Bis dass der Pflock euch scheidet - Allyson Snow - E-Book
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Bis dass der Pflock euch scheidet E-Book

Allyson Snow

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Beschreibung

Den heirate ich! Ob er will oder nicht! Das weiß Amélie bereits seit ihrem fünften Lebensjahr. Dass ihr Traumprinz nicht nur ein ganzes Stück älter ist und vor allem sehr spitze Zähne mit sich herumträgt, tut dabei nichts zur Sache. Ihr Entschluss steht fest: Sobald sie groß ist, wird sie ihren Vampirfreund heiraten! Ihr Vorsatz gerät jedoch leicht ins Wanken, als ihr unwissentlich Verlobter von heute auf morgen ohne ein einziges Wort verschwindet. Umso größer ist ihr Erstaunen, als dieser zwanzig Jahre später wieder auftaucht. Unter anderem Namen, um keinen Tag gealtert und vor ihr auf den Knien. Bedauerlicherweise nicht, um den längst überfälligen Heiratsantrag auszusprechen, sondern in echter Bedrängnis. Nicht nur, dass Jason erbittert seine Vormachtsstellung in der Pariser Mafia verteidigen muss, seine Erlegung soll das Meisterstück von Amélies Freund sein – einem Vampirjäger. Doch eine Frau, die weiß, dass man auf Tinder nie die echte Liebe findet, ist nur zu gern bereit, über diese Kleinigkeiten hinwegzusehen. ca. 414 Taschenbuchseiten. Alle Bände der Reihe ›verflixt und zugebissen‹ sind in sich abgeschlossen und können unabhängig voneinander gelesen werden. Fans erwartet ein Wiedersehen mit den Charakteren des Fantasy-Bestsellers ›Vampire, Pech und P(f)annen‹.

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Allyson Snow

Bis dass der Pflock euch scheidet

(Verflixt und zugebissen 2)

Zeilenfluss81371 München

Kapitel 1 – Interview mit einem Vampir

Den Teddy an die Brust gedrückt, steckte Amelie ihr Gesicht zwischen die Streben des Treppengeländers, um den fremden Mann unten im Flur genauer in Augenschein zu nehmen. Der sanfte Lichtschein, der aus der Küche drang, reichte nicht aus, um sein Antlitz zu erkennen. Sie sah lediglich, dass der Besucher groß und schlank war.

Leise tapste sie die Treppe hinunter. Ihren Teddy hielt sie fest im Würgegriff, und seine weichen Beine schleiften hinter ihr über die Stufen.

Die Gestalt bewegte sich.

»Bist du ein Vampir?« Sie war zwar erst fünf Jahre alt, aber sie fand ihre Frage außerordentlich klug. Wer sonst sollte im Dunkeln durch die Hintertür kommen? Das machten nur Vampire. Ihr Papa hatte das gesagt!

Papa war ein toller Polizist. Das sagte Mama immer. Und sein Chef sagte, wenn er zu Besuch war und Amélie mit einem verstohlenen Zwinkern Süßes zusteckte, dass ihr Papa eine sehr gute Spürnase besaß. Was immer das heißen mochte.

Papas Nase war groß und gerade, eine typische Papanase halt. Aber warum ihr Papa seinen »Zinken« (die Worte seines Chefs, nicht ihre) immer an die richtigen Stellen steckte, um die schlafenden Hunde mal ordentlich aufzuscheuchen, war ihr auch ein Rätsel. Sie hatte nachts noch nie einen Hund in der Nachbarschaft bellen hören. Manchmal jaulte die Chipie von gegenüber.

Sie erreichte gerade die letzte Stufe, als sich der Mann zu ihr herumdrehte. »Wie kommst du darauf?«, fragte er.

Amélie störte sich nicht daran, dass sie ihm gerade einmal bis zur Hüfte reichte. Sie legte den Kopf in den Nacken, um besser sehen zu können. Obwohl, viel zu sehen gab es nicht. Es war zu dunkel. Dafür fand sie seine Stimme schön.

»Mein Papa hat das erzählt. Ich habe Knoblauch gegessen. Bekommst du jetzt Ausschlag davon?«

»Nein, bekomme ich nicht«, erwiderte der nächtliche Besucher.

Amélie hielt ihren Teddy in die Höhe. »Knautschi ist auch ein Vampir!«

»Ja, er hat sehr spitze Zähne«, lobte ihr Gesprächspartner und hockte sich hin, um auf ihrer Augenhöhe zu sein. »Hast du keine Angst?«

Angst? Wovor denn? Angestrengt zog sie die Stirn in Falten und die Nase kraus. »Nein, Papa sagt, dass Vampire böse sind. Aber ich glaube, er hat unrecht. Du bist lieb.«

Das matte Licht, das durch das Fenster der Küchentür drang, spiegelte sich in seinen Augen, die wie hübsche Steine aussahen. So wie die Steine in der Kette ihrer Mutter, die sie nur zu Weihnachten trug.

Amélie folgte ihrem Instinkt und schlang die Arme um seinen Hals. Ob sie falsch lag? Natürlich nicht. Warum auch? Knautschi mochte diesen Vampir auf Anhieb, genauso wie sie selbst.

Der Vampir kippte ein wenig nach hinten (also wirklich, so schwer war sie gar nicht!) und Knautschi baumelte in seinem Rücken. Sie dachte sich nichts dabei, als dieser Mann sie hochhob und in die Küche trug.

Sie wusste nur eines: Dieser Mann mit den grünen Augen war lieb! Und wehe dem, der etwas anderes behauptete.

 

 

Nun, nach zwanzig Jahren, sah Amélie erneut in diese Augen. Das außerordentliche Grün, das sie an Mutters Smaragd-Schmuck erinnerte, funkelte wie damals. Sie strahlten dieselbe Wärme aus, nach der sie sich, seit dem Tag, als er verschwunden war, so sehr gesehnt hatte. Ein Blick, der alles versprach. Geborgenheit und doch mit einem Schalk, der schwor, sie nicht nur zu beschützen, sondern auch von einem Abenteuer ins nächste zu stoßen.

Die dunkelblonden Haare fielen ihm ungeordnet in die Stirn, auf der eine fingerlange Wunde klaffte. Ein kleiner Blutstropfen wanderte nach unten und verfing sich in seinen Brauen. Warum musste sie ihn ausgerechnet hier, in einem Verhörzimmer und in Ketten gelegt wiedersehen? Er war doch ihr Held, dem niemand etwas anhaben konnte.

Sie hatte ihn von ihrer ersten Begegnung an geliebt. Seine Nähe, die so viel Ruhe ausstrahlte. Sein charmantes Grinsen, für das sie ihn schon als schneidezahnloses Mädchen heiraten wollte. Mehrmals pro Woche hatte er ihren Eltern den Scotch weggetrunken und mit ihr gespielt. Bis zu ihrem siebten Geburtstag.

Er war nicht gekommen und auch danach niemals wieder aufgetaucht. Es hatte ihr das kindliche Herz gebrochen.

Heute hämmerte es gegen ihren Brustkorb, als liefe sie untrainiert einen Marathon, während sie ihre Lunge hinter sich herschleifte.

Er schien die karge Einrichtung des Zimmers, die Ketten, die um seine Gelenke lagen, und die Männer, die mit weiteren Fesseln dafür sorgten, dass nicht einmal Hulk die Flucht gelingen würde, zu ignorieren, und starrte sie unbeirrt an. Seine Mundwinkel zuckten ein Stück nach oben.

Er musste es sein! Ihr Vampir hatte ständig gegrinst.

Hinter ihr erklangen schwere Schritte und weckten sie aus ihrer Starre. Mit einem leichten Humpeln trat Enzo Brubier, der Anführer der Pariser Vampirjäger heran. Seine Nase war von dem Hieb, den er kassiert hatte, bevor sein Opfer vom Eisenkraut betäubt in die Knie gegangen war, geschwollen. Allerdings beeinträchtigte nicht einmal der rotgetränkte Taschentuchzipfel, der aus seiner Nase ragte, seine Autorität.

Enzo und Amélie waren seit vier Jahren ein Paar, doch selbst Amélie schrak vor der Gefühllosigkeit in seiner Miene zurück. Enzo war ein Mann von fünfunddreißig Jahren, der so wirken konnte, als wäre er seit fünfzig Jahren ein kaltblütiger Killer. Knapp zwei Meter hoch überragte er Amélie um zwei Haupteslängen. Seine Gestalt war schmal, aber sehnig und kraftvoll. Die Hände in die Seiten gestützt sah er auf Amélies leibhaftige Kindheitserinnerung nieder.

»Ah, wie schön, Jason Harris. Die Jagd hat endlich ein Ende.«

»Kennen wir uns?«, fragte der Vampir interessiert, doch sein Blick lag nicht auf Enzo, sondern auf ihr.

Seine Stimme war ein sanfter ruhiger Bass, der sich nach gemütlicher Daunenbettdecke anfühlte.

