Bis hierhin und dann weiter - Maria Braig - E-Book

Bis hierhin und dann weiter E-Book

Maria Braig

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.

Mehr erfahren.
Beschreibung

Madiha hat viele Widerstände überwunden, um ihren eigenen Weg zu finden und selbstbestimmt durchs Leben zu gehen. Nun ist sie plötzlich in einer zerstörerischen Beziehung gefangen und fragt sich, wie es so weit kommen konnte. Bevor sie sich noch weiter verstricken kann, fasst sie einen spontanen Entschluss, der sie selbst überrascht. Zur gleichen Zeit setzt sich ihre Nichte Ayesha – eine vielversprechende Nachwuchsspielerin in der pakistanischen Cricket-Nationalmannschaft der Frauen – während eines Auslandsspiels von ihren Mitspielerinnen ab und macht sich auf den Weg zu ihrer Tante, von der sie sich Hilfe erhofft: Ayesha soll ihre Freundin Shamsha verführt haben und befürchtet nun von ihrer Familie schwerwiegende Konsequenzen bei der Rückkehr nach Pakistan.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 364

Veröffentlichungsjahr: 2022

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Alle Charaktere, Schauplätze und Handlungen in diesem Roman sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden und toten Personen sind unbeabsichtigt.

Lektorat: Regina Nössler

© Querverlag GmbH, Berlin 2022

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schrift­liche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag und grafische Realisierung von Sergio Vitale unter Verwendung einer Fotografie © mauritius images / Wavebreakmedia.

ISBN 978-3-89656-684-3

Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis an:

Querverlag GmbH

Akazienstraße 25, 10823 Berlin

www.querverlag.de

Kapitel 1

Madiha öffnete den Kühlschrank, nahm ein frisches Schweineschnitzel aus der bereits geöffneten Vakuumverpackung, füllte ein Glas mit kaltem Wasser aus dem Hahn und ging zurück auf den kleinen Balkon, der zu Kiras Wohnung gehörte.

„Es ist deine Wohnung genauso wie meine“, betonte Kira immer wieder, aber für Madiha war das kleine Apartment auch nach den fast elf Monaten, seit sie zu ihrer Freundin gezogen war, immer noch Kiras Wohnung.

Sie setzte sich auf den Liegestuhl, stellte das Wasserglas auf den kleinen Tisch, der neben der Liege gerade noch Platz auf dem Balkon fand, legte sich dann ächzend auf den Rücken und streckte die Beine weit von sich. Dann platzierte Madiha vorsichtig das rohe Schnitzel auf ihrer Backe, die immer noch heftig brannte und sich geschwollen anfühlte, und genoss die Kühle, die das Fleisch abgab. Es war groß genug, um auch das in Mitleidenschaft gezogene Auge zu bedecken.

Madiha war schon lange nicht mehr gläubig, aber Schweinefleisch verursachte ihr noch immer einen Brechreiz. Kira, die Schweinefleisch liebte, bestand jedoch darauf, dass keine „Extrawürste gebraten wurden“, wie sie das nannte, sondern für beide das Gleiche gekocht und gemeinsam davon gegessen wurde. Sie hatte nie in Erwägung gezogen, sich nach Madihas Geschmack zu richten, und so hieß „das Gleiche“ eben ziemlich oft totes Schwein. Es kostete Madiha jedes Mal die größte Überwindung, davon zu essen, doch für solche Zwecke wie heute eignete sich ein Schweineschnitzel direkt aus dem Kühlschrank bestens. Es war bereits das zweite Stück Fleisch, das sie nun auf ihrer brennenden linken Gesichtshälfte positionierte. Schnitzel Nummer eins lag unbeachtet auf dem Boden neben der Liege.

Madiha hatte bereits Erfahrung auf diesem Gebiet gesammelt, bevor sie Kira kennenlernte, aber dass sich nun alles wiederholen würde, hätte sie bis vor kurzer Zeit völlig ausgeschlossen.

Wie hatte es so weit kommen können?

Es war nun schon das dritte Mal, dass ein Streit so eskaliert war, dass Kira zugeschlagen hatte. Aber so schlimm wie heute war es bisher noch nie gewesen. Kira war völlig ausgerastet, obwohl es zunächst um die gleichen alltäglichen Kleinigkeiten ging wie sonst auch. Madiha, die sehr strukturiert arbeiten konnte, hatte im Alltag wenig Sinn für Ordnung. Sie konnte das weder sich selbst noch anderen erklären, es war einfach so. Sie bemühte sich zwar, konnte es der pingeligen Kira aber trotz aller Anstrengung nicht recht machen.

Heute nun hatte sie ihre Schuhe nicht in den neuen Schuhschrank geräumt, den sie vor wenigen Tagen gemeinsam gekauft hatten, und Kira war, als sie überraschenderweise in der kurzen Mittagspause in die Wohnung stürmte, darüber gestolpert und fast gestürzt. Gewöhnlich aß Kira in der Kantine ihrer Firma zu Mittag und kam erst am Spätnachmittag oder Abend nach Hause. Madiha war gerade im Badezimmer, als sie hörte, wie die Wohnungstür geöffnet wurde und kurz danach ein leichtes Krachen und gleich darauf ein wütender Schrei ertönte. Als sie in den Flur trat, sah sie Kira auf dem Balkon verschwinden, von wo nach wenigen Sekunden ein weiterer Schrei in die Wohnung drang. Kira hatte sich anscheinend, ohne weiter hinzusehen, auf die Liege fallen lassen, auf der ein Krimi lag, in dem Madiha bis kurz vor ihrem Eintreffen gelesen hatte. Die Ecken des Hardcover-Umschlags bohrten sich dabei wohl schmerzhaft in Kiras Rücken, vermutete Madiha, die nun zum Balkon ging, um nachzusehen, was geschehen war. Und es war genauso, wie sie vermutet hatte: Kira stand neben der Liege und hielt vorwurfsvoll das Buch in die Luft. Madiha nahm es ihr ab und legte es auf den kleinen Tisch neben den fast leeren Kaffeebecher.

Dann kam eins zum anderen.

„Kannst du deine Sachen auch mal so wegräumen, dass andere Leute nicht Kopf und Kragen riskieren, wenn sie die Wohnung betreten?“, schimpfte Kira lautstark und stürmte, da sie nun schon einmal von der Liege aufgesprungen war, an Madiha vorbei in die Küche. Anscheinend machte sie sich dort an der Kaffeemaschine zu schaffen. Madiha lehnte an der Balkonbrüstung und wartete ab, was weiter geschehen würde.

„Du hast schon wieder Raki getrunken!“, tönte es kurz darauf missbilligend aus der Küche.

