Bis es nicht mehr schlägt - Zate Musik - E-Book

Bis es nicht mehr schlägt E-Book

Zate Musik

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Beschreibung

In "Bis es nicht mehr schlägt" taucht der Musiker "Zate" tief in seine bewegende Vergangenheit ein und enthüllt die unglaublichen Ereignisse seiner Kindheit im rauen Herzen von Berlin - Neukölln. Von der tragischen Ermordung seiner engsten Freundin bis hin zu seinem Aufstieg zur landesweiten Bekanntheit durch seine zutiefst berührende Musik. all das wird in diesem Buch schonungslos und mitreißend erzählt. Hier wird die brutale Realität nicht verschleiert, sondern in all ihrer Intensität offenbart. Tauche ein in eine Geschichte voller Höhen und Tiefen, die dich von der ersten Seite an fesseln wird.

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Seitenzahl: 229

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Inhalt

Schriftliche Prüfung

IHK Abschlussprüfung

Mündliche Prüfung

Zeugnisse

Musik ohne Plan

Für immer Liebe

Wer bin ich?

Trümmerfrau

Ostsee

Fehler

Ostsee 2

10 Liegestütze mit Thomas auf dem Rücken, oder Ex.

Mein Geburtstag

Stillhalten

Angst

Arztbriefe

Trennung

3 Monate

Ende

Schmerz

Es tut mir leid, dass ich euch nicht retten konnte

Vorwort

Das hier bin ich. Und um meinen Weg nachvollziehen zu können, musst du es auch durch meine Worte lesen. Dieses Buch ist die längste gedankliche Sprachnachricht der Welt und wird dich durch meine Vergangenheit und meine Gegenwart führen. Es ist keine Biografie oder Ähnliches. Dieses Buch ist meine private Nachricht an dich. Meine Geschichte. Nur wegen dem, was in diesem Buch steht, habe ich all das getan.

Ich bin Niemand

Ich glaube, um nachvollziehen zu können, wie es ist, auf einmal berühmt oder bekannt zu sein, muss man erstmal verstehen, wie es ist, wenn man ein Niemand ist. Deswegen lasst mich von ganz vorne beginnen…

Egal, wie weit ich zurückblicke. Ich selbst hatte nie die Eigenschaften, die ich heute verkörpere. Als Kind hatte ich nicht viele Freunde. Ehrlich gesagt waren es insgesamt nur vier, und das nicht einmal im selben Zeitraum.

Ich bin ein extrem in sich gekehrter Mensch. Ich denke immer über alles nach. Meine Familie sagt immer, dass ich zur Hälfte in dieser Welt lebe und zur Hälfte in meiner eigenen. Meist denke ich so viel nach, dass ich in den Sätzen Pausen machen muss, weil ich vergessen habe, worum es eigentlich ging und mich erst einmal wieder daran erinnern muss.

So war es schon in der Grundschule. Ich hatte nur eine Freundin in der Grundschule. Ihr Name war Kristina und sie war der wundervollste Mensch auf Erden. Zu den anderen Schülern hatte ich nie einen guten Draht aufgebaut. Die ausländischen Mitschüler wollten nicht mit Deutschen befreundet sein und den Deutschen war ich zu schräg drauf. Ich habe buchstäblich nie ein Wort geredet. Solange es sich vermeiden ließ, habe ich die Klappe gehalten. Was natürlich auch dazu beitrug, dass ich in jeder mündlichen Schulnote mit Ach und Krach durchfiel, aber das war mir egal.

Ich habe den Sinn hinter einer Kommunikation nicht gesehen. Ich glaube, das hat Kristina gefallen und schnell baute ich meine ganze Welt um sie. Mir war es egal, welche

Ziele sie anstrebte. Ich wusste, ich möchte ihr folgen. Kristina war in allen Fächern in der Schule mit großem Abstand die Beste. Ich hingegen bekam es nicht einmal auf die Reihe, auch nur den mittleren Notendurchschnitt zu halten. Es ist nicht so, dass ich eine Lernschwäche oder so hätte. Ich war nur immer in meiner eigenen Welt.