Amélie lächelte. Sie konnte sich kaum dermaßen irren. Er war es. Ihr Held. Ihr Beschützer. Ihr Vampir. Niemals würde sie diese Stimme vergessen, niemals dieses Lachen. Okay, davon hörte sie gerade nicht viel. Gefesselt und auf den Knien lachten die wenigsten. Jedenfalls nicht, wenn fünf Männer mit Maschinengewehren um einen herumstanden.

Eine wahrlich unwürdige Position und zudem noch unbequem, trotzdem sah Jason nicht verängstigt aus. Im Gegenteil. Er sah Amélie an, als würde er mit einem Drink in der Hand entspannt an der Theke eines Clubs stehen.

»Es reicht, wenn ich dich kenne«, erwiderte Enzo ruppig und lenkte so Jasons Blick auf sich.

»Es ist unhöflich, sich nicht vorzustellen. Ich nenne gern Dinge beim Namen. Da ich deinen nicht kenne, nenne ich dich Eduard.«

Amélie schnappte nach Luft. Enzo war kein Mensch, der Scherze verstand. Seine Erwiderung folgte auf dem Fuße. Oder in Jasons Fall auf die Nase. Es knirschte hässlich, als Enzo seine Faust mit voller Wucht im Gesicht seines Gefangenen platzierte und dieser aufstöhnte. Schmerzhaft zog sich Amélies Herz zusammen.

»Sag doch einfach, wenn dir der Name nicht gefällt«, empörte sich der Geschlagene alles andere als reumütig, dafür umso nasaler.

Er hustete erstickt, da einer von Enzos Männern ihm eine Kette so fest um den Hals zog, dass Blut aus den kleinen Schnittwunden hervorquoll. Auch wenn Vampire nicht auf die Luft zum Atmen angewiesen waren, konnte sich Amélie nicht vorstellen, dass das angenehm war.

»Ist das wirklich nötig?«, fragte Amélie leise.

»Gemeingefährliche Tiere sind das«, schnaubte Enzo. »Morgen bringen wir ihn ins Gefängnis. Bis dahin kannst du ihn mit Fragen löchern. Pass auf dich auf und beeil dich. Je eher wir ihn wieder mit Eisenkraut schlafen legen, umso besser ist es.«

Ein Interview mit einer Sterblichen, kurz bevor der Gang in ein Gefängnis anstand, das explizit für kriminelle Vampire gebaut wurde und aus dem es kein Entkommen gab … schon möglich, dass das auch für einen Vampir ungewöhnlich war.

Jason, der sie mit einem unnachahmlichen Interesse musterte, machte sie nervös, und so wich sie seinem Blick aus.

Enzo strich ihr über die Wange. »Keine Sorge, Mäuschen. Der Bursche ist so fest eingespannt, der kann keinen Unsinn machen.«

»Schon in Ordnung«, erwiderte Amélie und lächelte verkniffen. Mäuschen! Wie konnte man die Frau, mit der man das Bett teilte, mit einem Nagetier vergleichen?

Prustete dieser Vampir hinter ihr amüsiert? Es klang so. Aber eines glaubte sie Enzo unbesehen: Jason konnte nicht weg. Die Fesseln um seine Handgelenke saßen so eng, dass sich die Haut blau einzufärben begann. Die Enden der Ketten waren an Deckenhaken befestigt und straff gespannt. Es gab kein Entkommen für ihn.

Die Finger ineinander verkrampft sah sie ihrem Freund nach, als er mit seinen Männern den Raum verließ und die Tür hinter sich schloss. Jetzt war sie mit Jason allein.

Sich auf den Holzstuhl zu setzen, der das einzige Inventar des Raumes bildete, war die pure Erleichterung für ihre zittrigen Knie. Nervös versuchte sie den Kloß in ihrem Hals herunterzuschlucken. Okay, das war ihre Chance, das Rätsel um ihr neu erworbenes Magengeschwür zu lösen.

»Ich heiße Amélie Denaux«, sagte sie. Gott sei Dank, sie stotterte nicht. Ob ihm ihr Name bekannt vorkam?

»Wie schön, das erspart mir, mir einen Namen auszudenken«, spottete Jason.

»Ich bin Journalistin und schreibe über Enzo Brubier und seinen Kampf gegen Vampire. Die Welt soll erfahren, dass es diese Wesen nicht nur dem Reich der Mythen gibt. Und dass man in der Lage ist, für Sicherheit zu sorgen, indem man kriminelle Vampire einsperrt«, erklärte Amélie, während sie ihre Tasche nach einem kleinen Block und einen Kugelschreiber durchsuchte. Mist. Wo hatte sie den schon wieder liegen gelassen?

»Alle Vampire sind kriminell«, erwiderte Jason. »Den Block hast du im Auto vergessen.«

Verunsichert sah Amélie zu ihm hinab. Er hatte im Wagen selig unter dem Einfluss von Eisenkraut geschnarcht. Geschnarcht! Der einzige Vampir, der betäubt noch schnarchen konnte. Oder hatte der nur so getan? Woher wusste er, wo ihr Block war?

»Wie –«, setzte sie zu der Frage an, die ihr auf der Zunge lag, doch Jason verdrehte die Augen.

»Also was willst du? Ich bin zwar nie der Gesellschaft einer schönen Frau abgeneigt, aber ich würde mich gern ungestört meiner Befreiung widmen.«

Moment! Sein Kompliment war zwar schmeichelhaft, nichtsdestotrotz vorhersehbar und platt, aber Befreiung …? Wovon träumte er?

»Das ist unmöglich«, platzte sie heraus, doch Jason lächelte sie mit purer Herablassung an. 

»Überlass das ruhig mir.«

Oh, das würde sie auch. Mal sehen, ob er immer noch so hochnäsig war, wenn er für den Rest seines untoten Lebens in einer dunklen Zelle an eine Wand gekettet hockte. Dort gab es Blut nur noch in Konserven und auf Zuteilung.

Aber hey, vielleicht hatte er ja eine überzeugende Idee, wie er sich bei ihr revanchieren könnte, wenn sie ihm bei der Flucht half. Sie konnte ihren Kindheitsfreund kaum im Gefängnis vermodern lassen! Menschen zu töten würde sie ihm abgewöhnen. Für jedes Problem gab es eine Lösung.

»Hör auf damit, das ist unheimlich«, unterbrach Jason ihr Kopfkino.

Erschrocken ließ sie ihren Kugelschreiber fallen. »Aufhören? Womit?«

»Kennst du den Grinch?«

Sie rutschte ein wenig unbehaglich auf ihrem Stuhl herum. »Ja, wieso?«

»Du hast gerade gelächelt wie der.«

War sie gerade noch damit beschäftigt, eine Sitzposition zu finden, in der ihr nicht ständig das rechte Bein einschlief, wurde jetzt ihr Gehirn leicht taub. Sie hatte sich wohl verhört?

»Gerade hast du mich noch schön genannt«, warf sie schnippisch ein.

»Ja, da hast du auch nicht gelächelt.«

Missmutig verzog sie den Mund. Toll. Sie war als Journalistin so einiges gewohnt. Flirts, eindeutige Anmachen, erbärmliches Gebettel, hochnäsige Kommentare zu ihren Knien, aber mit dem Grinch hatte sie noch niemand verglichen.

Tief durchatmen. Man durfte keinen Gefesselten schlagen. Das war unfair. Es war nichts weiter als ein normales Interview. Warum hatte sie sich noch mal auf Enzos Angebot eingelassen, die Exklusivrechte dieser Story zu bekommen, wenn sie nicht ihn, sondern seine gefangenen Vampire mit Fragen behelligte? Sie hatte sich dem Zauber seines Planes nicht entziehen können. Alle sollten erfahren, dass es Vampire gab. Und dass diese mehr als nur die romantischen Verklärungen der modernen Literatur waren. 

Amélie zog ihre Bluse zurecht und ignorierte sein selbstgefälliges Grinsen. »Wie ist es, hunderte Menschen getötet zu haben, um deren Blut zu trinken?«

Die Ketten klirrten leise, als Jason sein Gewicht verlagerte. »Wie ist es, über hundert Schweineschnitzel gegessen zu haben?«, lautete seine spöttische Gegenfrage.

»Ich esse kein …«

»Dann eben Kalb.«

»Ich esse kei–«

»Froschschenkel!«

»Ich bin Vegetarierin!«

Jason schnaubte. »War ja klar.« Im nächsten Moment hustete er erstickt. Pah, man sollte eben nicht lachen, wenn man halb erwürgt wurde.

»Vampire können leider keine Vegetarier sein. Entweder wir trinken Blut wie die Menschen Wasser oder wir sterben. Und ein Hungertod ist für einen Vampir noch schmerzlicher als für einen Menschen, sagt man zumindest.«

»Es gibt Blutkonserven.« Amélie verschränkte die Arme vor der Brust. »Niemand muss heute mehr töten, um an Blut zu gelangen. Es macht euch doch Spaß, Menschen zu töten.« Eigentlich war Amélie aus dem Alter raus, in dem man sich unbedingt noch um die Meinung anderer scherte. Aber sie fühlte sich nicht im Geringsten ernst genommen, und das ärgerte sie maßlos. Erst recht, da Jason sie ansah, als hätte sie nicht mehr alle Tassen im Schrank.

