Bindungsstörungen - Karl Heinz Brisch - E-Book

Bindungsstörungen E-Book

Karl Heinz Brisch

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Beschreibung

Der Bestseller erstmals vollständig überarbeitet und erweitert Das Standardwerk vom führenden Bindungsexperten im deutschsprachigen Raum Über 40.000 verkaufte Exemplare Ein internationaler Bestseller mit Übersetzungen in acht Sprachen Karl Heinz Brisch zeigt auf, wie psychische Störungen von Säuglingen, Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen aus Bindungssicht verstanden und klassifiziert werden können. Die von ihm entwickelte bindungsbasierte Psychotherapie eröffnet neue Wege, sogar schwerste Störungen erfolgreich zu behandeln. Dabei berücksichtigt er stationäre, ambulante sowie Einzel- und Gruppen-Settings. Neueste Erkenntnisse aus den Neurowissenschaften, der Epigenetik und der Psychoneuroimmunologie haben in diese Neuauflage Eingang gefunden. "Das beste Übersichtswerk darüber, wie man die Bindungstheorie einsetzen kann und Behandlungsmethoden bei Patienten mit Bindungsproblemen strukturiert." Sir Michael Rutter in: Handbook of Attachment

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Seitenzahl: 812

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Cover for EPUB

Karl Heinz Brisch

Bindungsstörungen

Von der Bindungstheorie zur Beratung und Therapie

19., erweiterte und vollständig überarbeitete Auflage

Klett-Cotta

Impressum

»Bindungsstörungen« – ein internationaler Erfolg:

Englischsprachige Ausgabe: Guilford Press

Koreanisch: Sigma Press

Italienisch: Giovanni Fioriti

Japanisch: Seishin Shobo

Russisch: Co gito Centre

Tschechisch: Portál

Ukrainisch: UUAP

Persisch: Dr. Saeed Ghanbari

Chinesisch: Posts & Telecom Press Co.

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

© 1999/2022 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Cover: Bettina Herrmann, Stuttgart

Unter Verwendung einer Abbildung von © southnorthernlights/photocase.de

Gesetzt von Eberl & Koesel Studio, Kempten

Gedruckt und gebunden von Friedrich Pustet GmbH & Co. KG, Regensburg

ISBN 978-3-608-94937-7

E-Book ISBN 978-3-608-11949-7

PDF-E-Book ISBN 978-3-608-20599-2

19., erweiterte und überarbeitete Auflage, 2022

20. Auflage, 2023

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhalt

Danksagung

Vorwort von Lotte Köhler zur 1. Auflage 1999

Vorwort des Autors zur 1. Auflage

Vorwort des Autors zur überarbeiteten und erweiterten Neuauflage 2009

Vorwort des Autors zur überarbeiteten und erweiterten Neuauflage 2022

Einleitung

TEIL 1

Die Bindungstheorie und ihre Konzepte

Historischer Überblick

Entwicklung der bindungstheoretischen Konzepte

Grundannahmen der Bindungstheorie

Definition von Bindung und Bindungstheorie

Das Bindungssystem

Feinfühligkeit und Bindungsqualität

Hierarchie der Bindungspersonen

Innere Arbeitsmodelle

Stabilität der Bindungsrepräsentationen

Explorationssystem

Wechselwirkung zwischen Bindungssystem und Explorationssystem

Zielkorrigierte Partnerschaft

Bindung und Exploration im Verlauf des Lebens

Weitergabe von Bindungsmustern zwischen den Generationen

Sichere Bindung als Schutzfaktor

Bindung, Genetik, Neurobiologie und Trauma

Der Einfluss von traumatischen Erfahrungen auf Funktion und Struktur des Gehirns

Konzept der Feinfühligkeit

Feinfühligkeitstraining für werdende Eltern

Konzept der kindlichen Bindungsqualität

Klassifikation der Bindungsqualität des Kindes

Bindungsdesorganisation und Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (

ADHS

)

Zusammenhänge zwischen der Bindungsqualität des Kindes und elterlichen Verhaltensweisen und Repräsentationen

Traumata und Desorganisation

Desorganisation und Bindungsstörung

Konzept der Bindungsrepräsentation

Bindung zwischen den Generationen und im Verlauf des Lebens

Bedeutung von Schutz- und Risikofaktoren

Bindungsbasierte familienergänzende Betreuung und Begleitung von Kindern

Bindung und Trennung in anderen psychotherapeutischen Schulen

Psychodynamische Modelle

Lerntheoretische Modelle

Systemtheoretische Modelle

Die Schematherapie

Mentalisierungsbasierte Therapie (

MBT

)

Zusammenfassung

TEIL 2

Bindungsstörungen

Bindung und Psychopathologie

Bindung und Trauma

Theorie der Bindungsstörung

Bindungsklassifikation in diagnostischen Manualen

Diagnostik und Typologie von Bindungsstörungen

Keine Anzeichen von Bindungsverhalten

Undifferenziertes Bindungsverhalten

Unfall-Risiko-Typ der Bindungsstörung

Übersteigertes Bindungsverhalten

Gehemmtes Bindungsverhalten

Aggressives Bindungsverhalten

Bindungsverhalten mit Rollenumkehr

Bindungsstörung mit Suchtverhalten

Psychosomatische Symptomatik

Diagnostisches Vorgehen und Methoden der Bindungsdiagnostik

Feststellung der Feinfühligkeit in der Eltern-Kind-Interaktion

Einschätzung der Bindungsqualität von Säuglingen und Kleinstkindern

Diagnostik von Bindungsstörungen

Diagnostik des Bindungsverhaltens im Vorschulalter

Diagnostik des Bindungsverhaltens im Kindergarten- und bis zum Ende des Grundschulalters

Bindungsklassifikation der Bezugspersonen

Verschiedene Instrumente in der Bindungsdiagnostik

Entwicklung von Screening-Fragebogen

Bindungsdiagnostik in der häuslichen Umgebung

Differentialdiagnose

TEIL 3

Bindungsbasierte Psychotherapie

Definition und Abgrenzung

Theorie der bindungsbasierten Psychotherapie

Technik der Behandlung

Allgemeine Gesichtspunkte zur Psychotherapie von Erwachsenen

Allgemeine Gesichtspunkte zur Psychotherapie von Kindern und Jugendlichen

Spezielle Gesichtspunkte

TEIL 4

Behandlungsbeispiele aus der klinischen Praxis

Präkonzeptionelle Bindungsstörung

Der unerfüllte Schwangerschaftswunsch – Bindungsangst in Bezug auf das phantasierte Kind

Erstvorstellung und Symptomatik

Anamnese

Bindungsdynamische Überlegungen

Therapieverlauf

Abschließende Bemerkungen und Katamnese

Pränatale Bindungsstörung

Angst der Schwangeren vor der Lösung der Bindung durch die bevorstehende Geburt

Erstvorstellung und Symptomatik

Anamnese

Bindungsdynamische Überlegungen

Abschließende Bemerkungen und Katamnese

Schwangerschaftskomplikationen und Risikoschwangerschaft

Erstvorstellung und Symptomatik

Anamnese

Bindungsdynamische Überlegungen

Therapie und Verlauf

Abschließende Bemerkungen und Katamnese

Pränatale Fehlbildungsdiagnostik

Erstvorstellung und Symptomatik

Anamnese

Bindungsdynamische Überlegungen

Therapie und Verlauf

Abschließende Bemerkungen und Katamnese

Postpartale Bindungsstörung

Postpartal depressive Mutter

Erstvorstellung und Symptomatik

Anamnese

Bindungsdynamische Überlegungen

Therapie und Verlauf

Abschließende Bemerkungen und Katamnese

Postpartal psychotische Mutter

Erstvorstellung und Symptomatik

Anamnese

Bindungsdynamische Überlegungen

Therapie und Verlauf

Abschließende Bemerkungen und Katamnese

Trauma der Frühgeburt

Erstvorstellung und Symptomatik

Anamnese

Bindungsdynamische Überlegungen

Therapie und Verlauf

Abschließende Bemerkungen und Katamnese

Bindungsstörungen im Kleinkind- und frühen Schulalter

Keine Anzeichen von Bindungsverhalten

Erstvorstellung und Symptomatik

Anamnese

Diagnostische Spielbeobachtung

Bindungsdynamische Überlegungen

Therapie und Verlauf

Abschließende Bemerkungen und Katamnese

Undifferenziertes Bindungsverhalten: Soziale Promiskuität

Erstvorstellung und Symptomatik

Anamnese

Bindungsdynamische Überlegungen

Therapie und Verlauf

Abschließende Bemerkungen und Katamnese

Unfall-Risiko-Verhalten

Vorgeschichte und Symptomatik

Anamnese

Bindungsdynamische Überlegungen

Therapie und Verlauf

Abschließende Bemerkungen und Katamnese

Übersteigertes Bindungsverhalten: Exzessives Klammern

Vorstellungsgrund und Symptomatik

Anamnese

Bindungsdynamische Überlegungen

Therapie und Verlauf

Abschließende Bemerkungen und Katamnese

Gehemmtes Bindungsverhalten: Übermäßige Anpassung

Erstvorstellung und Symptomatik

Anamnese

Bindungsdynamische Überlegungen

Therapie und Verlauf

Abschließende Bemerkungen

Aggressive Symptomatik

Erstvorstellung und Symptomatik

Anamnese und Bindungsdynamische Überlegungen

Therapie und Verlauf

Abschließende Bemerkungen und Katamnese

Rollenumkehr

Erstvorstellung und Symptomatik

Anamnese

Bindungsdynamische Überlegungen

Therapie und Verlauf

Abschließende Bemerkungen und Katamnese

Psychosomatische Symptomatik

Wachstumsretardierung

Erstvorstellung und Symptomatik

Bindungsdynamische Überlegungen

Therapie und Verlauf

Abschließende Bemerkungen und Katamnese

Essstörung

Anamnese

Bindungsdynamische Überlegungen

Therapie und Verlauf

Bindungsstörungen und Schule

Schulangst

Erstvorstellung und Symptomatik

Anamnese

Bindungsdynamische Überlegungen

Therapie und Verlauf

Abschließende Bemerkungen und Katamnese

Leistungsverweigerung

Erstvorstellung und Symptomatik

Anamnese

Bindungsdynamische Überlegungen

Therapie und Verlauf

Abschließende Bemerkungen und Katamnese

Aggressivität

Erstvorstellung und Symptomatik

Anamnese

Bindungsdynamische Überlegungen

Therapie und Verlauf

Abschließende Bemerkungen und Katamnese

Bindungsstörungen in der Adoleszenz

Suchtsymptomatik

Erstvorstellung und Symptomatik

Anamnese

Bindungsdynamische Überlegungen

Therapie und Verlauf

Abschließende Bemerkungen und Katamnese

Dissozialität und Delinquenz

Erstvorstellung und Symptomatik

Anamnese

Bindungsdynamische Überlegungen

Therapie und Verlauf

Abschließende Bemerkungen und Katamnese

Neurodermitis

Erstvorstellung und Symptomatik

Anamnese

Bindungsdynamische Überlegungen

Therapie und Verlauf

Abschließende Bemerkungen und Katamnese

Bindungsstörungen bei Erwachsenen

Angst-, Panik- und Agoraphobie-Symptomatik

Erstkontakt und Symptomatik

Anamnese

Bindungsdynamische Überlegungen

Therapie und Verlauf

Abschließende Bemerkungen und Katamnese

Depressive Symptomatik: Verstrickte Bindung mit Störung in der Trennungsfähigkeit

