Bindung und psychische Störungen - Karl Heinz Brisch - E-Book

Bindung und psychische Störungen E-Book

Karl Heinz Brisch

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Beschreibung

Neueste Erkenntnisse aus der Bindungsforschung bei psychischen Störungen - Neueste Befunde aus der Hirnforschung und der Psychoneuroimmunologie - Beiträge international renommierter ForscherInnen und KlinikerInnen Die Bindungstheorie ist inzwischen eine der am besten untersuchten entwicklungspsychologischen Theorien. Sie kann wesentliche Ursachen der Entstehung psychischer Störungen erklären, z.B. von Angst- und Panikstörungen, Depressionen, Borderline-Störungen, posttraumatischen Belastungsstörungen und anderen psychopathologischen Entwicklungen. Anhand zahlreicher Längsschnittstudien der Bindungsforschung konnte die Entwicklung psychischer Störungen von der Kindheit bis ins Erwachsenenalter nachverfolgt werden, wobei transgenerationale Effekte sichtbar wurden. Dieser Band zeigt, welche neuen Möglichkeiten der Behandlung sich aus diesen Erkenntnissen ergeben und welche Erfolge eine bindungsbasierte Prävention von psychischen Störungen vorweisen kann. Bindungsbasierte Programme setzen idealerweise bereits in der Schwangerschaft ein und wirken erfolgreich der Weitergabe psychischer Belastungen von der Eltern- an die Kindergeneration entgegen. Dieses Buch richtet sich an: - PsychologInnen, PsychotherapeutInnen, PsychiaterInnen - ÄrztInnen aller Fachrichtungen - SozialarbeiterInnen, PädagogInnen und MitarbeiterInnen der Jugendhilfe

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Seitenzahl: 529

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Bindung und psychische Störungen

Ursachen, Behandlung und Prävention

Herausgegeben von Karl Heinz Brisch

Klett-Cotta

Impressum

Die Beiträge von Kirsten Hauber, Marinus H. van IJzendoorn, Alessandro Talia und Björn Siepe sowie Kate White wurden von Ulrike Stopfel aus dem Englischen übersetzt.

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

© 2021 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Cover: Bettina Herrmann, Stuttgart

unter Verwendung einer Abbildung von © adobe stock/terovesalainen

Gesetzt von Eberl & Kœsel Studio GmbH, Altusried-Krugzell

Gedruckt und gebunden von Friedrich Pustet GmbH & Co. KG, Regensburg

ISBN 978-3-608-98435-4

E-Book ISBN 978-3-608-11665-6

PDF-E-Book ISBN 978-3-608-20434-6

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhalt

Vorwort

Einleitung

Alexander Trost

Bindungswissen für die systemische Praxis

Thomas Schnell

Bindung in der Verhaltenstherapie

Maria Teresa Diez Grieser

Die Erfahrung von Sicherheit in therapeutischen Beziehungen durch Mentalisieren fördern

Nicole Strüber

Von der frühen Stresserfahrung zur psychischen Erkrankung

Karl Heinz Brisch

Bindungskrisen in Zeiten der Pandemie

Marinus H. van IJzendoorn

Bindung und Entwicklungspsychopathologie

Michaela Ott, Magdalena Singer, Karl Heinz Brisch und Christian Schubert

Körperlich-seelische Berührungen und deren Bedeutung für die psychoneuroimmunologische Entwicklung aus biopsychosozialer Sicht

Carmen Walter

Bindung, Frühgeburt und deren langfristige Auswirkungen auf die psychische Entwicklung bis zur Spätadoleszenz

Kirsten Hauber

Heranwachsende mit Persönlichkeitsstörungen und unsicheren Bindungsmustern in der Forschung und in der klinischen Praxis

Tita Kern und Simon Finkeldei

KinderKrisenIntervention nach APSN

Herbert Renz-Polster

Politik auf dem Wickeltisch

Alessandro Talia und Björn Siepe

Von der Wiege bis in den Behandlungsraum

Anna Buchheim

Bindung und Borderline-Persönlichkeitsstörung

Kate White

»Ich liebe dich – und, um Gottes willen, verlass mich nicht!«

Karl Heinz Brisch

Bindungsbasierte Beratung und Therapie (BBT)

Adressen der Autorinnen und Autoren

Vorwort

Vom 11. bis 13. September 2020 wurde von INTERPLAN Congress, Meeting & Event Management AG in München unter der wissenschaftlichen Leitung von Univ.-Prof. Dr. med. Karl Heinz Brisch eine internationale Konferenz mit dem Titel »Bindung und psychische Störungen. Ursachen, Behandlung und Prävention« (»Attachment and Mental Disorders. Causes, Treatment and Prevention«) durchgeführt; wegen der Covid-Pandemie und der damit verbundenen Kontaktbeschränkungen war die Konferenz als virtuelle Veranstaltung organisiert. Das Interesse an dieser Konferenz und die positiven Rückmeldungen waren für den Veranstalter außerordentlich ermutigend, so dass er die Beiträge dieser Veranstaltung mit der Herausgabe dieses Buches einer größeren Leserschaft zugänglich machen möchte.

Die Bindungstheorie gilt heute als eine der am besten untersuchten entwicklungspsychologischen Theorien. Sie kann wesentliche Ursachen dafür aufzeigen, wie psychische Störungen entstehen können, z. B. Angst- und Panikstörungen, ebenso Depressionen, Borderline-Störungen, posttraumatische Belastungsstörungen und andere psychopathologische Entwicklungen. Aufgrund vieler Längsschnittstudien der Bindungsforschung konnte die Entwicklung von psychischen Störungen von der Kindheit bis ins Erwachsenenalter nachverfolgt, transgenerationale Effekte konnten aufgezeigt werden. Aus diesen Erkenntnissen ergeben sich neue Möglichkeiten für Behandlungen von psychischen Störungen, die die Bindungsforschung stärker berücksichtigen. Auch die bindungsbasierte Prävention von psychischen Störungen konnte in Studien vielfach nachgewiesen werden, die durch Programme teilweise bereits in der Schwangerschaft ansetzt und auf diese Weise der Weitergabe psychischer Belastungen von der Eltern- an die Kindergeneration erfolgreich entgegenwirkt.

Die Konferenz hat sich umfassend mit Ursachen sowie Behandlungsmöglichkeiten im Kontext von Bindung und psychischen Störungen auseinandergesetzt. Führende, international renommierte Fachleute gaben Antworten auf Fragen im Rahmen der skizzierten Thematiken und stellten die neuesten Erkenntnisse und Ergebnisse aus ihren Studien dar, die uns für die Problematik sensibilisieren sowie aktuelle Entwicklungen, auch in Therapie und Prävention, aufzeigen sollen.

Die Autorinnen und Autoren dieses Bandes haben ihre Vorträge aus der Konferenz niedergeschrieben und ausgearbeitet und für die Publikation zur Verfügung gestellt – dafür gilt ihnen ein großer Dank. Herzlich danke ich Frau Ulrike Stopfel, die wiederum, wie in den vergangenen Jahren, die englischsprachigen Beiträge in exzellenter Qualität übersetzt hat. Ein besonderer Dank gilt auch der hervorragenden Arbeit von Herrn Thomas Reichert, der die einzelnen Manuskripte rasch und sorgfältig editiert hat. Ich danke sehr Herrn Dr. Heinz Beyer sowie Frau Ulrike Wollenberg vom Verlag Klett-Cotta, die mit großem Engagement die Herausgabe dieses Buches beim Verlag ermöglicht und die rasche Herstellung gewährleistet haben.

Das Buch richtet sich an Ärzte und Ärztinnen aller Fachrichtungen sowie an Psychologinnen und Psychologen, Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten, Sozialarbeiterinnen, Pädagoginnen, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Jugendhilfe, Richterinnen und Richter, Umgangspflegerinnen und Umgangspfleger, zudem an alle, die mit psychischen Störungen in Begleitung, Beratung, Diagnostik und Therapie befasst sind. Ihr Engagement ist insbesondere dann gefragt, wenn auf dem Hintergrund von frühen Bindungserfahrungen entsprechende Dynamiken und schließlich sogar psychische Störungen entstehen.

Ich hoffe sehr, dass dieses Buch allen hilft, die im Kontext psychischer Störungen durch Begleitung, Beratung und Therapie sowie soziale Arbeit für Familien, Paare, Kinder, Jugendliche und Erwachsene tätig sind. Es soll auch denjenigen wichtige Anregungen geben, die mit der Prävention in Bezug auf Störungen in diesem Zusammenhang befasst sind, die Präventionsprogramme entwickeln bzw. entwickelt haben. Auf diese Weise könnten Störungen, die aus Problemen in der Bindungsentwicklung und traumatischen Erfahrungen entstanden sind, zeitig erkannt und eine primäre Prävention möglich werden. Solche frühen Hilfestellungen sind besonders dann notwendig und wichtig, wenn es zu Gewalt, Misshandlungen und Missbrauch gegenüber Kindern durch Erwachsene, aber auch zwischen den Bindungspersonen kommt.

Der Band gibt durch die Vielfalt seiner Beiträge aus Forschung, Klinik und Praxis einen guten Überblick über die Thematik und sorgt für zahlreiche Anregungen.

Karl Heinz Brisch

Einleitung

Das vorliegende Buch enthält eine Reihe von Beiträgen aus den Bereichen Forschung, Klinik und Prävention, die sich aus den verschiedensten Perspektiven mit dem thematischen Zusammenhang von »Bindung und psychische Störungen« auseinandersetzen.

Entsprechend werden sowohl Ergebnisse aus der Forschung vorgestellt als auch Erfahrungen aus der klinischen und therapeutischen Arbeit vermittelt, um die Möglichkeiten und die Voraussetzungen einer erfolgreichen Beratung und Therapie von Kindern, Jugendlichen, Erwachsenen und alten Menschen aufzuzeigen, in deren Entwicklung Bindungsprobleme eine gewichtige Rolle spielen.

An drei Beiträgen aus verschiedenen Therapieschulen wird deutlich, wie die Bindungstheorie für die therapeutische Arbeit nutzbar gemacht werden kann. Alexander Trost konzentriert sich in seinem Aufsatz »Bindungswissen für die systemische Praxis« auf die systemische Theorie und zeigt auf, wie Bindungswissen für die systemische Praxis Bedeutung gewinnen und in der Klinik angewandt werden kann. Thomas Schnell (»Bindung in der Verhaltenstherapie«) belegt, wie intensiv die Bindungstheorie inzwischen auch die kognitive Verhaltenstherapie beeinflusst hat und hier in verschiedenen therapeutischen Ansätzen Anwendung findet. Maria Teresa Diez Grieser (»Die Erfahrung von Sicherheit in therapeutischen Beziehungen durch Mentalisieren fördern«) verbindet das Konzept des Mentalisierens mit der Entwicklung von Bindung und psychischen Störungen. Sie stellt dar, wie sehr Bindungstraumatisierungen die Entwicklung eines gesunden Mentalisierens behindern können und wie dies zur Entwicklung von psychischen Störungen führt. In der therapeutischen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen muss dann erstmalig in der Beziehung zum Therapeuten das Mentalisieren erfahren und »neu erlernt« werden. Die Mentalisierungsbasierte Therapie hat inzwischen weite Verbreitung gefunden und basiert auf der Bindungstheorie.