»Es gibt schon für die Krankenhäuser kaum Blutkonserven. Wie sollte es da erst genügend für alle Vampire geben?« Jason lehnte sich zurück und erklärte: »Außerdem ist kaltes Blut nicht ausreichend. Wer sich dauerhaft davon ernährt, wird ebenso schwächer wie die, die sich von Tierblut ernähren. Es ist von der Natur nicht vorgesehen. Die Menschen werden auch nicht gesünder, wenn sie Analogkäse essen. Sie essen Tiere wie Vampire sich an Menschen nähren. Das nennt man Nahrungskette. Hast du sicherlich mal im Biologieunterricht gehabt.«

Jasons Argumente waren logisch und nachvollziehbar. Sofern man sich das eingestehen wollte. Sie hatte damals schon gewusst, dass er ein Vampir war. Als Kind hatte es sie nicht gestört. Vermutlich, weil sie überhaupt nicht begriffen hatte, was es hieß, ein Vampir zu sein. Man war der Tod auf zwei Beinen. Immer wieder. Nur, um das eigene kümmerliche Leben aufrechtzuerhalten. Er hatte also recht, wenn er darauf beharrte, dass alle Vampire kriminell waren. Zumindest die, die Menschen töteten, um ihre volle Stärke zu erhalten. Das war egoistisch und wider die Natur! Das Leben eines jeden Menschen war unantastbar!

Das Rasseln der Ketten ließ sie den Blick wieder heben. Und ein kleiner Schauer fuhr durch ihr Innerstes, als sie geradewegs in seine grünen Augen sah.

»Würdest du mir einen Gefallen tun?«, fragte Jason einlullend sanft.

»Kommt darauf an«, erwiderte sie zögerlich.

»Mir juckt eine Stelle am Rücken.«

Fassungslos starrte sie Jason an. Mal abgesehen davon, dass sie nicht wusste, ob einem Vampir überhaupt etwas jucken konnte, sollte man meinen, es wäre sein geringstes Problem!

»Wenn du mir diesen Gefallen tust, dann beantworte ich auch noch zwei weitere deiner Fragen«, hörte sie Jasons lockenden Tonfall.

»Als ob du eine Wahl hättest«, gab Amélie bockig zurück.

»Man hat immer eine Wahl«, sinnierte Jason mit zunehmend verklärtem Blick.

»Dann hat man also auch als Vampir immer eine Wahl? Die ob man tötet oder nicht? Oder als Mafiaboss?«, fragte Amélie skeptisch. Worauf Jason auch immer hinauswollte, es war Unsinn!

»Natürlich hat man sie. Statt in der Mafia mitzumischen, hätte ich auch Polizist werden können«, erwiderte Jason, und unweigerlich hielt Amélie den Atem an.

War es Zufall, dass Jason ausgerechnet diesen Beruf für sein Beispiel wählte oder sprach er es in dem Wissen an, dass ihr Vater selbst Polizist gewesen war?

»Statt sich zu nähren, könnte man als Vampir einfach verhungern oder sich im nächsten Weihwasserbecken ertränken«, fuhr er fort. »Oder aber man verbindet das Nützliche und nährt sich von den Menschen, die sonst ein anderer umbringen würden.«

Aus welchem schlechten Film hatte er das denn?

»Das ist die selbstgerechteste Erklärung, die ich jemals gehört habe!«, platzte Amélie heraus.

»Mag sein, aber so ist es nun mal. Also, was ist jetzt? Es juckt wirklich entsetzlich. Einer ausgesprochen moralischen Christin, wie du es bist, ist es doch sicherlich die heiligste Pflicht, einem bald zu ermordenden Mann den letzten Wunsch zu erfüllen.«

»Bald zu ermordend? Du?« Amélie fuhr sich über die kitzelnde Nase. »Dir wird es besser ergehen als jedem einzelnen deiner Opfer!«

Gut, im Gefängnis gab es ein paar verhexte Ketten, damit die Vampire nicht ständig die Einrichtung demolierten, aber das war immer noch besser, als tot zu sein. Man konnte eben nicht alles haben.

»Dann sag doch einfach, dass du Angst hast, ich könnte dich beißen«, erwiderte Jason spöttisch.

Das folgende Schnauben von Amélie hatte alle Ungläubigkeit verloren. Es war durch und durch abfällig. In ihren Adern kreiste Eisenkraut. Das schmeckte für Vampire wie versalzener Espresso. Mit dem netten Effekt, dass ihm nicht nur die Galle wieder hochkam, sondern er davon genauso betäubt wurde, als würde man es ihm spritzen. Aber gut, wenn er es versuchen wollte, dann würde sie ihm diesen abstrusen Wunsch erfüllen.

Bewusst straffte Amélie die Schultern. Sie stand von ihrem Platz auf und starrte ihn herausfordernd an.

Jason sah so unschuldig und unbeteiligt aus, dass es sämtliche Alarmglocken in ihr zum Schrillen brachte. Alles in ihr wünschte sich die CIA herbei. Aber bon Dieu! Was sollte schon passieren? Diese Fesseln waren von einer Hexe verzaubert worden. Niemand konnte sie zerreißen.

Sie atmete noch einmal tief durch und beugte sich über ihn. Das Klirren der Ketten hätte ihr eine Warnung sein müssen. War es auch. Bedauerlicherweise waren ihre Instinkte und Fähigkeiten als Stadtmensch viel zu verkümmert, um mit der Reaktionszeit eines Vampirs mithalten zu können.

»Au!« Eine Phiole fiel auf ihren Fuß. Wo kam die plötzlich her?

Ein bestialischer Gestank stieg ihr in die Nase. Ihre Augen tränten und ihre Lunge brannte. Ihr Husten war mehr Würgen. Wenn der sie umbringen wollte, war er auf dem richtigen Weg.

Mit einem ohrenbetäubenden Rasseln fiel ein Teil der Ketten zu Boden.

»Was ist das für Zeug?«, stöhnte Amélie. Schön, dass ihr Gehirn mehr an der Beantwortung dieser Frage interessiert war, als daran, die Flucht zu ergreifen. Ein Fehler, der ihr siedend heiß bewusst wurde, als sie Jasons Griff spürte. Seine Finger verhakten sich in ihrem Gürtel und zogen sie zu sich auf den Boden.

Instinktiv sträubte sie sich gegen ihn, bis der vertraute Geruch ihrer Kindheit in ihre Nase stieg. Sein Geruch. Bilder blitzten vor ihrem inneren Auge auf. Der Garten ihrer Eltern, die alte Hollywoodschaukel und sie sie selbst, wie sie neben einem Mann saß, der ihr geduldig die Sternbilder erklärte.

»Ich weiß zwar, dass Frauen zu gerne mit mir kuscheln wollen. Aber es ist ein wenig ungewöhnlich, wenn es ausgerechnet die Frau möchte, die ich gerade dazu nötigen wollte, mir die restlichen Fesseln abzunehmen«, hörte sie Jasons Stimme an ihrem Ohr und zuckte unweigerlich zusammen.

Seine freie Hand ruhte locker auf ihrer Taille. Eine sachte Berührung, der sie sich ebenso entgegenschob wie dem Rest seines Körpers. Sie schmiegte sich in seine Arme.

Ging es noch peinlicher? Sie zuckte, um zurückzuspringen, doch da packte Jason fester zu. Na gut, dann wehrte sie sich eben verbal.

»Das liegt vielleicht an der Haschisch-Wolke, die dich umgibt.«

»Ich wusste doch, dass mein Drogenproblem irgendwann meine Rettung sein würde«, lachte Jason. »Und jetzt mach schon. Vielleicht führe ich dich dann zum Essen aus.«

Ernsthaft? Er lachte? Amélie verzog missmutig das Gesicht. Mit einem Vampir essen zu gehen, war eine Einladung, die man mit Vorsicht genießen sollte. Schließlich war bei dieser Formulierung nie die Rede davon, dass jemand anderes als der Vampir essen würde.

Sie war selten so froh wie in diesen Momenten, dass sie Eisenkraut zu sich nahm. Bedauerlicherweise reduzierte das Vampir-Betäubungsmittel die Arten, wie Jason sie trotzdem um ihr Leben bringen konnte, lediglich um eins. Weder würde es Jason davon abhalten, ihr das Genick zu brechen, noch sie zu erwürgen. Und dass er eines von beidem plante, zeugte allein seine Hand, die sich vielsagend um ihren Hals legte. Eine Handlung, die so viel Konzentration zu erfordern schien, dass er darüber das Grinsen vergaß.

Sie spürte ihren eigenen Herzschlag unter seinen Fingern, als sie die Ketten erst von seinem Hals und schließlich von seinem anderen Handgelenk löste.

»Danke«, sagte Jason, diesmal ohne jeglichen Spott. Damit hörte die gute Erziehung allerdings auf. Denn weder besaß er die Güte, die Hand von ihrem Hals zu nehmen, noch beachtete er ihren Widerstand, als er sie zum Fenster zog.