Erstvorstellung und Symptomatik

Anamnese

Bindungsdynamische Überlegungen

Therapie und Verlauf

Abschließende Bemerkungen und Katamnese

Narzisstische Symptomatik

Erstvorstellung und Symptomatik

Anamnese

Bindungsdynamische Überlegungen

Therapie und Verlauf

Abschließende Bemerkungen und Katamnese

Borderline-Symptomatik

Erstvorstellung und Symptomatik

Anamnese

Bindungsdynamische Überlegungen

Therapie und Verlauf

Abschließende Bemerkungen und Katamnese

Psychotische Symptomatik

Erstvorstellung und Symptomatik

Anamnese

Bindungsdynamische Überlegungen

Therapie und Verlauf

Abschließende Bemerkungen und Katamnese

Altersdepression

Erstvorstellung und Symptomatik

Anamnese

Bindungsdynamische Überlegungen

Therapie und Verlauf

Abschließende Bemerkungen und Katamnese

Zusammenfassende Bemerkungen

TEIL 5

Weitere Anwendungsgebiete der Bindungstheorie

Prävention

Das Präventionsprogramm »SAFE – Sichere Ausbildung für Eltern«

Zielgruppe einer Prävention zur Bindungsförderung

Inhalte des Programms

SAFE

Modul I

Modul

II

: Feinfühligkeitstraining und Video-Feedback

Modul

III

: Hotline

Modul

IV

: Individuelle Traumapsychotherapie

SAFE

-Mentorenausbildung

Evaluation und Forschung zum Programm

SAFE

SAFE

-Spezialprogramme

Zusammenfassung

Prävention durch »B.A.S.E. – Babywatching«

Inhalte des Programms B.A.S.E.

Ergebnisse einer Pilotstudie

Familientherapie

Bindung und Gruppen

Gruppenbindungs-Psychopathologie

Gruppenpsychotherapie

Pädagogik

Kritischer Ausblick

ANHANG

Fragen des Adult Attachment Interviews

Anmerkungen

Vorworte und Einleitung

Teil 1: Die Bindungstheorie und ihre Konzepte

Teil 2: Bindungsstörungen

Teil 3: Bindungsbasierte Psychotherapie

Teil 4: Behandlungsbeispiele aus der klinischen Praxis

Bibliografie

Personenregister

Sachregister

Ich widme dieses Buch

meinen Kindern Verena, Nicola und Jonathan

und meiner Frau Lizzy.

Durch sie habe ich viel über Bindung gelernt.

»Die Bindungstheorie begreift das Streben nach engen emotionalen Beziehungen als spezifisch menschliches, schon beim Neugeborenen angelegtes, bis ins hohe Alter vorhandenes Grundelement.

Im Säuglings- und Kleinkindalter sichert uns die Bindung an die Eltern (bzw. entsprechende Ersatzfiguren) neben Schutz und Zuwendung den Beistand dieser Personen; selbst bei gesunder psychischer Entwicklung bleibt sie bis weit ins Erwachsenenleben bestehen, ergänzt durch neue, meist heterosexuelle Bindungen.

Trotz der großen Bedeutung des Nahrungs- bzw. Sexualtriebs ist die Bindung, ihrer lebenswichtigen Schutzfunktion wegen, als solche eigenständig.«

John Bowlby, Elternbindung und Persönlichkeitsentwicklung

Danksagung

Es gibt viele Menschen, denen ich zu Dank verpflichtet bin, denn ohne ihre Hilfe hätte ich dieses Buch nie in so kurzer Zeit schreiben können.

Besonders zu Dank verpflichtet bin ich der am 1. Januar 2022 verstorbenen Lotte Köhler, die mich von Anfang an zur Idee dieses Buches angeregt und zur Erstellung des Manuskriptes motiviert hat. Mit großem Engagement hat sie das Manuskript in seinen verschiedenen Versionen mehrfach gelesen und mir viele differenzierte Hinweise und kritische Anmerkungen gegeben, die ich aufgreifen und in das Manuskript einarbeiten konnte. Darüber hinaus hat sie mich stets ermutigt und war sozusagen bei diesem Unternehmen meine »sichere Basis«.

Karin Grossmann danke ich für ihre hilfreichen Anmerkungen zum Theorieteil und ihre bindungstheoretischen Ideen zu den Fallbeispielen.

Meine damalige Mitarbeiterin Anna Buchheim hat ihre Kenntnisse im Bereich »Bindungstheorie und Bindungsforschung« in unserer Arbeitsgruppe beigesteuert und dadurch in vielfältiger Weise über viele Jahre in gemeinsamen Diskussionen Anregungen gegeben, die in der einen oder anderen Weise in dieses Buch eingingen. Ich danke ihr sowie meinen damaligen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern Gesine Schmücker, Brigitte Köhntop, Susanne Betzler, Doro Munz, Kristin Bemmerer-Mayer, Gerhard Mahler, Ute Barth und Irina Zimmer für die Durchsicht des Manuskripts.

Horst Kächele (gest. 2020) hat mir durch seine kritische Auseinandersetzung mit dem Theorieteil sehr geholfen; er gab mir wichtige Hinweise zu Unstimmigkeiten sowie weitere Anregungen. Walter Teller (gest. 1999) hat als Pädiater den Text in Hinblick auf seine Verständlichkeit für Nicht-Psychotherapeuten geprüft und mit Kritik und Verbesserungsvorschlägen die Lesbarkeit verbessert.

Darüber hinaus fühle ich mich allen Kolleginnen, Kollegen und Freunden für die Lektüre des Manuskripts der ersten Auflage, ihre hilfreichen Kommentare sowie ihren freundschaftlichen Beistand zu Dank verpflichtet: Johannes Brehm, Hans Hopf, Annegret Rein, Christoph Walker.

Ein besonderer Dank gilt meiner damaligen Sekretärin Birgit Vogel, die von Anfang an mit großem Engagement das Manuskript erfasst hat. Ohne sie hätte dieses Buch nie in so kurzer Zeit erstellt werden können.

Ich danke meiner Frau Lizzy, ohne deren emotionale Unterstützung und kritische Rückmeldungen ich diese anstrengende Phase nicht annähernd so gut hätte bewältigen können. Meinen Kindern danke ich für ihr Verständnis, weil sie in dieser Zeit immer wieder phasenweise auf mich verzichten mussten. Mit Recht hat meine Tochter angemerkt, dass dieses Buch ein Kapitel darüber enthalten müsste, welche »Störungen« in den Bindungsbeziehungen innerhalb der Familie entstehen können, wenn der Vater ein Buch schreibt.

Mein Dank gilt auch Mathilde Fischer, die durch ihre Anfrage den Anstoß zu diesem Buchprojekt gab. Während der gesamten Zeit der Entstehung hat sie, damals Lektorin beim Verlag Klett-Cotta, den Prozess ermutigend begleitet und dafür gesorgt, dass dieses Buch in seiner Erstauflage im Verlag so rasch wie möglich produziert werden konnte.

Ein besonderer Dank gilt Dr. Heinz Beyer und seiner Nachfolgerin als Lektorin beim Verlag Klett-Cotta, Frau Katharina Colagrossi, für den Anstoß zu einer erneuten überarbeiteten Neuauflage und Christel Beck sowie Ulrike Wollenberg für die rasche Realisierung des Drucks der verschiedenen Überarbeitungen. Herrn Thomas Reichert bin ich zu großem Dank verpflichtet, weil er in Rekordzeit die überarbeiteten Neuauflagen redigiert und den schwierigen Part hervorragend bewältigt hat, neue und alte Teile des Buches zu einer Einheit zu verbinden. Verena Wagner und Olivia Madarász danke ich für ihre zuverlässige Unterstützung bei der Literaturrecherche für diese Neuauflage.

An dieser Stelle möchte ich mich auch bei allen Patienten und ihren Eltern bedanken, die mit ihrem Einverständnis zur Veröffentlichung ihres Falles die unentbehrliche Grundlage für dieses Buch gegeben haben.

Vorwort von Lotte Köhler zur 1. Auflage 1999

In (1)den 50er Jahren erhielt der englische Psychoanalytiker John Bowlby(1) zwei Aufträge: Er sollte für die Weltgesundheitsorganisation (WHO)(1) einen Bericht über die psychische Befindlichkeit von Eltern und heimatlos gewordenen Kindern erstellen und in der Londoner Tavistock Clinic(1) eine Abteilung für Kinderpsychotherapie(1) aufbauen. Die dabei gewonnenen Erkenntnisse brachten ihn dazu, eine neue, von der psychoanalytischen Metapsychologie abweichende Theorie – die sogenannte »Bindungstheorie« – zu entwickeln.

Diese besagt, dass der Mensch, ebenso wie eine Vielzahl anderer Lebewesen, ein biologisch angelegtes »Bindungssystem« besitzt. Es wird aktiviert, sobald eine äußere oder innere Gefahr auftaucht. Kann diese Gefahr aus eigenem Vermögen nicht behoben werden, wird das sogenannte »Bindungsverhalten« ausgelöst. Ein kleines Kind wendet sich dann an die ihm vertraute Person, z. B. an seine Mutter oder seinen Vater, zu der es eine ganz spezifische »Bindung« aufbaut. (2)In diese Bindungsbeziehung gehen seine Gefühle, Erwartungen und Verhaltensstrategien ein, die es aufgrund seiner Erfahrungen mit den wichtigsten Pflegepersonen entwickelt hat. Das sogenannte Bindungsmuster, das sich in Anpassung an diese während des ersten Lebensjahres ausprägt, wandelt sich im Laufe der Zeit, bleibt aber in seinen Grundstrukturen in den meisten Fällen relativ konstant.