Ihr müsst es euch so vorstellen: Im Musikunterricht war ich immer der Typ ganz hinten in der Ecke mit dem Triangel und selbst das habe ich verkackt. Ich habe es in 6 Jahren Grundschule nicht einmal geschafft, diese bescheuerte Triangel im richtigen Moment zu schlagen. Was die Lehrer aber auch nicht verstanden, war, dass der Leistungsdruck nach jedem Versuch größer wird und nach 6 Jahren Scheitern glich das Schlagen der Triangel im richtigen Moment einer Doktorarbeit in Musik. So ergab sich übrigens auch die 5 in Musik. Bis heute verstehe ich nicht, wieso ich eigentlich keine 6 bekam. Vielleicht hatte es irgendein Kind in der Schule gegeben, dass die Triangel jedes Mal total verfehlt hat und mich deshalb nicht ganz so dumm dastehen ließ, aber erfahren werde ich das wahrscheinlich nie.

Kristina hatte sich sogar einmal überlegt, meine Noten aufzuwerten, indem sie mich abschreiben ließ, aber selbst dafür war ich als Kind zu dumm. Es ist ja nicht so, dass es schon auffällig genug ist, dass ein Typ wie ich in einem Diktat von 100 Fehlern auf 0 sinkt. Nein. Genau im ersten Abschreibe Versuch machte Kristina ihren allerersten Fehler und schrieb anstatt „Ist“ einfach „is“, und ich Vollidiot habe nicht einmal darüber nachgedacht, dass eventuell in einem deutschen Diktat kein englisches Wort vorkommt, sondern habe es einfach so übernommen. Als Dank dafür bekam ich eine 6 und einen Brief für meine Eltern mit nach Hause. Ich selbst würde mich als unglaublich klugen Menschen bezeichnen. Ich gliedere meine Welt immer in kluge und intelligente Menschen. Die klugen Menschen fuchsen sich immer irgendwie durch. Die intelligenten Menschen sind Menschen, die jedes Wissen wie ein Schwamm in sich aufsaugen.

Dadurch, dass ich ein ziemlich kluger Mensch bin, kam ich recht schnell zur Einsicht, dass es leichter ist, die Unterschrift meiner Eltern zu lernen, um damit selbst den ganzen Müll zu unterschreiben, anstatt sich jedes Mal aufs Neue darüber zu streiten, wie sinnvoll es ist, sich an die Schulregeln zu halten. Ich glaube, jetzt habe ich euch ziemlich gut erklärt, was für eine Art Kind ich gewesen bin. Ich lief also immer blind und schweigend Kristina hinterher. Kristina wurde ab und an in der Schule gehänselt und als Streberin betitelt, wenn sie die Antwort wusste. Mir war es immer relativ egal, ob man mich beleidigte oder ob man mich mobbte. Aber wenn man Kristina versuchte irgendwie schlechtzumachen, ging ich an die Decke. So kam es schon einmal dazu, dass während des Unterrichts meine Schultasche vollgeladen mit Büchern vier Reihen nach vorne ins Gesicht eines anderen Kindes flog, kurz gefolgt von einem schmächtigen Spargeltarzan, der zu viel Wrestling geschaut hatte.

Immer wenn ich mich in der Schule prügelte, riefen die Lehrer meinen Vater an. Was ziemlich häufig vorkam, denn in Klassenzimmern von Grundschülern liegen allerlei Dinge herum, die man werfen kann, falls ein anderes Kind auf die Idee kam, meine beste Freundin oder meine Geschwister zu beleidigen. So flog im Laufe von sechs Jahren mehrfach meine Tasche, meine Schuhe, ein Blumentopf, Bastelscheren, Stühle, ein angespitztes Geodreieck, die Klinge eines Bleistiftanspitzers, ein Atlas (braucht eh keiner), Pinnnadeln, die sorgfältig an einen Radiergummi geklebt wurden (danach flog der Kleber), das Klassenbuch, einmal eine Lampe, mein Turnbeutel und einmal, aber das war seine eigene Schuld, der kleine Gian-Luca. Das einzige Kind in der Klasse, das noch schmächtiger war als ich. Aber er hatte es auch verdient, immerhin kletterte der kleine Gian-Luca gerade auf seinen Tisch, als ich auf seinen Sitznachbarn losgehen wollte. Da war es leichter, den Tisch umzuwerfen, damit er auf ihn fliegt. Jedes Mal, wenn mein Vater in die Schule gerufen wurde, stellte er nur eine Frage. „Hast du das beschützt, was du liebst, oder warst du einfach nur sauer?“

Ich würde mich nicht als Mensch mit Aggressionsproblemen bezeichnen, aber als Menschen mit einem ziemlich ausgeprägten Beschützerinstinkt.