Ach herrje. Madiha atmete tief durch. Sie hatte vergessen, die Flasche zurück in den Kühlschrank zu stellen, nachdem sie sich gestern Abend einen Schluck genehmigt hatte. Dabei trank Madiha nur äußerst selten Alkohol. In ihrer Familie wurde aus religiösen Gründen nicht getrunken und obwohl sie selbst nie besonders gläubig gewesen war, daran hatte auch sie sich lange Zeit gehalten. Erst nachdem sie dort ausgezogen war, hatte sie begonnen, mit verschiedenen alkoholischen Getränken zu experimentieren. Aber sie war nie wirklich auf den Geschmack gekommen und die Erfahrung mit Marvin hatte noch ein Übriges getan. Hin und wieder ließ sie sich zwar eine Flasche Bier, ein Glas Wein oder einen Cocktail schmecken, aber sie war eine Genusstrinkerin und hatte meist sehr schnell genug. Und dann gab es sehr selten noch besondere Situationen wie gestern Abend. Sie war allein zu Hause gewesen, während Kira mit einer Freundin um die Häuser zog. Sie fühlte sich nicht gut und hatte keine Lust gehabt mitzugehen.

Seit Madiha vor wenigen Wochen ihre Arbeit als ungelernte Sekretärin verloren hatte, weil in der Firma wieder einmal Stellen gestrichen worden waren und wer zuletzt gekommen war, eben auch zuerst gehen musste, fand sie nur selten aus ihrem Stimmungstief heraus.

Früher hatte sie ganz allein sämtliche Bürotätigkeiten in der KFZ-Werkstatt ihres Freundes Marvin erledigt. Die Arbeit hatte ihr Spaß gemacht und sie hatte vorgehabt, Betriebswirtschaft zu studieren, um die Werkstatt später weiter ausbauen und zum Erfolg führen zu können. Sie war sogar bereits an der Hochschule eingeschrieben gewesen, als sich plötzlich alles änderte und sie ihre Pläne aufgeben musste.

Es war so einiges schiefgelaufen in ihrem und in Marvins Leben. Zunächst hatten sie geglaubt, alles im Griff zu haben und gemeinsam auch die schweren Zeiten durchstehen zu können. Aber dann mussten sie erst die Werkstatt aufgeben und später zerbrach auch ihre Beziehung. Seither hatte Madiha nirgendwo mehr richtig Fuß gefasst. Sie hatte mal in diesem und mal in jenem Büro gearbeitet, da sie aber über keine Ausbildung verfügte, es nie zu mehr als zur Hilfskraft mit befristetem Vertrag gebracht. Das Studium hatte sie damals zunächst auf Eis gelegt. Da war kein Marvin mehr und keine Autowerkstatt, für die sie das Gelernte hätte nutzen können, und nach allem, was passiert war, glaubte sie, erst einmal Zeit für sich und ihre Beziehung zu Kira zu brauchen. Inzwischen hatte sie die Dreißig schon hinter sich gelassen, wäre also eine alte Frau unter den Studierenden. Das lockte sie auch nicht wirklich. Und wozu überhaupt studieren, wenn sie nicht wusste, was sie damit später anfangen wollte?

Kira hatte gemeint, ihr Verdienst würde auch für zwei reichen, sie solle sich da keine Sorgen machen, aber Madiha konnte sich nicht vorstellen, längere Zeit von einem anderen Menschen abhängig zu sein. Auch nicht von ihrer Lebenspartnerin. Sie war daran gewöhnt, selbständig zu sein und über ihr eigenes Geld zu verfügen. Nur gut, dass sie sich in den letzten Jahren einiges angespart hatte, so stand sie wenigstens finanziell nicht unter Zeitdruck, was die Suche nach einer neuen Arbeit betraf. Dennoch war ihre Laune derzeit nicht die beste, da sich momentan kaum passende Stellenangebote finden ließen, und ihr war am gestrigen Abend deshalb auch nicht nach Ausgehen zumute gewesen. Sie hätte sich gewünscht, Kira wäre zu Hause geblieben und hätte ihr Gesellschaft geleistet, aber die ließ sich nicht von der Idee abbringen auszugehen, ganz egal, ob mit oder ohne ihre Freundin. Da hatte Madiha sich eben mit einem kleinen Raki getröstet, vielleicht waren es auch zwei gewesen. Dummerweise hatte sie dann vergessen, die Flasche in den Schrank zurückzustellen.

Morgens war Kira gewöhnlich im Stress. Sie stand erst auf, wenn es gar nicht mehr anders ging, duschte, kippte einen schnellen Kaffee hinunter und ging zur Arbeit. So war es auch heute gewesen und die Flasche war Kira in der frühmorgendlichen Hektik wohl nicht aufgefallen.

Was bin ich aber auch immer so schusselig, tadelte Madiha sich selbst, doch dann ärgerte sie sich plötzlich darüber, dass sie, wie so oft, wieder einmal die Schuld am Streit mit Kira bei sich suchte. Warum eigentlich sollte sie keinen Raki trinken, wenn ihr danach war?

„Ja und? Du magst ihn doch auch“, antwortete sie deshalb und brachte damit das Fass zum Überlaufen.

„Du verträgst aber keinen Alkohol“, hatte Kira noch einigermaßen ruhig begonnen und dann unvermittelt losgeschrien. „Wenn du trinkst, baggerst du in der Disco alles an, was nicht bei drei auf den Bäumen ist. Das lasse ich nicht zu, verstehst du? Du bist meine Freundin, reicht dir das nicht? Lass gefälligst andere Frauen in Ruhe.“

Daher wehte der Wind. Madiha erinnerte sich schlagartig an diese wirklich etwas zweideutige Situation, als Kira am letzten Samstag in die Toilette der Frauendisco gekommen war und sie mit einer Frau im Arm angetroffen hatte. Dass sie zu viel getrunken hatte an diesem Abend, stimmte allerdings genauso wenig wie die Behauptung, sie hätte gebaggert. Kira hatte beim Anblick der beiden auf dem Absatz kehrtgemacht und war erst am Sonntagabend nach Hause gekommen. Madiha hatte nach ihrer Rückkehr die Sache klären wollen, aber Kira war auf ihre Schilderung der Situation nicht eingegangen. Madiha wusste nicht, ob ihre Freundin überhaupt zugehört hatte, auf jeden Fall hatte sie nicht geantwortet, sondern ließ die Sache, wie sie es gerne tat, einfach in der Luft hängen. Madiha machte das wahnsinnig, aber sie fand keine Möglichkeit, Kira dazu zu bringen, über derartige Unstimmigkeiten ausgiebig zu sprechen und Probleme dadurch zeitnah aus der Welt zu schaffen.

