung profitieren

8 Pädagogische Qualität prüfen, sichern und weiterentwickeln

8.1 Aktuelle pädagogische Qualität in Kinderkrippen

8.1.1 Ergebnisse der Krippenstudie »Kleine Kinder – großer Anspruch 2010«

8.1.2 Qualitätsmängel erkennen, pädagogische Praxis hinterfragen

8.1.3 Die Bedeutung von Alltagssituationen erkennen

8.2 Ergebnisse der deutschlandweiten NUBBEK-Studie

8.3 Maßnahmen zur Sicherung der Bindungsbedürfnisse der Kinder

8.4 Maßnahmen zur Sicherung der Team- und Arbeitsplatzqualität

8.5 Aus-, Fort- und Weiterbildung: von der Kompetenz zur Qualität

8.6 Nachhaltige Qualitätssicherung in Kindertageseinrichtungen

Literatur

Vorwort

Das Handbuch Kinderkrippen – So gelingt Qualität in der Tagesbetreuung haben wir unter dem Eindruck des massiven Ausbaus an Betreuungsplätzen für Kinder in den ersten drei Lebensjahren in Deutschland und des Rechtsanspruches auf einen Betreuungsplatz ab August 2013 geschrieben. Länder und Kommunen haben in den vergangenen Jahren erhebliche Anstrengungen unternommen, um ein bedarfsgerechtes Angebot an Plätzen einzurichten. Nach Angaben der Bundesländer sollen im Kita-Jahr 2013/2014 voraussichtlich insgesamt rund 810000 Kita-Plätze zur Verfügung stehen. Die letzten Elternbefragungen durch das Deutsche Jugendinstitut ergaben einen Bedarf von bundesweit rund 780000 Plätzen.

Gleichzeitig haben aber Lehrinhalte zur Entwicklung von Säuglingen und Kleinkindern in der Ausbildung der Fachkräfte nach wie vor nicht das Gewicht und die Bedeutung, die ihnen zukommen müsste. Auch in der Fort- und Weiterbildung sind fundierte Angebote zur Entwicklung von Kleinkindern und zu ihren Grundbedürfnissen und den davon abzuleitenden pädagogischen Handlungsanforderungen nicht in dem Maße erweitert worden, wie es nötig wäre. Längst nicht alle Fachkräfte, die bisher mit dem Altersspektrum von drei bis sechs Jahren gearbeitet haben und nun auch jüngere Kinder in ihren Einrichtungen betreuen sollen, konnten für diese pädagogische Herausforderung in ausreichender Weise fortgebildet werden. Eine standardisierte Ausbildung und laufende Fortbildungen für Tagespflegeeltern, die als Voraussetzung zur Berufsausübung bundesweit gelten, gibt es ebenfalls nicht. Damit kann nicht in jeder Kindertageseinrichtung sichergestellt werden, dass Kleinkinder in öffentlich geförderten Kindertageseinrichtungen und Tagespflegestellen von gut ausgebildeten, auf Säuglinge und Kleinkinder spezialisierten Fachkräften betreut, erzogen und gebildet werden.

Mit diesem Buch möchten wir dazu beitragen, dass nicht nur Schaden von jungen Kindern durch eine unzureichende Qualität in Kindertageseinrichtungen abgewendet wird, sondern dass Kindertageseinrichtungen – seien es Kinderkrippen oder altersgemischte Einrichtungen – für Kinder in den ersten drei Lebensjahren zu einer familienergänzenden Entwicklungsumgebung werden, von der Kinder in ihrer Entwicklung und auch die Eltern profitieren können.

Wir haben daher den Fokus des Handbuchs auf die Entwicklungsbedürfnisse von Kindern in den ersten drei Lebensjahren und die sich daraus ableitenden notwenigen Qualitätsanforderungen in der außerfamiliären Betreuung von Kleinkindern gelegt. Dabei werden Kinder in den ersten drei Lebensjahren nicht als unter Dreijährige zusammengefasst, sondern es wird zwischen den Bedürfnissen von Säuglingen (im ersten Lebensjahr), Einjährigen (ab zwölf Monaten) und Zweijährigen (ab 24 Monaten) unterschieden.

Auch wenn die einzelnen Kapitel inhaltlich aufeinander aufbauen, so kann jedes einzelne auch für sich alleine gelesen werden. Wir haben uns bemüht, alle Erkenntnisse und Empfehlungen mit möglichst aktuellen wissenschaftlichen Untersuchungen zu untermauern, um somit auch einen aktuellen Überblick über den Stand der Forschung zu bieten. Am Ende jedes Kapitels stehen kommentierte Literaturempfehlungen zur Vertiefung und zum Weiterlesen.

Das erste Kapitel »Die Bedeutung von pädagogischer Qualität in Krippen« erklärt, was unter pädagogischer Qualität zu verstehen ist, und dass sich diese nur vom Kind und seinen Bedürfnissen her ableiten lässt. Dabei werden auch unterschiedliche Aspekte von pädagogischer Qualität und ihr Zusammenwirken dargestellt. Außerdem wird erläutert, wie pädagogische Qualität erfasst und beobachtet werden kann.

Im zweiten Kapitel geht es um die entwicklungspsychologischen Grundlagen in den ersten drei Lebensjahren, die Entwicklungsaufgaben und Grundbedürfnisse des Kindes, die Bindungs- und Explorationsentwicklung sowie die Emotionsregulation und ihre Auswirkung auf die Gehirnentwicklung von Kleinkindern. Dabei wird die große Bedeutung der Eltern und anderer Betreuungspersonen für die gesunde Entwicklung in dieser Altersspanne verdeutlicht.

Kapitel drei stellt dann den Übergang in die frühpädagogische Praxis dar. Dabei wird auf die Beziehungs- und Interaktionsqualität in der Krippe und Tagespflege sowie die Bedeutung einer gelungenen Eingewöhnung für das Kind eingegangen, aber auch die Qualität der Erzieherin-Kind-Beziehung und ihre Auswirkungen auf die Entwicklung von Kindern im ersten, zweiten und dritten Lebensjahr beleuchtet.

Im vierten Kapitel stehen die Peerbeziehungen im Mittelpunkt: miteinander spielen, streiten, Freundschaft schließen – Peerinteraktionen in den ersten Lebensjahren. Der aktuelle Forschungsstand zur Bedeutung von frühkindlichen Beziehungen wird dargestellt und Möglichkeiten aufgezeigt, wie die Beziehungen der Kinder im Gruppengeschehen und im pädagogischen Alltag moderiert und unterstützt werden können.