Mein Vater beschreibt mich und meine Geschwister immer so.

Mein Bruder Mark ist der Älteste von uns. Er ist unglaublich intelligent, aber versucht jeden Streit aus dem Weg zu gehen. Meine Schwester Catherine ist das mittlere Kind. Sie ist aufgeschlossen und freundet sich schnell mit jedem an. Und dann gibt es mich. Ich bin der Aufpasser. Ich versuche immer alles und jeden zu beschützen.

Als ich in die 5. Klasse kam, wurde Kristina vorgeschlagen, ein Jahr zu überspringen und direkt von der 5. in die 7. Klasse zu gehen. Ich habe versucht, sie zu überreden, bei mir zu bleiben, und war extrem sauer, als sie die Schule verließ. Ich habe erst zehn Jahre später darüber nachgedacht, dass diese Entscheidung gar nicht bei ihr lag.

Nachdem sie die Schule gewechselt hatte, wurde unser Kontakt auch weniger. Ich war extrem oft eifersüchtig auf ihre neuen Freunde, und Kristina verstand nicht, wieso. Dazu kam, dass wir langsam in die Pubertät kamen und damit auch Gefühle. Ich war leider, wie immer zu dumm, um zu merken, wie wichtig ich ihr war. Immer wenn wir uns stritten und unsere Freundschaft damit beendeten, also jede Woche, kam sie ein paar Stunden später rein zufällig, um meine Schwester zu besuchen, die ihr Zimmer natürlich genau gegenüber von mir hatte.

Ich lernte irgendwann auch andere Freunde kennen und war oft bei meinen Nachbarn. Er war zwei Jahre älter als ich, was dazu beitrug, dass wir beide all unsere Kraft dazu verwendeten, um Unsinn zu bauen. So kam es dazu, dass wir mitten in der Nacht die Klingel bei ihm zu Hause ausschalteten, einen Eimer voll mit kaltem Wasser füllten und warteten, bis nachts jemand kam, damit man ihn damit überschütten konnte.

Ich erinnere mich genau an diesen Tag, der mein Leben veränderte, und genau hier beginnt eigentlich erst das Buch.

Kristinas Tod

Ich erinnere mich, als wäre es gestern gewesen. In jedem Film sind die dramatischen Tage regnerisch und kalt, aber der Tag, an dem meine Musik geboren wurde und mein eigentliches Leben aufhörte, war wahrscheinlich der sonnigste Tag im Jahr. Ich erinnere mich, wie ich mit einem Kumpel draußen war. Mama schaute immer Nachrichten. In den Nachrichten wurde seit einer Woche berichtet, dass man eine Leiche bei uns in der Gegend gefunden hat. Sie wurde in einen Koffer gesperrt und lebendig verbrannt. Zu der Zeit war es eine der schrecklichsten Geschichten, die jemals in dieser Gegend passiert sind. Ich erinnere mich, wie geschockt meine Mutter darüber war und wie ich das alles nicht wirklich realisieren konnte. Eine Woche später kam ich nach Hause. Ich schloss die Tür auf und im Flur klingelte das Telefon. Ich ging ran und meine Schwester sprach zu mir. Sie redete hastig und ihre Worte überschlugen sich fast. Ich erinnere mich genau an ihre Worte, sie sagte: „Erinnerst du dich an die Frau, die im Park verbrannt wurde? Es war keine 'Frau', sie haben Kristina verbrannt.“ Ich weiß jede Sekunde noch, als wäre die Zeit in diesem Moment stehen geblieben. Ich war so wütend auf sie... so wütend, dass sie tot ist. Ich war so wütend, weil sie mir nicht "Leb wohl" oder irgendwas gesagt hat. Ich war auf einmal so alleine, so einsam, so... tot. Ich habe einfach aufgelegt und bin in mein Zimmer gegangen. Es schien, als wäre dieses Leben einfach vorbei gewesen, als hätte man mir alles genommen, was wichtig war. Ich habe nicht einmal gemerkt, dass ich weinte. Ich saß auf meinem Bett und die Tränen flossen, immer mehr, immer weiter, unaufhörlich, bitterlich, stark. Es tat so weh, es war, als würde ich ersticken und niemand kann mich retten. Jetzt war sie tot und ich wusste nicht einmal, wie man alleine laufen soll. Seit ich denken konnte, klammerte ich mich an sie und auf einmal sollte ich sie loslassen. Wie lässt man jemanden los, der ein Teil von einem ist?