Für das unselbständige menschliche Neugeborene und Kleinkind sind die Person, die Schutz und Fürsorge gewährt, und die Bindung an sie von lebenserhaltender Bedeutung. Das Bedürfnis nach dem »sicheren Hort oder Hafen« oder – mit anderen Worten – nach einer zuverlässigen Bindungsperson, die in Gefahrensituationen Schutz und Hilfe gewährt, bleibt aber während des ganzen Lebens bestehen. Auch bei Erwachsenen wird in einer solchen Lage das in der frühen Kindheit ausgeprägte Bindungssystem aktiviert und löst schutzsuchendes Bindungsverhalten aus. (3)

Als Bowlby(2) in den 60er Jahren diese Gedanken seinen Kollegen in London vorstellte, stieß er vonseiten der Psychoanalytiker auf erbitterten Widerstand, denn seine Theorie fußte nicht auf der damals gängigen Metapsychologie und Triebtheorie(1) Freuds(1), sondern auf systemtheoretischen und kybernetischen Modellen. Auch warf man ihm vor, er befasse sich nur mit der Erklärung von »Verhalten«, nicht aber mit der »inneren Realität«, mit der sich die Psychoanalytiker beschäftigen. Die Folge dieser Kontroverse war, dass sich seinerzeit die Wege von Psychoanalyse und Bindungstheorie trennten.[1]

Dagegen wurde Bowlbys(3)(4) Bindungstheorie von der akademischen Entwicklungspsychologie akzeptiert und integriert, weil seine Schüler Untersuchungsmethoden entwickelten, die objektivierbare und reproduzierbare Befunde etwa von Bindungsverhalten und Bindungsmustern(1) erbrachten. Insbesondere ist die von Bowlbys Mitarbeiterin Mary Ainsworth(1) entworfene Untersuchungsanordnung für zwölf bis achtzehn Monate alte Kinder, die sogenannte »Fremde Situation«, zu einem Standardmessinstrument in der Entwicklungspsychologie geworden.

Ein wichtiger qualitativer Sprung erfolgte, als von Mary Main(1) und Mitarbeitern eine bei Erwachsenen anwendbare Befragungs- und Auswertungsmethode entwickelt wurde. Aus deren Ergebnissen ist zuverlässig ableitbar, dass die innere Einstellung einer Mutter definiert, wie das Bindungsmuster(2) und damit auch das Verhalten aussehen wird, das ihr Kind entwickelt. Selbst wenn diese Untersuchung, das sogenannte »Erwachsenen-Bindungs-Interview«, bei einer werdenden Mutter durchgeführt wird, gestatten die Ergebnisse eine valide Vorhersage des Bindungsmusters, das ein noch nicht geborenes Kind im Alter von einem Jahr ausgebildet haben wird. Damit war der Nachweis erbracht, dass innere Repräsentanzen der Mutter ihr Verhalten gegenüber dem Kind bestimmen. Daraus ergab sich die Möglichkeit einer Wiederannäherung zwischen Bindungstheorie und Psychoanalyse. (5)

An genau dieser Stelle befinden wir uns jetzt.[2]

Bevor man sich der Nutzanwendung bindungstheoretischer Kenntnisse in der klinischen Praxis zuwendet, sollte man sich jedoch die grundsätzlichen methodologischen Ausgangspunkte von Psychoanalyse und Bindungstheorie vor Augen halten. Diese tragen auch zu einer Erklärung bei, warum Psychoanalyse und Bindungsforschung so lange getrennte Wege gingen.

Die Psychoanalyse gründet ihre Erkenntnisse auf Material, das in Behandlungen mittels freier Assoziation(1) sowie durch das Übertragungs- und Gegenübertragungsgeschehen(1) gewonnen wird. Der Analytiker erarbeitet mit dem Patienten eine Rekonstruktion von dessen Entwicklungsgeschichte, um auf diese Weise die Bedingungen zu ergründen, die zur Entstehung seiner psychischen Störung führten. Dabei werden nicht nur Aspekte menschlicher Bindung einbezogen, sondern die gesamte Persönlichkeit, wie sie sich aus intensiver Zusammenarbeit zwischen dem Patienten und dem Therapeuten über einen längeren Zeitraum hinweg eröffnet. Die Psychoanalyse bezieht ihre Erkenntnisse im Wesentlichen aus Einzelfalldarstellungen. (6)

In der Bindungsforschung dagegen werden Untersuchungen zu gezielten, damit aber auch beschränkten Fragestellungen durchgeführt. Die Befunde werden von zeitlich definierten Altersklassen der Kinder erhoben, mit quantitativen wie qualitativen Methoden untersucht und statistisch ausgewertet. Eine weitere Besonderheit der Bindungsforschung ist, dass ganze »Kohorten« von Eltern-Kind-Paaren, zum Teil bereits ab dem intrauterinen Leben des Kindes und bis zu dessen Erwachsenenalter, mit objektivierbaren Beobachtungsinstrumenten untersucht werden können. Solche systematischen Längsschnittuntersuchungen gibt es seitens der Psychoanalyse nur ganz vereinzelt. Diese Studien, wie überhaupt die Ergebnisse der modernen Säuglingsforschung, beweisen die Richtigkeit der von Bowlby(4) vertretenen Auffassung, dass der Einfluss der äußeren Realität auf die Ausformung der inneren Realität nicht vernachlässigt werden darf. Die Forschungsergebnisse der Bindungsforschung haben den Vorteil der Replizierbarkeit, können aber im Gegensatz zur Methode der Psychoanalyse immer nur Ausschnitte der Entwicklung oder der Persönlichkeit erfassen. Diese »Partialsicht« der Bindungstheorie wird auch von Brisch immer wieder betont; die Bindungstheorie erhebt nicht den Anspruch, alle Aspekte der menschlichen Persönlichkeit zu erhellen. (7)

Die Verbreitung und Erforschung der Bindungstheorie hat zu einer Fülle von Publikationen geführt, die ganze Bibliotheken füllen. Es wurden wichtige Befunde darüber erhoben, welche unterschiedlichen Bindungsmuster(3) oder -verhaltensstile es gibt, unter welchen Bedingungen sie sich jeweils ausbilden und wie sie sich im Laufe des Lebens weiterentwickeln. Diese wiederum lassen Aussagen darüber zu, welche Bindungsmuster(4) unter den gegenwärtigen gesellschaftlichen Bedingungen als adaptiv und welche als maladaptiv oder gar als pathogen anzusehen sind. Es gibt nämlich Bindungsmuster, die in Zeiten von Pest und Krieg durchaus überlebensfördernd waren, sich aber heutzutage eher als nachteilig erweisen. (8)

Nun stellt die Situation, in der sich ein Patient hilfesuchend an einen Arzt oder Therapeuten wendet, einen jener Auslöser dar, der das Bindungssystem aktiviert. Es leuchtet daher ein, dass die Kenntnis der verschiedenen Ausprägungen dieser Bindungsmuster(5) und ihrer Entstehungsbedingungen für alle Heilberufe von größter Bedeutung ist. Sie erleichtert sowohl die Herstellung der für eine erfolgreiche Behandlung ausschlaggebenden guten Beziehung zum Patienten wie das Verständnis und die Handhabung des therapeutischen Prozesses insgesamt. (9)

Die wissenschaftliche Entwicklung der Bindungstheorie erfolgte weitgehend im angelsächsischen Raum. Eine Ausnahme stellen die Entwicklungspsychologen Klaus(1) und Karin Grossmann(1) von der Universität Regensburg und ihre Schüler dar, die in Deutschland Bindungsforschung betreiben. Das hat zur Folge, dass die Bindungstheorie im deutschsprachigen Raum bei Analytikern und Therapeuten bisher noch wenig bekannt ist.[3]

Da die Psychoanalyse die Bedeutung der Bindungstheorie erst seit einigen Jahren akzeptiert hat, gibt es bislang aus psychoanalytischer Sicht kaum Literatur über Erfahrungen mit der Anwendung bindungstheoretischer Konzepte in der klinischen Praxis noch Literatur über »Bindungsstörungen« oder »Bindungspsychopathologie«.[4](10)

Diese Lücke füllt das vorliegende Buch von Karl Heinz Brisch. Er beschreibt in einem kurzen Überblick den persönlichen Werdegang von John Bowlby(5) und die Entstehungsgeschichte der Bindungstheorie, stellt die Methoden und Befunde der Bindungsforschung dar und macht den Leser mit unterschiedlichen Formen sogenannter »Bindungsstörungen« vertraut.

Schließlich wendet er sich der psychoanalytischen Methode der Einzelfalldarstellung zu und erläutert die Anwendung dieser Erkenntnisse anhand von zahlreichen eindrucksvollen, für den Kliniker bzw. Praktiker sehr anschaulichen Krankengeschichten, die bindungstheoretisch interpretiert werden. Die Fokussierung auf bindungsrelevante Aspekte könnte den Eindruck einer gewissen Einseitigkeit erwecken. Sie ist aber didaktisch erforderlich, um den Leser in die bindungstheoretische Sichtweise einzuführen. Allerdings betont Brisch wiederholt, dass die Bindungstheorie nur einen Teil der gesamten Persönlichkeit zu erklären vermag, jedoch einen, der für die zwischenmenschlichen Beziehungen von ausschlaggebender Bedeutung ist. Überdies erörtert er an einzelnen Beispielen, zu welchen therapeutischen Konsequenzen eine andere Sichtweise geführt hätte. Diese Vergleiche ermöglichen dem Leser eine Einordnung in das ihm bekannte Wissen. (11)

Die Falldarstellungen sind unter einem weiteren, vieldiskutierten Gesichtspunkt von großer Aktualität. Die in der frühen Kindheit erworbenen Bindungsmuster(6) werden im sogenannten »prozeduralen Gedächtnis« als unbewusste Muster des Verhaltens und Erlebens gespeichert. Im weiteren Verlauf der Entwicklung werden sie aber teilweise auch explizit und damit der Reflexion zugänglich. Insofern bieten Bindungsprobleme vielleicht einen besonders guten Zugang, um über ein gezieltes Ansprechen bewusstseinsfähiger, bindungsrelevanter Probleme zusammen mit der »neuen Erfahrung« in der Übertragung auch die unbewusst prozeduralen Einstellungen zu ändern. (12)

Brisch betreibt am Universitätsklinikum Ulm sowohl objektivierbare Studien zur Bindungsforschung als auch klinische Psychoanalyse.[5] Er ist also in beiden Bereichen zu Hause. Auf dem Hintergrund seiner breiten fachärztlichen Ausbildung in Psychiatrie, Neurologie, Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapeutischer Medizin gelang es ihm, auch mit Vertretern benachbarter Disziplinen in der Medizin, aber auch in der Sozialarbeit und in den Schulen eine Zusammenarbeit aufzubauen. Er wies auf die Möglichkeiten bindungsbasierter psychotherapeutischer(1) Interventionen hin, so dass dort der Blick für Problemfälle geschärft und diese an ihn überwiesen wurden.