Kapitel fünf beschäftigt sich mit dem Grundrecht auf Bildung und dem Bildungsauftrag von Kindertageseinrichtungen. Zunächst wird erläutert, was Bildung, Erziehung und Betreuung jeweils bedeuten und wie Kinder in den ersten Lebensjahren lernen, angetrieben von der Lust an der Exploration und am Spielen. Anschließend wird aufgezeigt, wie Bildungsbegleitung durch die Erzieherin im Dialog mit dem Kind aussehen kann.

Das sechste Kapitel zum Thema Beobachtung schließt direkt an das fünfte Kapitel an und zeigt, wie wichtig es ist, Bildungsprozesse von Kindern richtig zu beobachten, um einerseits Kinder besser zu verstehen und unterstützen zu können, andererseits aber auch die Eltern an der Entwicklung des Kindes teilhaben zu lassen. Schließlich werden die Voraussetzungen für professionelle Beobachtung und Dokumentation dargestellt.

Das siebte Kapitel wendet sich einer besonderen Herausforderung der Kleinkindbetreuung zu: Kindern unter drei in Gruppen mit erweiterter Altersmischung. Hier wird aufgezeigt, welche Veränderungen notwendig sind, damit klassische Kindergärten den Bedürfnissen von Kleinkindern gerecht werden können, sodass alle Beteiligten davon profitieren und weder die Jüngsten noch die älteren Kinder das Nachsehen haben.

Im letzten und achten Kapitel wird die aktuelle Qualität in Krippen und anderen außerfamiliären Betreuungsformen anhand von zwei wissenschaftlichen Studien dargestellt. Die Ergebnisse dieser Studien machen deutlich, dass pädagogische Alltagsroutinen oft nicht an den kindlichen Grundbedürfnissen ausgerichtet werden. Vor diesem Hintergrund wird gezeigt, wie alltägliche pädagogische Abläufe an den Entwicklungsbedürfnissen der Kinder ausgerichtet werden können und welche Ressourcen dafür notwendig sind. Schließlich werden auch die verantwortlichen Akteure auf Ebene der Träger, Kommunen und Länder benannt. Dabei wird deutlich, dass ausreichende Qualität ohne die notwendigen Ressourcen und ohne systematische Evaluation und wissenschaftliche Begleitung nicht möglich sind.

Wir möchten all diejenigen unterstützen, die sich mit der Bildung, Erziehung und Betreuung von Kindern in den ersten drei Lebensjahren befassen. Damit sind in erster Linie die pädagogischen Fachkräfte gemeint. Angesprochen sind aber auch diejenigen, die auf der organisatorischen und administrativen Ebene Kindertagesbetreuung für unter Dreijährige anbieten, organisieren und ausbauen. Das Buch eignet sich darüber hinaus für die Aus-, Fort- und Weiterbildung im Bereich der Frühpädagogik sowie für die Studiengänge zur frühkindlichen Bildung.

An vielen Stellen in diesem Buch wird deutlich werden, dass die Grundprinzipien guter pädagogischer Arbeit keine Einteilung in »unter drei« und »über drei« kennt. Auch aus entwicklungspsychologischer Sicht gibt es keine scharfe Abgrenzung, da die Heterogenität des Entwicklungsstandes bei gleich alten, z.B. dreijährigen Kindern, groß ist. Daher hoffen wir, dass unser Plädoyer für gut abgestimmtes pädagogisches Verhalten auf frühkindliche Bedürfnisse (wie z.B. eine kindorientierte Eingewöhnung) auch für die Kinder »über drei« ein Gewinn sein wird.

Wir möchten mit diesem Buch alle Berufsgruppen ansprechen, die für das Wohlergehen von Kindern in den ersten drei Lebensjahren verantwortlich sind. Damit schließen wir Vertreter und Vertreterinnen der Träger und auch die Personen, die auf der politischen Ebene wirken, ausdrücklich ein. In erster Linie richten sich die Beiträge jedoch an die Menschen, die tagtäglich mit den jungen Kindern arbeiten. Die Berufsbezeichnungen im Bereich der Tagesbetreuung sind vielfältig, setzen unterschiedliche Ausbildungen und Qualifikationen voraus und unterscheiden sich auch von Bundesland zu Bundesland. In unseren Texten sprechen wir meistens von Fachkräften, pädagogischen Fachkräften oder Erzieherinnen und hoffen, dass sich die Mitglieder der verschiedenen Berufsgruppen, seien sie weiblich oder männlich, gleichermaßen angesprochen fühlen.

Neben aller Wissenschaftlichkeit und dem dringend notwendigen Fachwissen möchten wir Fachkräfte auch dazu ermuntern, den besonderen Charme und die Lebensfreude der Jüngsten immer wieder bewusst wahrzunehmen und sich in der Interaktion mit den Kindern daran zu freuen.

Wir wünschen Ihnen viel Freude beim Lesen und hoffen, Sie in Ihrer täglichen Praxis und in der Arbeit mit Kleinkindern und ihren Familien umfassend zu unterstützen.

Fabienne Becker-Stoll

Renate Niesel

Monika Wertfein

Seit über zwanzig Jahren wird in Deutschland die Frage nach der frühpädagogischen Qualität und dem Verständnis von Qualitätskonzepten in der Frühpädagogik kontrovers diskutiert. Ging es dabei zunächst meist um das Bildungsverständnis und um die Vorzüge pädagogischer Konzepte oder Richtungen, steht heute bei der Betreuung von Kindern in den ersten drei Jahren die Sicherung des kindlichen Wohlbefindens im Mittelpunkt.

Der massive quantitative Ausbau der Kindertagesbetreuung für Kinder in den ersten drei Lebensjahren hat die Frage nach der Qualität verdrängt, auch weil es den Rechtsanspruch auf einen Krippenplatz ab dem 1.8.2013 zu erfüllen galt. Allerdings ist sich die Fachwissenschaft einig, dass gerade bei der Betreuung von Kleinkindern die Qualität der Betreuung darüber entscheidet, ob die außerfamiliäre Betreuung dem Kindeswohl auch langfristig zuträglich ist oder nicht. Der Erfolg des Ausbauprogramms muss daher zuerst daran gemessen werden, ob und wieweit Krippen und Kindertagespflegestellen als familienergänzende Orte für Kinder »das körperliche, emotionale, soziale und intellektuelle Wohlbefinden und die Entwicklung der Kinder in diesen Bereichen fördern und die Familie in ihrer Betreuungs- und Erziehungsaufgabe unterstützen« (Tietze 1998, S. 20; Deutsche Liga für das Kind 2008). Neben verstärkten Forschungsaktivitäten, die die aktuelle Qualität in Angeboten für Kinder unter drei Jahren in Deutschland empirisch erfassen (vgl. Kap. 8), haben sich angesichts des rasanten Ausbaus in den vergangenen Jahren verschiedene Akteure warnend zu Wort gemeldet.