Warum frühe Stresserfahrungen, insbesondere solche, die nicht verarbeitet werden, uns für psychische Erkrankungen anfällig machen, warum andererseits sichere Bindungserfahrungen zu einer psychischen Widerstandsfähigkeit führen können (Resilienz) und was dies alles mit der Entwicklung des Gehirns zu tun hat, vermittelt Nicole Strüber in ihrem Beitrag »Von der frühen Stresserfahrung zur psychischen Erkrankung« auf sehr anschauliche Art und Weise.

Besonders in Zeiten der Covid-Pandemie waren nicht nur einzelne Familien, sondern Menschen in vielen Gesellschaften weltweit in ihrer Gesundheit bedroht; auf der ganzen Welt starben Menschen durch das Virus, erkrankten so schwer, dass sie fast gestorben wären, und verloren geliebte Menschen durch SARS-Cov 2. Vor diesem Hintergrund beschäftigt sich Karl Heinz Brisch mit der Frage von »Bindungskrisen in Zeiten der Pandemie« und zeigt die Folgen wie auch mögliche Bewältigungsstrategien unter bindungsdynamischen Aspekten auf.

Die Bindungstheorie kann nicht nur gesunde Entwicklungen erklären, sondern hat auch einen eigenen Bereich geschaffen, der sich Entwicklungspsychopathologie nennt. Diese Wissenschaft wird seit vielen Jahren hervorragend von Marinus van IJzendoorn aus den Niederlanden vertreten, der für diesen Band einen Beitrag über »Bindung und Entwicklungspsychopathologie« verfasst hat. Vor dem Hintergrund jahrzehntelanger Forschung wird im Detail in Längsschnittstudien nachvollziehbar, wie sich während der kindlichen Entwicklung eine Psychopathologie herauskristallisiert und welche Rolle Bindungsbeziehungen und auch besonders traumatische Erfahrungen hierbei spielen.

Um sichere Bindungsentwicklungen auf den Weg zu bringen, sind körperliche, feinfühlige Berührungen und auch seelische »Berührungen« zwischen Menschen grundlegend. Diese haben große Auswirkungen auf die gesunde Entwicklung der Psychoneuroimmunologie, also des Zusammenspiels zwischen Psyche, neurologischer Vernetzung im Gehirn und der Entwicklung von Immunsystemen. In seinem Aufsatz »Körperlich-seelische Berührungen und deren Bedeutung für die psychoneuroimmunologische Entwicklung aus biopsychosozialer Sicht« kann Christian Schubert (mit Michaela Ott, Magdalena Singer, Karl Heinz Brisch) die komplexe Verbindung zwischen früher körperlicher und seelischer Berührung und Psychoneuroimmunologie sehr differenziert aufzeigen.

Wenn Kinder als Frühgeborene zur Welt kommen und ihr Leben damit beginnt, dass sie mehrere Wochen – oftmals unter lebensbedrohlichen Bedingungen – im Inkubator aufwachsen müssen, machen sie gänzlich andere frühe Erfahrungen als reif geborene Babys: Erfahrungen, die unter Umständen langfristige Auswirkungen auf ihre körperliche, soziale und emotionale Entwicklung, insbesondere auch auf die Bindungsentwicklung haben könnten. Carmen Walter (»Bindung, Frühgeburt und deren langfristige Auswirkungen auf die psychische Entwicklung bis zur Spätadoleszenz«) berichtet von einer besonderen Längsschnittstudie, die Frühgeborene vom Inkubator bis zum jungen Erwachsenenalter immer wieder unter Bindungs- und Entwicklungsaspekten nachuntersucht hat. Hier zeigt sich, dass bei ehemaligen Frühgeborenen in der späten Adoleszenz und im jungen Erwachsenenalter nochmals erneut große emotionale Schwierigkeiten auftreten können, die auf eine gewisse langfristig vorhandene emotionale Vulnerabilität hinweisen können. Eine intensivere psychosoziale und emotionale Versorgung der Frühgeborenen in ihren späteren Lebensjahren bis zum Erwachsenenalter sowie eine langfristige Unterstützung ihrer Bindungspersonen zur Verarbeitung des Traumas der Frühgeburt wären dringend notwendig.

Die Phase des Jugendalters ist unter Bindungsaspekten von besonderer Instabilität gekennzeichnet, weil mit dem Prozess der Ablösung und Autonomie frühe Bindungserfahrungen, besonders auch traumatische, wachgerufen werden können und zu erheblichen psychischen Symptomen einschließlich Borderline-Persönlichkeitsentwicklungen führen können. Kirsten Hauber (»Heranwachsende mit Persönlichkeitsstörungen und unsicheren Bindungsmustern in der Forschung und in der klinischen Praxis«) arbeitet und forscht auf diesem Gebiet und zeigt auf Basis ihrer Studie, welche Therapieansätze möglich und notwendig sind, um Jugendliche mit frühen problematischen Bindungserfahrungen, die in der Pubertät aufbrechen und zu Schwierigkeiten in der Adoleszenz führen, auf einen guten Weg zu bringen.

Manchmal erleiden Kinder in ihren Familien lebensgefährliche Krisen und benötigen frühzeitig eine fachspezifische Krisenintervention, um psychopathologische Entwicklungen zu verhindern, besonders dann, wenn ihre Bindungspersonen selbst von der familiären Krise traumatisiert wurden und sie aus diesem Grund ihren Kindern keinen ausreichenden Schutz und keine Sicherheit vermitteln können. Tita Kern und Simon Finkeldei (»KinderKrisenIntervention nach APSN«) stellen ein neues traumapräventives Programm der Frühintervention vor, das hilft, präventiv schwerwiegende Symptombildungen, die sich bis zum Vollbild einer chronifizierten posttraumatischen Belastungsstörung bei Kindern und Jugendlichen entwickeln können, dadurch zu verhindern, dass sehr frühzeitig bindungs- und traumasensibel interveniert wird.

Frühe Bindungsstörungen und Traumatisierungen haben nicht nur einen Einfluss auf die psychopathologische Entwicklung, sondern sie können Menschen in ihren beruflichen Feldern sehr negativ beeinflussen, so z. B. auch in ihren gesellschaftlichen Denkmustern. Herbert Renz-Polster (»Politik auf dem Wickeltisch«) zeigt auf, welche Rolle die frühen Bindungserfahrungen bei der Entstehung autoritärer Gesinnungen in Gesellschaften spielen und wie einzelne politische Führer und politisch Verantwortliche ihrerseits aufgrund ihrer frühkindlichen Entwicklung eine autoritäre Politik vertreten und hier sozusagen auf einem gesamtgesellschaftlichen Boden frühe Traumaerfahrungen reinszeniert werden, sehr zum Schaden ganzer Gesellschaften. Hier wird deutlich, welch großen Einfluss die frühen Bindungserfahrungen auch im Hinblick auf Prävention, gesellschaftliche Entwicklung und Politik haben.

In der psychotherapeutischen Situation treffen die Bindungserfahrungen von Therapeutin/Therapeut und Patienten und Patientinnen aufeinander. Es spielt somit eine große Rolle, in welcher Weise das Bindungssystem von allen in der therapeutischen Situation Beteiligten aktiviert wird und wie es fruchtbar sozusagen für den therapeutischen Prozess eingesetzt werden kann, wie Alessandro Talia und Björn Siepe in ihrem Beitrag »Von der Wiege bis in den Behandlungsraum. Zur Manifestation von Bindungsmustern in der Psychotherapie« verdeutlichen.

Inzwischen wurde intensiv – auch durch Längsschnittstudien – erforscht, wie die Entwicklung von Borderline-Persönlichkeitsstörungen mit frühen Trauma- und Bindungserfahrungen zusammenhängt. Anna Buchheim (»Bindung und Boderline-Persönlicheitsstörung«) berichtet, in welcher Weise eine Beratung und Psychotherapie von Menschen mit Borderline-Persönlichkeitsstörungen möglich ist, sofern frühe Bindungs- und Traumaerfahrungen sowohl als Ursachen wie auch als Fokus in der Behandlung berücksichtigt werden können.

Kate White (»Ich liebe dich – und, um Gottes willen, verlass mich nicht!«) beschreibt auf sehr berührende, feinfühlige Weise, wie sehr das Bindungssystem aktiviert wird, wenn sich Menschen im Alter wegen der Entwicklung einer Demenz aus bisherigen Bindungsbeziehungen »zurückziehen«. Gleichzeitig führt sie aus, wie ein bindungsorientierter Umgang mit einem an Demenz erkrankten Menschen möglich ist, um so dennoch wichtige emotionale Erfahrungen miteinander zu erleben und einander zu vermitteln.

Abschließend stellt Karl Heinz Brisch die »Bindungsbasierte Beratung und Therapie (BBT)« vor; diese ist eine von ihm entwickelte bindungsorientierte Methode, die in der Praxis der Psychotherapie und Beratung mit verschiedener Altersgruppen und in unterschiedlichen Settings – ambulant, stationär; in der Pädagogik –angewandt werden kann und wird. Die BBT fokussiert besonders auf Themen der frühen Bindungsentwicklung und auf stressvolle Traumaerfahrungen. Hierbei spielen auch präventive Ansätze, etwa das Programm »SAFE® – Sichere Ausbildung für Eltern« eine große Rolle, das es Schwangeren und werdenden Vätern ermöglicht, schon sehr früh ihre eigene Bindungsgeschichte kennenzulernen. So kann im günstigen Fall schon vor der Geburt des Babys eine potentielle Weitergabe von unverarbeiteten stressvollen Erfahrungen der Eltern an ihr Kind und damit an die nächste Generation verhindert werden.

Alle Beiträge dieses Bandes, mögen sie aus der Klinik, der Forschung oder auch der Prävention kommen, geben einen eindrücklichen Überblick, welche große Bedeutung die frühen Bindungsentwicklungen für das Entstehen von psychopathologischen Prozessen und psychischen Störungen haben. Die Beiträge zeigen, wie sehr unsere Persönlichkeit hierdurch geprägt wird und in welcher Weise durch verschiedenste Formen der Psychotherapie und unterschiedlichste Methoden Interventionen möglich sind, um im weiteren Leben neue, korrigierende Bindungsbeziehungen eingehen zu können. Der Königsweg der Prävention ist allerdings noch weiterzuentwickeln und in der Gesellschaft umfassend zu verankern, um vielen Eltern möglichst früh zu helfen, die Teufelskreise der Weitergabe von traumatischen Bindungserfahrungen von einer Generation zur nächsten zu verhindern bzw. zu unterbrechen.

Alexander Trost

Bindungswissen für die systemische Praxis

Eine klinische Annäherung

Obwohl Bowlbys Bindungskonzept von Anfang an systemische Aspekte mit einschloss, fremdelte die sich damals formierende Systemische Therapie lange mit diesem zugleich tiefenpsychologischen, empirischen und verhaltensbiologischem Ansatz. Erst in den letzten Jahren erfahren die Ergebnisse der Bindungsforschung auch breitere Wertschätzung in der systemischen Community, während die Bindungstheorie sich gleichzeitig von der dyadischen Perspektive hin zu komplexeren Bindungssystemen geöffnet hat.