„Ach, Kira, ich habe es dir doch erklärt“, versuchte Madiha die Freundin jetzt zu beruhigen. „Du hast die Situation völlig falsch verstanden. Jenny hatte kurz zuvor ihre Freundin beim Knutschen mit Corinna erwischt und wollte sich bei mir ausheulen. Mehr war da wirklich nicht.“

Als keine Antwort kam, fragte Madiha, die selbst nicht verstand, warum sie heute nicht bereit war, Kiras Vorwürfe, wie sonst auch, einfach auf sich beruhen zu lassen, um weiteren Streit zu vermeiden: „Wo warst du denn überhaupt die ganze Nacht und den Sonntag über? Du bist doch erst am Abend nach Hause gekommen. Bestimmt warst du nicht die ganze Zeit allein. Und irgendwo musst du doch auch geschlafen haben?“ Sie wusste genau, was sie damit auslösen würde.

Ihre Freundin war sofort auf sie losgegangen, Madiha hatte lediglich versucht, sich zu schützen, sie wollte keine Prügelei mit ihrer Liebsten, doch Kira war völlig ausgerastet. So schlimm war es noch nie gewesen. Schließlich hatte sie, laut mit der Tür knallend, die Wohnung verlassen und war zurück zur Arbeit gegangen.

Auch wenn es momentan nicht so gut lief zwischen ihnen beiden, hatte Madiha bisher immer daran geglaubt, dass die Beziehung zwischen ihr und Kira von Dauer wäre und sie einen gemeinsamen Weg finden würden. Sie müsste nur Geduld haben. Aber so wie der Streit heute eskaliert war, fiel es schwer, geduldig zu bleiben. Etwas musste sich ändern, so konnte es auf keinen Fall weitergehen.

Madiha hatte sich schon früh gegen viele Widerstände aus ihrer Familie ein Leben mit ihrer ersten großen Liebe Marvin aufgebaut. Dann war diese Beziehung an den Umständen gescheitert und aus dem zuverlässigen liebevollen Jungen war ein alkohol- und drogenabhängiger Schläger geworden. Es war ihr nichts anderes übriggeblieben, als sich von ihm zu trennen. Wie hatte sie es nur geschafft, sich jetzt wieder in eine so verfahrene Situation zu bringen?

Das Schnitzel war warm geworden. Madiha nahm es vom Gesicht, stand auf, ging in die Küche und beförderte das Stück totes Schwein voller Abscheu in den Mülleimer. Dass ein weiteres neben der Liege auf dem Boden lag, hatte sie völlig vergessen. Sie nahm die Flasche mit Raki aus dem Schrank, goss sich großzügig ein und stellte sie dann zurück. Sie gab zwei Eiswürfel dazu und füllte das Glas mit Wasser auf – das brauchte sie jetzt einfach, auch wenn es noch früh am Nachmittag war. Mit dem Glas in der Hand ging Madiha zurück auf den Balkon, setzte sich auf die Liege und zog die Rückenlehne nach oben, so dass sie fast aufrecht saß. Sie schüttelte das Glas ein paarmal hin und her und lauschte versonnen dem Klirren der Eiswürfel. Dann drückte sie es an die Backe, die sich immer noch ziemlich heiß anfühlte. Das tat gut. Ihre Gedanken schweiften ab. Wie hatte es nur so weit kommen können? Madiha richtete den Blick in die Ferne. Ihre Gedanken verloren sich in der Vergangenheit.

Die beiden Mädchen waren allein zu Hause. Wie so oft musste die dreizehnjährige Rihaan auf die sechsjährige Madiha aufpassen, die sich einen Spaß daraus machte, die große Schwester zu ärgern.

„Ich bin nicht deine Mutter! Wie oft soll ich dir das noch sagen?“ Rihaan schien ernsthaft böse zu sein. „Wann kapierst du endlich, dass Ammi deine Mutter ist?“

Madiha konnte sich ein leises Kichern nicht verkneifen, das Rihaan in ihrem Ärger aber überhörte. Es funktionierte einfach zu gut. Sie musste nur dieses „du-bist-meine-Mutter“-Knöpfchen drücken, und schon fuhr Rihaan aus der Haut. Es genügte, wenn Madiha sie mit „Mama“ ansprach. Dabei war doch klar, dass sie längst verstanden hatte, dass Rihaan ihre große Schwester war und Ammi ihre und Rihaans Mutter. Ammi hieß auf Urdu Mama und auch wenn sie gar kein Urdu sprach und verstand, das wusste Madiha genau. Schließlich kam sie noch in diesem Jahr in die Schule. Sie war ein großes Mädchen, aber das hatte Rihaan anscheinend noch nicht bemerkt, und deshalb sollte sie sich ruhig über Madiha ärgern, wenn sie ihr eine solche Dummheit zutraute.

Früher hatte Madiha wirklich eine Weile gedacht, Rihaan wäre ihre Mama, denn Rihaan war es, die sie morgens weckte, die sie in den Kindergarten brachte und von dort wieder abholte. Rihaan kümmerte sich um sie, wenn Madiha krank war und zu Hause im Bett bleiben musste, und Rihaan schimpfte mit ihr, wenn sie zu viel Unsinn machte oder ihr einfach auf die Nerven ging.

Ammi war für Madiha lange Zeit mehr wie eine Tante, die eben auch zur Familie gehörte. Sie ging morgens mit Baba aus dem Haus und kam spätnachmittags allein oder mit Baba zurück. Kaum hatte sie das Haus betreten und sich umgezogen, stand sie auch schon in der Küche und bereitete das Essen für die große Familie zu. Sie kochte so viel, dass Rihaan am anderen Tag mittags für Madiha und Benazir, die schon zur Schule ging, nur noch das Vorgekochte aufwärmen musste. Dann aßen sie alle zusammen zu Abend und schon bald darauf brachte Ammi Madiha ins Bett. Wenn Madiha am Morgen aufwachte, waren Ammi und Baba schon wieder aus dem Haus. Sie nahmen, wenn sie zur Arbeit gingen, den kleinen Babur mit und lieferten ihn unterwegs bei der Großmutter ab, wo er den Tag über blieb.

Rihaan brachte die kleine Schwester auf ihrem Weg zur Schule in den Kindergarten und holte sie dort nach Schulschluss wieder ab.

Aber nun durfte Madiha selbst bald zur Schule gehen und hatte schon längst verstanden, dass Vater und Mutter arbeiten mussten, um die große Familie durchzufüttern, und die älteste Schwester deshalb für die kleinen Geschwister sorgte, während ihre Schulfreundinnen häufig die Nachmittage gemeinsam verbrachten. Oft war Rihaan deshalb sauer und ließ ihren Ärger an Madiha aus, was diese wiederum veranlasste, ihr Spiel mit der großen Schwester zu treiben.