Der Text macht ersichtlich, wie fruchtbar die Zusammenarbeit zwischen einem bindungstheoretisch geschulten Therapeuten und den genannten Berufsgruppen sein kann. Das gilt insbesondere für Frauen- und Kinderärzte, aber im Grunde für alle Heil- und Sozialberufe, ja selbst für die Vertreter von Krankenkassen. Aus den Darstellungen geht u. a. hervor, wie viele aufwendige Untersuchungen, Eingriffe und Behandlungen in solchen Fällen eingespart werden können, in denen ungelöste Bindungsprobleme zu körperlichen Erkrankungen und krankmachendem Fehlverhalten führen, wie beispielsweise zu der Neigung, Unfälle zu produzieren. Das Buch vermittelt dem Leser eine Vorstellung über solche Zusammenhänge und informiert über die Hinweise, die den Verdacht auf eine zugrunde liegende Bindungsstörung zu wecken geeignet sind. (13)

Damit wäre zum abschließenden Teil des Buches überzuleiten, in dem Brisch seine Vorstellungen über mögliche fruchtbare Anwendungen bindungstheoretischer Kenntnisse auf Bereiche wie Prävention, Pädagogik, Familien- und Gruppentherapie darstellt. Auch wenn sich nur einige Denkanstöße dieses Buches verwirklichen ließen, wäre dies bereits ein erfreulicher Fortschritt. (14)

Vorwort des Autors zur 1. Auflage

Es ist mir noch gut in Erinnerung, dass ich während meiner psychoanalytischen Ausbildung das dreibändige Werk von Bowlby über Bindung, Trennung und Verlust gelesen habe und mit seinen Theorien zur Bedeutung der Bindungsentwicklung gedanklich beschäftigt war. Weil ich aber nicht wusste, wie ich diese anregende Theorie in meinen psychotherapeutischen Behandlungen umsetzen sollte, und da die Bindungstheorie auch in den Fallseminaren keine Rolle spielte, rückte Bowlby in den Hintergrund.

Erst während meiner Facharztausbildung in der Psychiatrie sowie in der Kinder- und Jugendpsychiatrie stieß ich wieder auf Bowlbys Theorie. In zahlreichen Krankengeschichten fiel mir auf, welch bedeutenden Anteil Trennungs- und Verlusterlebnisse für viele Patienten an der Entstehung ihrer Erkrankung offenbar hatten. Gerade in der Kinder- und Jugendpsychiatrie wurde das Thema »Bindung, Trennung, Ablösung« fast in jeder Behandlung in irgendeiner Weise bearbeitet.

Als ich dann die Leitung der Ambulanz für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie am Universitätsklinikum Ulm übernommen hatte, wurde ich im Konsiliarärztlichen Dienst mit der psychotherapeutischen Behandlung von Eltern konfrontiert, deren Kinder als sehr kleine Frühgeborene in der Neonatologie der Universitäts-Kinderklinik Ulm behandelt wurden. Ich hatte zwar während meiner pädiatrischen Weiterbildung die Neonatologie kennengelernt, aber dies lag viele Jahre zurück, und ich konnte kaum glauben, wie extrem klein Frühgeborene heute überleben. In vielen Gesprächen mit Eltern von Frühgeborenen wurde mir klar, dass sie sich in einer besonders tiefen psychischen Krise befanden, die ich als »Trauma der Frühgeburt« bezeichnen möchte. Diese Eltern trauerten um den Verlust der Schwangerschaft, die allzu früh – manchmal wie »aus heiterem Himmel« – geendet hatte. Auf dieses Ereignis waren sie psychisch nicht vorbereitet. Ich erkannte, wie schwierig es für diese Eltern trotz unbegrenzter Besuchszeiten ist, zu diesen sehr kleinen Frühgeborenen eine emotionale Bindung aufzubauen, wenn der Beginn des Lebens so anders als erwartet verläuft und das Frühgeborene oft wochenlang in einem Brutkasten gepflegt werden muss.

Angeregt durch diese klinischen Erfahrungen, erwuchs in Zusammenarbeit mit Frank Pohlandt, dem Leiter der Sektion Neonatologie und Pädiatrische Intensivmedizin am Universitätsklinikum Ulm, und seinem Team eine fruchtbare Forschungstätigkeit. Diese befasste sich mit Fragen der Bindungsentwicklung dieser sehr kleinen Frühgeborenen. Eine weitere Studie zur präventiven Psychotherapie für diese Eltern schloss sich an.

Ich hatte das Glück, in der Planungsphase unserer Studien Anna Buchheim kennenzulernen, die als Schülerin von Klaus Grossmann in Regensburg – seit 2008 ist sie Professorin für Klinische Psychologie an der Universität Innsbruck – ihre Kenntnisse über die Bindungstheorie mit nach Ulm in mein Team brachte. Dies war der Beginn einer intensiven Zusammenarbeit zwischen der Ulmer klinischen Bindungsforschung und der Regensburger Grundlagenforschung von Klaus Grossmann, Karin Grossmann und deren Team.

In den Jahren danach (1992–2000) haben wir die klinische Bindungsforschung dank der guten Zusammenarbeit mit der Universitäts-Frauenklinik in Ulm auf verschiedene Bereiche der pränatalen und perinatalen Zeit ausgeweitet, so dass wir uns schließlich u. a. auch mit der Frage beschäftigten, wie sich die pränatale Diagnostik und die Problematik einer Risikoschwangerschaft mit drohender Frühgeburt in den folgenden Jahren auf die Entwicklung der Kinder, die Mutter-Kind-Interaktion und die Bindung dieser Kinder zu ihren Eltern auswirken. Wir haben diese Fragen der Grundlagenforschung mit entsprechenden Angeboten der Psychotherapie für die betroffenen Eltern verbunden, weil nach unserer Ansicht Grundlagenforschung und psychotherapeutische Intervention eng miteinander verknüpft werden müssen, wenn wir mit unserer Arbeit auch die Situation für die Betroffenen verbessern wollen.

Eine solche Verbindung von psychotherapeutischer Forschung und klinischer Praxis in einem bisher vernachlässigten Feld ist nur durch die Kooperation zwischen verschiedenen Fachrichtungen – hier Kinderheilkunde, Geburtshilfe, Pränatale Medizin, Psychotherapie und Psychosomatik sowie Kinder- und Jugendpsychiatrie – möglich. Dieser Austausch lebte aber von dem Engagement meiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in unserer Arbeitsgruppe sowie von der Offenheit und der Neugier für unsere Fragen bei den Kolleginnen und Kollegen in den anderen Kliniken. Ohne die Fähigkeit meines Teams, »Bindungen« über Fachgrenzen hinweg herzustellen und aufrechtzuerhalten, wären unsere Aktivitäten zum Scheitern verurteilt gewesen. Wir hätten die längsschnittliche Planung unserer Studien zur Entwicklung dieser Risikokinder und der Eltern-Kind-Beziehung in den ersten Lebensjahren aus Raummangel nicht realisieren können, wenn wir nicht dank des weitsichtigen Engagements von Horst Kächele und dank der finanziellen Unterstützung der Köhler-Stiftung Darmstadt die Möglichkeit erhalten hätten, im sogenannten »gelben haus« ein »Projekt für frühkindliche Entwicklung und Eltern-Kind-Forschung« mit den notwendigen Forschungseinrichtungen zur Herstellung und Auswertung von Videoaufnahmen aufzubauen.[6]

Neben dieser bindungsbasierten Forschungsaktivität musste ich feststellen, wie meine erweiterten Kenntnisse über die Bindungstheorie auch zunehmend mein therapeutisches Vorgehen beeinflusst hatten. Vieles konnte ich unter einem neuen Blickwinkel betrachten, für mein Gefühl mit Gewinn für den therapeutischen Prozess und die Entwicklung der Patienten.

Bei den Lindauer Psychotherapie-Wochen 1998 wurde ich schließlich von Mathilde Fischer, zu dieser Zeit Lektorin beim Verlag Klett-Cotta, dazu angeregt, zum Thema der psychotherapeutischen Umsetzung der Bindungstheorie ein Buch zu schreiben. Ich war im Zweifel, ob die Zeit für ein solches Buch reif sei. Durch Ermutigungen von vielen Seiten, insbesondere aber von Lotte Köhler, fühlte ich mich unterstützt, meine therapeutischen Erfahrungen mit der Anwendung der Bindungstheorie weiterzugeben. Dabei entschloss ich mich für die Darstellungsform der Kasuistik, denn ich bin überzeugt, dass Praktiker an klinischen Beispielen am meisten lernen. Die Ergebnisse von Fallbeispielen können allerdings nicht generalisiert werden; dies war auch nicht intendiert.

Jede Schilderung einer Patientengeschichte setzt sich mit dem ethischen Spannungsfeld auseinander, das sich zwischen den Datenschutzrechten des Patienten und dem Schutz seiner Privatsphäre einerseits sowie dem wissenschaftlichen Interesse an der Kasuistik als Einzelfallstudie andererseits auftut. In einzelnen Fällen konnte von den Patienten kein Einverständnis eingeholt werden, weil sie z. B. unbekannt verzogen waren. Unter diesen Umständen wurden die persönlichen Merkmale der Kasuistik so weit verfremdet, dass kein Wiedererkennen mehr möglich ist. Dabei wurden allerdings die wesentlichen Kennzeichen der Psychodynamik beibehalten, damit die Entstehung der Störung und der Behandlungsverlauf nachvollzogen werden können.

Da die Bindungstheorie besagt, dass Bindung ein »lebenslanges Thema« bleibt und nicht mit der Entwicklung im ersten Lebensjahr abgeschlossen ist, wählte ich Kasuistiken aus allen Altersgruppen. Die Fallgeschichten habe ich immer ähnlich gegliedert, um bei der Fülle des klinischen Spektrums eine Orientierung zu geben. Sie beginnen mit dem Erstkontakt und der jeweiligen Inszenierung, die sich zwischen dem Patienten und mir entwickelte. Es folgt die Schilderung der Symptomatik und der biografischen Anamnese. Hieraus werden jeweils bindungsdynamische Überlegungen abgeleitet, die aus didaktischen Gründen speziell auf das Thema »Bindung« fokussiert sind. Je nach psychotherapeutischer Orientierung können aber auch andere psychodynamische Hypothesen und daraus abgeleitet andere Vorgehensweisen entworfen werden. An manchen Stellen führe ich eigene Überlegungen auf anderem Theoriehintergrund an, um zum »Querdenken« zu ermutigen. Die Schilderungen des Behandlungsverlaufs werden mit Überlegungen zur Therapie und Ergänzungen aus der Katamnese – soweit bekannt – abgeschlossen.

Ich beschäftige mich in diesem Buch mit der Entwicklung in einem neuen Bereich; daher stellt es eine selektive Momentaufnahme der Forschungslage, der eigenen Gedanken und der aktuellen persönlichen Sichtweise zum Thema dar.

Es ist nicht meine Absicht, mit diesem Buch eine neue Therapieschule zu gründen. Vielmehr kann ich mir vorstellen, dass »Bindung« eine grundlegende Variable im psychotherapeutischen Prozess darstellt, die in einem schulenübergreifenden Modell der Psychotherapie (»generic model of psychotherapy«) ihren bedeutungsvollen Platz hat.