»Wie viele schießwütige Gesellen stehen auf dem Dach?«, fragte Jason und schmiegte seine Wange an ihre. Sein Bart kitzelte sie leicht.

Dieser blöde Kerl machte sich doch über sie lustig! Und sie fiel darauf herein. Ihre Hand, die sie auf seinen Arm gelegt hatte, um ihn von sich wegzudrücken, verkrampfte sich unter dem Schauer, der sie durchlief. Wenn sie jetzt noch anfing zu kichern, würde sie sich selbst umbringen.

»Du bist erstaunlich«, stellte Jason fest. »Die meisten würden hysterisch schreien.«

Amélies Augen weiteten sich für einen Moment und sie hörte auf, sich zu wehren. »Was mache ich denn?«

»Du lächelst.«

Prompt zog sie ihre Mundwinkel wieder nach unten. Sie hatte gelächelt? Teufel noch eins. Was auch immer Jason geraucht hatte, allein die Wolke des Geruches machte sie völlig stoned!

»Zwei«, gab sie wesentlich unfreundlicher von sich, denn er drückte leicht ihren Hals zu. Damit besaß er ihre volle Aufmerksamkeit.

»Und wie viele davon wären bereit, auf dich zu schießen?«

»Keiner natürlich!«, erwiderte Amélie empört. »Die sind nicht so schlecht erzogen wie du!« Was, wie ihr nun einfiel, ein empfindlicher Nachteil war.

»Wenn ich irgendwann mal Lust habe, mit einer selbstgefälligen Irren auszugehen, mache ich es wieder gut.«

Gerade wollte Amélie dieser unhöflichen Ausgeburt des Teufels eine gesalzene Antwort entgegenschleudern (oder in Ermangelung einer solchen Antwort einfach gegen sein Schienbein treten), da zerschlug er mit einem schnellen Hieb das Fenster.

Bevor sie sich versah, schwebte sie in der Luft. Nicht etwa in der Luft, während bis zum Boden lediglich zwanzig Zentimeter fehlten. Nein! Sie hing in Jasons Arm, und dieser wiederum hing an einer verfluchten Hausmauer, circa zehn Meter über der Straße! Warum musste Enzo seine Gefangenen immer im obersten Stock einquartieren? Hatte der Angst, die würden im Parterre schneller abhauen?

Nur am Rande registrierte sie das Krachen der Tür hinter ihnen und das hektische Stimmengewirr. Für Amélie zählten allein der tanzende Abgrund unter ihren Füßen und die Tatsache, dass nur Jasons Arm sie von dem sicheren Tod auf dem Pflaster trennte.

»Au«, protestierte Jason, als sich Amélie hektisch an ihn klammerte. Die Lichter der unten fahrenden Autos verschwammen vor ihren Augen. Das Blut rauschte in ihren Ohren und ihr einziger Wille richtete sich allein nur noch darauf, sich an ihm festzuhalten. War ihr völlig egal, ob sie ihm gerade die Fingernägel ins Fleisch rammte.

Bitte lieber Gott, wenn er sie fallen ließ, würde sie erst ihm und dann Petrus eine zimmern. Sie war noch nicht mal dreißig! Sie hätte gerne noch etwas vom Leben. Und zwar ein bisschen mehr als den kurzen Flug auf ein Auto!

Mit jeder Bewegung, die er machte, verkrampfte sie sich noch mehr. Sie konnte nicht einmal das Wimmern unterdrücken. Doch irgendwann änderte sich ihre Perspektive. Sie starrte nicht mehr in den flackernden Abgrund, sondern auf grauen Betonboden. Das Dach!

»Sehr gut. Du hast sie zu Tode erschreckt.«

Erschrocken zuckte ihr Kopf nach oben. Für einen Moment hatte sie sich eingebildet, Jason klinge so, als hätte er Spaß.

»Auch wenn du aufhören könntest, mich erwürgen zu wollen.«

Oh, sie hatte nicht gemerkt, dass sie sich nicht nur an seinen Arm geklammert hatte, sondern auch an seinen Hals, inklusive Hemdkragen. Der Stoff war zerrissen. Oh Mann … Wenn Jason sie nicht gehalten hätte …

Sie stöhnte leise. Das Bild, wie sie auf den Asphalt zusegelte, würde sie heute bestimmt noch in ihren Träumen beglücken.

Erst langsam entwickelte sie wieder Gefühl für ihren Körper. Was eine sehr schlechte Idee war. Ihre Knie bebten unkontrolliert. Sie lehnte sich Haltsuchend gegen Jason. Der sie nicht etwa festhielt … Nein. Der macht was ganz anderes!

»Du hast nicht wirklich die Hände in den Hosentaschen?«, fragte Amélie mit belegter Stimme.

»Du hast doch folgerichtig festgestellt, dass ich schlecht erzogen bin. Aber gut, wenn du kuscheln willst.«

Im nächsten Moment spürte Amélie seine Arme, die sich kräftig um sie legten. Jetzt wäre ein guter Zeitpunkt zum Sterben. Einerseits aus Scham. Andererseits aus Genuss.

Endlich fiel ihr Blick auf Enzos Männer, die das Schauspiel zwischen Amélie und Jason mit offenem Mund und angelegten Gewehren verfolgten.

Oh, die würden nicht abdrücken. Niemand wollte es riskieren, Enzo erklären zu müssen, warum seine Freundin die nächsten Tage wegen einer Schusswunde schlechte Laune hatte.

»Kannst du ihnen bitte sagen, dass sie die Waffen weglegen sollen, bevor ich dir etwas brechen muss? Nicht, dass es ein Problem wäre, aber meine Mutter würde sich im Grabe herumdrehen, wüsste sie, dass ich eine holde Jungfer bedrohe«, sprach Jason so laut, dass nicht nur Amélie, sondern auch Enzos Männer die Worte hörten.

»Jungfer? Aus welchem Jahrhundert stammst du, Junge?«, fragte der größere der Wachmänner. Er hob die Hände, da Amélie schmerzerfüllt aufheulte.

Hatte Jason sie tatsächlich gerade gekniffen? Sie versuchte, sich seinem Griff zu entwinden, doch je mehr sie sich wehrte, umso fester kniff er zu. Dieser verfluchte Bastard! Sie würde von seiner Kneiferei morgen eine blaue Taille haben!

»Schon gut, schon gut. Wir legen unsere Waffen weg. Siehst du?«

Die Gewehre schlitterten über den Boden. Amélie sah, wie die beiden Männer sie genauer musterten, vermutlich auf der Suche nach einer blutenden Wunde.

Verärgert presste Amélie die Lippen zusammen. Ja, sie war wehleidig, na und? Es war völlig legitim, zu jammern, wenn ein Vampir einem die Finger in die Taille bohrte und dort eine (natürlich nicht vorhandene!) Fettfalte drückte. Ein Messer hatte der nicht im Geringsten nötig!

Doch bevor sie auch nur ein Wort zu ihrer Verteidigung sagen konnte, wurde sie hochgehoben. Die Umgebung verschwamm und raste in schwindelerregender Geschwindigkeit an ihnen vorbei. Ihr Magen drückte nach oben und kitzelte an ihrem Gaumen. Selbst schuld, wenn sie ihm auf die Schulter kotzte.

Sie suchte nach einem Halt in dem rasenden Tunnel und sah nach unten. Schwerer Fehler. Sie sah eine hell beleuchtete Hauptstraße unter sich, dann ein Stück festen Boden, bis ein gähnend schwarzer Abgrund folgte. Das Gesicht in die Halsbeuge ihres Entführers gepresst, kniff sie die Augen zusammen. Der Himmel stehe ihr bei. Hoffentlich wollte er nicht mit ihr auf den Eiffelturm klettern.

 

 

Kapitel 2 – Der Vampir auf dem Flachdach

»Lass uns zu deinem Vater gehen.«

Amélie hatte nicht das Geringste dagegen, ihrem Papa den unangekündigten nächtlichen Besucher vorzustellen, solange sie ihn dafür nicht loslassen musste. Die Arme um seinen Hals geschlungen und ihre Wange an seiner, ließ sie sich in die Küche tragen.

»Lass sie runter«, brüllte Papa und sprang auf.

Warum tat er so, als hätte er einen Geist gesehen? Sie fand diesen Mann ausgesprochen lieb. Und ihr Teddy schien sich dieser Meinung anzuschließen.

»Lass. Meine. Tochter. Runter!«, forderte ihr Vater erneut.

Flehend sah sie ihren Papa an. Sie wollte nicht runter! Und wäre Mama hier, würde sie ihn ermahnen, nicht so unfreundlich zu Gästen zu sein!

Es polterte fürchterlich, als ihr Papa den Stuhl beiseite schleuderte und nach der Pistole griff. Erschrocken fuhr Amélie zusammen und drückte die Arme fest um ihren Vampir.

»Du erwürgst mich«, hustete dieser.

»Vampire kann man nicht erwürgen«, widersprach sie. Und erschießen im Übrigen ebenso wenig. Das sah wohl auch ihr Vater ein und legte die Waffe weg.