Es ist, als würde man sich selbst aufgeben. Also stand ich da und schlug mich durch die Tage. Meine Schwester war eher der Medienmensch. Man sah sie in der Berliner Zeitung, wie sie am Grab stand. Nur einen Tag danach stand die Kriminalpolizei vor der Tür und hat mich ausgefragt. Sie wollten wissen, wie Kristina war. Ich habe ihnen erzählt, wer sie war, oder ich war, oder wir waren. Ich weiß es nicht mehr. Dann kam der Tag, an dem die Nachrichten bei mir eintrafen, sie meinten, sie hätten Fragen und würden mich gern filmen. Also saß ich da im Wohnzimmer vor lauter Menschen mit Kameras und einem, der mir einen Haufen Fragen stellte, auf die ich keine Antwort hatte. Aber ich habe geantwortet, immer und immer wieder. Egal, wie verletzend die Frage und egal, wie schmerzhaft es für mich war. Ich habe geantwortet und Kristina immer verteidigt. Bis zu dem Moment, in dem der Reporter mir mein eigenes Poesiealbum in die Hand drückte. Mit der Seite, in der Krissy reingeschrieben hatte. Er sagte mir, ich solle laut vorlesen, was dort steht. Ich war so geschockt, ich hatte alles verdrängt und verlegt, was ich von ihr hatte.

Woher hatte er dieses Buch? Woher wusste er davon? Ich las den ersten Satz und merkte, wie kaputt ich bin. Dann habe ich kein einziges Wort mehr herausbekommen, war am Ende. Und ich dachte, das sei mein Ende. Es gibt Momente im Leben, für die du deinen Eltern dankbar bist. Und genau dieser Augenblick war es, für den ich meiner Mutter ewig dankbar sein werde.

Meine Mutter ist eine sehr zierliche Frau, superlieb und herzlich. Sie gibt bei allem immer 100 % und wenn die nicht reichen, dann gibt sie noch einmal das Doppelte darauf. In dem Moment, wo ich kaputtging, ging, glaube ich, auch meine Mutter kaputt. Sie stand auf, warf wütend alle Reporter aus der Wohnung und brüllte sie an, es solle sich keiner von ihnen mehr in meine Nähe wagen, sonst würden sie sie richtig wütend erleben.

Danke dafür, Mama! Und wie ging es nun weiter? Ich war ein 15-jähriger Junge, bedeckt von einem schwarzen Schleier der Trauer und Wut, der mit einem Haufen Scherben versuchte, zu puzzeln. Ich habe versucht, aus diesem Haufen Scherben einen Spiegel zu bauen, der mir zeigt, wer ich ohne sie bin. Aber ein Haufen Scherben ist kein stilles Wasser, und das wusste ich auch. Meine Eltern schickten mich für zwei