Limitierende Kontextfaktoren waren lange – bis zur gerade erst erfolgten Anerkennung der Systemischen Therapie als Kassenleistung – der ausschließliche Fokus auf die Erkrankung von Individuen, die in aller Regel nicht in ihren Beziehungszusammenhängen verstanden und behandelt wurden. Bis dato gab es eine Leistungspflicht unseres Gesundheitssystems nur bei einer einzelnen Person mit einer nach dem Klassifikationssystem ICD-10 diagnostizierten Erkrankung. Auch das System »Psychiatrie« war in der Fläche bislang kaum in der Lage, eine kontextuelle, auch intergenerational angelegte Behandlung anzubieten, geschweige denn Prävention im Lebenskontext der Patientinnen und Patienten1 durchzuführen.

Die Entwicklung der Systemischen Therapie

Systemische Therapie begann in den 1950er Jahren noch unter dem Label des Settings: Familientherapie war eine neue Behandlungsdimension, die sich aus den theoretischen Erkenntnissen der Kybernetik speiste. Sie entstand gleichzeitig auf verschiedenen Kontinenten, an verschiedenen Orten, und zumindest anfänglich, ohne dass die Begründer voneinander wussten oder in einem Diskurs standen.

Auslöser für die neuen Behandlungsinitiativen waren fast durchweg Misserfolge in der Behandlung junger psychosekranker Patientinnen, bei denen nach einer ersten Besserung die Angehörigen eine Weiterbehandlung verhinderten, sehr zum Erstaunen der zunächst noch individuumzentriert denkenden Behandler. Es war schon länger deutlich geworden, in welch hohem Maße die Familienmitglieder in die Problematik der Patienten eingebunden waren. Nun sah es so aus, als trüge die Erkrankung zur Stabilisierung der Familiendynamik bei, so dass auf sie nicht verzichtet werden konnte. Aus diesen ersten Hypothesen entstanden nach und nach die unterschiedlichen familientherapeutischen/systemischen Denk- und Interaktionsmodelle.

Ich selbst erlebte in meinem ersten Psychiatriejahr mit Betroffenheit das Leiden einer gerade 18 Jahre alt gewordenen jungen Frau, bei der die Verstrickung mit ihrer Ursprungsfamilie fühlbar, aber mit unseren damals sehr begrenzten Mitteln kaum handhabbar war. Mein väterlicher, sozialpsychiatrisch orientierter Chef empfand das damals noch charakteristische »Praecox«-Gefühl der klassischen Psychiater, wenn sie eine chronische Psychose heraufziehen sahen. Ich wollte das nicht akzeptieren und versuchte mit meinen rudimentären familientherapeutischen Kenntnissen im Rahmen einer traditionellen Aufnahmestation Familiengespräche zu arrangieren. Mit institutioneller Unterstützung gelang dies sogar auch, aber leider reichten meine Kompetenzen damals nicht aus, um das fühlbare Verstrickungsgefüge in der Familie effektiv zu erreichen.

Um mir einen Eindruck von ihren familiären Bindungen machen zu können, hatte ich die Patientin ermutigt, ein Familie-in-Tieren-Bild zu zeichnen: In einem nahezu undurchdringlichen Dschungel von Pflanzen und Tieren konnten mit Mühe, aber immerhin noch gestalthaft erkennbar die Tiere ausgemacht werden, welche die Familie symbolisierten. Ein Elefant für den Vater, ein davor liegendes Walross für die Mutter, ein zappelnder Affe in der Mitte für den Bruder der Patientin und sie selbst als Straußenvogel, den kleinen Kopf hoch über die andern hinausgereckt, im Versuch, den Überblick zu behalten. Alle waren irgendwie im Bild, aber niemand auf eine(n) der anderen bezogen. Es wirkte vielmehr so, als ob der Betrachter der eigentliche Fokus der wie hypnotisiert starrenden Familie sei. Erfolglos musste ich damals mit ansehen, wie sich der Zustand der Patientin chronifizierte.

Ich wechselte dann bald für eine fundierte systemische Weiterbildung in die benachbarte, damals konzeptuell bundesweit einzige systemisch orientierte Klinik für Kinder und Jugendpsychiatrie in Viersen.

Entsprechend dem Ansatz des sich entwickelnden systemischen Paradigmas war ich auch damals bereits davon überzeugt, dass sich psychische Störungen weniger in Personen als in Beziehungen ereignen und dass somit eine interaktionelle Perspektive, die die Regeln, Überzeugungen und Erzählungen in Familien in den Blick nimmt, effektiver helfen kann als eine individuumzentrierte Behandlung allein.

Probleme werden in der Systemischen Therapie nicht als Eigenschaften einzelner Personen gesehen. Sie sind oft Ausdruck der aktuellen Kommunikations- und Beziehungsverhältnisse in einem System. Symptome können somit vielfältige Bedeutungen in der familiären Kommunikation haben: z. B. Hinweis auf Stagnation im Entwicklungsfluss, fehlende Responsivität, unklare Grenzen …

Seitdem sind 40 Jahre vergangen, die systemische Arbeit hat sich in vielfältigen Schulen, Richtungen, Denkweisen und Anwendungsfeldern ausdifferenziert und die Systemische Therapie ist, nach der wissenschaftlichen Anerkennung 2008, im November 2018 vom gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) in das gesetzliche Krankenkassensystem aufgenommen worden, vorerst allerdings nur für die Behandlung von Erwachsenen. Der Überprüfungsantrag für die Behandlung von Kindern und Jugendlichen, die sicher eine größere Versorgungsrelevanz hat, ist noch nicht abschließend beschieden. Nach dem Verständnis der kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) ist die Systemische Therapie ein psychotherapeutisches Verfahren, dessen Fokus auf dem sozialen Kontext psychischer Störungen liegt. Das Vorgehen in dieser Psychotherapie berücksichtige insbesondere die Veränderung sozialer Interaktionen und sie könne daher auch im »sogenannten Mehrpersonensetting« angewendet werden, ein Novum in der kassenfinanzierten Psychotherapielandschaft.

In den letzten 20 Jahren weitete sich der Blick von der Familie auf die sie umgebenden Systeme wie Arbeitsfeld, Wohnumwelt und die jeweiligen Kontexte, in denen Therapie und Beratung stattfinden, denn die Systemische Therapie ist ein Ansatz, der Gesundheit und Krankheit und die Lebensqualität von Menschen im Zusammenhang mit ihren relevanten Beziehungen und Lebenskonzepten sieht.

Ein Großteil der Protagonisten des neuen Paradigmas kam aus dem Feld der kreativen Neuanfänge nach dem Zweiten Weltkrieg: Psychoanalytische und humanistische Psychotherapieverfahren entwickelten sich weiter und die Erkenntnisse von Physik und Kybernetik flossen in die Konzeptionierung neuer Ideenwelten mit ein. Kybernetik ist die Wissenschaft der Steuerung und Regelung von Maschinen und ihrer Analogie in den Verhaltensabläufen lebender Organismen und sozialer Organisationen (Wiener 1952).

Als erste theoretische Rahmung der neu entstehenden »Familientherapie« gilt das Modell der Kybernetik 1. Ordnung, beginnend in den 1950er Jahren. Hier stand die Erforschung und Veränderung von Regelgleichgewichten im Fokus des Interesses, im Prinzip ähnlich dem Funktionieren eines Heizungs-Regelkreises, wenn auch komplexer. Es ging damals um »ideales« Funktionieren einer Familie nach bestimmten Regeln, Grenzen, und unter Einhaltung bestimmter Strukturen. Die Aufgabe einer – von der Funktion des Familiensystems getrennt gedachten – Familientherapeutin bestand darin, dysfunktionelle Muster aufzuspüren und durch therapeutischen Einsatz eine »gute« Funktionalität wiederherzustellen.

Bald wurde aber klar, dass die Therapeutin bzw. der Therapeut auch immer Teil des Systems ist, der durch Fragen, Kommentare und andere Interventionen dessen Wirklichkeit mit konstruiert. Diese Erkenntnis markiert den Wandel zur sogenannten Kybernetik 2. Ordnung, Kernbestandteil des radikalen Konstruktivismus. Schon Thomas von Aquin sagte sinngemäß, die Dinge seien im Erkennenden nach seiner Art und nicht nach ihrer Art, oder wie Maturana und Varela (1987, S. 32) feststellen: »Alles Gesagte wird von einem Beobachter gesagt«. Realität liegt nach Heinz von Förster nicht objektiv vor, sondern ist ein Produkt derer, der sie beschreiben. Lebende Systeme gelten nach dem Prinzip der Autopoiese als strukturell determiniert, operational geschlossen, aber energetisch offen. Sie sind Verstörungen (Pertubation) ausgesetzt, wodurch neue Eigenzustände angestoßen werden.

Diese Aussagen der beiden Begründer des biologischen Konstruktivismus, Maturana und Varela, sind umfassend belegt; sie bilden die Grundlage für die Erkenntnis, dass Kognition »nur« der Organisation der Erfahrungswelt des Subjektes dient und nicht der Erfassung einer ontologischen Realität. Folgerichtig geht es im systemischen Gespräch darum, nach einer Phase des »Anschlussnehmens« (Joining) die beobachteten redundanten und restriktiven Muster und Vorannahmen in Frage zu stellen, um dadurch andere Sichtweisen anzuregen. Im Familiensystem soll so, in einem selbstorganisierten Prozess, die Bildung neuer Interpretationsvarianten und Interaktionsregeln angestoßen werden.

Ein wichtiges Werkzeug dazu ist das sogenannte »zirkuläre Fragen«, bei dem nicht eine einzelne Person direkt befragt wird, sondern in Bezug darauf, was sie bei jemand anders beobachtet, vermutet, aus dem Beobachteten schließt. Dadurch ergeben sich relationale Aussagen. Eigene handlungsleitende Annahmen über Beziehungen sowie eine Einschätzung zu Motiven und Prämissen der anderen können so ausgesprochen und damit in die Diskussion eingebracht werden. »Reframing«, also einen Sachverhalt in einen anderen Rahmen stellen, meint eine andere, neue und möglichkeitsgenerierende Interpretation von Ereignissen, meist durch den Therapeuten, die aus der oft festgefügten Erlebensweise der Klienten herausführt. So kann aus dem »ungezogenen« Kind eines werden, das durch anstrengendes Verhalten notwendige Hilfe in die Familie holt. Ressourcenorientierte Metaphern und der Gebrauch von Bildern unterstützen diese Umdeutungsarbeit. Mit Genogrammen, also Familienstammbäumen, werden die unterschiedlichen Dimensionen der beschreibbaren Wirklichkeit auf der Faktenebene verbildlicht und so ebenfalls besprechbar. Skulpturarbeit und Familienaufstellung mit den realen Personen, bzw. mit Holzfiguren, bringt die Beziehungswirklichkeiten innerhalb eines Familiensystems visuell und emotional erfahrbar in den Raum.

Bereits 1991 wurde auf einem viel beachteten Kongress »das Ende der großen Entwürfe und das Blühen systemischer Praxis« konstatiert (vgl. Fischer et al. 1992). Seitdem entwickelt sich vielfältige systemische Arbeit in nahezu allen gesellschaftlichen Feldern. Nach der zunächst oft kognitivistischen Ausrichtung gibt es seit den 2000er Jahren eine Hinwendung zu affektiven Faktoren und zu Körperlichkeit auch im systemischen Denken und Handeln. Eine konsequente Einbeziehung entwicklungspsychologischer und -biologischer Aspekte als rekursiv wirkende »Akteure« im psychosozialen Geschehen wurde allerdings noch nicht vollzogen, auch wenn es gelegentlich bindungstheoretische Beiträge in den einschlägigen Zeitschriften gab sowie bislang eine umfangreichere Monographie, die Systemtheorie und Bindungswissen zusammenbringt (Trost 2018).