Die Hände zu Fäusten geballt, starrte er Amélie und ihren neuen Freund so wütend an, dass selbst ihr unwohl wurde. Ihr kleines Herz klopfte schneller, und sie hob den Kopf, um den Mann anzusehen, auf dessen Armen sie saß.

Seine Augen hatten die Farbe geändert. Einfach so. Anstatt grün strahlten sie in einem satten tiefen Rot. Vielleicht sollte sie jetzt Angst haben. Aber sie hatte keine. Rot sah super aus. Fast so schön wie das Grün.

»Wie machst du das?«, fragte sie interessiert und berührte seine Wimpern. Aber er schüttelte unwillig den Kopf.

»Ich nehme an, Sie wissen, warum ich hier bin«, sagte der Vampir zu ihrem Vater.

Oh, hatte Papa ihn eingeladen? Aber warum war er dann so böse? Langsam wagte sie es, ihren Griff ein wenig zu lösen, und zog den Teddy über die Schulter des Vampirs zu sich heran, um ihn an sich zu drücken.

»Papa?«, sprach sie ihn zögerlich an, denn er sah so unglaublich blass aus. So blass wie Mamas roher Croissantteig. Kurz zuckte sein Blick zu ihr und spiegelte eine Sorge wider, die Amélie das Herz schwer werden ließ.

»Es würde nichts bringen, uns zu töten. Die Beweise sind immer noch da. Der Haftbefehl kann auch von jemand anderem erwirkt werden.«

»Oh, es würde schon etwas bringen. Die Befriedigung persönlicher Rachegelüste zum Beispiel. Aber Sie haben Glück, Denaux, dass Sie eine so bezaubernde Tochter haben. Sie bekommen dank ihr eine zweite Chance. Lassen Sie Ihre Ermittlungen im Sande verlaufen, damit ich nicht erst in Versuchung komme, Ihrer Frau, Ihrer Tochter oder Ihnen selbst etwas anzutun. Es gibt sicherlich tausend Dinge, um die Sie sich kümmern können.«

Ihr Vater sackte in sich zusammen. »Also gut … Ich vernichte alles, was brisant werden könnte.«

Selten hatte sie ihren Vater so tonlos sprechen hören. Sie wäre gern zu ihm gelaufen, um ihn in die Arme zu nehmen. Allerdings könnte ihr Vampir vielleicht abhauen, wenn sie ihn losließ. Vampire musste man festmachen, das hatte Papa immer gesagt. Oder war es festnehmen?

Unruhig rutschte sie ein wenig hin und her. Wieder sah sie zu dem Vampir auf, und auch wenn sie sich vom Bauchgefühl her eher bedroht fühlte, so zuckten ihre Mundwinkel doch unwillkürlich nach oben. Ihr Vampir erwiderte ihr Lächeln und offenbarte zwei ausgesprochen seltsame Eckzähne.

Sie drückte vorsichtig den Daumen gegen die Spitze seines Zahns. Es pikste ein wenig, und ein kleiner roter Tropfen trat hervor. Sie steckte sich den Finger in den Mund, um daran zu saugen.

»Beißen sich Vampire damit selbst auf die Zunge?«, sprach sie die Frage in ihrem Kopf ohne zu zögern aus.

Er lächelte nun so, dass sie seine Zähne nicht mehr sah. »Nein … Also, besser gesagt, eher selten.«

 

 

Es war wirklich nicht der passende Moment für Kindheitserinnerungen. Oder zog einem tatsächlich das Leben am inneren Auge vorbei, wenn der Tod nahte? Hoffentlich nicht! Sie würde es Jason übelnehmen, wenn er ihr Leben beendete. Als Geist würde sie ihn heimsuchen. Genau das wollte sie ihm sagen, als sie den Kopf hob und dabei ihr Blick wieder nach unten fiel. Oh … verflucht!

»Könntest du bitte aufhören, so zu kreischen? Es ist unerträglich.« Jason hielt so abrupt an, dass ihr schwindelte, und ließ sie los.

Nicht nur ihre Kiefer rumsten, als sie diese zuklappte. Ihre zitternden Knie hatten keine Chance mehr gegen die übermächtige Erdanziehung. Ohne Jasons Halt fiel sie hart auf den Hintern. Warum nur war ihr Hintern nicht fetter?

»Noch mehr blaue Flecken«, stöhnte sie gequält.

»Du solltest den Boden küssen. Das macht der Papst auch immer so.«

Zu ihrer Schande musste Amélie gestehen, dass sie durchaus die Hände auf das Flachdach presste und sich über den sicheren Halt freute. Wäre es nicht völlig erbärmlich, würde sie sich sogar hinlegen … und es küssen. Aber wer wusste schon, ob Jason das nicht als Einladung interpretierte, sich auf Amélie zu legen und nachzufühlen, ob sie sich wirklich nichts getan hatte.

»Ich bin nicht katholisch«, erwiderte Amélie und verkniff sich mit Mühe den Nachsatz: Das solltest du eigentlich wissen. Ihre Familie war nicht katholisch. Warum sollte ausgerechnet sie es jetzt sein?

Sie setzte sich auf und schaute über Dach, auf dessen Ziegeln sich die Lichter der Stadt spiegelten. In einiger Entfernung leuchtete hell der Eiffelturm.

Jason stand breitbeinig und mit einem selbstgefälligen Grinsen im Gesicht neben ihr und blickte zu ihr herab. »Zu geizig, Kirchensteuer zu zahlen, was?«

»Nein, dann wären Stolz und Rachsucht eine Todsünde.« Mit aller Kraft und so schnell es ihr möglich war, schwang sie ihr ausgestrecktes Bein herum. Vampire hatten auch nur empfindliche Kniescheiben. Aber sie hatte sich im Winkel geirrt. Zwar trat sie Jason die Füße weg, doch dafür krachte dieser mit seinem gesamten Gewicht auf sie. Ihr synchrones Stöhnen war sicherlich noch unten auf der Straße zu hören.

»Bon sang.«

»Holy shit.«

»Freut mich, dass sich unsere Völker so gut verstehen«, erwiderte Amélie mit Tränen in den Augen. »Könntest du bitte deinen Ellenbogen aus meinen Rippen nehmen?«

Warum hatte sie nie gelernt, die Konsequenzen ihres Handelns besser zu berechnen? Es war doch klar, dass bei ihrem Glück immer alle auf sie drauf fielen.

Amélie seufzte erleichtert, als sich Jason ein wenig hochstemmte und kein Felsbrocken mehr auf ihrer Brust lastete. Was für ein Gefühl, wieder frei atmen zu können und seine Finger an ihrem Bauch zu spüren. Moment mal! Was?

»Anfassen verboten!« Empört schlug sie seine Hand weg.

»Schon gut, du humorlose Nonnenanwärterin. Ich wollte nur wissen, ob du dir etwas gebrochen hast.«

»Nonnenanwärterin!«, echauffierte sie sich. Sie hatte sich doch wohl verhört? »Das heißt außerdem Novizin.«

»Ich korrigiere mich: humorlose, besserwisserische Novizin«, gab Jason nicht sonderlich beeindruckt zurück und rutschte von ihr herunter.

»Du hast ›neugierig‹ vergessen. Im Übrigen schuldest du mir noch die Beantwortung zweier Fragen.«

»Du hast mir genau genommen vorher drei Fragen gestellt«, erwiderte Jason und versuchte aufzustehen. Doch sie hängte sich an das Revers seines ohnehin schon demolierten Sakkos.

»Gar nicht wahr!« Okay, das kam jetzt etwas kindischer über die Lippen als geplant.

»Doch!«

»Ich habe mich schon mit fünf Jahren nicht über den Tisch ziehen lassen und ich fange jetzt bestimmt nicht damit an«, fauchte Amélie. Und nein, sie ließ nicht los. Was früher schon funktioniert hatte, würde heute auch funktionieren.

Jason stellte sich (und sie) auf die Beine. »Darf ich dich zitieren? Dann hat man also auch als Vampir immer eine Wahl? Die ob man tötet oder nicht? Oder als Mafiaboss?«, äffte er sie mit piepsiger Stimme nach.

»Sprich noch einmal in dieser Tonlage, und ich werde dir mit einem Tritt dabei helfen, noch höher zu kommen!«

»Das waren drei Fragen, junge Lady.«

»Nenn mich noch mal junge Lady, und die junge Lady amputiert dir gleich deinen winzigen uralten Gauner!«

Nicht einmal seine Barthaare konnten es verbergen. Jasons Mundwinkel zuckten, und schließlich brach er in heiteres Gelächter aus. Pah.

Beleidigungen machten keinen Spaß, wenn der andere darüber lachte. Amélie verengte die Augen. »Also zu meinen beiden Fragen …«

»Eine Frage. Und dafür, dass ich deine vorherigen drei Fragen als eine werte, könntest du mir zumindest deine Brüste zeigen … obwohl … viel gibt es da ja nicht.«

Sie wusste nicht, über welche Unverschämtheit sie sich als Erstes aufregen sollte; so wütend war sie. »Dafür hast du mich erstaunlich oft im Arm«, erwiderte sie schnippisch.