„Du bist eben doch meine Mama“, zeterte sie jetzt und stampfte mit dem Fuß auf. Eigentlich mochte sie Rihaan ja, aber es war einfach zu verlockend, noch eine Weile Macht über sie zu haben.

„Madiha! Lass das! Kleine Mädchen stampfen nicht mit dem Fuß auf. Benimm dich endlich mal, wie es sich für ein Mädchen gehört.“

„Siehst du“, rief Madiha nun fröhlich, „du schimpfst mit mir und sagst mir, wie ich mich benehmen soll. Du bist eben doch meine Mutter.“

Als Rihaan schwieg, verlor Madiha den Spaß an ihrem bösen Spiel. Ganz sicher war sie sich plötzlich auch nicht mehr, wer hier nun eigentlich wen für dumm verkaufte. Hatte sie nicht eben ein Grinsen auf Rihaans Gesicht gesehen oder täuschte sie sich?

Als der Sommer sich dem Ende zuneigte, begann ein neuer Lebensabschnitt für Madiha. Lange und ungeduldig hatte sie darauf gewartet, dass sie endlich zur Schule gehen durfte. Am Tag, bevor es losging, rief ihr Vater sie zu sich.

„Du bist ein kluges Kind, Madiha, das weiß ich“, begann er und Madiha blickte ihn stolz und zufrieden an. „Aber klug sein allein genügt nicht. Du musst lernen, viel lernen, und du wirst immer die Beste sein in der Schule, hast du mich verstanden?“

Madiha nickte eifrig, doch der Ton, in dem der Vater sprach, machte ihr Angst.

„Hast du verstanden, Madiha? Was wirst du sein?“

Die Stimme des Vaters war jetzt laut und drohend.

„Ich werde die Beste in meiner Klasse sein“, antwortete sie mit zittriger Stimme.

„Ich habe dich nicht verstanden. Was wirst du sein? Was wirst du tun?“

„Ich werde viel lernen und die Beste sein in der Schule, Baba, das werde ich bestimmt“, sagte sie jetzt laut und versuchte, mutig und überzeugt zu klingen.

Ihr Vater war nun zufrieden und Madiha lief schnell aus dem Zimmer. Vor der Tür stand Rihaan, die alles mit angehört hatte. Sie nahm die kleine Schwester in den Arm.

„Hab keine Angst, das hat er zu mir auch gesagt, als ich eingeschult wurde. Baba ist traurig, dass er selbst nicht studieren und Ingenieur werden konnte, und nun will er, dass wir das für ihn tun, verstehst du?“

Madiha nickte zögernd und fragte dann: „Warum konnte Baba nicht Ingenieur werden, Rihaan? War er nicht der Beste in seiner Klasse?“

„Quatsch.“ Rihaan lachte, wurde aber schnell wieder ernst. „Lass ihn das nur nicht hören. Baba ging in Pakistan zur Universität und er war dort der Beste. Dann heiratete er Ammi und kam zu ihr nach Bonn, wo wir jetzt alle wohnen. Dann bekamen sie Kinder – uns. Er musste Geld verdienen für uns, für die Familie. Deshalb hatte er keine Zeit mehr, um weiterzustudieren, obwohl er nichts lieber getan hätte. Das macht ihn immer noch traurig und deshalb ist er so streng mit dir.“

„Was ist eine Ufersität?“, fragte Madiha.

„Das hat doch nichts mit Ufer zu tun, du Knallkopf. Universität heißt das und eine Universität ist auch eine Art Schule“, antwortete Rihaan. „Hast du jetzt kapiert?“

Madiha nickte. Armer Baba. Er wollte zur Schule gehen und konnte nicht und sie war schuld. Nicht sie allein, auch ihre Geschwister, aber trotzdem hatte sie jetzt ein schlechtes Gewissen.

„Du bist ein schlaues Mädchen, Madiha“, riss Rihaan die kleine Schwester aus ihren trüben Gedanken, „du wirst sicher gut sein in der Schule. Und wenn du auch einmal nicht die Beste bist, so reißt Baba dir den Kopf schon nicht ab. Er will nur, dass du ihn ernst nimmst.“

„Bist du die Beste in deiner Klasse, Rihaan?“, fragte Madiha und war wieder ein bisschen getröstet.

„Nein, Madiha. Nicht einmal die Zweit- oder Drittbeste. Ich gehörte noch nie zu den Besten und schau mich an: Mein Kopf sitzt doch noch ganz fest, oder nicht?“

Jetzt konnte Madiha schon wieder lachen. „Ja, er wackelt nicht mal“, sagte sie. „Darf ich mal probieren?“

Madiha kletterte auf einen Stuhl und versuchte Rihaans Kopf zu packen, aber die drehte sich weg.

„Du wirst schon wieder frech, pass nur auf, sonst reiße ich ganz persönlich dir den Kopf ab statt Baba.“

Madiha lief kichernd aus dem Zimmer. Aber dann fiel ihr Baba wieder ein und das schlechte Gewissen kam zurück. Sie würde sehr viel lernen, das nahm sie sich fest vor, und später wollte sie Ingenieurin werden. Für ihren Baba, der wegen ihr und Rihaan und auch wegen den anderen beiden Geschwistern nicht in die Schule gehen durfte.

Die trüben Gedanken waren am nächsten Morgen längst verflogen, als Madiha viel zu früh aus dem Bett sprang, weil sie vor Aufregung nicht mehr schlafen konnte. Ihre Mutter hatte heute frei genommen, um mit Madiha zur Einschulungsfeier zu gehen. Sie wollte wenigstens am ersten Schultag selbst mit dabei sein, statt Rihaan zu schicken, die sonst fast alles erledigen musste, was es für die jüngeren Geschwister zu tun gab.

Madiha freute sich sehr darüber, denn Ammi war nur selten für sie da. Ihre Mutter war meistens müde, wenn sie von der Arbeit nach Hause kam, und seit die kleine Channa, Madihas um ein Jahr jüngere Schwester, mit wenigen Wochen morgens tot in ihrem Bettchen gelegen hatte, war sie fast immer traurig und sprach nur noch das Notwendigste. Nicht einmal der kleine Bruder Babur, der ein paar Jahre später zur Welt kam und Babas ganzer Stolz war, konnte Ammi fröhlicher stimmen. Aber das mit dem toten Baby war schon lange her und Madiha wusste das alles nur von Rihaan. Sie selbst konnte sich nicht daran erinnern, wie Ammi früher gewesen war.

Madiha hüpfte an der Hand ihrer Mutter zur Schule und es wurde ein sehr schöner Tag, an den sie sich immer gerne zurückerinnerte.