Die Welt ist Resonanz

Alles ist mit allem verbunden und in ständiger Resonanz und Bewegung, das ist nach den Erkenntnissen von Teilchenphysik und Chemie das entscheidende Prinzip des gesamten Universums, vom subatomaren Bereich bis hin zu Galaxien und intergalaktischen Beziehungen. Die subatomaren Distanzen und Größenverhältnisse entsprechen dabei exakt denen in Sonnensystemen (Morrison et al. 1983); die Resonanzen der Himmelskörper in unserem Sonnensystem, die Johannes Kepler 1619 in seinem Werk De harmonicae mundi beschrieb, waren bereits seit Pythagoras bekannt. Letztendlich löst sich Materie in Schwingungen auf. Jegliche Eigenschaft von Materie wird durch die Gestaltung des Beziehungsraumes zwischen den Elementen eines Stoffes bestimmt: Die dynamische Anordnung von Protonen, Elektronen und Neutronen in einer Molekularstruktur, im Raum-Zeit-Gefüge macht den Charakter einer Substanz aus. Ähnlich gilt dies für das Zusammenspiel in und von lebenden Systemen. Auch hier geht es um Räume und Zeiten, um freie, gelenkte oder blockierte Schwingungen.

Der Philosoph Martin Buber sagt: »Der Mensch wird am Du zum Ich« (Buber 2008, S. 28), und meint damit, dass die Resonanzen zwischen zwei oder mehr Subjekten Entwicklung und Ausformung einer Persönlichkeit bestimmen. Wir leben wirklich, und ganz von Anfang an, von Resonanz oder, anders ausgedrückt: von emotionaler Spiegelung und daraus resultierender Anerkennung.

Dementsprechend muss die allgemeine Systemtheorie, als Denkfigur systemisch-therapeutischen Handelns, durch die Erkenntnisse von Neurobiologie und Bindungswissenschaft ergänzt werden. Obwohl ich sicher davon ausgehen kann, dass die Leserinnen und Leser dieser von Karl Heinz Brisch herausgegebenen Reihe über hinreichende Basiskenntnisse zur Bindungstheorie verfügen, will ich doch, auch der Lesbarkeit halber, einige Grundlagen referieren.

Bindung ist die Basis

Die Entwicklung des Menschen ist von der Zeugung bis zum Tod zugleich biologisch und sozial-konstruktiv, in einer einzigartigen Verschränkung der Dimensionen vom Magnetfeld bis zur Religion. Bindungsphänomene ziehen sich durch das gesamte Universum, beginnend mit den chemischen, atomaren und Molekülbindungen. In der physikalischen Welt werden Bindungen z. B. durch das Magnetfeld sichtbar. Eine klassische Hierarchie finden wir im Hirnaufbau, bei dem die Hirnteile unterschiedlicher evolutionärer Stufen sinnhaft miteinander verwoben und verbunden sind. In der Psychologie bedeutet Bindung einmal ein Überlebenssystem in der frühen Kindheit aller Säugetiere, dann auch Fürsorge, Zuneigung, Liebe. Soziologisch sprechen wir von Gruppenbindungen oder Gebundensein an ein Regel-, Werte- und Normensystem, an eine Kultur. Last not least gilt die Re-Ligio, also die Rückbindung als ein spirituelles Band zu einer höheren Macht, als das, »was die Welt im Innersten zusammenhält« (Goethe, Faust I).

Bindung … bleibt Gegenstand von Erkenntnis

Physikalisch:Magnetfeld

Chemisch:Molekülbindungen

Biologisch:Gehirnhierarchie

Psychologisch:Überlebenssystem, Liebe

Soziologisch:Gruppen, Kulturen

Spirituell:Re-Ligio

Mit John Bowlby gilt Bindung als ein evolutionär geformtes Überlebensprinzip, seit es Säugetiere gibt. Ursprünglich richtete sich die Bindungsforschung auf die frühe Mutter-Kind-Bindung, sie wurde dann auf die Vater-Kind-Bindung und andere Bezugspersonen erweitert und schließlich auf die Bindungsstile im Lebensverlauf. Beeindruckende Längsschnittstudien, z. B. von Klaus und Karin Grossmann belegen die große konstante Bedeutung von Bindung und gleichzeitig ihre Variabilität über die ganze Lebenszeit hinweg. Im pädagogisch-therapeutischen Bereich wird die Bindungstheorie auf die asymmetrische Arbeitsbeziehung zwischen Therapeut(in), Erzieher(in), Sozialarbeiter(in), Lehrer(in) und jeweils einem Gegenüber in einem längerfristigen und relevanten Kontakt übertragen.

Die entwicklungsnotwendige Resonanz wird in einer frühen responsiven Eltern-Kind-Interaktion verwirklicht und ist damit Grundlage einer sicheren Bindung. Damit kommt der frühkindlich etablierten Bindung zwischen einem Säugling und seinen primären Bezugspersonen eine ganz zentrale Bedeutung zu. Das sogenannte Bindungssystem umfasst drei Dimensionen:

die biologisch angelegte Tendenz des Säuglings, bei einer primären Bezugsperson Schutz zu suchen, um so Sicherheit zu erlangen,

die ebenfalls evolutionär präformierte Fürsorgebereitschaft potentieller Bezugspersonen, meist der Eltern,

die gelingende Passung von a und b ermöglicht dem Kind eine sichere Exploration als Voraussetzung für eine gelingende Anpassung an Umwelt und Entwicklungserfordernisse.

Wir wissen heute, dass Menschen, wenn sie ganz Mensch sein wollen, Voraussetzungen brauchen, die aus bindungstheoretischer und neurobiologischer Sicht als optimal beschrieben werden können. »Ganz Mensch sein« meint so: gut mit sich und anderen im Kontakt sein, Impulse, Affekte und Stress regulieren können, lern- und arbeitsfähig sein sowie Beziehungen und Kooperationen eingehen können.

Über das Resonanzprinzip, über Spiegelung, über Nachmachen und Modifizieren wird die Welt in Bewegung gesetzt, zum Guten oder auch zum weniger Guten. Wichtiger Mittler in diesem Prozess ist das Spiegelneuronensystem, das erst in den 1990er Jahren von den italienischen Neurobiologen Gallese und Rizolatti entdeckt wurde (vgl. Rizzolatti et al. 2004; Gallese 2003). Grob gesagt, befähigt es uns, eine Handlung, ein Gefühl, das wir bei anderen beobachten oder wahrnehmen, auch selbst zu erleben und auszuführen. Wie bei allen höheren Hirnfunktionen gilt auch hier das Prinzip der nutzungsabhängigen Ausdifferenzierung: Was wir häufig tun, das können wir auch gut. Sich in Andere hineinversetzen, Empathie und Perspektivenübernahme wollen damit ebenso trainiert sein wie sportliche oder musische Fähigkeiten.

Allan Schore, einer der aktuell wichtigsten Bindungsforscher in den USA, meint, dass »die Resonanz der rechten Hemisphären von Mutter und Kind in der regulatorischen Interaktion der wesentliche ›promotor‹ für eine normale Entwicklung« sei (Schore 2011). Die rechte Hirnhälfte entwickelt sich früher als die linke, sie ist bereits ab der Geburt rudimentär funktionsfähig, was Gestalterfassung, Gesichtserkennung, bildhaftes und emotionales, ganzheitliches Erleben angeht. Die meist dominante linke Hemisphäre ist eher für das Prozessieren von Zahlen, Sprache, Abstraktion, Logik zuständig und reift deutlich später. Beide Hirnhälften sind durch eine massive Faserstruktur, den Balken, verbunden und bilden zusammen ein voll funktionsfähiges Gehirn. Der Balken ist in hohem Maße sensitiv für chronischen Stress und kann unter solchen Bedingungen seine integrierende Aufgabe nur mangelhaft erfüllen. Daher erleben wir bei organisiert unsicher gebundenen Menschen meist eine Präferenz der einen oder anderen Erlebensweise.

Dreh- und Angelpunkt für das Entstehen von Bindungssicherheit ist die sogenannte Feinfühligkeit (Orig. engl. »tender loving care«). Eine feinfühlige Betreuungsperson nimmt 1.) die Signale des Babys wahr, interpretiert sie 2.) richtig und reagiert 3.) angemessen und 4.) prompt darauf. Säuglinge nehmen genau wahr, welche Bezugsperson sich am besten resonant auf seine Äußerungen hin verhält. Wenn es mehr als eine Person in ähnlicher zeitlicher Verfügbarkeit gibt, wählt das Baby – auf einer archaischen, affektiven Ebene der Hirnorganisation – die feinfühligste als primäre Bindungsperson.

Was passiert in einer feinfühligen frühen Interaktion? Ein zentraler, heute zu neuer Beachtung gelangter Begriff des englischen Psychoanalytikers Wilfred Bion (1963) ist das Containment: Wenn die Mutter die nonverbalen Botschaften ihres Kindes annimmt, aufnimmt, vorverarbeitet und dem Kind in »verdaulicher« (verständlicher) Form zurückgibt, kann sich das Kind gesehen, gehört, verstanden und damit sicher fühlen. Sie benötigt dazu ›intuitive Elterliche Kompetenzen‹, also die Fähigkeit, ohne nachzudenken mit einem Säugling angemessen zu interagieren. Praktisch alle Menschen verfügen über dieses Repertoire, es sei denn, es ist durch früheres oder aktuelles existenzbedrohendes Stresserleben oder eine andere gravierend belastende Ablenkung blockiert. Ziel dieses Prozesses ist es, das Kind in seiner Verarbeitung ängstigender Affekte und Erlebnisse so zu unterstützen, so dass es in explorativem Kontakt mit der Umwelt bleiben kann. Auf körperlicher Ebene entspricht dies der weltweiten Praxis, dass Mütter ihren Säuglingen Essen vorkauen, wenn keine säuglingsgeeignete Nahrung vorzufinden ist. In Vietnam z. B. war es sogar üblich, dass psychiatrische Krankenschwestern an ihre hocherregten Patienten vorgekaute Nahrung mit dem Mund fütterten, was häufig zu nachhaltiger Beruhigung führte (Wulff 1968).

Effektives Lernen von Neuem ist nur möglich, wenn das Bindungssystem deaktiviert ist. Ein »angeschaltetes« Bindungssystem braucht alle Energie zum Überleben, dazu, Sicherheit und Nähe bei der primären Bezugsperson zu suchen. Hier kann und muss auf bewährte Schemata zurückgegriffen werden; innovatives Lernen findet nicht statt.