Entwicklungsrisiken bei mangelnder Qualität

Die Deutsche Liga für das Kind (2008, S. 2) hat mit einem Positionspapier die Notwendigkeit von Qualitätsentwicklung in Kinderkrippen und Kindertagespflege zum Wohl des Kindes verdeutlicht: »Krippen und Kindertagespflegestellen, die anerkannten Mindestanforderungen an Qualität nicht genügen, können für die dort betreuten Kinder ein erhebliches Entwicklungsrisiko darstellen. Die Anpassungsfähigkeit des Kindes kann überfordert, das Sicherheitsgefühl erschüttert und die seelische Gesundheit beeinträchtigt werden. Risiken ergeben sich insbesondere in den Fällen, in denen eine Einrichtung oder Tagespflegestelle konzeptionell, strukturell oder personell nicht ausreichend für die Altersgruppe der unter Dreijährigen ausgestattet ist. Frei gewordene Plätze in einer Kindertageseinrichtung ohne Weiteres mit Kindern unter drei Jahren aufzufüllen, ohne über die notwendigen Voraussetzungen zu verfügen, wird den Bedürfnissen der Kinder nicht gerecht und ist insofern fahrlässig.«

Nachfolgend soll geklärt werden,

▶ warum pädagogische Qualität so wichtig ist

▶ was unter pädagogischer Qualität zu verstehen ist

▶ dass pädagogische Qualität sich nur vom Kind und seinen Bedürfnissen ableiten lässt und

▶ wie pädagogische Qualität in Einrichtungen für Kinder unter drei Jahren erfasst werden kann.

1.1 Pädagogische Qualität geht vom Kind und seinen Bedürfnissen aus

Könnte man Kinder in den ersten drei Lebensjahren fragen, welchen Anspruch sie an die Qualität in Kindertageseinrichtungen haben, würden sie antworten: Eine Kita ist dann gut für uns, wenn wir uns wohl, wertgeschätzt und unterstützt fühlen.

Das Verständnis von Qualität in Kindertageseinrichtungen muss sich vom Kind und seinen entwicklungsspezifischen Bedürfnissen her ableiten (z.B. Bensel/Haug-Schnabel 2008). Damit sind sowohl die physischen Grundbedürfnisse nach Schutz vor Kälte und Hitze, nach Nahrung, nach Sauberkeit und körperlicher Unversehrtheit als auch die psychischen Grundbedürfnisse nach Bindung, Kompetenz- und Autonomieerleben gemeint (Becker-Stoll/Wertfein 2013, vgl. Kap. 2). Wenn man diesen Grundsatz ernst nimmt, wird deutlich, dass das Verständnis von frühpädagogischer Qualität nicht von einem spezifischen pädagogischen Ansatz abhängig gemacht werden kann (z.B. ob nach Montessori, Steiner oder eher nach der Reggiopädagogik gearbeitet wird), sondern sich vielmehr grundsätzlich darin zeigt, inwiefern die Bedürfnisse der Kinder befriedigt werden und ihre Entwicklung altersangemessen unterstützt wird (Becker-Stoll/Wertfein 2013). Gleichzeitig müssen die verschiedenen Aspekte der Bildung, Erziehung und Betreuung von Kindern in der Kindertageseinrichtung sowie ihre Gelingensbedingungen betrachtet werden.

Altersangemessene Bildung, Betreuung und Erziehung

Die bestehenden und genutzten strukturellen Bedingungen stellen den Rahmen dar, in dem die täglichen interaktiven Prozesse der pädagogischen Fachkräfte mit den Kindern stattfinden und die eigentliche pädagogische Qualität prägen. In Anlehnung an die Definition von Cryer (1999) ist pädagogische Qualität dann gegeben, »wenn die jeweiligen pädagogischen Orientierungen, Strukturen und Prozesse das körperliche, emotionale, soziale und intellektuelle Wohlbefinden und die Entwicklung und Bildung der Kinder in diesen Bereichen aktuell wie auch auf Zukunft gerichtet fördern«. Dabei kommt es darauf an, »das stellvertretend wahrgenommene Interesse des Kindes an guter Bildung, Betreuung und Erziehung in den Mittelpunkt« zu stellen und damit die Qualität grundsätzlich aus Kindperspektive zu betrachten und zu bewerten (Tietze et al. 2007, S. 6).

Die Arbeit mit der jüngsten Altersgruppe ist sehr herausfordernd und stellt hohe Ansprüche an die Belastbarkeit des Personals. Nicht immer werden die Arbeitsbedingungen als ausreichend und unterstützend erlebt. Vor allem eine hohe Fluktuation im Team, knappe Personalressourcen (ohne Personalreserven bei kurzfristigem Personalausfall, z.B. bei Krankheit, oder bei erhöhtem Personalbedarf, z.B. während der Eingewöhnung) und Zeitmangel im Tagesablauf tragen dazu bei, dass Fachkräfte immer wieder an ihre Belastungsgrenzen stoßen. Für die pädagogischen Teams bedeutet eine gute Qualität in Kindertageseinrichtungen die Gewährleistung von Arbeitsbedingungen, unter denen sich Anforderungen und Ressourcen die Waage halten.

Fürsorge und Selbstfürsorge der Fachkräfte

Fragt man die Fachkräfte nach ihrer subjektiven Einschätzung, wird schnell deutlich, dass – neben den strukturellen Rahmenbedingungen – ein gutes Team die wichtigste Ressource für die pädagogische Arbeit und die Bewältigung des Kita-Alltags darstellt (Wertfein/Spies-Kofler 2008; Wertfein/Müller/Kofler 2012). Darüber hinaus konnte gezeigt werden, dass die Teamqualität einen entscheidenden Einfluss auf die Interaktionsqualität hat: Je besser und unterstützender die Kooperation im Team ist, desto positiver und entspannter sind die Interaktionen zwischen Fachkräften und Kindern im Kita-Alltag (Wertfein/Müller/Danay 2013). Dies zeigt, dass die Selbstfürsorge der Fachkräfte und die gegenseitige Unterstützung im pädagogischen Team wichtige Ressourcen und gute Voraussetzungen für die emotionale Verfügbarkeit und angemessene Fürsorglichkeit der Fachkräfte für die Kinder sind.