Bald schon fand sie eine Freundin, die denselben Schulweg hatte. Conny holte sie morgens ab und begleitete Madiha auf dem Rückweg bis zur Haustür. Dann verabschiedeten sich die beiden Mädchen und Conny ging das letzte Stück allein. Sie wohnte mit ihren Eltern in einem Einfamilienhaus in der benachbarten Siedlung. Als Madiha ihre Freundin zum ersten Mal nachmittags besuchen durfte, war sie völlig überwältigt von dem schönen Haus mit dem großen Garten. Conny besaß ein eigenes Zimmer und hinter dem Haus gab es einen Kaninchenstall mit Auslauf. Außer den Eltern gehörte nur noch Fred, der Kater, zur Familie. Geschwister hatte Conny nicht und Madiha war ein bisschen neidisch auf sie. Sie selbst teilte sich mit ihren Schwestern Rihaan und Benazir ein Zimmer. Im Schlafzimmer der Eltern stand das Kinderbett, in dem ihr Bruder Babur schlief, bis er zur Schule kam. Später würde er auf dem Sofa im Wohnzimmer schlafen müssen. Ein Badezimmer gab es in der Wohnung nicht, so etwas sah Madiha zum ersten Mal bei Conny. Sie selbst hatten in einer von einem Vorhang verborgenen Nische in der Küche eine Badewanne stehen und in der Toilette gab es ein kleines Waschbecken. In der Wohnung war es immer laut und unordentlich, weil sie viel zu klein war für die große Familie, und Madiha schämte sich, dass sie es nicht so schön hatte wie Conny bei sich zu Hause. Deshalb wollte sie nicht, dass Conny sie besuchen kam.

„Mein Vater erlaubt das nicht“, sagte sie, als Conny fragte, ob sie denn endlich auch einmal Madiha besuchen dürfte. Bald darauf hatte Conny eine andere beste Freundin.

Madiha bemühte sich sehr, den Wünschen ihres Babas Safdor zu entsprechen. Sie lernte fleißig und war anfangs auch eine sehr gute Schülerin. Als jedoch Rihaan die Schule abgeschlossen hatte und eine Ausbildung als Bürokauffrau in einem großen Gartenbaubetrieb am anderen Ende der Stadt begann, musste Madiha ihre Pflichten übernehmen. Der kleine Bruder Babur, lang ersehnter Sohn des Vaters – die Mutter hatte sich nur mit Mühe überreden lassen, noch ein weiteres Kind zu bekommen –, war ein kränkliches Kind. Madiha musste oft zu Hause bleiben, wenn er sich wieder einmal irgendetwas eingefangen hatte und hustend und schniefend in seinem Bett liegenblieb, anstatt zur Schule zu gehen. Madiha war sich nie sicher, ob Babur wirklich so krank war, dass er zu Hause bleiben musste, oder ob er sich drückte. Babur ging ungern zur Schule, er lernte schwer, war aber dennoch der Liebling seines Vaters.

„Babur geht es nicht gut“, sagte der Vater oft und meist ohne weitere Erklärung. „Du musst morgen zu Hause bleiben und auf ihn aufpassen, Madiha.“

Anfangs hatte Madiha widersprochen.

„Ich muss doch in die Schule, ich muss viel lernen, Baba. Das hast du selbst gesagt. Benazir kann doch auf Babur aufpassen. Sie ist schließlich älter als ich.“

Aber nachdem Babur einmal vom Esstisch gefallen war und eine leichte Gehirnerschütterung davongetragen hatte, während Benazir auf ihn aufpassen sollte, war sie von dieser Aufgabe befreit worden.

Madihas Noten wurden schlechter, ihr Vater war deswegen böse, aber Babur ging vor und das Fernbleiben vom Unterricht war für Safdor kein Grund für schlechte Noten.

„Du kannst doch auch zu Hause lernen. Wozu hast du so einen schlauen Kopf, Madiha? Du hast ja nichts zu tun, musst nur da sein, damit Babur nicht allein ist und keinen Unsinn macht“, sagte er jedes Mal, wenn Madihas Noten seinen Erwartungen wieder einmal nicht entsprachen und sie das damit erklärte, dass sie wegen des kleinen Bruders so oft nicht zur Schule gehen konnte.

Aber einfach da sein genügte eben nicht. Babur langweilte sich schnell, Madiha musste ihm vorlesen, mit ihm spielen und natürlich musste sie ihm jeden Wunsch erfüllen. Er war schließlich krank und sich seiner Rolle als einziger Sohn in der Familie schon von klein an bewusst.

Der Vater wollte nichts davon hören, er schimpfte, wenn Madiha sich beklagte, er schrie, wenn sie schlechte Noten nach Hause brachte, und wenn sie widersprach, schlug er sie. Überhaupt neigte Safdor dazu, schnell die Nerven zu verlieren und dann alle, die ihm in die Quere kamen, anzugreifen. Selbst sein Prinz Babur bekam hin und wieder etwas ab und alle litten sehr unter Safdors Jähzorn.

Madiha liebte ihren Vater, aber sie hatte auch große Angst vor ihm. Sie begann nachts zu lernen und Schulaufgaben zu machen, die sie sich von einer Mitschülerin bringen ließ, wenn sie selbst nicht zur Schule gehen konnte, weil Babur wieder einmal krank war. Sie war ständig unausgeschlafen, fühlte sich eingesperrt und unglücklich, aber ihre Noten wurden wieder besser und Safdor war zufrieden mit seiner Tochter.

Als Madiha älter wurde, erkämpfte sie sich einige Freiheiten, weil sie stur sein konnte wie ein junger Esel und schnell lernte, wie sie ihren Vater weichkochen konnte, wenn sie sein kluges kleines Mädchen spielte, obwohl sie sich selbst schon fast erwachsen fühlte.

Es gelang ihr, sich allen religiösen Pflichten und Zwängen zu entziehen. Sie war ja nur ein Mädchen, da musste man es mit der Religion nicht ganz so eng sehen, war Safdors Überzeugung und er ließ sie in Ruhe. Safdor erlaubte Madiha sogar manchmal, mit ihren Freundinnen ins Kino oder ein Eis essen zu gehen, und als sie ihm vorsichtig von einem netten Jungen erzählte, den sie kennengelernt hatte, der dringend ihre Hilfe im Büro seiner Autowerkstatt benötigte, erlaubte er ihr auch das.

„Weißt du, Baba, dabei lerne ich sehr viel, was ich später einmal brauchen kann, und Beziehungen zu einer Autowerkstatt sind doch immer wichtig. Marvin wird dir nur die Materialkosten berechnen, sagt er, wenn Reparaturen nötig werden. Und vielleicht kann Babur, wenn er alt genug ist, sogar einen billigen Roller bekommen.“

„Also gut, aber bevor es dunkel wird, bist du zu Hause, hörst du?“, sagte ihr Vater schließlich nach längerem Zögern.