Die containende Handlung und Haltung gibt also Sicherheit und eröffnet Lernfenster; sie bahnt gleichzeitig auch die Entwicklung eines psychischen Selbst. Die kontingente Spiegelung der Botschaften des Körperselbst des Säuglings als primäre Repräsentation von Ereignissen – Schreien, Motorik, Lautäußerungen – geschieht im Regelfall als markierte Spiegelung. Das heißt, die primäre Bezugsperson macht es nicht ganz genauso wie das Kind, sondern in veränderter, abgeschwächter, gegebenenfalls übertriebener Form. Dadurch merkt das Kind, dass seine eigenen Affekte und Motive gespiegelt werden und dass dies nicht die der Mutter sind. Eine so grundgelegte psychische Repräsentation des eigenen inneren Zustandes ist die Basis von Benennen, Wiedererkennen und Erinnern. Somit ist dieser Zyklus die wesentliche Grundlage von Mentalisieren, nämlich sich und den anderen spüren und denken können. Wenn die Spiegelung anhaltend fehlt oder nicht markiert ist, so führt dies zu einem defizienten Aufbau des kindlichen Selbst (mehr dazu im Abschnitt »Bindung und Trauma«).

Die Erfahrungen des ersten Lebensjahres sind für die Ausdifferenzierung einer balancierten Gehirnarchitektur entscheidend, somit für die Entwicklung emotionaler Ausgeglichenheit, von Kooperations- und Lernfähigkeit, letztendlich für eine Selbstregulation auf vielen Ebenen. Dieser Prozess baut auf genetisch geprägten Grundlagen auf – die allerdings weniger als 20 % der Varianz erklären – und auf den pränatalen Erfahrungen. Hier geht es einmal um sensorische Eindrücke durch Bewegung, durch Vestibulärreize, Geräusch- und Klangimpressionen, tiefensensible Erfahrungen von Herz- und Atemrhythmus und Strömungsgeräusche der mütterlichen Blutgefäße. Insbesondere aber ist die Übertragung von Stresshormonen über die Plazenta, z. B. bei relevanten traumatischen Erlebnissen der Mutter, bedeutsam. Dieser adaptive Mechanismus sorgt dafür, dass ein Kind, welches in eine unsichere Lebenswelt geboren wird, stärkere Überlebensmechanismen ausprägt als ein Kind, dessen Mutter eine ruhige und entspannte Schwangerschaft hatte. Postnatal können als Traumafolge z. B. auch eine ADHS-Symptomatik, Rollenumkehr bei psychisch kranken Eltern oder depressiver Rückzug die Folge sein – sie stellen adaptive, dabei aber stressbeladene Überlebensmuster dar.

Wenn die Passung zwischen Kind und Mutter »gut genug« ist, hat Ersteres hinreichend gute Entwicklungschancen. Hier gilt der alte Winnicott-Begriff von der »good-enough-mother«, die Mutter, die – in Schulnoten ausgedrückt – »nur« 3–4 performt, ist für das Kind optimal; denn das Ziel ist nicht die perfekte Übereinstimmung, sondern ein überwiegend gutes Miteinander mit Momenten von Dissonanz und Unverständnis. Dies hilft dem Kind, sich als von der Mutter verschieden zu erleben, und beide können sich in »Wiedergutmachung« (interactive repair) üben, ein wichtiger Quell sozialer Kompetenz und von Freude in Beziehungen.

Die regulatorische Interaktion bahnt also die Ausbildung selbstregulatorischer Fähigkeiten, eine lebenslange Aufgabe, die spätestens mit der Geburt beginnt. Zu Anfang braucht das Kind durchgängig eine feinfühlige Co-Regulation; es lernt im Laufe der Entwicklung immer mehr, häufiger und besser, sich selbst zu regulieren, und gewinnt so mehr Autonomie und Selbstwirksamkeit. Dabei müssen wir diese Fähigkeit ein Leben lang entwickeln, wir brauchen immer wieder signifikante Dritte, die uns auch mal »geraderücken«, in belastenden Momenten halten und so die Selbstregulation bei schwierigen Lebensereignissen erleichtern.

Auf der Basis der Interaktion des ersten Lebensjahres lassen sich ab einem Alter von ca. zwölf Monaten im Fremde-Situation-Test – der diagnostischen Standardprozedur – Bindungsverhaltensmuster erfassen. Das Kind agiert in diesem Lebensalter noch unbewusst; es verfügt aber bereits über die Matrix, Grundlage für das »innere Arbeitsmodell« (Bowlby: inner working model). Dieses Arbeitsmodell entspricht einer »Landkarte« des Selbst, von anderen und der Welt, mit der ein Mensch durch die überkomplexen Sinneseindrücke navigieren kann, eine Repräsentation von sich selbst und den bedeutsamsten Bezugsobjekten. Dieses verinnerlichte frühe Beziehungsmuster übt eine beständige Wirkung auf die weitere Entwicklung aus und wird in ähnlichen Beziehungssituationen während des ganzen Lebens reaktiviert. Neue, bedeutsame Beziehungserfahrungen können dieses Modell modifizieren; der in den ersten 1–2 Lebensjahren angelegte Kern bleibt aber erhalten.

Die wichtigste Aufgabe dieses Arbeitsmodells ist es, Ereignisse der realen Welt gedanklich vorwegzunehmen, um in der Lage zu sein, das eigene Verhalten besser zu planen, und die Situation kontrollieren zu können. Bei sicher gebundenen Kindern funktioniert dieses Arbeitsmodell als sichere Basis, von der aus sie ihre Umwelt erkunden und begreifen können. In Zeiten von emotionalem Stress fungiert es als eine Art sicherer Hafen. Wir unterscheiden organisierte von desorganisierten Bindungsstrategien. Optimal ist es, wenn Bindungspersonen akzeptierend sind, genügend Sicherheit und Nähe bieten, dann kann sich das Kind, und später der Erwachsene, flexibel zwischen der Welt der Dinge und der Welt der Beziehungen orientieren. Die Emotionsregulation ist ausbalanciert, d. h. die Person ist emotional offen für positive und negative Gefühle und verfügt insgesamt über eine sichere Bindungsrepräsentation.

Als Ergebnisse der großen Längsschnittstudien von Klaus und Karin Grossmann (2012) und L. A. Sroufe et al. (2005) wissen wir: Wenn eine primäre Bezugsperson im ersten Lebensjahr sowohl positive als auch negative Äußerungen des Kindes vorwiegend feinfühlig beantwortet hat, dann:

weinen die Säuglinge schon mit 10 Monaten weniger und äußern sich differenzierter,

willigen die Krabbler häufiger in die Ziele der Mutter ein, sind kooperativer und seltener trotzig,

zeigen die Kleinkinder offener ihre Gefühle und lassen sich gut beruhigen,

können sie ihre Wünsche nach Nähe und Trost oder Hilfe, aber auch nach ungestörtem Erkunden selbständig regulieren und entsprechend handeln.

Falls die primäre Bezugsperson nicht hinreichend emotional verfügbar war, vielleicht sogar zurückweisend bis feindselig, wird das Kind aus stressökonomischen Gründen sein Bindungssystem deaktivieren. Es unterdrückt negative Gefühle wie Kränkung und Angst und betont die eigene Autonomie, allerdings auf Kosten wichtiger Informationen über andere Menschen, zu denen diese unsicher-vermeidend gebundenen Personen kaum emotionalen Zugang haben. »Brüllen und Einssein«, so zitierte ein Workshopteilnehmer, der mit Neonazis arbeitet, einen solchen Klienten, der in dieser nicht personalen Verschmelzung mit einer Gruppe von Gleichgesinnten den einzigen Beziehungsraum in seiner bindungsvermeidenden Welt fand. Mittlerweile gibt es überzeugende Forschungsarbeiten, die das Überwiegen bindungsvermeidender Strategien in der rechten Szene belegen (Brauner 2018).

Auf der anderen Seite des Spektrums finden sich die unsicher-ambivalent gebundenen Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen. Sie haben die Erfahrung gemacht, dass die Bindungspersonen inkonsistent verfügbar und in ihrer Zuwendung unberechenbar sind. Im Sinne der Intervallverstärkung lernen sie, ihr Bindungssystem maximal zu aktivieren, um doch noch eine responsive Reaktion der Bindungsperson zu erhalten. Ihr Arbeitsmodell ist von Gefühlsüberflutung, Hilflosigkeit, Ärger und Abhängigkeit gekennzeichnet, ein besonders anstrengendes und für beide Seiten unerfreuliches Interaktionskontinuum ist die Folge (»Nicht mit dir und nicht ohne dich!«).

Die drei genannten Bindungsstrategien heißen organisiert, weil sie einem viablen inneren Schema folgen, das in weiten Bereichen eine Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ermöglicht. Allerdings sind organisiert-unsichere Menschen oft unglücklicher und zumindest in Teilbereichen des Lebens nicht so erfolgreich. Dazu kommt ein, im Speichel-Cortisol deutlich messbarer, stark erhöhter innerer Stresspegel.

Bindungsforscher haben über viele Jahre die beobachteten Bindungsverhaltensweisen von Säuglingen, Schulkindern, Jugendlichen oder Erwachsenen kategorial klassifiziert. Das gibt eine Orientierung, hat aber den Nachteil, dass Nuancen, Veränderungen in bestimmten sozialen Situationen oder über die Zeit schlecht erfasst werden können. Heute unterscheidet man daher kategoriale Anteile, also primär frühkindlich erworbene Bindungsmuster, von dimensionalen Aspekten, also einem Mehr oder Weniger bestimmter Bindungsstrategien in bestimmten Lebenssituationen, letztlich der – systemischen – Kontextorientierung.

Mentalisieren macht menschlich

Der Begriff Mentalisieren wurde bereits im Zusammenhang mit der markierten Spiegelung des Säuglings durch die Mutter erwähnt. Wegen der großen Bedeutung des Konzeptes heute und wegen seiner Nähe zu systemischen Konzepten soll dieser Aspekt etwas genauer betrachtet werden.

Mentalisieren heißt »äußerlich wahrnehmbares Verhalten in einem bedeutungsvollen Zusammenhang mit innerpsychischen (›mentalen‹) Zuständen und Vorgängen zu erleben und zu verstehen, und umgekehrt [bei sich selbst und bei anderen …]. Dazu gehören Gefühle, Gedanken, Bedürfnisse, Wünsche, Begründungen, Bedeutungen und ganz persönliche Lebenserfahrungen (Bolm 2015). Ein Beispiel: Die sechsjährige Lisa sagt: »Der Junge geht weg; er sieht so aus, als hätte er Angst vor dem kleinen Hund. Ich habe keine Angst und werde ihn streicheln. Dann merkt der Junge, dass der Hund lieb ist, und kommt bestimmt zurück.« Über das reine Verstehen hinaus kann so mittels Mentalisieren ein inneres Szenario entwickelt werden, das es ermöglicht, mit Bedeutungen zu spielen, die Perspektive zu wechseln und gegebenenfalls im mentalen Probehandeln unterschiedliche Handlungsweisen in ihren Konsequenzen zu testen.

Damit kann in sozialen Beziehungen erfolgreich navigiert und das eigene Verhalten reflektiert werden. In gelingenden Bindungsbeziehungen ereignet sich Mentalisierungförderung vom ersten Tag an. Bei der Klientel der Frühen Hilfen, oder z. B. bei Müttern mit postpartaler Depression, bedarf es dazu oft einer professionellen Unterstützung. Meins et al. (2012) haben dazu ein manualisiertes Feinfühligkeitstraining entwickelt (»Mind-Mindedness«), dessen erfolgreiche Durchführung trotz Bindungsunsicherheit aufseiten der Mutter häufig zu einer sicheren Bindung beim Kleinkind führt. Dies ist ein wichtiger Hinweis darauf, dass die intergenerationale Übertragung unsicherer Bindungsmuster grundsätzlich unterbrochen werden kann. Ohne Intervention gilt eine Transmissionsrate von sicheren/unsicheren Bindungsmustern von ca. 80 %.