»Dass du keine Brüste hast, heißt ja nicht, dass du hässlich bist. Im Gegenteil. Wärst du mir nicht unheimlich, würde ich mit dir ausgehen.«

Ihr Gehirn war noch dabei, sich eine gewaschene Erwiderung auf diese Mischung aus Kompliment und Beleidigung zu überlegen, das löste Jason ihre Finger.

Verdammt, sie hatte nicht aufgepasst! Erneut griff sie nach ihm, doch er wich aus. Wenn dieser Mistkerl glaubte, er könnte sich ohne Weiteres davonstehlen, hatte er sich geirrt!

»Ich lass dich nicht eher weg, bis ich meine Antwort habe.« Wenn sie irgendwann dazu kam, ihre verdammte Frage zu stellen!

»Sei froh, dass du noch lebst. Außerdem haben wir ohnehin nicht genügend Zeit. Deine Freunde werden bald hier sein. Dank der Sirene, die sich deine Stimme schimpft, wird es ihnen ein Leichtes sein, uns zu verfolgen.«

Hätte sie sich nur den Teaser eingesteckt! Dann könnte sie jetzt eine hübsche Ladung Strom durch diesen impertinenten Vampir jagen.

Erneut versuchte sie, nach ihm zu greifen, doch sie strauchelte. Ihr Knöchel schmerzte unter der Belastung, und ihr war immer noch schwindlig. Doch es war etwas ganz anderes, was ihr ein frustriertes Seufzen entrang. Die Stelle, auf der Jason soeben noch gestanden hatte, war leer. Ebenso wie der Rest des Daches. Humpelnd lief Amélie zu dem Rand des Gebäudes. Sie meinte, auf der Straße einen Schatten zu sehen, der sich eilends entfernte. Jetzt war er weg. Super. Gut gemacht, Amélie.

»Glaub ja nicht, dass du mir so einfach davonkommst«, schrie sie ihm hinterher und stolperte im nächsten Moment zurück. Direkt in den Abgrund zu sehen, war keine gute Idee.

Toll. Und wie kam sie jetzt von diesem blöden Dach runter? Die Tür zum Treppenhaus des Gebäudes stellte sich als verriegelt heraus. Sie würde lieber hier oben verhungern als versuchen, die Fassade nach unten zu klettern.

Sie setzte sich auf den Boden und sah in den Himmel. Über ihr funkelte der Abendstern. Gott, wie hatte sie es geliebt, wenn Jason mit ihr die Landstraße entlanggefahren war, bis zu einem kleinen Wäldchen. Weit ab von den Lichtern der Stadt und dem Bett, in das sie um die Uhrzeit eigentlich gehört hatte, hatte er ihr wilde Storys zu den Sternen und den Planeten erzählt.

Was sollte sie tun?

Jason war unter keiner Adresse in Paris zu finden. Dass Enzo ihn gefunden hatte, grenzte an ein Wunder. Keiner wollte Jason verpetzen. Nicht einmal seine ärgsten Feinde. Diese verbrecherische Bande hielt ohnehin zusammen wie Pech und Schwefel.

Enzos hatte ihn nur erwischt, weil er herausgefunden hatte, dass Jason an diesem Abend die Ehefrau eines Mafiosos entführen wollte. Diese Ehefrau war wesentlich einfacher zu überwachen gewesen als Jason selbst.

Seit über einem Jahr versuchte Enzo ihn zu stellen. Ein kleiner Artikel in einem unbekannten Science-Fiction-Magazin faselte über Vampire, die unerkannt unter Menschen lebten und erwähnte ausgerechnet Jasons Namen. Verrückte Verschwörungstheorien, dachten die meisten Menschen.

Kaum jemand hatte den Artikel gelesen, geschweige denn ernstgenommen, bis auf Enzo. Und seitdem war er davon besessen, Jason zu finden und ihn als Vampir zu überführen.

Zugegeben. Seine sonstigen Fänge waren dermaßen unbekannt, die Offenbarungen über Vampire würde jeder nur als dummes Gerede abtun. Wenn jedoch ein Prominenter oder ein stadtbekannter Verbrecher ein Vampir war, dann würde man die Zeitungen aus den Ständen reißen, die Lautstärkeregler der Radios und Fernseher bis zum Anschlag drehen, und Enzo wäre der gefeierte Held. Und sie die bejubelte Journalistin.

Nun ja … wohl eher nicht. Denn sie würde gewiss nicht zusehen, wie Enzo Jason hinter Gitter steckte, bevor sie nicht ein, zwei Detailfragen mit diesem geklärt hatte. Dazu müsste sie ihn erst einmal wiederfinden.

Amélie legte sich auf den Rücken, und die Kühle des Bodens kroch ihr in die Glieder. Sie musste sich etwas verdammt Gutes einfallen lassen. Ob ihr die Sternschnuppe bei diesem Wunsch helfen konnte?

 

Krachend schlug die Tür auf, an der Amélie bisher gescheitert war, und Fabrice hüpfte fluchend auf einem Bein herum.

»Diese verdammte Tür!«, stöhnte er.

Enzo schob sich an seinem winselnden Mitarbeiter vorbei, und Amélie kam ihm freudig entgegengelaufen. Ha, auf Enzo war Verlass! Er war ihrem Hilferuf (nicht Geschrei) gefolgt!

Aber Enzos erste Frage bestand keineswegs darin, sich zu erkundigen, wie es ihr ging, sondern in welche Richtung der seiner Meinung nach verblödete Vampir geflüchtet war. Amélie zuckte die Schultern. Wenn sie das wüsste, wäre sie schon längst hinterher.

»Verflucht noch eins, wie konnte das passieren?«, brüllte er so laut, dass die Fernsehantenne bedenklich wippte.

»Der ist leider nicht so blöd, wie du sagst. Der ist längst über alle Berge«, mischte sich Fabrice ein und kratzte sich an der kahlen Stelle an seinem Hinterkopf.

»Kein Wunder bei der Geräuschkulisse«, fügte ein anderer Mitarbeiter hinzu. »Wahrscheinlich ist er nun der erste taube Vampir auf diesem Planeten.«

»Ihr hättet euch auch bestimmt leise wimmernd über Abgründe von mehreren Metern Tiefe schleppen lassen. Und wegen der durchnässten Hose und der damit einhergehenden Geruchsbelästigung hätte er euch fallen lassen«, blaffte Amélie und verschränkte die Arme vor der Brust. 

»Ruhe jetzt!«, fuhr Enzo dazwischen, bevor die Diskussion völlig an Niveau verlieren konnte. »Also, wie ist das passiert?«, wandte er sich erneut an Amélie.

»Mir geht es hervorragend. Danke der Nachfrage«, erwiderte Amélie spitz. »Nur meine Rippen und mein Knöchel schmerzen etwas.«

Enzos Augenbrauen zogen sich zusammen, bis sie eine dicke schwarze Linie bildeten und die markanten Gesichtszüge finster und bedrohlich erschienen ließen.

»Hat er dir wehgetan?«, grollte seine Stimme mit unüberhörbarer Wut. Er grollte tatsächlich, wenn er sauer wurde. Wie ein Gewitter vor der Apokalypse.

»Nicht absichtlich«, erwiderte Amélie ein wenig milder gestimmt. Nein, sie gehörte nicht zu den Frauen, die ständig verhätschelt werden wollten. Aber ein wenig Beschützerinstinkt durfte man von dem eigenen Freund doch wohl erwarten. Selbst Jason hatte sofort begonnen, zu fummeln, um sich von ihrer Unversehrtheit zu überzeugen.

»Was heißt das?«, schnarrte Enzo.

»Das heißt, dass er auf mich drauf gefallen ist«, erklärte Amélie geduldig und warf Fabrice einen strafenden Blick zu. Sein wieherndes Gelächter war absolut unpassend.

Enzo rieb sich mehrmals kräftig über die Augen. Amélie kannte die Geste. Meistens folgten darauf Kommentare, dass sie oder jemand anders ihn noch ins Grab bringen würde, oder dass er Kopfschmerzen hätte. Dafür, dass Enzo über die Kraft eines Schwergewichtboxers verfügte, war er recht wehleidig, was seine Gesundheit betraf.

»WIE IST ER ENTKOMMEN?«, brüllte Enzo.

Nicht nur Amélie zuckte erschrocken zusammen, auch Fabrice und die restlichen Männer duckten sich unwillkürlich.

»Keine weiteren Kommentare, die nichts zum Thema beitragen. Entweder du sagst es mir jetzt, oder ich schüttle die Antwort aus dir heraus!«

Bevor Amélie ihm empfehlen konnte, sich zum Teufel zu scheren, packte er sie. Amélie versuchte, seine Finger aufzubiegen, die sich so fest um ihre Oberarme schlossen, dass sie nicht weit davon entfernt war, ihn zu beißen, damit er endlich losließ.

»Er hatte eine Phiole in der Hand. Frag mich nicht, was drin war, aber es löste das Metall der Fesseln auf, sodass er sich befreien und mich packen konnte«, fauchte Amélie. So fest es ging, trat sie ihm auf den großen Zeh.

Seinem Blick nach zu urteilen, wünschte er ihr den Tod, aber wenigstens ließ er sie los.