1.2 Pädagogische Qualität wirkt sich auf Kinder aus

Zusammenwirken von Familie und Kita

Mittlerweile gibt es eine wachsende Anzahl von Studien, die Zusammenhänge zwischen der Qualität außerfamiliärer Betreuung und dem Entwicklungsstand von Kindern in Sprache, Kognition und sozial-emotionalen Kompetenzen bestätigen (z.B. Burchinal et al. 2008; Mashburn et al. 2008). Insbesondere die Daten der NICHD-Studie belegen empirisch sowohl den Einfluss von Familienfaktoren als auch den der außerfamiliären Betreuung auf die kindliche Entwicklung (NICHD 1998, 1999, 2000, 2002, 2003, 2006). So fanden sich beispielsweise längsschnittliche Zusammenhänge zwischen einer niedrigen Qualität der außerfamiliären Betreuung und späterem externalisierendem Problemverhalten der Kinder: Negative Effekte des Besuchs einer Kindertageseinrichtung mit niedriger Qualität zeigten sich vor allem dann, wenn die Kinder sehr viel Zeit in der Einrichtung verbrachten und die Gruppen sehr groß waren (Belsky 2009; McCartney et al. 2010). Zwar fielen die Effektstärken der Einrichtungsqualität insbesondere im Vergleich zum Einfluss der Familie eher gering aus, dennoch dürfen diese Einflüsse in ihrer Bedeutung nicht unterschätzt werden. Bei Kindern, die in ihren Familien keine ideale Betreuung erfahren, kann eine außerfamiliäre Betreuung mit ausgezeichneter Qualität kompensatorisch wirken und Defiziten in der sozialen Entwicklung sowie Problemverhalten vorbeugen. Erfahren diese Kinder dagegen auch in der außerfamiliären Betreuung eine niedrige Qualität, so wirkt sich dies zusätzlich negativ auf ihre Entwicklung aus (Watamura et al. 2011).

Internationale Studien zur pädagogischen Qualität in Tageseinrichtungen und im Schulunterricht belegen auch für ältere Kinder, dass die konkreten Interaktionen zwischen Pädagogen und Kindern, d.h. die Prozessqualität im engeren Sinne (vgl. Kap. 1.3), entscheidend für das Gelingen von Bildungsprozessen sind (Pianta/Hamre 2009). Eine höhere Qualität der Fachkraft-Kind-Interaktion konnte mit besseren Lern- und Entwicklungsfortschritten in sowohl akademischen Kompetenzbereichen, wie z.B. der Sprachentwicklung, als auch der sozio-emotionalen Entwicklung in Verbindung gebracht werden (Anders et al. 2012; Mashburn et al. 2008; Siraj-Blatchford et al. 2002; Beckh et al. 2013).

Interaktionen individuell gestalten

Grundlegend wichtig für das Gelingen von Prozessqualität scheint also die Kompetenz der Fachkraft zu sein, Interaktionen individuell abgestimmt auf das einzelne Kind zu gestalten, ohne dabei das Gruppengeschehen aus dem Auge zu verlieren (Ahnert, 2006, 2007; Ahnert et al. 2006; vgl. auch Kap. 3 in diesem Buch). Somit sind folgende Faktoren Voraussetzungen für gelingende Bildungsprozesse: eine hohe individuelle Beziehungsqualität (Birch/Ladd 1998; Howes 2000) und professionelle Responsivität (u.a. Rubenstein/Howes 1983; Whitebook et al. 1990; Gutknecht 2012) sowie eine gute Organisation der Lernsituation (Hamre/Pianta 2007; Siraj-Blatchford et al. 2002).

1.3 Aspekte der pädagogischen Qualität

Pädagogische Qualität ist ein komplexes Gefüge unterschiedlicher Aspekte und Einflüsse. Grundsätzlich kann unterschieden werden in die Bereiche Orientierungsqualität, Strukturqualität und Prozessqualität, die in Wechselwirkung miteinander stehen und kaum unabhängig voneinander betrachtet werden können (vgl. Abb. 1.1): Bildung, Betreuung und Erziehung von Kindern werden dabei als interaktive Prozesse betrachtet. Diese Dynamik des pädagogischen Alltags mit dem pädagogischen Handeln der Erzieherinnen und den Erfahrungen, die Kinder machen können, kann insgesamt und im Hinblick auf die unterschiedlichen Aspekte pädagogischer Qualität jeweils sehr unterschiedlich ausfallen.

Die Orientierungsqualität spiegelt das Bild vom Kind, das die pädagogische Fachkraft vertritt und das in ihrer Auffassung über Bildung und Entwicklung sowie in konkreten Bildungs- und Erziehungszielen sowie Erziehungsmaßnahmen zum Ausdruck kommt (Tietze/Viernickel 2007).

Unter Strukturqualität werden all jene Faktoren subsumiert, die als gegeben betrachtet werden müssen und sich mehrheitlich nur auf politischer Ebene verändern lassen. Hierzu zählen die Gruppengröße, der Erzieher-Kind-Schlüssel, die räumlichen Bedingungen (qm pro Kind), die Qualifikation der pädagogischen Fachkräfte durch Aus- und Weiterbildung, die Vorbereitungszeit, die Kontinuität der pädagogischen Fachkräfte sowie das Einkommen des Personals (Viernickel/Schwarz 2009; Tietze/Viernickel 2007).

Prozessqualität im weiteren Sinne erfasst die gesamte Art und Weise, wie pädagogische Fachkräfte den Bildungs-, Erziehungs- und Betreuungsauftrag umsetzen. Prozessqualität im engeren Sinne legt den Fokus auf die Interaktionen zwischen Fachkräften und Kindern. »In den Interaktionsprozessen zeigt sich sowohl die Dynamik des pädagogischen Geschehens als auch der Umgang mit dem Kind« (Müller 2011, S. 65).

Teamqualität als wichtige Ressource

Die Management- und Organisationsqualität, und hierbei besonders die Teamqualität, stehen zwischen dem Input (Struktur- und Orientierungsqualität) und dem Output (Prozessqualität im engeren Sinne). Untersuchungen zeigen, dass »die Qualität des Managements und der Organisation einer Kindertageseinrichtung einen eigenständigen Einfluss auf das Prozessgeschehen hat und zusätzlich die Wirkung der strukturellen Bedingungen moderiert« (Viernickel 2008, S. 47). Nicht nur aus Sicht der Fachkräfte selbst erweisen sich eine gute Zusammenarbeit im Team, klare Teamabsprachen und ein gutes Teamklima als wichtige Ressourcen und Gelingensbedingungen für gute pädagogische Praxis (Wertfein/Spies-Kofler/Becker-Stoll 2009; Müller 2011; Wertfein/Müller/Danay 2013).