Karl Heinz Brisch, im Dezember 1998

Vorwort des Autors zur überarbeiteten und erweiterten Neuauflage 2009

Seit der ersten Auflage dieses Buches ist das Wissen in der Bindungsforschung sowie in der Anwendung der Bindungstheorie enorm gewachsen, so dass eine überarbeitete Neuauflage des Buches erforderlich wurde. Wesentliche neue Erkenntnisse zur Neurobiologie, Genetik, Psychotraumatologie und Präventionsforschung werden in gesonderten Kapiteln beschrieben sowie an einzelnen Stellen, zusammen mit Hinweisen auf die aktuelle Literatur, ergänzt, zudem in ihrer Bedeutung für die Entwicklung einer Psychopathologie diskutiert. Besonders die Bedeutung der desorganisierten Bindung für spätere psychische Störungen und die transgenerationale Verbindung zu traumatischen Erfahrungen der Eltern werden im Kontext der Erkenntnisse der Psychotraumatologie und der Genetik in einer Zusammenschau dargestellt. Dabei stellt sich immer mehr heraus, dass die Entwicklung von einer gesunden sicheren Bindung über die unsichere Bindung, die desorganisierte Bindung bis zur Bindungsstörung ein Kontinuum darstellt, das durch entsprechende Erfahrungen des Kindes mit seinen bedeutungsvollen Bindungspersonen beeinflusst wird.

In diesem Zusammenhang wird die Verbindung zwischen desorganisierter Bindung und der Aufmerksamkeits-Hyperaktivitäts-Störung besonders diskutiert, ebenso neue Möglichkeiten der Bindungsdiagnostik in verschiedenen Altersgruppen. Feinfühlige empathische Erfahrungen eines Kindes – von Schutz, Sicherheit sowie von Exploration – fördern seine sichere Bindung; dagegen können sich auf dem Boden von traumatischen Erfahrungen des Kindes, wie sie durch alle Formen der Gewalt entstehen, denen es hilflos ausgeliefert ist, Pathologien bis hin zu schwersten Formen der Bindungsstörungen entwickeln.

Das Kapitel über Prävention wurde um die Beschreibung der bindungsbasierten Präventionsprogramms SAFE®– Sichere Ausbildung für Eltern sowie das Programm B.A.S.E.®– Babywatching erweitert; beide Programme wurden während meiner Zeit als Leiter der Abteilung Pädiatrische Psychosomatik und Psychotherapie im Dr. von Haunerschen Kinderspital der Ludwig-Maximilians-Universität München entwickelt. Die Arbeit mit SAFE® beginnt bereits in der Schwangerschaft und begleitet Eltern bis zum Ende des ersten Lebensjahres ihres Kindes, mit dem Ziel, dass sich möglichst viele Kinder sicher an ihre Eltern binden und so einen lebenslangen Schutzfaktor für ihre gesunde Persönlichkeitsentwicklung erwerben sollen. Dieses Programm findet inzwischen sowohl in Deutschland wie auch in anderen Ländern Europas, aber auch in Neuseeland, Australien und Singapur durch die Ausbildung von SAFE®-Mentoren große Verbreitung. Ziel ist es, dass die Teilnahme an diesem Programm für Eltern in Zukunft so selbstverständlich wird wie der Besuch eines Kurses zur Geburtsvorbereitung. Das Programm B.A.S.E.®– Babywatching ist eine besondere Form der Empathieschulung für Kindergarten- und Schulkinder. Durch die angeleitete reale Beobachtung der Interaktion zwischen Mutter und Baby sollen die Kinder lernen, sich in die Gedanken, Gefühle und Handlungsabsichten von Mutter und Kind hineinzuversetzen, und diese neue Fähigkeit auf ihr Miteinander im Spielalltag übertragen. Die Studienergebnisse sind ermutigend, so dass das Babywatching auch eine weitere Verbreitung in Europa wie auch in Neuseeland und Australien erfährt.

Während in der Forschung wie auch in der klinischen Anwendung im Hinblick auf die Entwicklung der Bindung bisher bevorzugt dyadische Beziehungen im Mittelpunkt standen, wird in einem besonderen Kapitel ausgeführt, wie sich die verschiedenen Bindungsmuster auch in Gruppen und im Verhalten des Einzelnen gegenüber Gruppen zeigen können.

Die Bindungstheorie gewinnt angesichts der wachsenden Zahl von Säuglingen und Kleinstkindern, die in außerfamiliären Einrichtungen mit Konzepten der Tagesbetreuung in großen Gruppen versorgt werden, eine ganz neue gesellschaftliche Bedeutung. Hier kann die Bindungstheorie zur Frage der absolut notwendigen Qualität von Krippen und Kindergärten, speziell im Hinblick auf sekundäre Betreuungspersonen – nämlich Krippen- und Kindergartenerzieherinnen – und die Voraussetzungen, die diese mitbringen sollten, einen wesentlichen Beitrag leisten.

Zusammenfassend gesagt, bringt diese Neuauflage den Leser somit auf den neuesten Stand der Forschung und beschreibt neue klinische Anwendungsbereiche sowie Präventionsansätze.

Ich wünsche den Leserinnen und Lesern aus allen Berufsgruppen sowie auch interessierten Eltern, dass Sie durch dieses Buch den Beitrag der Bindungstheorie für ganz unterschiedliche Bereiche schätzen lernen und dadurch so inspiriert werden, dass sie ganz eigene neue Möglichkeiten der Anwendung für sich entdecken können.

Karl Heinz Brisch, im Februar 2009

Vorwort des Autors zur überarbeiteten und erweiterten Neuauflage 2022

Seit dem Erscheinen der letzten überarbeiten und ergänzten Neuauflage dieses Buches im Jahr 2009 ist eine große Anzahl von neuen Studien erschienen, so dass es erneut notwendig wurde, das Buch auf den neuesten Stand zu bringen. Forschungsarbeiten der letzten Jahre diskutiere ich im Hinblick auf ihre Relevanz für die Anwendung in der Beratung, Psychotherapie und Klinik. Zudem wurde das Buch um inhaltliche Aspekte ergänzt, etwa um die Schematherapie, die Mentalisierungsbasierte Therapie (MBT) und die Bedeutung des epistemischen Vertrauens in Teil 1, wo es um Konzepte von Bindung und Trennung in anderen psychologischen Theorien und psychotherapeutischen Schulen geht, oder in Teil 5 um die Darstellung einer »Social Return on Investment«-(SROI-)Analyse, welche die monetären Kosten und die wirtschaftlichen Vorteile der Durchführung des SAFE®-Programms erforscht hat.

Die Bedeutung der Bindungstheorie ist in den letzten Jahren noch größer geworden. Das betrifft zum einen das Verständnis von kindlicher Entwicklung im Sinne gesunder Endwicklungspfade sowie die Anwendung in allen Lebensphasen bis hin zum hohen Alter und zum Sterben, zum andern psychische Störungen und Hintergründe von psychopathologischen Symptomen und psychischen Erkrankungen.

Alle Formen der Psychotherapie betonen heute die Bedeutung der Bindungstheorie und beziehen sich auf sie in ihren Behandlungsansätzen. Da die Bindungstheorie selbst mit keiner Behandlungsform exklusiv verknüpft ist, gilt sie heute als eine Grundvoraussetzung für gelingende Beratungen und psychotherapeutische Behandlungen, sowohl im Einzel- wie auch im Gruppensetting. Was sie beschreibt, zählt inzwischen zu den allgemeinen Wirkfaktoren. Dies bedeutet z. B., dass ohne die Herstellung einer sicheren Bindungsbeziehung(1) zwischen Klient und Therapeutin bzw. Therapeut eine gelingende Behandlung kaum denkbar ist, was auch die jahrzehntelangen Ergebnisse aus der Psychotherapieforschung belegen.

Dies sind sehr positive Entwicklungen, die 1999, als die erste der inzwischen 19 Auflagen dieses Buches erschien, kaum denkbar und zu erwarten waren, ebenso wenig wie die vielen Übersetzungen in andere Sprachen; zuletzt ist eine iranische Ausgabe erschienen. Da die Suche nach einer sicheren Bindung – über alle Kulturen hinweg (vgl. Clayton, 2019) – als eine basale überlebensnotwendige, vermutlich genetisch angelegte Grundmotivation gilt, ist es nicht verwunderlich und äußerst erfreulich, dass das Buch Bindungsstörungen in vielen verschiedenen Ländern inzwischen eine ebenso große Resonanz gefunden hat wie im deutschsprachigen Raum. Ich wünsche mir, dass die Bindungstheorie in Zukunft noch umfassender in der Prävention und der Umsetzung der sog. Frühen Hilfen für Eltern angewendet wird, damit auf diese Weise die Behandlung von Bindungsstörungen, wie sie in diesem Band beschrieben werden, erst gar nicht notwendig werde.

Karl Heinz Brisch, im Juli 2022

Einleitung

In der psychotherapeutischen Arbeit mit Säuglingen und ihren Eltern, mit Kleinkindern, Kindern und Jugendlichen sowie mit Erwachsenen stellen wir uns die Frage, wie wir die Entwicklung einer bestimmten psychischen Symptomatik verstehen können. Alle psychotherapeutischen Schulen(1), ungeachtet ihrer Richtung, weisen heute der frühen Kindheit(1) eine entscheidende Rolle für die Entwicklung von psychopathologischen(1) Symptomen zu (1)(Kächele et al., 1999; (1)Resch, 1996; Dunn et al., 2018; Gunay-Oge et al., 2020).

Die Psychoanalyse(1) entwickelte ihre Theorie zunächst auf der Grundlage der Erfahrungen, die aus der Patientenbehandlung von Erwachsenen stammten. Von den Erkenntnissen über psychodynamische(1) Zusammenhänge, die in der Therapie gewonnen worden waren, wurde auf frühkindliche Entwicklungsphasen(2) und deren Bedeutung für die psychische Entwicklung geschlossen. Die auf diese Weise entstandene Theorie war durch einen sogenannten »Adulto-Patho-Morphismus«(1) geprägt: Krankheitssymptome im Erwachsenenalter wurden als Regression(1) auf Phasen der frühkindlichen normalen Entwicklung(3) verstanden und interpretiert. Die Begriffe »infantile Regression(1)« und »Fixierung(1)(1) auf frühkindliche Entwicklungsphasen« spielten eine besondere Rolle.

In den Anfangsjahren hatte Freud(2) in seiner Theorie noch die Bedeutung von realen Verführungserlebnissen in den Vordergrund gestellt: Reale frühe Erfahrungen von sexualisierter Gewalt(1) an Kindern vonseiten ihrer engsten Bezugspersonen, auch vonseiten der Eltern, wurden von ihm als eine für die kindliche Psyche traumatische Erfahrung betrachtet. Später nahm er hiervon Abstand und postulierte, die häufig in den Erwachsenenanalysen erinnerten Erlebnisse von sexualisierter Gewalt(2) seien lediglich den kindlichen Phantasien(1)(1) entsprungen.