Wochen an die Ostsee. Weg von all dem Stress. Weg von ihr... weg von mir. Von den 14 Tagen an der Ostsee war ich 12 Tage lang vollkommen betrunken. Ich glaube, in diesen zwei Wochen habe ich gelernt, richtig zu rechnen. Immerhin wusste ich, dass wir mit einem Kasten Bier genug Pfand bekommen, um einen halben neuen Kasten davon zu kaufen. Also mussten wir uns nur ausrechnen, wie viele Kästen wir kaufen müssen, um zwei Wochen betrunken zu sein. (Hat tatsächlich gut funktioniert.) Aber zwischen diesen kleinen alkoholischen Pausen zerfraß es mich doch wieder innerlich. Zwischen diesen kleinen Pausen musste ich mich mit mir selbst beschäftigen, denn auch wenn man es versucht: Man kann nicht vor seinen Problemen fliehen! Also saß ich mit einem Stuhl auf einem Berg in Graal-Müritz und schrieb. Ich schrieb und schrieb und schrieb alle Gedanken auf. Jeden bösen Satz, jeden traurigen, jeden verliebten, jeden sterbenden. Ich schrieb alles auf, egal, wie wichtig oder unwichtig es eigentlich war. Ich schrieb, bis es mir besser ging, und habe seitdem nicht mehr aufgehört. Ich muss nicht leben, ich muss nur überleben. Das war mein Leitsatz. Und hätte ich gewusst, dass er sich so durch mein Leben zieht, dann hätte ich mir vielleicht einen anderen ausgedacht.

Dann war die Zeit um. Ich kam zurück nach Berlin und stellte mich ihrer Beerdigung. Viele waren da, unglaublich viele sogar. Es waren, soweit ich weiß, etwa 1.500 Menschen anwesend. Viele kannte ich und war sauer. Es waren Idioten aus der alten Klasse, die Krissy nicht einmal gemocht hatten und jetzt standen sie da und schauten zu, wie sie in einem Sarg liegt. Jeder hatte einen rosafarbenen Ballon in die Hand bekommen, den wir alle zusammen aufsteigen ließen. Es sah so schön aus. Wunderschön, wie sie. Ich ging zu dem Loch, in dem ihr Sarg nun für immer liegen würde, nahm eine Handvoll Erde und ließ sie darüber fallen. Es war mein "Leb wohl, aber melde dich." Hinter dem Sarg stand ihre Familie. Ich sprach ihrem Vater und ihrem Bruder mein Beileid aus... aber nicht ihrer Mutter. Ich habe mich so furchtbar schuldig gefühlt, weil ich nicht da war, und habe mir eingeredet, dass es meine Schuld war. Ich konnte ihrer Mutter nicht in die Augen sehen. Ich denke selbst heute noch, dass es meine Schuld war. Ich muss so zerstreut ausgesehen haben, dass jemand zu mir kam und meinte: "Sie ist erst tot, wenn sich keiner mehr an sie erinnert, also behalte sie in Erinnerung."

Sie ist erst tot, wenn sich keiner mehr an sie erinnert.

Dieser Satz ging mir nicht mehr aus dem Kopf. Ich wusste, dass ich sie irgendwie den Menschen in Erinnerung behalten musste, aber wie? Ich meine, meine Triangel-Skills sprachen jetzt nicht für eine bahnbrechende Karriere. Fürs Singen war ich ehrlich gesagt auch zu untalentiert. Ich kann schön malen, aber wer kauft bitte ein Bild von einem 15-jährigen Knirps, der denkt, er wäre Picasso?

Kristina hatte immer traurige Songs gehört. Vielleicht war das ihre Droge, ihr Inneres, ihr ganz verborgenes Ich. Sie hat immer heller gestrahlt als jeder andere und war dennoch so alleine und in sich gekehrt, dass selbst ich niemals einen Gedanken daran verschwendet habe, zu fragen, ob sie glücklich ist.

Ich dachte mir, dass ich ihr einfach Songs schreibe, die sie selbst gerne gehört hätte. Ich überredete meine Schwester zwei Tage lang, dass sie mir ihren PC borgt und ihr Mikrofon, das so klang, als hätte man ein Singstar-Mikrofon auf Wish bestellt.