Madiha nickte wortlos. Sie war zufrieden mit sich selbst, sie hatte es wieder einmal geschafft. Fürs Erste genügte ihr das und alles Weitere würde sich schon finden.

Rihaan kam inzwischen fast nur noch zum Schlafen nach Hause. Sie müsse viele Überstunden machen, sagte sie und niemand fragte weiter nach. Kurz nach ihrem achtzehnten Geburtstag stellte sie den Eltern Mick, einen jungen Deutschen, vor, der in ihrem Betrieb gerade die Ausbildung zum Landschaftsgärtner abgeschlossen hatte. Er hielt schon bald bei Safdor förmlich um ihre Hand an. Kurz darauf heirateten die beiden und Rihaan kam gar nicht mehr, sondern zog mit Mick zusammen. Ohne Rihaan fühlte Madiha sich anfangs sehr allein. Mit den beiden anderen Geschwistern verband sie schon lange nichts mehr. Es entging ihr nicht, dass Benazir eifersüchtig auf sie war und alles tat, um sich zwischen sie und den Vater zu drängen, und aus dem süßen kleinen Bruder war ein unangenehmer Halbstarker geworden, der glaubte, den Frauen in der Familie Vorschriften machen zu können. Er hatte eines Tages das Wohnzimmer für sich beansprucht und das gemeinsame Leben der Familie spielte sich seither nur noch in der beengten Küche ab. Aber dann heiratete auch Benazir und Madiha hatte endlich ein Zimmer für sich allein.

An ihrem sechzehnten Geburtstag eröffnete Madiha ihrem Vater, dass sie nicht vorhatte, Abitur zu machen und zu studieren.

Safdor hatte nie daran gedacht, seine Tochter zu fragen, wie sie selbst sich ihre Zukunft vorstellte. Aus dem klugen Kind war eine intelligente junge Frau geworden, die, seit sie sich nicht mehr um den kleinen Bruder kümmern musste, wieder meist unter den Besten ihrer Klasse war. Für ihn stand fest, dass Madiha eines Tages studieren und den Weg, der ihm selbst nicht vergönnt gewesen war, an seiner Stelle gehen würde. Madihas Erklärung traf ihn völlig unvorbereitet.

„Ich möchte eine Ausbildung als Kauffrau machen.“ Mit diesen Worten empfing Madiha ihren Vater, als der am frühen Abend von der Arbeit nach Hause kam. „Das wünsche ich mir zum Geburtstag“, fügte sie schnell hinzu, bevor Safdor sich von seiner Überraschung erholt hatte und etwas sagen konnte. „Sonst will ich nichts haben, aber ich möchte am Schuljahresende die Schule verlassen. Mittlere Reife ist doch auch nicht schlecht, findest du nicht?“

„Was ist das denn für eine dumme Idee, Mädchen“, sagte Safdor nach kurzem Schweigen. „Das wirst du nicht tun. Du bist besser als die meisten anderen in deiner Klasse. Deshalb wirst du studieren.“

„Baba, bitte. Ich will nicht studieren, ich will …“

„Nichts da. Ich weiß genau, wo diese Idee herkommt. Marvin steckt dahinter. Nur weil dein Freund nicht fähig ist, seine Autowerkstatt allein zu führen, und du die ganze Arbeit im Büro für ihn machst, wirst du nicht die Schule beenden. Das lasse ich nicht zu.“ Safdor wurde lauter. „Es war ein Fehler, dass ich dir erlaubt habe, dich mit diesem Jungen zu befreunden. Ich hätte es besser wissen müssen. Aber mit dir ist ja nicht zu reden, wenn es um Marvin geht. Ich habe nichts dagegen, dass ihr zusammen seid, solange ihr anständig bleibt und er dich heiratet, sobald du dein Studium abgeschlossen hast. Die Zeiten haben sich geändert und du weißt, dass ich dir viel mehr erlaube als andere pakistanische Väter ihren Töchtern. Aber du bist meine Tochter und meine Tochter wird studieren und nicht für einen hergelaufenen Bengel die Drecksarbeit machen. Hast du mich verstanden?“

Safdor war immer lauter geworden und Madiha wusste, dass sie dieses Mal verloren hatte, aber sie wollte sich nicht kampflos geschlagen geben.

„Ich will aber nicht!“

Als der Vater den Arm hob, wich sie zurück.

„Fass mich nicht an! Ich bin kein kleines Kind mehr, das du schlagen kannst, wie es dir beliebt!“, schrie sie nun auch, duckte sich unter seinem Arm durch, lief in ihr Zimmer und schloss die Tür hinter sich.

Madiha tauchte aus der Vergangenheit auf. Die Eiswürfel im Glas waren geschmolzen und der Raki war an ihrer immer noch glühenden Backe warm geworden. So schmeckte er nicht mehr. Sie stellte das Glas neben sich auf den Boden. Sie würde es wegräumen, wenn sie das nächste Mal aufstand, damit Kira sich nicht erneut aufregte. Dass sie in Wirklichkeit nicht einmal am Raki genippt hatte, weil er warm geworden war, würde die Freundin nicht interessieren. Besser, Kira bekam das Glas erst gar nicht zu sehen.

Madiha setzte sich abrupt auf und schüttelte sich, als ob sie eine Last von ihren Schultern abwerfen müsste. Was war mit ihr geschehen? Die sechzehnjährige Madiha hatte eben noch in ihrer Erinnerung den Vater angeschrien – sie hörte sich selbst noch einmal: „Fass mich nicht an! Ich bin kein kleines Kind mehr, das du schlagen kannst, wie es dir beliebt!“ – und die erwachsene Madiha überlegte, dass sie das Rakiglas wegräumen müsste, damit ihre Freundin sich nicht aufregte? Was stimmte nicht mit ihr? Was war in den letzten Jahren mit ihr geschehen, dass sie sich so verändert hatte und derart kraftlos und duckmäuserisch geworden war?

Madiha wusste genau, wie der heutige Abend verlaufen würde, wenn es keine weiteren Zwischenfälle wie vergessene Rakigläser oder Ähnliches gab. Es war nicht das erste Mal. In wenigen Stunden käme Kira von der Arbeit nach Hause, mit Schweizer Schokolade bepackt, von der sie wusste, dass Madiha sie gerne aß.

„Bitte verzeih mir“, würde sie sagen, „es wird nicht wieder vorkommen. Ich liebe dich sehr und ich habe einfach so große Angst, dich zu verlieren, dass ich manchmal überreagiere.“

Madiha würde nicken, ein paarmal schlucken und sich dann von Kira in die Arme nehmen lassen.

„Ich liebe dich doch auch, du musst keine Angst haben, dass eine andere mich dir wegnimmt“, flüsterte sie ihrer Liebsten dann ins Ohr und daraufhin würden sie mit Sicherheit im Bett landen.