Reifes Mentalisieren nimmt im flexiblen Wechsel vier Perspektiven ein:

Andere von außen sehen: im Äußerlichen bleiben.

Sich selbst von innen sehen: Gefühls-, Motivations- und Denkleben.

Den anderen von innen sehen: Gefühls-, Motivations- und Denkleben.

Sich selbst von außen sehen: Perspektivwechsel (nach Rottländer 2017).

Die Mentalisierungskompetenz entwickelt sich etwa in den ersten sechs Lebensjahren über verschiedene sogenannte prämentalisierende Modi, die optimalerweise dann in den reflexiven Modus integriert werden. Dies beinhaltet das Nachdenken über sich und andere, einschließlich Gefühlen, Motivationen und Perspektiven, und das Anerkennen von Unterschieden. In sicheren Bindungen gelingt Mentalisieren deutlich früher und besser. In der kinder- und jugendpsychiatrischen Praxis sehe ich allerdings häufig Kinder, die auch im Alter von zehn Jahren nur rudimentär mentalisieren. Sie können sich kaum eine Vorstellung vom eigenen Innenleben und von dem des Gegenübers machen. Dies entspricht den durchweg unsicheren Bindungsstilen bei der kinder- und jugendpsychiatrischen Klientel.

Eltern, die ihr Kind von Anfang an mit mentalisierenden Kommentaren begleiten (»Oh, was ist mein Kleines fröhlich, da freut sich aber der Papa!«; »Ja, du willst das Mobile ergreifen, da helfe ich dir ein bisschen!«), fördern damit sowohl die Sprachentwicklung als auch die Fähigkeit, über sich und andere nachzudenken. Robustes Mentalisieren gilt als protektive Ressource und Moderator für gelingende psychosoziale Entwicklung und für psychische Gesundheit. Stress jeder Art und intensive Emotionen behindern das kontrollierte Mentalisieren, d. h. in solchen Situationen neigen wir zu unüberlegten bzw. Kurzschlusshandlungen, weil automatisierte, früh gelernte, affektive und Denkschemata die Regie übernehmen. Während das kontrollierte Mentalisieren eine Leistung des präfrontalen Kortex ist, wird das implizite von subkortikalen Strukturen automatisiert gesteuert. Kurz gesagt: Da, wo wir das Mentalisieren am meisten brauchen, versagt es leicht.

Eng verwandt mit dem Mentalisierungskonzept und seit etlichen Jahren besonders im Fokus ist der Begriff des epistemischen Vertrauens. Gemeint ist das basale Vertrauen in eine Bezugsperson als sichere Informationsquelle (Wilson & Sperber 2012). Es entsteht durch kontingente (markierte) Spiegelung und Anwendung der intuitiven elterlichen Kompetenzen im Säuglingsalter, somit ist es ebenfalls mit Bindungssicherheit assoziiert. Bindungspersonen verwenden sogenannte Türöffner (Ostensive Cues), um einem Kind zu verdeutlichen, dass es jetzt eine wichtige Botschaft bekommt. Ein Beispiel:

Zu einem vierjährigen Kind, das über die Straße rennen will, geht die Mutter auf Augenhöhe hinunter und in Blickkontakt und sie fasst es an. Sie richtet die gemeinsame Aufmerksamkeit auf die Gefahrensituation und spricht in persönlicher Anrede altersangemessen warnend mit dem Kind. Weil dieses der Mutter vertraut, akzeptiert es deren Anweisung, auch wenn es selbst die Situation nicht überblicken kann.

Es gibt zwei Wege, kulturell weitergegebene Informationen zu eigenem Wissen zu machen – zum einen schlussfolgernd, etwa: Kann es Vampire geben? Eine solche Frage verlangt vergleichsweise große kognitive Reife und Argumentationskapazität. Der andere Weg besteht in der Anerkennung der Autorität der Wissensquelle: Wer sagt das? Und hier kommt die sichere Bindung ins Spiel: Wenn ich zu mentalisieren gelernt habe, die Informationsquelle als sicher einstufen und kritisch denken kann – wir nennen das »epistemische Wachsamkeit« –, ist es bereits im frühen Schulalter möglich, z. B. die Erde sicher als Kugel und nicht als Scheibe zu erkennen. Verunsicherte Menschen, die nicht wissen, wem sie trauen und was sie glauben können, sind deutlich anfälliger für Verschwörungsmythen und populistische Indoktrination als sicher gebundene. Mentalisierende Interventionen, die das eigene wie das Innenleben des Gegenübers wahrnehmen und anerkennen, verbessern umgekehrt auch das epistemische Vertrauen.

In den vergangenen Jahren haben sich etliche neue mentalisierungsbasierte Psychotherapieverfahren für Erwachsene, Jugendliche und auch für Gruppen etabliert und bewährt, vor allem in der Behandlung von Persönlichkeitsstörungen.

Bindung und Trauma

Einige Worte zu den Risiken in der Bindungsentwicklung: Gerhard Roth, einer der bedeutendsten Neurobiologen in unserem Land, hat schon vor etlichen Jahren auf der Basis empirischer Erkenntnisse herausgestellt, dass die Hauptursachen für psychische Störungen die Traumatisierung der Mutter vor und in der Schwangerschaft sowie Traumaerfahrungen des Kindes in den ersten 2–3 Lebensjahren sind. Genetisch-epigenetische Aspekte erklären lediglich eine Varianz von 10–20 % auf (Roth & Strüber 2014).

Für ein Kind ist es traumatisch, wenn die Bezugsperson nicht in der Lage ist, seine Perspektive zu berücksichtigen. Dies wird häufig bei Vernachlässigung, Ablehnung, exzessiver Kontrolle und in verwirrenden Beziehungen erlebt und natürlich bei massiver körperlicher oder sexueller Traumatisierung. Durch das Fehlen der Perspektivenübernahme wird die Mentalisierung beim Kind gehemmt: ein adaptiver Bewältigungsversuch, mit dem es aus stressökonomischen Gründen ein Nachdenken über die Motive der misshandelnden Bezugspersonen verweigert (Taubner 2015).

Häufige Folge substanzieller Traumatisierung eines Kindes ist eine desorganisierte Bindung. Desorganisiertes Bindungsverhalten kann bei mütterlicher Traumatisierung und der Traumaerfahrung des Kindes selbst vorhergesagt werden. Je nach Beziehungs- und Traumakontext wird die jeweilige organisierte Bindungsstrategie von nicht organisierten (nicht zielführenden) Verhaltensweisen durchzogen: ähnlich den aus dem Tierreich bekannten sogenannten Übersprungshandlungen. Solche Verhaltensweisen sind z. B. das Einfrieren von Mimik und Motorik, Stereotypien, Dissoziationen oder sinnlose Handlungen. Desorganisierte Bindungsmuster finden sich im Bevölkerungsquerschnitt bei ca. 15 %; die Zahl steigt mit Armut, psychischer Erkrankung, Fremdunterbringung von Kindern bis auf nahezu 80 %.

In desorganisierten Interaktionszyklen fehlen häufig das »Vorkauen« und die markierte Spiegelung seitens der Bindungsperson. Im Ergebnis kann diese nicht zur inneren Beruhigung des Kindes beitragen, das so nur schwer eine psychische Repräsentation des eigenen Körperempfindens aufbauen kann. Konkret: Wenn die »Borderline-Mutter« das Schreien des Babys mit einem eigenen Ausnahmezustand beantwortet und das Kind seine Erregung nicht herunterfahren kann, muss es, um eine somatische Beruhigung herbeizuführen, seinen eigenen Körper als Objekt benutzen. Dies trägt nicht zu einer psychischen Repräsentation des eigenen Zustandes beim Kind bei, sondern ängstigt es. Die erhöhte innere Erregung muss über den Körper abgeleitet werden: Motorische Stereotypien, Ritzen, später Selbsthass und tiefstes Schamerleben usw. können die Folge sein. Das Mentalisieren und in der Folge der Aufbau eines psychischen Selbst werden dadurch behindert. Die Antwort der Mutter wird aufgenommen, kann aber nicht in ein konsistentes Selbstbild integriert werden; es entsteht ein sogenanntes »Fremdes Selbst«.

Über diesen Mechanismus der Entstehung eines fragilen Selbst kann eine Psychopathologie bindungstheoretisch erklärt werden. Durch das Misslingen früher responsiver Interaktion bahnen sich Entwicklungspfade, die mit nicht adäquater Bewältigung von Entwicklungsaufgaben, mangelhaftem Bezug zu sich selbst, zu anderen und zur Welt verbunden sind. Mittlerweile liegt eine Reihe von qualitativ hochwertigen Studien zur Entstehung von schweren psychischen Erkrankungen wie Schizophrenie, Persönlichkeitsstörungen, aber auch von ADHS auf der Basis von Bindungstraumatisierungen vor.

Bereits in den 1990er Jahren wurden in einer groß angelegten US-amerikanischen Studie, der »Adverse Childhood Experiences (ACE) Study« (Felitti 2002; Anda et al. 2009), mehr als 17 000 Mitglieder einer Krankenkasse bezüglich negativer Kindheitserfahrungen und ihrer Auswirkungen im späteren Leben untersucht. Das überraschende Ergebnis war eine gesicherte Dosis-Wirkungsrelation zwischen belastenden frühen Lebenserfahrungen – durch Vernachlässigung, Misshandlung, sexuellen Missbrauch, aber auch durch psychisch kranke oder inhaftierte Väter oder Mütter – und allen sozialmedizinisch bedeutsamen körperlichen und auch psychischen Erkrankungen in späteren Lebensaltern. Je früher, mehr und intensiver Belastungsfaktoren auf die jungen Menschen einwirkten, umso wahrscheinlicher war eine soziale, emotionale oder kognitive Beeinträchtigung bis hin zu psychosozialer Behinderung, chronisch körperlicher Erkrankung und einem früheren Tod.

Diese weltweit anerkannte und in ihren Konsequenzen noch nicht ansatzweise umgesetzte Studie weist eindrücklich auf die ausschlaggebende Bedeutung der frühesten Kindheit für die körperliche und seelische Gesundheit im gesamten Lebensverlauf hin (Trost 2008). Psychoneuroimmunologische Studien lassen vermuten, dass das Bindungssystem ein Bindeglied darstellt zwischen den negativen Kindheitserfahrungen und Entzündungsprozessen, die für die zur Krankheit führenden Gewebeveränderungen verantwortlich sind (Ehrlich et al. 2016).