Was war das nur für ein Benehmen? Ein Vampir entführte sie. Er schleifte sie buchstäblich an den Haaren über Dutzende Dächer, über Abgründe, immer mit dem Gedanken spielend, er könne sie auch einfach fallen lassen – und ihr eigener Freund hatte nichts Besseres zu tun, als sie anzubrüllen.

»Fährst du mich nach Hause?«, wandte sie sich barsch an Fabrice.

Dieser schlug sich die Handkante an die Stirn, um zu salutieren, bevor er einen absolut unvollendeten Diener hinlegte. »Zu Befehl, Madame Chef.«

Die hatten doch nicht mehr alle Tassen im Schrank. Amélie zupfte an ihrer Bluse, bis diese wenigstens halbwegs ordentlich saß, und stopfte sich ihre störenden Haare hinten in den Kragen hinein. Nur, damit Enzo sie in den nächsten Sekunden wieder herausholte und auf ihrem Rücken glattstrich.

»Du wirst nicht mit Fabrice fahren.« Er legte seine Hände auf Amélies Taille und zog sie sanft an sich. »Ich habe uns einen Tisch im Le Meurice reserviert. Die Pinguine werden frostig, wenn wir zu spät kommen.«

Amélie tippte auf den dunklen Fleck, der Enzos Hemd zierte. »Wenn wir in zerfetzter Kleidung und blutverschmiert dort auftauchen, werden die Pinguine denken, wir haben die glutenfreie Ente aus der Küche geklaut.«

»Umziehen sollten wir uns noch. Das geht doch schnell.«

Schnell? Sie wollte nicht einmal einen Blick in den Spiegel werfen. Da musste der Spiegel noch nicht einmal sprechen können, um ein vernichtendes Urteil abzugeben. Die Flucht in den Armen King Kongs, äh Jasons, hatte ihrem Teint ganz sicher nicht gutgetan. Ihre Knie fühlten sich immer noch so an, als wären sie in dem Zimmer zurückgeblieben.

»Ich kann nichts für die Verspätung. Ihr habt doch den Vampir entkommen lassen«, murrte sie.

Enzo ballte die Hände und krallte dabei in ihre Taille. Sicher aus Versehen.

»Au«, protestierte sie und schlug seine Hand weg.

»Also willst du nicht essen gehen?«, fragte Enzo patzig.

»Doch.« Als ob sie sich Essen entgehen lassen würde.

Enzo legte den Kopf in den Nacken und stieß mehrfach heftig die Luft durch die Nase aus. Vielleicht hatte er ja ein wenig recht (das würde sie ihm nur nicht sagen).

Wie konnte sie jemandem wie ihm böse sein, wenn er sich darüber aufregte, dass er eine Freundin wie sie hatte? Sie passte eher zu einem verpeilten Clown, der ständig seine Nase vergaß, wenn er zu einem Kindergeburtstag musste. Aber nicht zu einem harten Vampirjäger. Und trotzdem reservierte er einen Tisch in einem Lokal, das er mit Sicherheit nicht ausstehen konnte. Das war so süß.

Enzo verabscheute Protzschuppen. Und das Le Meurice sparte nicht mit Protz. Dabei lockte Amélie nicht etwas das Essen, sondern die Inneneinrichtung. Sie hatte eine Schwäche für altehrwürdige Säle.

»Es wird dir gefallen«, versprach sie ihm. Sie war im Übrigen schon mal eine bessere Lügnerin gewesen.

 

 

Kapitel 3 – Holzpflöcke sind schlechte Piercings

Es hätte alles so einfach sein können.

Ob Denaux lebte oder nicht, war irrelevant. Beides war gleichermaßen gut, solange es ihm nur die Staatsanwaltschaft vom Hals hielt. Bei der umfangreichen Auftragslage im Moment konnte er keine neugierigen und aufdringlichen Schnüffler gebrauchen.

Sollte Marc Denaux leben. Er konnte sich bei seiner Tochter dafür bedanken. Das entzückende Druckmittel sicherte ihrem Vater nicht nur sein Leben, sondern auch die Garantie, dass dieser zukünftig seinen Fokus auf andere Verbrecher verlagerte. Ziel erreicht – Zeit zum Gehen. Sollte man jedenfalls meinen.

Jedoch hatte er nicht mit Amélie gerechnet. Die Verhandlungen waren beendet, und um seinen guten Willen zu zeigen, setzte er das Mädchen wieder auf dem Boden ab.

Doch bevor er das Haus verlassen konnte (oder auch nur einen Muskel bewegen), umarmte die Kleine sein Bein. Ähm … das hieß wohl, er solle bleiben.

Besser nicht. Die würde es fertigbringen und ihn im Keller einsperren. Sie war amüsant, keine Frage. Aber für seinen Geschmack etwas besitzergreifend.

Es grenzte an ein Wunder, dass sie überhaupt seinen Hals losgelassen hatte. Denn auch jetzt legte sie eine beeindruckende Stärke an den Tag. Und himmelte ihn aus großen kindlichen Augen an. Oh, verflucht … Wenn ihn eine Frau so ansah, ging er ihr akribisch aus dem Weg und gratulierte sich dazu, sie nie mit zu sich nach Hause genommen zu haben.

Doch selbst das nützte ihm nichts. Er war nicht zu Hause. Er war bei ihr zu Hause. Und da sie nicht losließ, musste er wohl oder übel hierbleiben. Es sei denn, er legte Wert darauf, sie bis zu seinem Zuhause hinter sich herzuschleifen.

Allerdings … wenn man flüchten musste, sollte man nicht kleinlich sein, und so schleifte er sie tatsächlich bis in den Flur. Dort gab er auf und beantwortete das hämische Grinsen ihres Vaters mit dem Entblößen seiner Fangzähne.

»Willst du vielleicht mal was dagegen tun?«

»Komm, Amélie, sag au revoir. Du musst wieder ins Bett«, lockte Denaux.

Motivation klang auch anders. Zumal das auch ein wahnsinnig sinnvolles Argument war. Welches Kind ging schon freiwillig ins Bett? Kein Wunder, dass sich das winzige sture Wesen nicht um die Worte ihres Vaters scherte.

Sie krallte sich lieber an seinen Gürtel, riss ihm fast die Hose von den Hüften und machte ihm auf diese Weise klar, dass er sich gefälligst auf ihre Augenhöhe zu begeben hatte. Blieb ihm etwas anderes übrig? Wenn er Amélie mitnahm, käme auch noch Kindesentführung auf die Liste seiner Sünden. Und es gab Dinge, die gehörten da einfach nicht hin.

Erneut zerrte Amélie an seinem Gürtel. Gute Güte, zog sie immer Männern, die sie kaum kannte, die Hosen runter? Um mehr Kraft aufwenden zu können, ließ Amélie sogar ihren Teddy fallen.

Na gut. Er hockte sich zu ihr und drückte ihr den Teddy wieder in die Arme. Erneut spürte er Amélies erstaunlich energischen Griff um seinen Hals. Warum war er nicht gerannt, als er die Chance dazu hatte?

»Amélie, jetzt lass den guten Mann doch gehen. Er hat sicher noch andere Dinge zu erledigen«, versuchte der inkompetenteste Vater aller Zeiten erneut sein Glück.

»Erst wenn er verspricht, dass er am Sonntag zu meinem Geburtstag kommt. Du kommst doch, oder?«, brüllte ihm Amélie ins Ohr.

»Nicht so laut«, stöhnte er. Bloody hell. Wer gab einem Kind eine solche Stimme? Ob seine Ohren bereits bluteten? Er schielte unauffällig in den Spiegel neben der Garderobe.

»Kannst du auch Mäuse hören?«

»Nur, wenn ich gerade nicht taub bin.« Hoffentlich klang er nicht allzu jämmerlich. Welchen Eindruck hinterließ das denn bitte? Bedauerlicherweise war die Aufmerksamkeitsspanne Amélies größer als die anderer Kinder in ihrem Alter. Sie vergaß nicht ihr ursprüngliches Anliegen.

»Kommst du?«, bohrte sie beharrlich und unterstrich den Ernst ihres Wunsches, indem sie ihm die Luftröhre abschnürte.

Man stelle sich einen Vampir vor, dem ein Mädchen am Hals baumelte, die ihm wiederum den Teddy halb ins Gesicht drückte. Wer hatte da bitte Angst?

Selbst Denaux vergaß seinen Kummer und konnte sich der Lächerlichkeit dieser Situation nicht entziehen. Seine Mundwinkel zuckten belustigt, und schließlich krallte er sich in seine Garderobe und brüllte vor Lachen. Eindeutige Nachwirkungen des Schocks – eine andere Erklärung konnte es dafür nicht geben.

»O Gott«, japste der Polizist. »Ich weiß zwar, was du alles auf dem Kerbholz hast, und vermutlich handelt es sich dabei gerade mal um dreißig Prozent deiner Sündenliste, aber wen Amélie so abgöttisch verehrt, der kann nicht so schlecht sein.«

Hoffentlich sah der Vampir genauso angepisst aus, wie er sich fühlte.