Abbildung 1 veranschaulicht das Zusammenwirken der verschiedenen Aspekte von Qualität im Setting der Kindertagesbetreuung. Orientierungsqualität und Strukturqualität beeinflussen sich gegenseitig. Je nachdem, welche Vorstellung in einer Kindertageseinrichtung darüber herrscht, wie z.B. Bildungsprozesse der Kinder begleitet werden sollen, werden die zur Verfügung stehenden Ressourcen eingesetzt und genutzt oder nicht. Die Abstimmung und Organisation im Team moderiert den Einfluss von Orientierungsqualität und Strukturqualität auf die eigentliche Prozessqualität, also die konkrete pädagogische Interaktion mit den Kindern. So kann beispielsweise die beste pädagogische Konzeption auch bei ausreichenden Ressourcen in der Kindertageseinrichtung nicht in pädagogisches Handeln umgesetzt werden, wenn es starke Konflikte im Team gibt. Umgekehrt kann auch bei weniger guter Ausstattung durch liebevolle und engagierte Interaktion mit den Kindern und gute Abstimmung im Team ein lernfreudiges und entspanntes Klima entstehen.

Abbildung 1.1: Bereiche und Zusammenhänge zwischen pädagogischen Qualitätsmerkmalen in Kinderkrippen (in Anlehnung an Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2005, S. 649).

Empirische Untersuchungen zeigen, dass sich die unterschiedlichen Aspekte der pädagogischen Qualität zwar wechselseitig beeinflussen, aber nicht vollständig gegenseitig bestimmen (Tietze 1998, 2008). Dies hängt zum einen damit zusammen, dass je nach Studie und Erhebungsinstrumentarium unterschiedliche Perspektiven (z.B. Eltern, Fachkräfte) auf die pädagogische Qualität abgebildet werden. Zum anderen kann die Prozessqualität in zwei Gruppen einer Kindertageseinrichtung sehr unterschiedlich ausfallen, auch wenn dasselbe pädagogische Konzept (Orientierungsqualität) oder der gleiche Erzieher-Kind-Schlüssel (Strukturqualität) gegeben sind.

Fachkräfte haben Gestaltungsspielräume

Trotz vergleichbarer Ausgangsbedingungen besteht somit ein hoher Gestaltungsspielraum durch die pädagogischen Fachkräfte. Entscheidend ist hierbei der Umgang mit den verfügbaren Ressourcen, insbesondere das Zeit- und Personalmanagement, sowie die Umsetzung bestehender Qualitätsansprüche. Dies wird besonders deutlich und daran mess- und beobachtbar, in welchem Maße die pädagogische Arbeit an den individuellen Bedürfnissen der Kinder in der Einrichtung oder Gruppe orientiert ist und wie flexibel und veränderbar deren Planung und Gestaltung gehandhabt werden (Tietze et al. 2007). Darüber hinaus kann die praktisch umsetzbare Qualität stark eingeschränkt werden, wenn sich Eltern, die Einrichtungsleitung, die pädagogischen Fachkräfte und/oder der Träger nicht darüber einig sind, was gute pädagogische Qualität ausmacht und worauf besonders zu achten ist (vgl. Kap. 8.4, 8.6).

1.4 Pädagogische Qualität kann man messen

Um der Frage nachzugehen, ob und wie sich die dargestellten Qualitätsaspekte im frühpädagogischen Bereich erfassen und messen lassen, soll im Folgenden ein kurzer Überblick über den Begriff des »Messens« in pädagogischen Zusammenhängen gegeben sowie wissenschaftliche Mindestanforderungen an Messinstrumente dargestellt werden. Denn: Nur ein einheitliches Verständnis auf dieser Ebene kann zu möglichst objektiven Einschätzungen und belastbaren Aussagen für die Praxis führen.

Unter Messen versteht man allgemein die Zuordnung von Zahlen zu Merkmalsausprägungen. Damit Merkmalsausprägungen gemessen werden können, braucht man Skalen. Dinge, die vorher nicht messbar waren, können anhand von Skalen messbar werden. Ausprägungen von bestimmten Merkmalen können gemessen werden, z.B. die Körpertemperatur, Gewicht einer Person oder die Höhe eines Gegenstandes. Dabei kommt es darauf an, welches Messinstrument verwendet wird (z.B.: Wird die Körpertemperatur mit einem digitalen oder analogen Thermometer gemessen?) und wie genau und zuverlässig gemessen wird (z.B.: Messen zwei unterschiedliche Thermometer die gleiche Temperatur?).

Klare Qualitätskriterien machen Weiterentwicklung sichtbar

Das gilt auch für die pädagogische Qualität: Erst wenn sie anhand eindeutiger Qualitätskriterien messbar ist, kann ein Mehr oder Weniger an Qualität bestimmt werden. Erst durch die Messung wird deutlich, in welchen Bereichen eine Verbesserung nötig oder gewünscht ist, um daraus wiederum zu schließen, welche Maßnahmen und Ressourcen zu einer gezielten Veränderung erforderlich sind. Zu einem späteren Zeitpunkt kann durch eine weitere Einschätzung überprüft werden, ob diese Veränderung stattgefunden und was sie bewirkt hat.

Intuitiv scheint der Bereich der Strukturqualität am einfachsten zu erfassen zu sein, da es sich hierbei um quantitativ messbare Aspekte der Qualität handelt. Dies mag beispielsweise für die Gruppengröße oder die Größe der Räume in Quadratmetern zutreffen. Hingegen ist schon die Berechnung des Erzieherin-Kind-Schlüssels hoch komplex und kaum zuverlässig möglich (Viernickel/Schwarz 2009).

1.4.1 Messmethoden in der Frühpädagogik

Wie geht man vor, um die pädagogische Qualität zu erfassen? Grundsätzlich stehen verschiedene mündliche und schriftliche Messmethoden zur Verfügung. Zudem kann man wählen zwischen der Erfassung der Qualität aus Sicht der Betroffenen (z.B. Fachkräften, Leitung, Eltern) oder aus der Perspektive von Außenstehenden (z.B. Forschern, Fachberatern).