Die nicht nur für die therapeutische Arbeit entscheidende Frage ist nun: Wie kann die Weitergabe unsicherer Bindungsrepräsentationen an die nächste Generation unterbunden werden; wie können Familien darin unterstützt werden, sicher gebundene Kinder ins Leben zu schicken? Die Aspekte notwendiger Primärprävention werden im übernächsten Abschnitt angesprochen; während sekundär- bzw. tertiärpräventive Arbeit Gegenstand von Therapie und Pädagogik ist. Hierzu im Folgenden einige Worte:

Systemische Therapie und Beratung und bindungsorientierte Behandlung

Bindungswissen und systemische Arbeit haben immer mehr zueinander gefunden, und nach vielen Jahren des kritischen Einander-Beäugens wurden die synergetischen Wirkungen eines kombinierten Ansatzes erkannt. Wie bereits erwähnt, gab es lange Zeit kaum Publikationen, die dies herausstellten. Dabei hat ein wichtiger Protagonist der Bindungstheorie, Hermann Scheuerer-Englisch, bereits 1993 in der Verbandszeitschrift Kontext (24-2) einen exzellenten Aufsatz genau dazu verfasst. Beide Ansätze waren noch neu, sie mussten sich jeweils finden, abgrenzen, differenzieren, blinde Flecken aufdecken und sind jetzt so weit gereift, dass der Gewinn des einen für den anderen sichtbar und nutzbar geworden ist. Hier eine Auflistung der wesentlichen Gemeinsamkeiten:

Anders als viele andere psychotherapeutische Verfahren gehen sie immer über die Einpersonenperspektive hinaus: Es geht nicht um das, was »im« Patienten/Klienten ist, sondern darum, welche Muster »zwischen« den Beteiligten wirksam werden. Genau dort findet auch Behandlung statt.

In beiden Ansätzen ist es der Kontext, der Bedeutung und Sinn erzeugt.

Beide Ansätze verfügen über ein zutiefst humanes Wertekonzept. Ressourcen, Respekt und Responsivität stehen im Vordergrund.

Zum Gewinn für die Bindungsarbeit gehören beispielsweise folgende systemische Denk- und Handlungsweisen:

Ent-Hypnotisierung von Konstrukten: nicht mehr auf die Schlange starren;

Re-Kontextualisierung: größere Kreise ziehen;

Ressourcen- und Lösungsorientierung;

Metaposition vs. Verwicklung in Beziehungen;

Haltung des Nicht-Wissens, des Nicht-Experte-Seins: Hypothetisieren, Zirkularität, Neutralität;

hilfreiche Techniken: Genogrammarbeit, zirkuläres Fragen, Aufstellungen.

Die Bindungstheorie steuert zur systemischen Arbeit folgende Aspekte bei:

empirische, handhabbare Verknüpfung von biologisch-evolutionären und sozial-konstruktiven Aspekten;

Containment und Halt als entwicklungsförderliche Basisvariablen;

neurobiologische und entwicklungspsychologische Aspekte von Bindung und Trauma;

das Konzept »Mentalisieren« inklusive der Mentalisierungsförderung;

das Wissen über die lebenslange Wirkung der frühkindlich erworbenen Bindungsmuster;

in der therapeutischen Beziehung: die »Gute-Großmutter-Übertragung« (Stern 1998, S. 227) vs. »Neutralitätsgebot«;

der Nutzen einer Reflexion des eigenen Bindungsstils;

die Chance, im systemisch-familientherapeutischen Prozess direkt mit den Bindungsbedürfnissen arbeiten zu können, sobald sie in der Familieninteraktion sichtbar werden (Scheuerer-Englisch 1993; siehe auch in Anwendungsbeispiel 3 dieses Beitrags).

Die Psychotherapieforschung hat gezeigt, dass der Ausgestaltung der therapeutischen Arbeitsbeziehung ein hoher Stellenwert im Hinblick auf den Erfolg einer Therapie zukommt. Wenn es nicht gerade um eine niedrigst-frequentierte systemische Intervention geht, wie sie in den Anfangsjahren oft praktiziert wurde, sondern um ein relevantes, mindestens mittelfristig angelegtes Arbeitsbündnis, so werden sich Anteile einer Bindungsbeziehung manifestieren.

Merksätze für die Praxis sind:

In jeder Beratung/Behandlung, die Bindungsdimension berücksichtigen und wertschätzen.

Die Fachkraft als sichere Basis etablieren: kongruent und empathisch in der nonverbalen und verbalen Kommunikation, transparent und verlässlich, warmherzig und klar.

Containing und Affektregulation je nach aktueller Situation gestalten.

Asymmetrie, Gleichrangigkeit und Würde beachten.

Immer wieder: Mentalisieren auch modellhaft fördern.

Die emotionale Dichte in Interaktion und Setting dem Gegenüber und seiner aktuellen Verfassung angemessen regulieren.

Die Exploration von nahen Beziehungen, auch in der Mehrgenerationenperspektive, ressourcenorientiert unterstützen.

Kontext- und traumasensibel vorgehen, dabei Systemdynamiken beachten.

Die Dreieckspole von Begegnung (Binden), Struktur (Halten) und Förderung von Neugier und Kreativität (Lösen) im Behandlungsprozess dynamisch ausbalancieren.

Die Arbeitsbeziehung laufend überprüfen, dabei Übertragungs- und Gegenübertragungsreaktionen sowie Reinszenierungen alter Muster beachten.

Eigene Bindungsmuster kennen und bei der Arbeit berücksichtigen.

Soziale und politische Kontextfaktoren einbeziehen.

Achtsam mit Trennungen (Urlaube, Abschiede) umgehen.

Bindungsprävention im Blick haben, anstoßen, durchführen.

Ein systemisch-bindungsorientiertes Modell lässt sich in den unterschiedlichsten therapeutisch-pädagogischen Handlungsfeldern anwenden. Hier in der gebotenen Kürze drei Anwendungsbeispiele:

1. Erste Erfahrungen machten wir bereits vor vielen Jahren in der kinderpsychiatrischen Tagesklinik (vgl. Trost 2018). Vor der Aufnahme eines – in der Regel aus einer hochgradig belasteten Familie stammenden – Kindes stand ein Joining-Prozess, den wir heute als »Etablierung einer sicheren Basis für alle beteiligten Familienmitglieder« bezeichnen würden. Die Aufnahme – meist für ein ganzes Schuljahr – geschah nur mit einem vollen Ja der beteiligten Fachkräfte ebenso wie des Kindes und seiner Eltern. Dadurch konnten »Jein«-Konstellationen, wie sie im klinischen Alltag und auch in den Ursprungsfamilien oft beobachtet werden, vermieden werden. Das volle Ja zum Kind, seiner Problematik und seinen Stärken erwies sich dann geradezu als Modell für ein sicheres Bindungsgeschehen innerhalb des Behandlungskontextes. Ein stringent durchgehaltenes Bezugsbetreuersystem sorgte dazu für Klarheit und Responsivität in der Interaktion. Bisweilen war ein täglicher Kontakt der Bezugsbetreuerin des Kindes mit z. B. dessen Mutter notwendig, um mit dieser gemeinsam die Ratlosigkeit über das Verhalten des Kindes zu teilen und zu überlegen, welche Maßnahme wohl angebracht sei. Die Eltern blieben immer Auftraggeber und Experten, sie konnten sich so in der Unterstützung von Erzieherinnen oder auch Lehrern im Umgang mit ihrem Kind als selbstwirksam erleben. Mit dieser haltgebenden Rahmung konnten dann, z. B. im Rahmen von Familiengesprächen, systemische Interventionen, wie etwa Reframing, wirken. Eine konsequente Ressourcenorientierung stand dabei nicht im Widerspruch zur Bearbeitung individueller biografischer Verletzungen beim Kind oder auch bei seinen Eltern. Bei einer so langen Behandlungsdauer und täglichem Wechsel des Kindes zwischen dem System »Elternhaus« und dem der Tagesklinik entstanden naturgemäß Bindungsbeziehungen, mit den entsprechenden Übertragungen und Konflikten. Durch regelmäßige Supervision des Behandlungsteams (nicht des gesamten Tagesklinikteams!) konnten die begleitenden Affekte immer wieder reflektiert und neu gerahmt werden. Dadurch wurden in vielen Fällen Heilungs- und Integrationsprozesse angeregt.

2. Ein weiteres Beispiel ist die langjährige Begleitung eines Kinder- und Jugenddorfes. Diese Einrichtung der stationären Kinder und Jugendhilfe ist schon per se familienähnlich organisiert und hat sich das Thema »Bindung« auf die Fahne geschrieben, hier im Sinne der Etablierung einer sekundären Bindung bei den meist bindungstraumatisierten Kindern und Jugendlichen. Durch die Beteiligung anderer Systeme wie der Ursprungsfamilien der Kinder, von Jugendämtern, Gerichten ist es oft schwierig, dieses Ziel zu verfolgen; denn nicht nur die beteiligten Kinder agieren in ihren Loyalitätskonflikten an der Grenze zwischen den Systemen so, dass das Zusammenleben erschwert bis unmöglich gemacht werden kann. In diesem Kontext gibt es mehrere Ebenen eines systemisch-bindungsorientierten Inputs. Zum einen:

über themenspezifische Workshops, wie z. B. »Mentalisieren«, »Berührung«, »Bindung und Trauma«, in der pädagogischen Arbeit.

b.in Form von 2,5-stündigen Fallworkshops, bei denen in der Regel gut 35 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus Kinderdorffamilien, Schichtdienstgruppen, aus dem pädagogischen Fachdienst sowie Erziehungsleitungen teilnehmen: Eine Gruppe bereitet einen »Sorgenfall« vor, mit der Vorstellung des Kindes/der Familie, auch anhand von Zeitleiste und Genogramm; eine typische Alltagssituation wird als eine konkrete Fragestellung eingebracht. Diese wird im Plenum und in kleinen Gruppen mit dem Ziel der Entwirrung, der Ressourcen- und Lösungssuche bearbeitet. Nicht selten setzen wir Aufstellungsarbeit ein, zur Klärung von Zuständigkeiten, affektiven Verwicklungen und um eine passende Position für das Kind und seine Bezugspersonen zu finden; c.findet bei Bedarf eine bindungsorientierte Supervision im jeweiligen Team statt. Bei der Komplexität der beteiligten Systeme mit ihrem unterschiedlichen Interesse liegt der Fokus meiner Arbeit häufig auf dem Containing für Kinder, Mitarbeiter, Teams und wenn möglich auch für Vormünder, Eltern, Jugendämter, Gerichte und Schulen. Je nach Situation werden diese in die regelmäßige d.fachärztlich-therapeutische Sprechstunde für die Kinder und ihre Bezugsbetreuerinnen eingebunden; gutachterliche und therapeutische Angebote meiner Praxis dienen zusätzlich dem Generieren eines sicheren Ortes, einer sicheren Basis, um Entwicklungsprozesse zu erleichtern.

3. Last but not least, ein kurz gefasstes Beispiel aus der ambulanten kinder- und jugendpsychiatrischen Praxis:

Frau Beate N., Mutter von zwei Jungen, stellte 2006 ihren gut siebenjährigen Sohn Mike mit Symptomen von ADHS vor. Schnell wurde deutlich, dass es sich um ein mehrgenerational von Gewalt bestimmtes Familiensystem handelte, mit den entsprechenden Auswirkungen auf beide Söhne. Der zwei Jahre jüngere Tom kam dann ein Jahr später ebenfalls in die Behandlung. Diese war von Anfang an (also bei Mike wie dann auch bei Tom) systemisch ausgerichtet, mit dem Fokus auf ein Containing der ganzen Familie, um so Ressourcen zu mobilisieren – neben den üblichen ADHS-spezifischen Behandlungen wie verhaltenstherapeutisches Training, zeitweise Medikation und auch Kindertherapie. Ein weiteres Jahr danach meldete sich die jüngere Schwester von Frau N., Rosa L., zunächst mit ihrer ältesten Tochter, die ebenfalls Verhaltensauffälligkeiten zeigte und bei der es Anzeichen einer beginnenden Magersucht gab. In Zweijahresabständen kamen deren beide Brüder hinzu.