Warum er seine Meinung änderte, hat er nie ausdrücklich erläutert. Er räumte nun den Phantasien eine Priorität für die psychische Entwicklung ein. Die jeweilige Verarbeitung durch die Phantasietätigkeit hielt er für die Entstehung einer Psychopathologie(2) für bedeutungsvoller als das vom Patienten berichtete Erlebnis selbst. Dieses schrieb er eher dessen Phantasiewelt denn realen Erfahrungen zu. Aus diesem Grunde konzentrierte sich die Psychoanalyse(2) in der weiteren Entwicklung ihrer Behandlungstechnik auf die Bearbeitung insbesondere der unbewussten Phantasien(1) und vernachlässigte die realen Erfahrungen der Patienten. Es kann vermutet werden, dass Freuds(3) Theorie von der realen frühkindlichen Traumatisierung(1) durch sexualisierte Gewalt(3) so brisant war, dass er um seine Anerkennung als Wissenschaftler fürchten musste. Um diese war es zunächst nicht sonderlich gut bestellt, weil er durch die Entdeckung der kindlichen Sexualität angesichts der vorherrschenden bürgerlichen Moralvorstellungen im Wien des ausgehenden 19. Jahrhunderts in größte Schwierigkeiten geriet und seine Theorie zunächst einmal auf Skepsis, ja sogar Ablehnung stieß.

Ähnlich wie in Freuds(4) früher Theorie vom Realtrauma(1)(1) entwickelte der Schweizer Psychiater Adolf (1)Meyer (1957), auf den sich Bowlby(6) später berief, eine an Darwin(1) orientierte psychobiologische(1) Konzeption. Er schrieb gerade den realen frühkindlichen traumatischen Umwelteinflüssen, die nicht nur auf sexualisierte Gewalt(4) beschränkt waren, eine große Bedeutung für die psychische Entwicklung zu. Nach Meyer entstehen psychische Erkrankungen durch den misslungenen Versuch des Individuums, auf psychosoziale reale Belastungen zu reagieren. Ist das Individuum mit seinem Anpassungsversuch überfordert, können Krankheitssymptome(1) entstehen. Die unterschiedliche Fähigkeit zur Anpassung an spätere reale äußere Belastungen hängt davon ab, welche frühkindlichen realen Erfahrungen während der ersten Jahre in der Primärfamilie und in anderen wichtigen Beziehungen gemacht wurden.

Der Londoner Psychiater und Psychoanalytiker John Bowlby(7) ist beim Studium der Lebensläufe von psychisch schwer gestörten Kindern und Jugendlichen immer wieder auf extreme reale frühkindliche Traumatisierungen(2) gestoßen und erkannte, dass diese in ihren Auswirkungen auf die Entwicklung der Persönlichkeit(1)(1) dieser Kinder bedeutungsvoll waren. Die Erfahrungen, von denen diese berichteten, hielt er nicht für Produkte ihrer Phantasie. Bei der Ursachenforschung in Bezug auf die mögliche Entwicklung der Psychopathologie(3) dieser Kinder musste er erkennen, dass in ihren Lebensgeschichten Erfahrungen mit vielfachen frühen Verlusten(1) und Trennungen(1) von Bezugspersonen gegenüber anderen berichteten traumatischen Erlebnissen auffällig in den Vordergrund rückten(3).

Diese klinische Entdeckung auf der Basis von genauen Berichten kann man als die Geburtsstunde der Bindungstheorie bezeichnen. Dennoch war es für Bowlby(8) von seinen ersten Ideen bis zur Formulierung der Theorie ein langer und schwieriger Weg. Anfangs konnte er nicht ahnen, dass seine ursprünglich stark angefeindete Theorie gerade in der Entwicklungspsychologie(1) große Resonanz finden und den Anstoß zu einer umfangreichen Forschung geben sollte. Diese blieb nicht nur auf London begrenzt, sondern wurde durch Bowlbys(9) Schülerinnen und Schüler – hier sei an erster Stelle die kanadische Mitarbeiterin Mary Ainsworth(2) genannt – inzwischen in zahlreiche andere Länder getragen. Bindungsforschung findet heute im Prinzip »weltweit« statt.

In Deutschland ist die Bindungsforschung(1) eng mit Klaus E. (2)und Karin Grossmann(2) verknüpft, zunächst in Bielefeld, danach am Lehrstuhl für Psychologie an der Universität Regensburg. Das Ehepaar und sein wissenschaftliches Team haben durch zahlreiche prospektive Längsschnittstudien(1)(1) mit reifgeborenen(1), gesunden Kindern weltweit Beachtung gefunden. Ein Schwerpunkt dieser (2)Forschergruppe(1) waren insbesondere die Frage der Kontinuität(1) oder Wandlung früher Interaktionserlebnisse(1) und Bindungsqualitäten(1) von der Säuglingszeit bis ins Jugendalter sowie die Erforschung der Weitergabe von Bindungsmustern(7) von der Generation der Eltern auf die der Kinder. Wesentliche Ergebnisse der bedeutendsten internationalen Längsschnittstudien(2) zur Bindungsentwicklung(2) wurden bereits von K. Grossmann(3), K. E. Grossmann(3) und E. Waters(1) dargestellt und diskutiert (K. Grossmann et al., 2005; K.(2)Grossmann & K. E. Grossmann, 2021(4); Chopik et al., 2019).

Die Grundlagenforschung(3) ist äußerst vielfältig und liefert eine so gewaltige Fülle von Ergebnissen, dass ein auch nur annähernd vollständiger Überblick den Rahmen dieses Buches sprengen würde.[7] Daher sollen lediglich die Grundkonzepte der Bindungsforschung im Überblick dargestellt werden. Weiterhin werden Befunde aufgegriffen, die für die klinische Anwendung der Bindungsforschung und die Behandlung auf der Grundlage der Bindungstheorie von Bedeutung sind. Bowlby(10) selbst war ein engagierter Kliniker, der sich durch seine Erfahrungen aus der therapeutischen Praxis zur Neuformulierung von gängigen theoretischen Konzepten gezwungen sah. Mein Anliegen ist es, sein klinisches Interesse wieder aufzugreifen und das theoretische Wissen für praktizierende Psychotherapeuten zu erschließen.

Im ersten Teil dieses Buchs erläutere ich in einem kurzen historischen Rückblick die Entwicklung der Bindungstheorie. Nach einer Zusammenfassung der Bindungstheorie stelle ich ihre wesentlichen Konzepte vor, insbesondere zur Bedeutung der elterlichen Feinfühligkeit(1), der kindlichen Bindungsqualität und der Bindungsrepräsentation(1) bei Erwachsenen. Hierbei werden auch Erkenntnisse aus der Neurobiologie(1) diskutiert.(2)

In diesem Zusammenhang gehe ich auch auf die transgenerationalen Aspekte(1) der Weitergabe von Bindungsmustern(8) und auf die Bedeutung von Schutz-(1) und Risikofaktoren(1) für eine gesunde Entwicklung ein. Abschließend erläutere ich Konzepte von Bindung(1) und Trennung(2) in anderen psychologischen Theorien und psychotherapeutischen Schulen.(2)(1)

In einem zweiten Teil lege ich die theoretischen Aspekte eines Konzepts der Bindungsstörung(1) im Sinne einer Psychopathologie(4) dar. Insbesondere die Zusammenhänge zwischen Bindung(2) und Trauma(2) werden erläutert. In einem historischen Überblick verfolge ich, wie die heute häufig gebrauchten Diagnosemanuale(1) sowie auch neuere diagnostische Systeme speziell für die Säuglings- und Kleinkindzeit bindungstheoretische Konzepte aufgegriffen haben. Da die bisherigen Klassifikationssysteme allerdings keine ausreichenden Möglichkeiten für die Diagnostik von Bindungsstörungen bieten, beschreibe ich eine weiterführende und umfassendere Klassifikation von Bindungsstörungen(2) und stelle die Möglichkeiten der Bindungsdiagnostik(1) in verschiedenen Altersstufen dar.

In einem dritten Teil formuliere ich die Theorie eines bindungsbasierten therapeutischen(2) Vorgehens. Hierbei beziehe ich mich auch auf Ergebnisse aus der Psychotherapieforschung, die in der Bindung(3) zwischen Therapeut und Patient[8] einen wichtigen Faktor für eine erfolgreiche Behandlung sehen.

(3)Grundlegende technische Aspekte und Vorgehensweisen einer bindungsbasierten Behandlung werden ausgeführt. Schwerpunkte liegen hier auf der Erstbegegnung(1) zwischen dem Patienten und dem Therapeuten, der Gestaltung des Settings(1), der Bedeutung der Frequenz(1)(1), der Beendigung(1)(1) der Behandlung und den Fragen von Bindung(4) und Autonomie(1)(1) im therapeutischen Prozess.

In einem vierten Teil schildere ich Fallbeispiele aus der klinischen Praxis. Aus didaktischen Gründen konzentriert sich die Betrachtung von Krankheitsgeschichte(2), Diagnostik(1) und Behandlungsverlauf(1) auf die jeweils spezifische Störung der Bindungsdynamik(1)(1). Ich übergehe andere mögliche Interpretationen der jeweiligen Psychodynamik(2), um besonders den Aspekt der Bindungsstörung herauszuarbeiten. Die Symptomatik der Patienten kann allerdings aus dem Blickwinkel einer anderen Theorie auch ganz anders verstanden und mit einer anderen Technik behandelt werden.

Die kasuistischen Beispiele werden entlang der Bindungsentwicklung(1) im Lebenslauf(1) zeitlich gegliedert dargestellt, und zwar von der Phase an, in der sich ein Paar eine Schwangerschaft(1) wünscht, bis zum Erwachsenenalter. Dieser Gliederung liegt eine Betrachtung zugrunde, die die Bindungsentwicklung als einen lebenszeitlichen Prozess mit immer wieder geforderten Phasen der Adaptation(1) an neue Beziehungs- und Lebenssituationen versteht.

Im fünften und letzten Teil diskutiere ich Fragen der Prävention(1). Ich stelle Möglichkeiten einer frühzeitigen bindungsbasierten Schulung(1) zur Vermeidung von späteren psychischen Störungen vor, die speziell Schwangeren(2) und ihren Partnern sowie Eltern mit ihren Kleinstkindern(1) angeboten werden kann.

In Anbetracht zunehmender Aggression(1) und Gewalt(1) in Kindergärten(1) und Schulen kommt einer bindungsbasierten frühzeitigen Prävention und Beratung große Bedeutung zu. Gemäß dem heutigen Forschungsstand über den Zusammenhang von Bindung(5) und Aggression(2) werden Leitlinien für eine Prävention in der pädagogischen Arbeit dargelegt sowie die bindungsbasierten Präventionsprogramme SAFE®– Sichere Ausbildung für Eltern(1)und B.A.S.E.®– Babywatching in Kindergarten(2) und Schule(1)vorgestellt.

Ich stelle Überlegungen an, inwieweit ein bindungsbasierter Ansatz auch auf andere Settings der Psychotherapie(1) mit (1)(1)Gruppen oder mit Familien übertragbar ist und dort angewendet werden kann.