Ich nannte meinen ersten Song "Timy der Bär". Zugegeben, nicht gerade ein tiefsinniger Titel, aber mit 15 muss man vorerst seinen Standpunkt klarmachen, und jede gute Karriere startet mit einem Disstrack. Timy war übrigens der 10-jährige Nachbarsjunge aus dem Hinterhof, der eine halbe Stunde vorher zu mir meinte, dass meine neuen Schuhe voll doof aussehen. -Nimm das, Timy! Ich verglich Timy in dem Song mit einem Bären. Ehrlich gesagt weiß ich nicht, was ich da für einen Unsinn gerappt habe, aber dieser Song zählt trotzdem in meiner chronologischen Reihenfolge als bahnbrechender

Wegweiser!

Der zweite Song handelte von einer Ameise, die ich Jorge getauft hatte. Jorge hat in diesem Moment übrigens gerade auf meinem Fensterbrett die Wohnung nach Beute für sich und seine Gang erkundet, aber als Kind der Unterschicht, das von Hartz 4 lebt und selbst kaum etwas zu essen hat, hat Jorge am Ende ein schlechtes Gewissen bekommen und ist zum Nachbarn geflüchtet.

-Spoiler, die hatten auch nichts.

Irgendwie war ich als Kind mehr Gangster als jetzt.

Wahnsinn, was einem alles so bewusst wird, wenn man ein Buch schreibt. Ein Bekannter meiner Mutter, der komischerweise auch Rapper gewesen ist (meine Mutter war übrigens auch mehr Gangster als jeder Rapper), hat mir dann irgendwann erklärt, dass man die Reime untereinanderschreibt. Ich habe die Zeilen bis dato immer einfach hintereinander weg gekritzelt, wie bei einem Diktat. Ehrlich gesagt, war das auch gar nicht mal so schlecht. Seitdem ich alle Reime untereinanderschreibe, benutze ich so oft eine neue Zeile, dass ich für dieses Buch 700 Seiten bräuchte, gäbe es nicht die Lektoren, die den ganzen Müll wieder in Ordnung bringen.

Nach ein paar Monaten habe ich das Rappen an den Nagel gehängt. Ich habe mir eingestanden, dass ich nicht das nötige Talent besitze, um so etwas in die Tat umzusetzen. Ich bin ein Niemand, und niemand kann die Welt verändern… Ich löschte meine Songs und war einfach wieder Dominic. Nicht mehr. Nur der Typ, der seine beste Freundin verloren hat.

Koma

Bei traumatischen Ereignissen verhält sich alles entweder wie im Flug oder wie in Zeitlupe. In meinem Fall war es die Zeitlupe. Es waren gerade erst ein paar Monate seit Krissy's Tod vergangen. Ich war gerade dabei, im Wohnzimmer fernzusehen, als meine Mutter sich auf der Couch vor Schmerzen wandte. Ich habe das gar nicht realisiert und als meine Mutter krampfend den Fernseher ausschaltete, habe ich sie vor Wut erst mal angeschrien. Meine Mutter gab nur ein heuchelndes "Notarzt" von sich, aber ich habe nicht realisiert, was sie von mir wollte. Ich antwortete: Was hast du gesagt?

Mama: Notarzt, schnell, Opa… Dann holte sie schwer Luft und fiel in Ohnmacht. Ich bekam Panik und rannte in das Hinterhaus, wo mein Opa wohnte. Was von dort an alles passierte, ist mir selbst nicht mehr bewusst. Ich glaube, es muss so schlimm gewesen sein, dass selbst ich es verdrängt habe. Meine Eltern waren mittlerweile seit ein paar Jahren getrennt, aber in der Zeit, in der meine Mutter im Krankenhaus lag, kümmerte mein Vater sich um uns. Ich habe meinen Vater jeden Tag gefragt, wann Mama nach Hause kommt, und ich glaube, es ist das erste und einzige Mal, dass ich meinen Vater am Boden gesehen habe. Er erklärte uns, was passierte, und meinte, dass die Lunge meiner Mutter beschädigt ist und ihr linker Lungenflügel zusammengefallen ist. Ich wusste nicht, was das bedeutet, aber so wie er es aussprach, mit ruhigem und sanftem Ton, wusste ich, dass es etwas sehr Schlimmes sein muss. Im Laufe der nächsten Wochen bekam mein Vater immer wieder Anrufe aus dem Krankenhaus, und bei jedem Anruf ist er zerbrochen. Ich glaube, dass jeder Anruf eine schlechte Nachricht gewesen ist. Nach einem Monat durften wir Mama besuchen. Wir mussten uns in sterile Ganzkörperoutfits zwängen und vorher desinfizieren, danach wurde der Anzug noch mal desinfiziert. Als ich meine Mutter im Krankenzimmer sah, bin ich fast an meinen Tränen ertrunken. Ich sah meine Mutter im Bett liegen, an unzähligen Schläuchen und Kabeln gefesselt und sich nicht bewegend. Ich zitterte am ganzen Körper und fragte meinen Vater, wieso Mama schläft, obwohl wir zu Besuch sind. Aber mein Vater meinte, dass sie nicht schläft, Mama liegt im Koma und erholt sich gerade.