Abb. 1: Genogramm der Familien N. und L.

Auch bei Familie L. gab es unterschiedliche Fragestellungen in Bezug auf Regeln und Grenzen, ADHS-Problematik, leichte Körperbehinderung; immer stand auch hier die Notwendigkeit guten Containings im Vordergrund. Beide Eltern waren früh bindungstraumatisiert und suchten eine Arbeitsbeziehung mit dem Therapeuten im Sinne der »Gute-Großmutter-Übertragung« (Stern 1998). Die Familie kam, erzählte von ihrem Leben; ich hörte zu, begleitete mit Komplimenten und Humor und gab gelegentlich einen therapeutischen Impuls. Ähnlich war es bei Familie N. Hier ging es häufig um Geschwisterrivalität, darum, dass die Jungen eine ungerechte Behandlung durch ihren Vater beklagten, und um die psychische Erkrankung des Vaters sowie um die Trennung der Eltern seit 2010. Auch danach kam der Vater weiter zu den Treffen in meiner Praxis. Die massive Gewalterfahrung von Beate und ihre Resilienz, die sie im Jugendalter entwickelte, wurden erst spät Thema.

Signifikant war ein Treffen der Familie mit mir als behandelndem Jugendpsychiater in der Schule des jüngeren Tom. Wegen Verhaltensauffälligkeiten drohten massive schulische Strafmaßnahmen und wir waren zusammengekommen, um nach einer Lösung zu suchen. In einer bewegenden Sitzung zusammen mit Klassenlehrer und Rektorin kam es nach einer Phase des Feststeckens erstmals zu einer Annäherung zwischen dem Vater, der bis dahin den älteren, sportlich erfolgreichen Sohn bevorzugt hatte, und seinem jüngeren Sohn. Es war deutlich, dass Paul, der Vater, Toms inneren Zustand nicht mentalisieren konnte. Tom saß weit entfernt von seinem Vater in der Runde und wirkte wie ein Häufchen Elend, Paul konnte sich aber nicht vorstellen, was in seinem Sohn vorging. Auf meinen Vorschlag hin, er möge sich neben ihn setzen, ihn berühren, anschauen, kam Bewegung in die Szenerie, und der Vater konnte sich schließlich seinem Sohn körperlich und auch innerlich zuwenden. Dies brachte eine wesentliche und anhaltende Veränderung in der gesamten Familiendynamik. Obwohl die Bewältigung der anstehenden Entwicklungsaufgaben für kein Familienmitglied einfach war, zeigte sich in einem katamnestischen Hausbesuch, zwei Jahre nach dem Behandlungsabschluss, dass alle Beteiligten einen Weg für sich gefunden hatten, ihr Leben zu gestalten und zu bewältigen.

Auch wenn die Behandlung in den beiden Schwesterfamilien getrennt blieb, so war doch die eine Familie immer auch Thema bei der anderen. Beate hatte sich schon als Kind für Rosa verantwortlich gezeigt; sie zog in ihre Nähe, als die Mutter der beiden Rosa 1985 ins Heim gegeben hatte. Letztlich war die hochgradig destruktive Dynamik in der Ursprungsfamilie der beiden Mütter

präformierend für deren weitere Entwicklung. Sie hatten sich die »passenden« Männer gesucht und selbst Kinder geboren. Anders als ihre eigenen Eltern waren sie aber in der Lage, sich Hilfe zu holen, selbst erhebliche Entwicklungsschritte zu gehen und ihren Kindern eine signifikant bessere Zukunft zu ermöglichen.

Systemische Profis binden sich

Neben dem Erwerb eines guten theoretischen Fundamentes, wie es zu Beginn dieses Kapitels skizziert wurde, benötigen systemische Profis ein methodisches Repertoire, das sowohl systemische Techniken als auch angewandtes Bindungswissen, inklusive Methoden der Mentalisierungsförderung, umfasst, und nicht zuletzt eine sorgfältig reflektierende Haltung in Bezug auf die Arbeitsbeziehung. Insbesondere die Kenntnis und Reflexion des eigenen Bindungsstils in der Wechselwirkung mit dem des Gegenübers kann helfen, unbewusstes Agieren in der systemischen Arbeit mit den Klienten zu vermeiden, deren meist unsichere Bindungssysteme aufgrund der Problemlagen und der Beratungssituation häufig aktiviert sind.

Bindungsgeschehen ist primär präverbal und rechtshemisphärisch (Schore 2019); das bedeutet, dass es sich oft unterhalb der bewussten Kognitionsschwelle durch kleine nonverbale mimische und Körpersignale vermittelt. Eine professionelle systemisch bindungsorientierte Arbeit zeichnet sich dadurch aus, dass solche Signale wahrgenommen und als Ressource genutzt werden. Das verlangt eine hohe Präsenz und immer wieder ein professionelles Balancieren zwischen Beziehungsangeboten, Haltgebung und Lösungsorientierung. Die wesentlichen Variablen einer nicht nur vorübergehenden Arbeitsbeziehung sind rechtshemisphärisch: Regression, Übertragung und Gegenübertragung. Systemische Arbeit erscheint hingegen oft linkshemisphärisch, bedient sich aber, wie etwa die Hypnotherapie, der Konfusionstechniken, die links blockieren und rechtshemisphärischem Erleben und Handeln Raum geben. Auch gekonntes zirkuläres Fragen erzeugt einen Trancezustand, der linkshemisphärisches Denken zumindest zurückdrängt.

Bislang gibt es wenig Forschung zur Bindungsqualität bei denjenigen, die therapeutische Expertise anbieten. Es wurde jedoch deutlich, dass sicher gebundene Helferinnen und Helfer bei ihren Klienten effektiver sind. Dies ist umso bedeutender, als wir in eigenen Studien, die aktuell mehr als 1600 Fachkräfte aus dem psychosozialen Spektrum umfassen (Psychotherapeutinnen und -therapeuten, Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter, Ehe- und Familienberaterinnen und -berater, systemische Therapeutinnen und Therapeuten), überwiegend unsichere Bindungsstile fanden. Auch in der systemischen Community konnte eine kleinere Kohorte (N = 276) mit einem bewährten, an einer Repräsentativstichprobe reanalysierten (Brähler et al. 2008) Fragebogenverfahren, dem Bielefelder Fragebogens zu Partnerschaftserwartungen (BFPE) (Höger & Buschkämper 2002), befragt werden. Hier fand sich bei über 64 % ein hochaktiviertes Bindungssystem (in etwa entsprechend einer unsicher-ambivalenten Bindungsrepräsentation), mehr als in allen anderen untersuchten Gruppen aus helfenden Berufen, und nur bei 12.4 % ein sicherer/bedingt sicherer Bindungsstil. Das Ergebnis unterschied sich stark vom Bevölkerungsquerschnitt (42 % sicher/bedingt sicher, 38 % ambivalent). Eine detailliertere Darstellung wurde in Trost (2018) veröffentlicht.

Im Übrigen kann ein hochaktivierbares Bindungssystem der Therapeutin bzw. des Therapeuten durchaus zur Ressource werden: mit guten »Antennen« für die Nöte und Bedürfnisse anderer, hoher Präsenz und Einfühlungsbereitschaft. Andererseits besteht das Risiko, von den Schilderungen und Affekten des Gegenübers getriggert und dann von eigenen Affekten überflutet zu werden, die Grenze hin zum anderen zu verlieren. Durch diese, oft dauerhafte Überbelastung kann dann anstelle einer angemessenen Distanzierung, eine Pseudometaposition mit Empathieverlust und gegebenenfalls Rationalisierung des Scheiterns resultieren. Zudem steigt das Risiko einer sekundären Traumatisierung (Daniels 2011), also der traumagleichen Belastungsreaktion durch die Arbeit mit traumatisierten Klientinnen und Klienten, bei einer unsicher gebundenen Helferin/einem Helfer (Pentz & Trost 2015).

Dies unterstreicht die Notwendigkeit, selbst durch ein wertschätzendes und kooperatives Arbeitsklima in der eigenen Institution gehalten zu werden und die eigenen Arbeitsprozesse, die Arbeitsbeziehung, insbesondere die Übertragungs- und Gegenübertragungs-Dynamiken in Supervision und Intervision, sorgfältig zu reflektieren. Daneben brauchen wir als psychosoziale Profis ein regelmäßiges Update unseres Wissens zu Bindung und Mentalisierung, entsprechend dem rasant fortschreitenden Erkenntnisstand.

Bindung braucht Prävention

Zum Schluss einige Sätze zum Thema »Prävention«. Ein afrikanisches Sprichwort sagt: »Es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind großzuziehen«. Neben den Eltern als primäre Bindungspersonen sind Unterstützer aus der Verwandtschaft, insbesondere Großeltern, sowie die kulturellen Möglichkeiten einer Gemeinschaft notwendig, damit Kinder kooperationsfähige, reflektierende Erwachsene werden. Wir können heute nicht mehr so tun, als wüssten wir nicht, wie entscheidend die ersten Lebensjahre für die »Menschwerdung« sind. Hier wird festgelegt, ob ein Mensch eine sichere Bindung erwirbt und damit die erste und notwendige Voraussetzung für balanciertes Fühlen, Handeln, Reflektieren als Individuum in einer Gemeinschaft geschaffen.

Wir müssen also heute über Bindungsorientierung als politisch-soziale Aufforderung sprechen und so deutlich über den systemisch-psychotherapeutischen Tellerrand hinausschauen. Bindungsprävention als gesellschaftsprägende Selbstverständlichkeit findet man nur ganz selten, auch in unserem so reichen Land mit so hochdifferenzierten Sozialsystemen. Finnland geht seit über 70 Jahren einen anderen Weg. Mit dem »Neuvola«-Programm, das zunächst die Verringerung von Säuglingssterblichkeit zum Ziel hatte, wurde ein flächendeckendes Unterstützungssystem für werdende und junge Eltern geschaffen, das größtmögliche Bindungssicherheit auf den Weg bringt. Stimmen, die »nachhaltige Erziehungs- und Bildungspartnerschaften zwischen professionellen Akteuren und den Eltern ›rund um die Geburt‹« für ein »Gebot der Vernunft« halten (Meier-Gräwe 2010, S. 47), gibt es aber auch in Deutschland. Solche Argumente kommen häufiger noch aus den Wirtschafts- als aus den Sozialwissenschaften. Wir wissen seit langem, dass frühe Unterstützung, Frühe Hilfen, Frühförderung im Hinblick auf die Kosten-Nutzen-Relation gesellschaftlicher Investitionen effektiv sind. Heckman und Masterov wiesen schon 2007 darauf hin, dass sich solche Investitionen nur bis zum mittleren Schulalter ökonomisch auszahlen. Investitionen nach diesem Alter bringen wenig – was bis dahin nicht gefördert wurde, kostet ab dann nur noch. Pfeiffer und Reuß (2008