„Versöhnungssex ist doch sowieso der beste Sex“, sagte Kira immer. Anschließend würden sie ausgehen, fein essen, vielleicht noch einen Abstecher in Bobas Bar machen und dann wäre alles wieder gut. Bis zum nächsten Mal. Oder vielleicht auch nur, bis die erste Frau am Tresen Madiha tief in die Augen schaute. Kira war krankhaft eifersüchtig, das wussten sie beide. Kurz hatte sie versucht, mit einer Therapie dagegen anzugehen, aber bald schon aufgegeben, weil sie keinen schnellen Erfolg erkennen konnte. Kira war nicht nur eifersüchtig, sie war auch extrem ungeduldig.

Madiha schüttelte sich erneut. Nein, so durfte der heutige Abend nicht verlaufen. Nicht schon wieder. Sie wollte keine Schweizer Schokolade, sie wollte keine Entschuldigungen, sie wollte keinen Versöhnungssex und sie wollte keine Beteuerungen von Kira, sie würde sich ändern, die sie dann doch nicht einhalten würde.

Was eine Sechzehnjährige konnte, konnte sie mit über dreißig Jahren doch wohl immer noch oder sogar erst recht. Sie war erwachsen und durfte über sich selbst bestimmen, ganz im Gegensatz zu der minderjährigen Madiha, die die Schule nicht abbrechen konnte, weil der Vater sich weigerte zu unterschreiben.

Sie musste sich auf das Streben nach Unabhängigkeit und auf die Kraft zurückbesinnen, die früher ihr Leben bestimmt hatten und die sie irgendwo unterwegs verloren hatte. Zu einer Beziehung, wie sie sie mit Kira führte, gehörten schließlich immer zwei. Eine, die schlug, aber auch eine, die sich schlagen ließ. Eine, die bestimmte, aber die andere ließ über sich bestimmen.

Zuerst war es der Vater gewesen, der sie geschlagen hatte. Darüber hatte sich Madiha lange Zeit keine Gedanken gemacht, sondern es als naturgegeben hingenommen. Eltern schlugen eben ihre Kinder, sie kannte es nicht anders und auch von ihren Mitschülerinnen hörte sie solche Geschichten. Erst mit sechzehn hatte sie sich widersetzt und von da an hatte ihr Vater sie auch nie mehr angerührt.

Von ihrem Freund Marvin hätte sie es niemals erwartet. Madiha war völlig schockiert, als es zum ersten Mal passierte. Sie waren damals schon mehrere Jahre zusammen und hatten sehr vieles gemeinsam durchgestanden.

Madiha glaubte, Marvins Gewaltausbrüche, die schließlich zur Trennung führten, wären zumindest teilweise aus dem Druck heraus entstanden, den ihre eigene Familie, allen voran ihr Bruder Babur, auf sie beide ausübte. Dazu kam der Betrug seines besten Freundes, der die gemeinsame Werkstatt in die Insolvenz geführt hatte. Darüber hatte Marvin das von seinem geliebten Großvater geerbte Häuschen verloren, was ihm fast noch mehr zusetzte als der Verrat des Freundes. Als dann noch seine Mutter, zu der Marvin eine sehr enge Beziehung gehabt hatte, unerwartet starb, wurde ihr Freund ein anderer Mensch. Alles geschah kurz hintereinander und Marvin war trotz ihrer Unterstützung in der Folge alkohol- und drogenabhängig geworden. Sie hatte noch lange zu ihm gehalten und gehofft, gemeinsam würden sie aus dem Tief wieder herausfinden. Doch irgendwann musste sie einsehen, dass sie sich etwas vormachte. Als er einen besonders schlimmen Tag hatte, verließ sie ihn und suchte Schutz im Frauenhaus.

Mit Kira war es ganz anders gewesen. Madiha hatte den psychischen Druck, den Kira bereits nach wenigen Wochen in ihrer Beziehung auf sie ausübte, zunächst nicht wirklich ernst genommen und später hatte sie die Schuld sich selbst gegeben. Ich bin zu empfindlich, hatte sie jedes Mal gedacht, wenn Kira sie wieder kleingekriegt und zum Nachgeben gebracht hatte. Mit mir stimmt etwas nicht. Ich liebe sie doch und ich mache etwas falsch, wenn sie meint, eifersüchtig sein zu müssen. Madiha hatte versucht, sich anders zu verhalten und jeden Grund für Kiras Eifersucht zu vermeiden. Sie war nicht mehr allein ausgegangen, hatte sich nicht mehr ohne Kira mit Freundinnen getroffen und sie hatte außerhalb der Arbeit ihren gesamten Tagesablauf nach Kira ausgerichtet. Aber es hatte nichts geholfen. Stattdessen zog sich das Netz, in dem sie sich verfangen hatte, mehr und mehr um sie herum zusammen. Kiras Angst, die Freundin zu verlieren, wurde immer schlimmer. Ein falscher Blick reichte aus, um sie vor Eifersucht zum Ausrasten zu bringen. Madiha konnte tun und sagen, was sie wollte, Kira blieb davon überzeugt, ihre Freundin mit aller Kraft festhalten zu müssen, um nicht verlassen zu werden. Der Druck, den sie auf Madiha ausübte, wurde immer stärker, gleichzeitig wuchsen ihre Verlustängste und vor wenigen Wochen hatte sie dann das erste Mal zugeschlagen.

Die Reaktion der Umgebung auf die Anzeichen von Gewalt innerhalb der Beziehung war diesmal eine ganz andere. Als Marvin sie zum ersten Mal so angegriffen hatte, dass es nicht zu übersehen war, war Madiha sofort von anderen Frauen darauf angesprochen worden.

„Hat dein Freund dich geschlagen?“

„Ist er gewalttätig?“

„Das darfst du nicht zulassen!“

„Ich bin gegen die offene Schranktür gelaufen“, hatte Madiha gesagt und sich geärgert, dass ihr keine originellere Ausrede eingefallen war. Das war ganz allein ihre Sache, fand sie damals, und es ging niemanden etwas an, was zwischen ihr und Marvin passierte. Die anderen hatten sie voller Zweifel angesehen und Marvin böse Blicke zugeworfen, als sie ihn das nächste Mal in ihrer Begleitung angetroffen hatten.

Als Madiha jedoch zum ersten Mal mit einem blauen Auge in Kiras Begleitung auftauchte, wurde sie gefragt: „Was hast du denn wieder angestellt? Du warst immer schon ein Schussel, das wird sich wohl nie ändern.“

Alle hatten gelacht, sie hatte mitgelacht und niemand machte sich weiter Gedanken. Schließlich war Madiha mit Kira zusammen, es gab keinen Mann, der ihr etwas antun konnte, niemand wurde misstrauisch – und wenn doch, dann wurde das ungute Gefühl schnell beiseite gewischt.