Bei der Messung von pädagogischer Qualität kommen sowohl strukturierte Interviews und Fragebögen als auch systematische Beobachtungsverfahren wie Einschätzskalen oder Kriterienkataloge zum Einsatz. Für alle Verfahren gilt, dass sie in ausreichendem Umfang den erforderlichen Messgütekriterien genügen, d.h. sie müssen

▶ objektiv sein (Kriterium der Objektivität)

▶ zuverlässig messen (Kriterium der Reliabilität)

▶ und die Messung muss zu gültigen Ergebnissen führen (Kriterium der Validität).

Von der Objektivität eines Verfahrens kann dann gesprochen werden, wenn seine Durchführung und Auswertung unabhängig vom jeweiligen Anwender ist. So sollten z.B. zwei Beobachter, die mit einem Beobachtungsverfahren ein Kind in derselben Situation beobachten, zum gleichen Ergebnis kommen. Ebenso sollten zwei Personen, die mit einem Verfahren z.B. die pädagogische Konzeption einer Einrichtung inhaltlich auswerten, zum gleichen Ergebnis kommen.

Zuverlässigkeit (Reliabilität) wird einem Verfahren dann zugeschrieben, wenn es möglichst genau und fehlerarm misst. Dabei sollten wiederholte Anwendungen desselben Verfahrens zu gleichen Ergebnissen führen (Retest-Reliabilität).

Von Gültigkeit (Validität) kann bei einem Verfahren nur dann gesprochen werden, wenn es das, was es messen soll, auch tatsächlich abbildet.

Diese Gütekriterien bauen aufeinander auf. So kann ein Messverfahren nur zuverlässig sein, wenn es auch objektiv ist, und nur dann valide messen, wenn es sowohl objektiv als auch zuverlässig ist (Bortz 2005; Amelang/Schmidt-Atzert 2006). Die wissenschaftliche Überprüfung der Messgüte eines Verfahrens ist sehr aufwendig und führt oft zu Revisionen des Verfahrens. Dennoch sollten alle in der frühpädagogischen Praxis angewandten Verfahren wissenschaftlich erprobt und ihre Messgüte nachgewiesen sein. Schließlich ist nicht nur die Anwendung z.B. eines Evaluationsverfahrens aufwendig, sondern auf der Grundlage der Evaluationsergebnisse werden weitreichende Entscheidungen – für die Fachkräfte, die Kinder, die Eltern – getroffen.

1.4.2 Einschätzen pädagogischer Qualität und ihrer Bedingungen

Beobachtung ist subjektiv

Nach Braun (2010) ist »Messen« in pädagogischen Zusammenhängen ein eher selten angewandter Begriff. Seiner Ansicht nach trifft der Begriff »Einschätzen« das Vorgehen besser, weil es immer eine Vielzahl von Faktoren gibt, die das Ergebnis beeinflussen. Vor allem der Beobachter selbst steht immer in der Gefahr, seine subjektive Wertung in eine Einschätzung einzubringen. Objektives »Messen« ist möglich bei Zeitfaktoren (Wie lange spricht eine Erzieherin mit einem Kind?) oder bei Strukturdaten (Wie viele Kinder sind heute da?). Das Einschätzen der »Atmosphäre« in der Gruppe ist ungleich schwieriger, aber ebenfalls objektiv möglich, wenn verschiedene Beobachter bei jeder Messung die gleichen Kriterien anlegen (z.B.: Wird zusammen gelacht? Spricht die Fachkraft die Kinder mit Namen an?).

Selbsteinschätzung und Selbstreflexion

Der Fachbegriff, der für die Einschätzung sozialer Arbeit zugrunde gelegt wird, ist »Evaluation« und kann als Selbstevaluation durch die Fachkraft selbst oder als Fremdevaluation, z.B. durch ein Forscherteam, zur Anwendung kommen. Die Selbstevaluation ist ein systematisches Nachdenken und Einschätzen der eigenen beruflichen Praxis. Während die (unsystematische) Reflexion des eigenen Handelns im Alltag einer Kindertageseinrichtung ständig, zumeist bezogen auf konkrete Ereignisse, z.B. in Form von Team- und Elterngesprächen, stattfindet, ist die Selbstevaluation stärker strukturiert und kriteriengeleitet. Sie stellt Fragen zum Zusammenhang von Prozess und Ziel und gibt der Reflexion somit eine Richtung (Braun 2010; Tietze 2004). Selbstevaluation kann auch auf der Grundlage eines Kriterienkataloges stattfinden. Der Kriterienkatalog Pädagogische Qualität in Tageseinrichtungen für Kinder (Tietze/Viernickel 2007) enthält z.B. unterschiedliche pädagogische Qualitätsbereiche und beschreibt gute Qualität aus verschiedenen Blickwinkeln. Zu diesen Qualitätsbereichen gibt es ausführliche Selbstevaluationsmaterialien, mit denen ein Team jeden Qualitätsbereich gemeinsam einschätzen kann. Dieser fortlaufende Selbstevaluationsprozess kann das pädagogische Team und seine pädagogische Arbeit maßgeblich unterstützen, setzt jedoch ein hohes Maß an Selbstreflexion, die Fähigkeit zu einer realistischen Selbsteinschätzung und eine vertrauensvolle Zusammenarbeit der Fachkräfte voraus (Braun 2010).

Externe Einschätzung von Stärken und Schwächen

Die Fremdevaluation ergänzt die Methoden der Evaluation, erfordert jedoch einen höheren organisatorischen und oft auch finanziellen Aufwand und Einsatz. Fremdevaluation ist dadurch gekennzeichnet, dass die pädagogische Qualität in der Regel durch geschulte Beobachter beurteilt wird, und ist vor allem dann sinnvoll, wenn die Qualität im Sinne einer Stärken-Schwächen-Analyse möglichst objektiv über alle Qualitätsbereiche hinweg eingeschätzt werden soll (Braun 2010).

Im deutschsprachigen Raum haben sich Verfahren zur Einschätzung der pädagogischen Prozessqualität und zur Qualitätsentwicklung etabliert, die von Tietze und seinen Mitarbeitern entwickelt wurden. Hierzu gehören die

▶ Krippen-Skala (KRIPS-R, Tietze et al. 2007)

▶Kindergarten-Skala (KES-R, Tietze et al. 2007)

▶ Skala für Hort- und Ganztagsschulangebote (HUGS, Tietze et al. 2005) und

▶ Tagespflege-Skala (TAS, Tietze, Knobeloch/Gerszonowicz 2005).