Die ganze Welt drehte sich irgendwie zu schnell für mich. Auf einmal konfrontierte mich die Erde mit einem Haufen neuer Informationen, die man verarbeiten musste. Weitere Wochen vergingen, und als ich eines Nachmittags nach Hause kam, meinte mein Vater, dass Mama aufgewacht sei und uns sehen wolle. Ich habe direkt wieder angefangen zu weinen, und als wir vor ihrem Krankenzimmer unsere Schutzkleidung anzogen, wurde uns deutlich gemacht, dass wir Mama nicht anfassen dürfen, da sie sehr zerbrechlich sei. Ich sehe dieses Zimmer oft in meinen Träumen. Es war türkis-weiß und alles voller Geräte, die piepten und komische Geräusche von sich gaben. Wir durften leider nur wenige Minuten bei ihr verbringen, aber auch die paar Minuten waren mehr als genug für mich. Meine Mutter hatte sich für meinen Mut bedankt und mir erzählt, wie stolz sie auf mich sei. Die Wochen vergingen und Mama erholte sich immer mehr. Irgendwann wurde sie verlegt und von da an durften wir sie normal besuchen. Sie hatte immer eine Menge Spielzeug auf ihrem Tisch, in das man hineinpusten musste, um die Lunge zu trainieren. Da man ihr die Lunge aus der linken Seite entfernt hatte. Ich weiß, ihr denkt jetzt alle, dass ich Musiker bin und wahrscheinlich der Beste in den Spielen war, bei denen man hineinpusten musste, aber ehrlich gesagt habe ich immer total versagt. Ich weiß selbst nicht, wieso. Ich habe kurzzeitig sogar gedacht, dass ich zu dumm zum Atmen wäre.

Ich habe seit diesem Tag Angst, sie zu verlieren. Ich frage mich immer, ob ich ihr genug gebe und ob sie glücklich ist. Ich versuche immer alles dafür zu tun, dass sie das bestmögliche Leben hat.

Unfall

Meine Mutter hatte sich nach monatelangem Kämpfen endlich erholt und kam wieder nach Hause. Ich muss an dieser Stelle sagen, dass ich zu dieser Zeit noch ein kleines Kind gewesen bin und man als Kind keineswegs darüber Bescheid weiß, was bei den Erwachsenen alles abläuft. Deswegen möchte ich niemandem die Schuld für irgendetwas geben.

Die erste Amtshandlung, die meine Mutter nach ihrer Reha unternahm, war meinen Vater aus der Wohnung zu werfen. Er zog dann am Ende der Straße in eine eigene Wohnung. Es vergingen gerade mal wenige Wochen nach dem schrecklichen Vorfall meiner Mutter, als ich mitten in der Stunde von der Schulleitung gerufen wurde. Ich dachte erst, dass ich irgendwas Schreckliches getan habe, aber als der Schulleiter sagte, dass ich mich bitte schnell anziehen soll, um nach Hause zu gehen, wusste ich, dass schon wieder irgendwas passiert ist. Ich rannte in die Klasse, schnappte meine Jacke und rannte los. Meine restlichen Sachen ließ ich einfach im Klassenraum. Noch bevor irgendjemand etwas sagen konnte, war ich schon aus der Schule und auf dem Weg nach Hause. Meine Schule war nur 2 Minuten von meinem Zuhause entfernt, so war ich als Erster von allen zu Hause. Wenige Minuten nach mir trafen meine Geschwister völlig außer Atem zu Hause ein. Meine Mutter hatte ihr Gesicht in den Händen vergraben und weinte. Als wir fragten, was los sei, meinte sie nur, dass wir jetzt ins Krankenhaus fahren. Mein Herz blieb stehen und ich bekam keine Luft mehr. Ich schaffte es dennoch, ein jämmerliches "Was fehlt dir?" von mir zu geben. Dann erklärte meine Mutter uns, dass mein Vater einen Autounfall hatte. Er wurde auf seinem Roller von einem Auto angefahren, das einfach bei Rot über die Kreuzung fuhr.