Als Kira sie das zweite Mal schlug, nahm sich Madiha fest vor, mit den anderen Frauen, mit denen sie sich regelmäßig in einer Szenebar der Stadt trafen, darüber zu sprechen. Sie kannten Kira schon länger als sie selbst, konnten ihr vielleicht sagen, ob da früher schon einmal etwas gewesen war, ob ihnen etwas aufgefallen war bei Kiras vorangegangenen Beziehungen. Aber als sie dann allein, ohne Kiras Begleitung, mit einem Bier in der Hand am Tresen stand und die anderen um sie herum in aufgekratzter Stimmung fragten, wo sie denn dieses Mal wieder dagegengestoßen war oder ob sie es beim Sex mit Kira ein wenig übertrieben hätte, traute sie sich nicht mehr.

Und nun? Was nun? Heute war es zum dritten Mal geschehen. Auch dieses Mal würden die Freundinnen lachen, kämen nicht auf die Idee, dass Kira ihre Partnerin geschlagen hatte.

Männer schlugen ihre Frauen, das war bekannt und jeder blaue Fleck an einem heterosexuellen Frauenkörper war ein Warnsignal. Frauen waren da anders. Frauen hatten gelernt, ihre Probleme ohne Gewalt zu lösen. Frauen waren das bessere, das sanftere, das mitfühlende Geschlecht. Frauen schlugen ihre Partnerinnen nicht und falls es doch einmal eine Ausnahme geben sollte, dann jedenfalls nicht Kira, die sie alle schon so lange kannten.

Madihas Gedanken schweiften wieder ab.

Im Frauenhaus hatte sie damals gelernt, dass es ein „Kommt nie wieder vor“ nicht gibt. Die anderen Frauen erzählten ähnliche Geschichten. Von ihren Männern, die sie schlugen und denen sie so oft verziehen und geglaubt hatten, wenn sie beteuerten: „Es wird nie wieder vorkommen, ich werde mich ändern.“ Sie hatte gelernt, dass es wichtig war, nach dem ersten Gewaltausbruch zu gehen, und sie war sicher gewesen, dies beim nächsten Mal auch zu tun. Nein, eigentlich war sie davon überzeugt, dass ihr das kein zweites Mal passieren würde. Beim nächsten Mann würde sie die ersten Hinweise erkennen und sich aus der Beziehung zurückziehen, bevor es überhaupt zu Schlägen kam. Aber dann hatte sie Kira getroffen, kein Mann mehr in ihrem Leben, und sie war der Überzeugung, dass nun sowieso alles gut wäre. Sie lernte zu akzeptieren, dass sie auch Frauen lieben konnte, vielleicht sogar nur nicht gewusst hatte, dass sie lesbisch war, als sie mit Marvin zusammenkam. War es denn wirklich Liebe gewesen, die sie mit ihm verbunden hatte, solange alles gut lief zwischen ihnen, oder hatte sie nur bei ihm Zuflucht gesucht und diese zunächst ja auch gefunden? Hatten sie die Enge ihrer Familie und der Druck, der auf ihr lastete, in Marvins Arme geführt?

Sie war erst fünfzehn gewesen, als sie den Siebzehnjährigen bei der Geburtstagsparty einer Freundin getroffen hatte. Er war nett und aufgeschlossen und sie hatten sich den ganzen Abend sehr gut unterhalten. Obwohl sie sich bis dahin nicht kannten, erzählten sie beide von ihren Familien und ihren Problemen, die sie mit diesen hatten. Marvin machte zu der Zeit eine Ausbildung in einer Autowerkstatt, fühlte sich aber ausgenutzt und schlecht behandelt und überlegte, sobald er achtzehn wäre, bei seinem besten Freund einzusteigen, dessen Vater vor Kurzem gestorben war und der nun die väterliche KFZ-Werkstatt übernommen hatte. Marvin lebte bei seiner Mutter, sein älterer Bruder war beim Vater. Die Eltern waren schon seit Jahren getrennt und Marvin hatte kaum Kontakt zu Vater und Bruder. Von seinem Großvater mütterlicherseits hatte er, so erzählte er Madiha, ein kleines Haus geerbt, das jetzt noch seine Mutter für ihn verwaltete und das ihm, sobald er volljährig wäre, gehören sollte. Daran hielt er sich fest. Er hatte seinen Großvater sehr geliebt und ein sehr enges Verhältnis zu seiner Mutter. Irgendetwas musste geschehen sein, worüber Marvin nicht sprechen wollte, was auch noch nicht ausgestanden war, was ihn aber veranlasst hatte, den Kontakt zu allen anderen Familienmitgliedern abzubrechen. Der Rest der Familie zählte für ihn einfach nicht, behauptete er.

„Irgendwann erzähle ich dir vielleicht mehr“, sagte er und Madiha akzeptierte das und fragte nicht weiter nach.

Madiha, die bisher noch keinen Freund gehabt hatte, gefiel der aufgeschlossene Marvin sehr, mit dem sie so gut reden konnte und der so ganz anders war als die albernen Jungen in ihrer Klasse.

Sie hatten eine schöne Zeit zusammen, daran erinnerte sich Madiha gerne. Marvin half in seiner Freizeit oft in der Autowerkstatt seines Freundes aus und auch Madiha kam immer öfter mit. Sie fand Spaß daran, Ordnung in die Buchhaltung zu bringen, die Denis, seit er die Werkstatt übernommen hatte, ziemlich vernachlässigte, und wurde bald unverzichtbar für das kleine Unternehmen. Bald schon entstand daraus der Wunsch, den sie ihrem Vater an ihrem sechzehnten Geburtstag eröffnete: die Schule nach der mittleren Reife zu verlassen und eine Ausbildung als Bürokauffrau zu machen. Mit dem richtigen Wissen und der entsprechenden Ausbildung würde sie ihre Sache noch viel besser machen als bisher, davon war sie überzeugt, und dann könnten sie zu dritt die Werkstatt richtig groß machen. Davon träumten Marvin, Denis und sie selbst schon länger.

Zähneknirschend fügte sie sich Safdors Verbot, die Schule abzubrechen, war aber weiterhin fast jedes Wochenende mit Marvin zusammen und verbrachte unter der Woche die meiste freie Zeit damit, die anfallenden Büroarbeiten in der Werkstatt zu erledigen.

Marvin brach direkt an seinem achtzehnten Geburtstag die Ausbildung ab, nahm eine Hypothek auf das Haus seines Großvaters auf, über das er nun allein verfügen konnte, und stieg als gleichwertiger Partner in Denis’ Autowerkstatt ein.