Diese Einschätzskalen gehen zurück auf US-amerikanische Skalen um die Autoren Harms, Clifford und Cryer (Cryer 1999), liegen in verschiedensprachigen Adaptionen vor und werden weltweit genutzt. Die Skalen erfassen verschiedene Bereiche pädagogischer Qualität, u.a. Platz und Ausstattung, Betreuung und Pflege der Kinder, sprachliche und kognitive Anregungen, Bildungsaktivitäten, Interaktionen, Strukturierung der pädagogischen Arbeit und die Zusammenarbeit von Eltern und Erzieherinnen. Die Einschätzung erfolgt im Rahmen einer mehrstündigen Beobachtung durch trainierte Beobachter und wird durch eine mündliche Nachbefragung der zuständigen pädagogischen Fachkraft ergänzt.

Bei den genannten Verfahren handelt es sich um prozessorientierte Instrumente zur Qualitätsentwicklung in Kindertageseinrichtungen. Sie berücksichtigen sowohl konkretes pädagogisches Handeln als auch den tatsächlichen Einsatz bestehender Ressourcen und Materialien. Auf diese Weise lässt sich verdeutlichen, welche pädagogische Qualität in einer Einrichtung unter den jeweiligen Rahmenbedingungen realisiert werden kann. Die Einschätzungen werden pro Gruppe durchgeführt, in altersgemischten Einrichtungen werden unterschiedliche Verfahren pro Altersgruppe der Kinder eingesetzt (z.B. Krippenskala und Kindergartenskala).

Nachhaltige Qualitätssicherung

Die Einschätzskalen weisen insgesamt eine gute Messgüte auf (Tietze 2006). Durch eine regelmäßige Fremdevaluation und durch die zeitnahe Einschätzung mehrerer Gruppen einer Einrichtung können Genauigkeit und Aussagekraft der Qualitätsergebnisse erhöht werden (Braun 2003). Mit entsprechendem Mehraufwand (Bewertung aller Skalenstufen von 1=unzureichende Qualität bis 7=ausgezeichnete Qualität) können die Beobachtungsergebnisse auch dazu genutzt werden, pädagogischen Teams konkrete Rückmeldungen über die Stärken und Entwicklungspotenziale in der jeweiligen Einrichtung zu geben. Auf diese Weise können Forschung und Praxis gemeinsam zur nachhaltigen Qualitätssicherung in Kindertageseinrichtungen beitragen (Wertfein/Müller/Kofler 2012). Die genannten Skalen kamen u.a. in der Krippenstudie und der NUBBEK-Studie zum Einsatz, die in Kapitel 8 dieses Buches näher beschrieben werden.

1.4.3 Qualität muss fortlaufend überprüft werden

Einheitliche Qualitätsstandards fehlen noch

Bisher gibt es in Deutschland (noch) keine einheitlich verbindlichen Standards, die die Qualität frühkindlicher Bildung, Erziehung und Betreuung in öffentlicher Verantwortung bestimmen. Dennoch lassen sich aufgrund nationaler und internationaler Forschungsergebnisse auf unterschiedlichen Ebenen Qualitätsanforderungen beschreiben, die handlungsleitend für die Gestaltung der Arbeit in der Kindertagesbetreuung und deren Finanzierung sein sollten (Strehmel 2008). Neben dem Nationalen Kriterienkatalog (Tietze/Viernickel 2007; Tietze 2004) können die unterschiedlichen Aspekte von Qualität in Kindertageseinrichtungen anhand von bestehenden und regelmäßig angewandten Qualitätsentwicklungsverfahren und zur Qualitätssicherung herangezogen werden. Wichtig ist, dass die pädagogische Qualität aus der Kindperspektive betrachtet wird und sich maßgeblich an den kindlichen Interessen hinsichtlich guter Bildung, Erziehung und Betreuung orientiert (Tietze et al. 2007). Mit anderen Worten: Je besser es den Fachkräften tagtäglich gelingt, den Interessen der Kinder gerecht zu werden und im Alltagsgeschehen auf die kindlichen Bedürfnisse zu reagieren, desto hochwertiger ist die Qualität der Kindertageseinrichtung.

Doch ist jede Einrichtung anders und nicht immer kann die bereits erreichte Qualität in einer Einrichtung über das gesamte Kindergartenjahr gewährleistet werden. Dies hängt damit zusammen,

▶ dass Kindertageseinrichtungen sich stark darin unterscheiden können, wie (vergleichbare) bestehende Ressourcen bzw. Rahmenbedingungen im jeweiligen Team eingesetzt und genutzt werden

▶ dass besonders engagierte Kindertageseinrichtungen zusätzliche Herausforderungen auf sich nehmen, ohne zusätzliche Ressourcen zu erhalten, etwa durch die Aufnahme von Kindern bis drei Jahre mit besonderem Betreuungs- und Unterstützungsbedarf, z.B. Kinder unter einem Jahr, Kinder mit Migrationshintergrund, Kinder aus Familien, die Hilfen zur Erziehung erhalten, Kinder mit Entwicklungsverzögerung (Wertfein/Müller/Kofler 2012)

▶ dass die pädagogische Qualität beeinträchtigt wird, wenn Verwaltungs- und Leitungsaufgaben sowie hauswirtschaftliche Tätigkeiten von den pädagogischen Fachkräften übernommen werden müssen, ohne dass dies in die personellen und zeitlichen Ressourcen (insbesondere Verfügungszeit) eingeplant wurde

▶ dass altersgemischte Einrichtungen sich schwerer tun, den Kindern in den ersten drei Lebensjahren alters- und entwicklungsangemessen gerecht zu werden (vgl. Kap. 8.1; Tietze/Becker-Stoll/Bensel et al. 2013).

Die Ausführungen haben gezeigt, dass es bei der Qualität aus Kindperspektive um die entwicklungsangemessene Beantwortung der kindlichen Grundbedürfnisse geht. Welche das genau sind und was bei der Entwicklung von Kindern in den ersten drei Lebensjahren von zentraler Bedeutung ist, wird in Kapitel 2 näher erläutert.

Kommentierte Literaturempfehlungen zu Kapitel 1

Maywald, J./Schön, B. (2008). Krippen: Wie frühe Betreuung gelingt. Fundierter Rat zu einem umstrittenen Thema. Weinheim/Basel: Beltz.In diesem Buch beschreiben praxisnahe Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler wie Liselotte Ahnert, Martin Dornes, Joachim Bensel und Gabriele Haug-Schnabel, Éva Hédervári-Heller, Susanne Viernickel und Wiebke Wüstenberg ausführlich die vielfältigen Qualitätsaspekte von Krippen.