»Danke«, knurrte er und fügte gedanklich »Arschloch« hinzu. Aus pädagogischen Gründen behielt er diese Beleidigung aber für sich. Am Ende fragte Amélie noch, was Arschloch war und beleidigte morgen ihre Erzieherinnen.

Seufzend öffnete er die Eingangstür, doch auch das imponierte Amélie nicht im Geringsten. Sie ignorierte den Wink mit dem Zaunpfahl, äh der Haustür, geflissentlich. Unbeirrt hing sie an seinem Hals. Testweise bewegte er sich auf das Gartentor zu. Denaux folgte ihm, doch Amélie startete unbeeindruckt ein Kreuzverhör.

»Hast du Kinder?«

»Nein«, erwiderte er mürrisch und scheiterte daran, sie von seinem Hals zu pflügen. Die einzige Möglichkeit wäre, ihr die Arme zu brechen.

»Warum nicht? Bist du insopent?«

»Insowas?«

»Habe ich im Fernsehen gesehen, die können keine Kinder machen«, brüllte Amélie munter über die gesamte Straße.

»Keine Ahnung, was du im Fernsehen siehst, aber daran liegt es ganz sicher nicht!«

Das Kind machte ihn fertig. Wusste der Geier, von wem sie ihre Penetranz geerbt hatte. Vielleicht war sie adoptiert, von ihren Eltern konnte sie es unmöglich haben. Oder sie war die leibhaftige Brut des Teufels.

Im Übrigen fühlte sich Denaux offenbar völlig überfordert, ihm sein Kind abzunehmen. Oder der ach so ehrenwerte Polizist war der Sadist in der Runde.

Seine Tochter kam im Übrigen gerade wieder auf den Kern des Gespräches zurück. »Sonntag? Biiiiiiiiiiiiiiiiiiiiitte!«

Kreuzdonnerwetter! Das Fiepen in seinem Ohr nahm mit höherer Tonlage zu und mutierte zu waschechtem Bomberalarm.

»Schon gut, ich komme ja«, stöhnte er ergeben. O Mann, wer wurde schon mit einem Hörsturz erpresst? Doch die Angst um sein Gehör war größer als der Unwille.

»Jaaaaaa!«

Er ging merklich in die Knie. »Gott bewahre, wenn du in irgendwann Interesse an Männern entwickelst«, knirschte er mit den Zähnen und rieb sich das kaputt gebrüllte Ohr.

Amélie drückte ihren Kopf gegen seine Wange. »Ich will aber keinen insopenten.«

Nachdem sie ihrem Opfer das Versprechen für Sonntag abgenommen hatte, wirkte das Mädchen wieder so aufmüpfig wie eine Topfpflanze und derartig unschuldig, dass es einem unheimlich werden konnte. Wer eine solche Tochter im Haus hatte, brauchte definitiv keinen Schäferhund. Und keine Dienstwaffe. Ganze Kriege könnte die Kleine beenden.

Ohne jeglichen Widerstand ließ sie zu, dass er sie an ihren Vater zurückgab. Ein Moment der Freiheit, den er unverzüglich zum Gehen nutzte.

»Bis Sonntag«, brüllte ihm Amélie hinterher.

 

 

Jason öffnete gerade die Tür zu seinem Büro, da schallte es ihm gewohnt liebevoll von seiner Assistentin entgegen: »Das wurde aber auch langsam mal Zeit! Du wolltest schon vor zwei Stunden im Büro sein! Ich habe auch ein Privatleben, aber nein, ich muss ständig auf dich warten.«

»Danke, Helen, dass du zu meiner Befreiung die Kavallerie gerufen hast. Ich sehe, du bist vor Sorge beinahe vergangen.« Er beugte sich nach unten, um seinen Hund zu kraulen, der so heftig mit dem Schwanz wedelte, dass er beinahe umkippte.

»Jeremy wollte den französischen Präsidenten um seine Leute bitten, aber Cecile meinte, wir bräuchten uns keine Gedanken machen. Dir würde allein von eifersüchtigen Männern deiner Bettgespielinnen Gefahr drohen. Und Baseballschlägern auszuweichen, bist du ja inzwischen gewohnt. Dein Hemd ist übrigens ruiniert«, erwiderte Helen.

Sie trat auf ihn zu und öffnete sein Hemd mit einer Geschwindigkeit, die eigentlich nur Prostituierten vorbehalten war. Dabei strich ihr Blick so desinteressiert über Jasons nackten Oberkörper, dass es an Beleidigung grenzte.

Leider erfüllte Helen nur zwei Vorurteile, die man über Assistentinnen hegte: Sie war blond und ein Hausdrachen. War sie bereits vor zwanzig Jahren ein streitbares Persönchen gewesen, so war sie nun, in ihren Vierzigern angelangt, eine Mischung aus der Mutter des Satans und einer tollwütigen Bulldogge.

Nur hübscher. Die Zeit war gnädig zu ihr gewesen und ihr regelmäßiges Boxtraining (dem sie natürlich nur nachging, um sich seinetwegen abzureagieren) hatte ihr auch nicht geschadet. Würde er nicht wissen, welche Hölle ihn erwartete, hätte er einiges getan, um aus dem Arbeitsverhältnis noch ein wenig mehr herauszuholen.

Sie drückte ihm ein Hemd in fröhlichem Schwarz in die Hand und lächelte ihn an. »Aber ich bin trotzdem erleichtert, dass dir die Flucht gelungen ist.«

Oh, verflucht … Helen lächelte ihn nur dann so herzlich an, wenn sie Urlaub oder mehr Geld wollte. Oder, wenn Jasons Unglück gerade im Anrollen war.

»Cecile ist auf dem Weg?«, fragte Jason vorsichtig nach. Wenn es ein Gott gab, dann bitte nicht. Nun, was sollte er sagen? Gott konnte ihn nicht leiden. Oder dieser war schlichtweg als vergnügungssüchtiges Pack zu bezeichnen.

»Zieh nicht so ein Gesicht«, tönte Ceciles Stimme in seinem Rücken. »Du weißt selbst, dass du mir nicht entkommst. Obwohl ich den Liebeszauber wohl wieder mal erneuern müsste. Er scheint ein wenig an Wirkung zu verlieren.«

»Ich dachte, du spielst nur mit Glaskugeln und schaust dir die Folgen von ›Big Bang Theorie‹ an, bevor die überhaupt gedreht werden?«

»Du bist doch nur neidisch.«

Diese Frau war Pest und Cholera zugleich. Er war bis heute kein Kind einsamer Nächte. Er liebte Frauen jeglicher Art. Andere betitelten das als wahllos, aber seiner Meinung nach besaß jede Frau etwas Besonderes.

Cecile allerdings hatte ihn bei ihrer ersten Begegnung zur Weißglut getrieben und in ihm das Bedürfnis geschürt, sie entweder zu erwürgen oder mit ihr zu schlafen. Weil er bei beidem keine Zuschauer mochte und Linett an diesem Tag äußerst grantig gewesen war, hatte er ihr eine Woche später einen erneuten Besuch abgestattet. Unschwer zu erkennen, für welche Möglichkeit er sich entschieden hatte. Der One-Night-Stand hatte sich jedoch ein wenig anders entwickelt als geplant. Wenn die Qualität stimmte, konnte die Mademoiselle eben schon mal anhänglich werden.

Jason vergrub die Hände in seinen Hosentaschen. Er spürte die Wärme ihrer Finger auf seiner nackten Haut und verkniff sich gerade so ein wohliges Seufzen. Vielleicht war ihre Anhänglichkeit doch nicht so schlimm.

Aus der Küche kicherten die Mäuse, obwohl das verdächtig nach seiner zweiten Assistentin klang. Den dicken Bauch voran schob sich Linett in der Begleitung ihres Gefährten Jeremy aus der Küche. Ihre Kleidung war weit geschnitten und trotzdem quoll praktisch alles darunter und darüber hervor. Es grenzte für Jason an ein Wunder, dass sie bei dem eindeutig überhängenden Gewicht geradestehen konnte.

»Was machst du hier?«, fragte er.

Sie legte stützend die Arme unter ihre umfangreiche Kugel. »Schauen, ob ich morgen noch einen Chef habe, oder ob sich fünfzig Prozent der Pateneltern meines Kindes in die ewigen Jagdgründe verabschiedet haben. Du hast nicht zufällig noch Schokolade da?«

»Im Lagerraum, hinter den Kopfhörern«, verriet Jason und seine Mundwinkel zuckten belustigt.

Misstrauisch kniff sie die Augenbrauen zusammen. »Warum versteckst du dort Schokolade?«

»Damit ich im richtigen Moment welche dahabe und du mich nicht auffrisst.«

Mit einem zufriedenen Lächeln lagerte Linett ihren Babybauch in Richtung Ausgang um und stapfte hinaus. Sie stand nur ein, maximal zwei Wochen vor der Entbindung, aber sie legte noch immer die Fresssucht einer zuckersüchtigen Raupe an den Tag.

»Gut, dass du entkommen bist«, kam auch Jeremy endlich zu Wort.