Zum Abschluss diskutiere ich noch offene Fragen und Perspektiven im Hinblick auf die Weiterentwicklung der Technik einer bindungsbasierten Psychotherapie(4) sowie die Bedeutung für die psychotherapeutische Ausbildung.

TEIL 1

Die Bindungstheorie und ihre Konzepte

Historischer Überblick

John Bowlby(11) (1907–1990) studierte zunächst Medizin, genauso wie sein Vater, der ein berühmter Chirurg war. Obwohl seine Leistungen in der Schule nicht die besten waren, schloss er seinen ersten Studienabschnitt in Cambridge mit verschiedenen Auszeichnungen ab. Warum er danach sein glänzend begonnenes Studium nicht in London fortsetzte, sondern für zwei Jahre als Lehrer in einer Schule(1) für Kinder und Jugendliche(1) mit gestörtem Sozialverhalten arbeitete, ist weitgehend ungeklärt. Jeremy Holmes (1993)(1) berichtet in seinem Buch John Bowlby and Attachment Theory (dt.: John Bowlby und die Bindungstheorie, 2002), Bowlby(12) habe damals zum ersten Mal ein Buch über Entwicklungspsychologie(2) gelesen, das ihn sehr beeindruckt habe. Diese Erklärung reicht aber nicht aus, um Bowlbys Studienunterbrechung aus psychodynamischer Sicht zu verstehen.

Bowlby stammte aus einer wohlhabenden großbürgerlichen Familie in England. Sein Vater war beruflich stark in Anspruch genommen; die Kinder wuchsen unter der Obhut von Angestellten auf, und ihr Kontakt mit der Mutter war auf wenige festgelegte Stunden am Tag beschränkt. Biografisch gesehen ist es sicher von Bedeutung, dass der Sohn eher eine distanzierte Beziehung zu seiner Mutter hatte und mit drei Jahren seine wichtigste primäre Bezugsperson, sein Kindermädchen, verlor(2). Auf dem Hintergrund dieser Kindheitsgeschichte kann man sich erklären, warum er sich gerade für Fragen von Bindung(6), Trennung(3) und Verlust(3) so stark interessierte und sich auch theoretisch eingehend damit befasste.

Die Möglichkeit, dass Bowlby(13) durch die erwähnte Lektüre angeregt war, über seine eigene Kindheit nachzudenken, könnte zumindest als psychodynamische Hypothese formuliert werden. Sein Engagement in einer fortschrittlichen Schule(2) für sozial auffällige Jugendliche(2) könnte ebenfalls als ein Versuch verstanden werden, jene Schattenseiten der eigenen Psyche und der Gesellschaft kennenzulernen, die ihm bis dahin fremd geblieben waren. Vielleicht kann das vorübergehende Aussteigen aus dem Medizinstudium als eine postadoleszente pubertäre Phase betrachtet werden, weil er sich in dieser Zeit mit seinen Ideen und seinen Interessen deutlich von seiner Familie und dem ihm vorgegebenen Weg abgrenzte. Die Beschäftigung mit den Jugendlichen(3) und Kindern war für ihn ein emotionales und inhaltliches Schlüsselerlebnis, das seine spätere Theorieentwicklung nachhaltig prägen sollte.

Nach der Beendigung des Medizinstudiums war er entschlossen, sich für die damals neu entstehende Fachrichtung Kinderpsychiatrie(2) ausbilden zu lassen. Bereits während seiner Studienzeit hatte er mit einer psychoanalytischen Ausbildung begonnen. Schon früh setzte er sich mit den Theorien von Melanie Klein auseinander. Zeitlebens waren ihm eine kritische Einstellung gegenüber ideologisch gefärbten oder dogmatisch unterrichteten Lehrmeinungen und ein Engagement für demokratische Prozesse wichtig.

Damals drohte ein jahrelanger Streit zwischen Anna Freud(1) und Melanie Klein(1) – beide Pionierinnen der Kinderanalyse – die Britische Psychoanalytische Gesellschaft(1) zu spalten. In London gab es mehrere psychoanalytische Fraktionen(3), darunter die Anhänger von Anna Freud, die Anhänger von Melanie Klein und eine »Independent Group«, in der Bowlby(14) später selbst sehr aktiv war.

Bis zum Zweiten Weltkrieg arbeitete er als Leiter der London Child Guidance Clinic(1). Während des Krieges war Bowlby in einer Gruppe von Psychoanalytikern und Psychiatern aktiv, die vorwiegend mit testpsychologischen Untersuchungen bei jungen Offizieren beschäftigt war. Nach dem Krieg erhielt er relativ bald den Auftrag, eine Abteilung für Kinderpsychotherapie(3) an der Tavistock Clinic(2) aufzubauen. In der gesamten Aufbauphase, sowohl in diesem Krankenhaus als auch in der Britischen Psychoanalytischen Gesellschaft(2), zeigte sich immer wieder Bowlbys(15) großes Organisationstalent und seine Fähigkeit, finanzielle Mittel für die verschiedensten Zwecke, etwa für die psychoanalytische Forschung(4), zu organisieren.

Einer neu gegründeten Forschungsgruppe schlossen sich unter anderen James Robertson(1) und Mary Ainsworth(3) an. Beide sollten als Mitarbeiter sowie für die weitere Entwicklung der Bindungstheorie eine große Bedeutung gewinnen. Robertson hatte bei Anna Freud(2) als Hausmeister in einem Kindergarten gearbeitet und war dort in die Technik der Kinderbeobachtung eingeführt worden. Später hatte er Sozialpädagogik(1) studiert und schließlich bei Anna Freud(3) selbst eine psychoanalytische Ausbildung erhalten. Er machte sich rasch mit den Ideen von Bowlby vertraut, der frühe reale Umwelteinflüsse(1) als für die Entwicklung von Kindern entscheidend ansah.

Gemeinsam mit Bowlby(16) drehten James Robertson(2) und seine Ehefrau Joyce(1) mit einfachen technischen Mitteln zunächst einen sehr bewegenden und beeindruckenden Dokumentarfilm – dem später weitere Filme zum gleichen Thema folgten – mit dem Titel: »A two year old goes to hospital« ((17)Bowlby et al., 1952; Robertson, 1952(3)). In diesem Film verfolgt man die verschiedenen Phasen des Verhaltens bei einem zweijährigen Mädchen, das ohne seine Mutter ins Krankenhaus aufgenommen wird: Protest, Trauer(1) und Anpassung. Diese Phasen der Reaktion eines Kindes auf die Trennung(4) von seiner Mutter waren damals noch nicht bekannt. Das Echo auf diesen Film war sehr zwiespältig. Besonders hervorgehoben wird immer wieder, dass die Anhänger Melanie Klein(2)s die Reaktionen der Zweijährigen im Film nicht der Trennungssituation(5), sondern den unbewussten Phantasien(2) des Kindes über seine Mutter zugeschrieben hätten. Bowlby(18) nutzte aber diesen Film, um gemeinsam mit Robertson die Besuchspraktiken in Kinderkliniken(1) zunächst in London, schließlich sogar in vielen anderen Ländern der Welt zu verändern. Heute ist die Mitaufnahme von Müttern in pädiatrischen Krankenhäusern bei der Einweisung von Kleinkindern zur stationären Behandlung zwar noch nicht überall realisiert, wird aber als sinnvolle Maßnahme angestrebt und nicht mehr grundsätzlich in Frage gestellt. Dennoch ist es erschreckend, dass 70 Jahre nach den Publikationen von James und Joyce Robertson auch heute noch Eltern um die Mitaufnahme kämpfen müssen, wenn ihr schwerkrankes Kind auf der Kinder-Intensivstation einer Kinderklinik behandelt wird.[1]

Bowlbys(19) erste Publikation, die sich mit der Wirkung von Umwelteinflüssen auf die frühkindliche Entwicklung beschäftigt, bezieht sich explizit auf seine Erfahrungen mit jugendlichen(4) Dieben. Insgesamt studierte er 44 Fälle von Jugendlichen, wertete Aufzeichnungen aus und publizierte sie in dem Artikel »Forty-four juvenile thieves: Their characters and home life« (Bowlby, 1946). Er wollte damit deutlich machen, wie frühe emotionale Traumatisierungen(4) durch Verlust-(4) und Trennungserlebnisse(6) die Entwicklung von Verhaltensstörungen(1) beeinflussen können. Schon damals war Bowlby überzeugt, dass reale frühkindliche Erlebnisse in der Beziehung zu den Eltern die Entwicklung eines Kindes grundlegend bestimmen können und dass nicht nur der Ödipuskomplex(1) und seine Lösung oder das Monopol der Sexualität(1) für die emotionale Entwicklung eines Kindes verantwortlich seien.

In dem grundsätzlichen Beitrag »The nature of the child’s tie to his mother« ((20)Bowlby, 1958) legte er erstmals seine Überlegungen dazu vor, dass es ein biologisch angelegtes System der Bindung gebe, das für die Entwicklung der starken emotionalen Beziehung zwischen Mutter und Kind verantwortlich sei. Seine Gedanken dazu waren von seiner Bekanntschaft mit der ethologischen Forschung(1) beeinflusst. Mehr durch Zufall war er auf die Arbeiten von Konrad (1)Lorenz (1943) und Nikolaas (1)Tinbergen (1952) aufmerksam geworden. In der Feldforschung(1) von Lorenz (1965)(2) über die frühe Prägung sowie später auch durch die Studien von Harlow & Harlow (1969)(1)(1) über die Effekte von unterschiedlicher Mutter-Kind-Beziehungen auf das Verhalten bei Rhesusaffen fand er seine eigenen Beobachtungen bestätigt. Schließlich hielt er drei Vorträge vor der Britischen Psychoanalytischen Gesellschaft(3), in denen er seine Gedanken zur Bindungstheorie öffentlich zur Diskussion stellte (Bowlby, 1958; Bowlby 1960a; Bowlby 1960b).

Die Reaktionen waren außerordentlich skeptisch bis offen ablehnend. Die schärfste Kritik an seiner Theorie bestand darin, dass ihm vorgeworfen wurde, er habe mit seinen Vorstellungen den Boden der psychoanalytischen Metatheorie(1), sprich der Triebtheorie(2), verlassen (A. (4)Freud, 1960; Schur, 1960; Spitz, 1960(1)). Insbesondere die Kleinianer begegneten Bowlbys Konzepten mit Misstrauen. Anna Freud(5)s Intervention ist es zu verdanken, dass Bowlbys öffentliches Bekenntnis zu seiner neuen Theorie nicht zu seinem Ausschluss aus der Psychoanalytischen Gesellschaft geführt hat. Mit seinen Ideen stellte er ein neues Konzept neben die traditionelle Theorie der Trieblehre, nach der in erster Linie die orale Befriedigung durch das Stillen(1) an der Mutterbrust für die Entwicklung(3) der Bindung zwischen Mutter und Kind verantwortlich ist. Nach der psychoanalytischen Theorie war es zum damaligen Zeitpunkt vollkommen undenkbar, dass es eine eigenständige motivationale Grundlage für die Entwicklung der Bindung geben könnte, die auch noch biologisch verankert sei und nicht aus einem Konflikt(1) oder der Sexualität(2) entstammen sollte.