Erst Jahre später erfuhr ich, dass er nicht nur angefahren wurde, sondern dass das Auto über seinen Roller fuhr und mein Vater bis zur nächsten Ecke mitgeschleift wurde. Mein Vater hat nur überlebt, weil er sich an der Stoßstange festhielt.

Im Krankenhaus angekommen, fragten wir uns panisch durch, bis man uns zu meinem Vater brachte. Dann sah ich meinen Vater in einem Krankenbett liegen. Ich schaute ihn an und er lächelte zurück. Dann sah ich sein Bein und die ganzen Stäbe und Drähte, die aus seinem Bein herauskamen, um alles zu fixieren. Ich erschrak. Er hatte noch vier weitere Operationen und seitdem eine künstliche Hüfte, Kniescheibe und was es sonst noch so gab. Es war wirklich eine unglaublich schreckliche Zeit für uns und ich glaube, erst mit dem Schreiben dieses Buches wird mir klar, dass meine Eltern wahrscheinlich extrem viele Lasten für uns getragen haben.

Sate

Trotzdem lebten wir unser Leben mit all den Hürden einfach weiter. Ich weiß nicht, ob wir einfach einen bemerkenswerten psychologischen Schaden haben oder uns einfach daran gewöhnten, dass ein Schicksalsschlag nach dem anderen kam, aber wir machten alle einfach immer weiter.

Ich hatte als Kind immer ein großes Talent zum Zeichnen, auch Graffiti fand ich immer extrem interessant. Ich habe immer aus Langeweile Graffiti-Buchstaben nachgemalt und versucht, sie auswendig zu lernen. Irgendwann entschied ich mich dazu, mir einen Künstlernamen auszudenken. Ich hatte gerade einen Pullover der Marke „Skate“ an, in einer Graffiti Schrift, aber ich konnte das K nicht, deswegen habe ich das K irgendwann weggelassen und einfach nur Sate gemalt. So ist mein Name entstanden. Keine tiefere Bedeutung. Nur Dummheit, gepaart mit Faulheit.

Ich wurde älter und mit dem Alter wurde ich auch tatsächlich gut im Malen. Ich habe Freunde kennengelernt, die auch gemalt haben, und wir haben uns zu immer heftigeren Sachen angestiftet. So kam es vor, dass wir am S-Bahnhof Neukölln hinter den Werbetafeln hingen und gewartet haben, dass ein Zug einfährt, um ihn dann zu bemalen, während Fahrgäste einsteigen. Ich habe sogar meine eigene Schule bemalt und daruntergeschrieben „Backe Backe Kuchen, Herr Arndt, du kannst mich suchen.“ Herr Arndt war übrigens mein Schulleiter, und es war zu witzig zu sehen, wie er den ganzen Tag durch die Schule gehumpelt ist, um herauszufinden, wer das war. Mittlerweile ist er nicht mehr am Leben. Ruhe in Frieden, Herr Arndt, und ich war das.

Die Oberschulzeit war die beste und schlimmste Zeit meines Lebens. In der 7. Klasse kam ich in eine Klasse, die so viel Unsinn gebaut hat, dass sie nach einem Jahr wieder aufgelöst wurde. Ich kam im Übrigen mit fünf Sechsen in die 8. Klasse. In der 8. Klasse war ich das ganze Jahr nur zweimal anwesend. Meine Psyche hatte sich dazu entschlossen, Jahre später das Kristina-Trauma wieder herauszuholen und mich förmlich damit zu verprügeln.