Bostelmann, A./Fink, M. (2013). Glückliche Krippenkinder. Wie Eltern ihre Kinder unterstützen können. Weinheim/Basel: Beltz. Dieses Buch zeigt Eltern und Fachkräften, was wichtig ist, damit es den Jüngsten in Krippe und Kita gut geht. Es vermittelt anschauliche Einblicke in den Krippenalltag und konkrete Anregungen, wie Eltern ihre Kinder begleiten können, damit diese mit Freude den Tag in der Krippe verbringen. Fachkräften gibt dieses Buch konkrete Fragen und Antworten an die Hand, um mit Eltern ins Gespräch zu kommen.

Becker-Stoll, F./Berkic, J./Kalicki, B. (Hrsg.) (2010). Bildungsqualität für Kinder in den ersten drei Jahren. Berlin: Cornelsen Scriptor. Dieses Buch gibt einen Überblick zum Stand der Bildungsqualität für Kinder in den ersten drei Lebensjahren. Es stellt die wichtigsten Ergebnisse der aktuellen nationalen und internationalen Forschung vor, diskutiert Fragen der Qualifizierung für diese pädagogische Arbeit und widmet sich zentralen frühpädagogischen Themen aus wissenschaftlicher und praxisorientierter Perspektive.

In Kapitel 1 wurde gezeigt, warum sich pädagogische Qualität von den Bedürfnissen des Kindes ableiten muss. Bevor in Kapitel 3 auf deren Umsetzung in der frühpädagogischen Praxis und Aufgaben der außerfamiliären Bezugspersonen eingegangen wird, sind zunächst entwicklungspsychologische Grundlagen zu klären, insbesondere die Fragen,

▶ was die die wichtigsten Entwicklungsschritte und Grundbedürfnisse von Kleinkindern sind

▶ wie sich Bindungsbeziehungen in den ersten Lebensjahren entwickeln

▶ welche Bedeutung Bindungsbeziehungen für die Stressregulation haben und

▶ wie sich die Erfahrungen in den ersten drei Lebensjahren auf die Gehirnentwicklung und die weitere Kompetenzentwicklung auswirken.

2.1 Entwicklung als Aufgabe

Das Verständnis der Entwicklung über den gesamten Lebenslauf ist ein Verdienst der Entwicklungspsychologie, aus der die sogenannte Psychologie der Lebensspanne hervorgegangen ist. Das Konzept stellt einzelne Entwicklungsabschnitte wie z.B. die frühe Kindheit und Entwicklungsthemen wie z.B. das Lernen in Zusammenhang mit der gesamten lebenslangen Entwicklung. Dies kommt auch beim »lebenslangen Lernen« zum Ausdruck (Baltes 1990; Oerter/Montada 2008). Ein Lebensspannen-Konzept umfasst alterstypische Entwicklungsaufgaben wie beispielsweise den Übergang von der Familie in die Kindertageseinrichtung, deren Bewältigung oder Nicht-Bewältigung die weitere Entwicklung maßgeblich beeinflussen kann. Von Geburt an stellt sich dem Individuum eine Reihe von Entwicklungsaufgaben, deren sukzessive, möglichst erfolgreiche Bewältigung als Grundlage für eine gesunde Entwicklung und als Basis für die Erlangung immer komplexer werdender Kompetenzen gesehen wird. Diese Entwicklungsaufgaben stehen in Zusammenhang mit der jeweiligen kulturellen Umwelt.

»Eine Entwicklungsaufgabe ist eine Aufgabe, die sich in einer bestimmten Lebensperiode des Individuums stellt. Ihre erfolgreiche Bewältigung führt zu Glück und Erfolg, während das Versagen des Individuums unglücklich macht, auf Ablehnung durch die Gesellschaft stößt und zu Schwierigkeiten bei der Bewältigung späterer Aufgaben führt« (Havighurst 1982, S. 2).

Sensitive Perioden nutzen

Innerhalb der Lebensspanne gibt es Zeiträume, die besonders geeignet erscheinen, bestimmte Lernprozesse oder Entwicklungsaufgaben zu bewältigen, sogenannte »sensitive Perioden«. Zwar bilden Entwicklungsaufgaben keine in sich abgeschlossenen zeitlichen Einheiten – sie können auch zu einem früheren oder späteren Zeitpunkt bearbeitet werden und greifen zeitlich ineinander über. In den sensitiven Perioden erfolgt deren Bewältigung jedoch mit dem geringsten Aufwand. Die Anforderungen haben einen unterschiedlichen Verbindlichkeitsgrad; manche müssen unbedingt bewältigt werden (z.B. Kontrolle der Ausscheidungsorgane, soziale Kontaktfähigkeit, Spracherwerb), andere sind eher als Chancen zu sehen, die das Individuum ergreifen kann oder nicht. Schließlich gibt es Entwicklungsangebote, die für manche Individuen nicht realisierbar sind – sei es aufgrund mangelnder Kompetenz oder infolge familiärer und restriktiver sozioökonomischer Bedingungen.

Die gelungene Bewältigung von Entwicklungsaufgaben in einem Lebensabschnitt schafft die Grundlage für günstigere Entwicklungsbedingungen in den folgenden Lebensabschnitten (Waters/Sroufe 1983). Voraussetzung dafür, dass die alterstypischen Entwicklungsaufgaben gut bewältigt werden, ist jedoch die Erfüllung der seelischen Grundbedürfnisse. Im ersten Lebensjahr geht es vor allem um die Erfüllung des Grundbedürfnisses nach Bindung. Nach dem Aufbau der Bindungsbeziehungen stehen im zweiten und dritten Lebensjahr die Grundbedürfnisse nach Autonomie und Kompetenzerleben stärker im Vordergrund.

Entwicklungsaufgaben

Alter

Aufgabenbereich

Aufgabe der Bezugsperson

0 bis 3 Monate

Physiologische Regulation

Behutsame Pflegeroutinen

3 bis 6 Monate

Handhabung von Spannungen

Sensitive, kooperative Interaktion

6 bis 12 Monate

Aufbau einer effektiven Bindung

Erreichbarkeit

Bereitschaft zu antworten

12 bis 18 Monate:

Erfolgreiche Exploration

Sicherer Bezugspunkt

18 bis 30 Monate

Individuation (Autonomie)

Nachhaltige Unterstützung

Tabelle 2.1 Einteilung der Entwicklungsaufgaben (Waters/Sroufe 1983, zit. n. Oerter/Montada 1998, S. 123).