(2)In jener turbulenten Zeit der Auseinandersetzung mit seinen neuen Thesen erhielt Bowlby(21) von der Weltgesundheitsorganisation (WHO)(2) den Auftrag, einen Bericht über die Situation der vielen heimatlosen und verwaisten Kinder in der Nachkriegszeit zu verfassen ((22)Bowlby, 1951, 1953, 1973a, 1995a). Er nutzte diese Gelegenheit sowohl zur Feldforschung(2) über die emotionale Situation der Kriegswaisen als auch zu Kontakten mit amerikanischen Entwicklungspsychologen(4), denn als solcher war Bowlby nicht ausgebildet. Die Erkenntnisse aus dem WHO-Bericht(3) ermutigten ihn in seiner Theorie, und seine durch diese Arbeit neu erworbene Reputation stärkte auch seine Position in der Psychoanalytischen Gesellschaft.

Viele junge Studenten und Promotionsstipendiaten in Bowlbys(23) Forschergruppe waren von seinen Ideen beeindruckt. (3)Unter ihnen befand sich auch die Kanadierin Mary Ainsworth(4). Sie hatte in Toronto promoviert und war nur aufgrund beruflicher Aktivitäten ihres Ehemannes nach London gekommen. In ihrer Dissertation hatte sie sich mit der »Sicherheitstheorie(1)« von (1)Blatz (1940) auseinandergesetzt, wonach jedes menschliche Wesen für seine emotionale Entwicklung ein Urvertrauen(1) zu einer wichtigen Bezugsperson entwickeln müsste. Hier finden sich bereits wesentliche Gedanken, die später in die Bindungstheorie(1) eingingen. Mit diesen Kenntnissen kam Mary Ainsworth nach London in Bowlbys(24) Forschungsgruppe und war von dessen Gedanken begeistert, auch wenn sie der ethologischen Fundierung(3) der Bindungstheorie lange Jahre skeptisch gegenüberstand. Die Beziehung zu Mary Ainsworth(5) und die gemeinsamen wissenschaftlichen Aktivitäten von Bowlby(25) und Ainsworth waren für die Entwicklung der Bindungstheorie von grundlegender Bedeutung.

(4)Ainsworth(6) ging schließlich von London wiederum mit ihrem Ehemann nach Uganda. Dort führte sie erstmals eine Feldforschung(4), wie sie sie aus der Ethologie kennengelernt hatte, in ugandischen Familien durch. Sie beobachtete dort täglich über viele Stunden das Verhalten von Kleinkindern mit ihren Müttern und dokumentierte in sehr genauen Protokollen deren Pflegeverhalten(1) sowie das Bindungs(1)- und Trennungsverhalten(1)(7) der Kinder in den täglichen Abläufen. Nach ihrer Rückkehr aus Uganda führte sie dann in Baltimore(1) eine erste Längsschnittstudie mit Säuglingen(1) durch. In wöchentlichen Hausbesuchen(1) beobachtete sie wiederum genau das Pflegeverhalten(2) der Mütter gegenüber ihrem Säugling in den verschiedensten alltäglichen Situationen. Schließlich erfand sie eine testähnliche standardisierte Untersuchungssituation, die sogenannte »Fremde Situation« (»strange situation«)(1),[2] um dieses Bindungs(2)- und Trennungsverhalten(2) von Kindern im Beobachtungslabor reliabel zu studieren.

Als sie ihre Ergebnisse zur Bindung von Säuglingen(2) publizierte ((7)Ainsworth & Wittig, 1969(1)), wodurch die theoretischen(2) Überlegungen zum Konzept der Bindung eine erste empirische Fundierung erfuhren, veröffentlichte Bowlby(26) fast gleichzeitig seinen ersten Band aus der Trilogie Attachment and Loss mit dem Originaltitel Attachment (Bowlby, 1969; dt.: Bindung, 1975). Im Verlauf der nächsten Jahre erschien Bowlbys(27) zweiter Band mit dem Originaltitel Separation. Anxiety and Anger (Bowlby, 1973b; dt.: Trennung, 1976), in dem er den Einfluss von Trennungserlebnissen(8) beschrieb, sowie später sein dritter Band über die Bedeutung des Verlusts(5) mit dem Originaltitel Loss, Sadness and Depression (Bowlby, 1980; dt.: Verlust, 1983). (5)Diese Trilogie ist das Fundament der Bindungstheorie(1).

Die weitere empirische Fundierung der Theorie erfolgte dann durch eine Vielzahl von Längsschnittstudien im Bereich der Entwicklungspsychologie(5). Mary Ainsworth(8) hatte eine große Schar von Doktorandinnen und Doktoranden, unter ihnen wiederum eine ganze Generation von Bindungsforschern; genannt seien an dieser Stelle nur Inge Bretherton(1), Everett Waters(3), Alan Sroufe(1) und Mary Main(2). Auch Klaus(5) und Karin Grossmann(4) waren ihre Schüler. Mit ihren in Deutschland durchgeführten Längsschnittstudien(2) hatten sie einen wesentlichen Anteil an der Entwicklung der europäischen Bindungsforschung(4).

Mary Main hat sich später als Psychologin auf den Aspekt der Sprachanalyse spezialisiert und das sogenannte »Adult Attachment Interview« (AAI)(1) konzipiert. Mit diesem halbstrukturierten Interview wurde es möglich, auch Erwachsene hinsichtlich ihrer früheren Bindungserlebnisse(1) zu befragen und durch eine psycholinguistische Auswertung Aufschlüsse über ihre Einstellung zur Bindung(7) zu erhalten. Jetzt konnte durch Verhaltensbeobachtung nicht nur die frühkindliche Bindungsentwicklung(1) untersucht werden, sondern auch die Art der Abspeicherung früher Bindungserfahrungen(1) in Form von Repräsentationen bei Erwachsenen. Durch linguistisch orientierte Analysen(1) wurde außerdem versucht, die innere Repräsentanzenwelt von Kindern ab dem dritten Lebensjahr zu erforschen. Man erzählte den Kindern kurze, unvollständige Geschichten(1), deren Inhalt den Entwurf einer konflikthaften bindungsrelevanten Zuspitzung enthielt, und spielte als Untersucher diesen Inhalt mit Puppen dem Kind vor.[3] Diese Methode (Attachment Story Completion Task, ASCT) wurde von Inge Bretherton(2) (Bretherton et al., 1990c) entwickelt und von Emde(1) und Mitarbeitern (Emde et al., 1997; Oppenheim et al., 1997)(1) modifiziert. Eine angepasste deutsche Version steht als sog. »Geschichtenergänzungsverfahren zur Bindung 5- bis 8-jähriger Kinder (GEV-B)« zur Verfügung(2) (Gloger-Tippelt & König, 2016).

Das Ausmaß an empirischer Bindungsforschung(5) ist inzwischen kaum mehr zu überblicken. Wesentliche Ergebnisse zu den verschiedenen Konstrukten der Bindungsforschung, wie sie im nächsten Kapitel beschrieben werden, wurden von der niederländischen Forschungsgruppe um van IJzendoorn(1) zusammengefasst. Nach Bowlbys(28) Auffassung ist die Bindungsqualität(3), wie sie sich in den ersten Lebensmonaten zwischen primärer Bezugsperson(1) und Säugling(3) entwickelt, kein Fixum, sondern ein Kontinuum(1), das sich durch emotionale Erfahrungen in neuen Beziehungen zeitlebens in unterschiedliche Richtungen verändern kann. Durch seinen Mitarbeiter Parkes(1) angeregt, hat sich Bowlby(29) schließlich auch mit der Bedeutung der Bindung für die gesamte Lebensspanne(1) beschäftigt. Bindung ist demnach ein emotionales Band, das sich während der Kindheit entwickelt, dessen Einfluss aber nicht auf diese frühe Entwicklungsphase beschränkt ist, sondern sich auch auf alle weiteren Lebensabschnitte erstreckt. Somit stellt Bindung während des ganzen Lebens und bis ins Alter hinein eine emotionale Basis(1)(1) dar (Parkes et al., 1991).

Die Bindungstheorie(3) beeinflusste auch unsere Kenntnisse über die Bedeutung von Trennungen(9) und Verlusten(6) im Alter (Kübler-Ross, 1974)(1). Sie hat in einige theoretische und therapeutische Ansätze Eingang gefunden, ohne dass dies im Einzelnen immer ausdrücklich betont würde, so etwa ins Verständnis von Patienten und Angehörigen in der Palliativmedizin (1)(Petersen & Köhler, 2005(15); Loetz et al., 2013; Loetz & Müller, 2017; Müller & Loetz, 2017).

In den letzten Jahren seines Lebens hat sich Bowlby(30) noch einmal intensiv mit der therapeutischen Umsetzung seiner Theorie beschäftigt ((31)Bowlby, 1995b). Ihm war besonders daran gelegen, sowohl auf die Prävention von Fehlentwicklungen in der frühen Eltern-Kind-Beziehung als auch auf die psychotherapeutische Arbeit Einfluss zu nehmen.

Die Bindungstheorie(4) gehört heute zu den durch empirische, insbesondere prospektive Längsschnittstudien am besten fundierten Theorien über die psychische Entwicklung des Menschen. Auch wenn sie nicht alle Bereiche gleichermaßen behandelt und etwa die Aspekte Sexualität(3), Aggression(3) und die Bedeutung des Vaters(1) zumindest in ihren Anfangsjahren vernachlässigte, hat sie doch wesentlich zum Verständnis der menschlichen Entwicklung über das gesamte Leben hin beigetragen.(3)

Entwicklung der bindungstheoretischen Konzepte[4]

Grundannahmen der Bindungstheorie

Definition von Bindung und Bindungstheorie

(5)Bowlby(32) betrachtet Mutter und Säugling(4) als Teilnehmer an einem selbstregulierenden System, dessen Teile einander wechselseitig bedingen. Die Bindung zwischen Mutter und Kind innerhalb dieses Systems unterscheidet sich von »Beziehung« dadurch, dass »Bindung(8)« lediglich als ein Teil des komplexen Systems der Beziehung verstanden wird.[5]

Die Bindungstheorie(6) verbindet ethologisches(6), entwicklungspsychologisches(6), systemisches(1) und psychoanalytisches(5) Denken. In ihren Annahmen befasst sie sich mit den grundlegenden frühen Einflüssen auf die emotionale Entwicklung des Kindes und versucht, die Entstehung und Veränderung von starken gefühlsmäßigen Bindungen zwischen Individuen im gesamten menschlichen Lebenslauf(2) zu erklären.

Das Bindungssystem

Nach Bowlby(33) stellt das Bindungssystem(1) ein primäres, genetisch verankertes motivationales(1)(1) System dar, das zwischen der primären (2)Bezugsperson(1)[6]