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Eva Sichelschmidt

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Beschreibung

Die Rautenbergs: die Geschichte einer westdeutschen Unternehmerfamilie und ihres Verfalls. Als Wilhelm und Inga sich kennenlernen, sitzt Adenauer noch im Kanzleramt. Arzttochter Inga ist eine Schönheit und Wilhelm, ein erfolgreicher Dressurreiter, die beste Partie. Doch kurz nach der Geburt des zweiten Kindes stirbt Inga an Leukämie. Die jüngere Tochter wird zu den Großeltern mütterlicherseits gegeben, die ältere bleibt beim Vater. Der baut sich, um den Zwängen der Freikirchlichen Gemeinde und seiner strengen Mutter zu entfliehen, ein Haus, kilometerweit vom nächsten Nachbarn. Nach sieben Jahren holt Wilhelm seine Jüngste wieder zu sich – , ganz wie im Märchen. Was aber folgt, ist alles andere als märchenhaft.

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Eva Sichelschmidt

Bis wieder einer weint

Roman

Roman

Über dieses Buch

Die Rautenbergs: eine bundesrepublikanische Saga, die Geschichte einer Unternehmerfamilie aus dem Ruhrgebiet und ihres Verfalls. Als Wilhelm und Inga sich kennenlernen, sitzt Adenauer noch im Kanzleramt. Die Arzttochter Inga ist eine Schönheit und Wilhelm, ein erfolgreicher Dressurreiter, die beste Partie, seine mittelständische Firma steht kurz davor, Weltmarktführer zu werden – ein Traumpaar. Doch schon wenige Monate nach der Geburt des zweiten Kindes stirbt Inga an Leukämie. Die jüngere Tochter wird zu den Großeltern mütterlicherseits gegeben, die ältere bleibt beim Vater. Der baut sich, um den Zwängen der freikirchlichen Gemeinde und seiner strengen Mutter zu entfliehen, ein Haus, kilometerweit vom nächsten Nachbarn, Reithalle, Schwimmbad, Tennisplatz. Zum Einzug, pünktlich zum Schulbeginn, holt Wilhelm seine Jüngste wieder zu sich – nach sieben Jahren, ganz wie im Märchen. Was aber folgt, ist alles andere als märchenhaft. Das Unternehmen gerät in die Krise. Die familiären Verhältnisse: ein Skandal, in der Nachbarschaft wird schon geredet. Und Wilhelms Tochter, die Erzählerin des Romans, muss zusehen, wie sie ihre Einsamkeit überwindet und den Weg in ihr eigenes Leben findet.

 

Ein einfühlsames Porträt einer unglücklichen Familie, der Erziehungsroman einer Außenseiterin.

 

«Für Prosa gibt es ein sehr einfaches, aber entscheidendes Kriterium: Wenn man beim Lesen das Gefühl hat, dieser Text wollte nicht, er musste geschrieben werden, dann ist es Literatur. In dem Roman ‹Bis wieder einer weint› zieht Eva Sichelschmidt nahezu jede Episode an den Wurzeln einer noch gar nicht so fernen Gründerzeit aus dem Boden ihrer frühesten Erinnerungen und legt auch noch die Geschichte einer westfälischen Familie frei, die womöglich lieber vergraben geblieben wäre. Das ist aufregend, ja, erschütternd und manchmal dennoch ziemlich komisch.» (Katja Lange-Müller)

Vita

Eva Sichelschmidt, geboren 1970 am grünen Rand des Ruhrgebiets, ist ausgebildete Kostümschneiderin. 1989 zog sie nach Berlin, wo sie als Kostümbildnerin für Film und Oper arbeitete und erst ein Maßatelier, dann einen stadtbekannten Laden namens «Whisky & Cigars» eröffnete. 2017 erschien ihr erster Roman, «Die Ruhe weg». Mit ihrem Ehemann und ihren drei Töchtern lebt sie in Rom und Berlin.

 

Weitere Informationen zur Autorin finden Sie unter www.eva-sichelschmidt.de

Für Marlene, Vera und Ellen

keiner weine,

keiner sage: ich so allein.

 

Gottfried Benn

Teil I

Erste Bilder

Kein Mensch kann sich daran erinnern, was vor seinem dritten Geburtstag geschehen ist, sagt meine Großmutter. «Das kennst du alles nur von den Fotografien.»

Stimmt, was war das Erinnern vor der Erfindung der Fotografie? Und welche Rolle spielt daneben die Einbildung?

Meine Erinnerung hat ihren Ursprung möglicherweise in den Schubladen des Wellenschranks der Großmutter. Er steht im Wohnzimmer und ist angefüllt mit seidenbezogenen Alben, in denen durchscheinende Pergamentblätter mit Spinnwebmustern Dekaden von Schwarzweißbildern trennen. Man sieht den Großvater, akkurat gescheitelt, den frischen Schmiss auf der Backe, mit seinem jungen Bruder beim Dämmerschoppen am Deutschen Eck und die Großmutter vor einer Kirche in Köln, gertenschlank in einem engen Brautkleid mit wehendem Schleier. Nie wieder wird sie diese Bilder anschauen. Wann mag sie sie zuletzt betrachtet haben? «Ach, lass doch die alten Kamellen.»

Die Erinnerung an die überwundenen Schicksalsschläge schmerzt, aber noch mehr schmerzt das Betrachten der Aufnahmen aus den schönen Zeiten. Aufnahmen sagt die Großmutter zu Fotografien, Wagen zu Auto und Apfelsinen zu Orangen.

In den geblümten Fotoalben der dreißiger Jahre findet sich eine Menge fröhlicher, teilweise stark behaarter Nackedeis am Strand von Juist. «Kinder, streckt doch mal die Arme in die Lüfte», werden die Damen aufgefordert. «Das hebt enorm.»

In den Sechzigern wurden die Pferde porträtiert, zusammen mit meiner Mutter, links und rechts je ein Tier am Halfter. Irgendwer hat sie auch hoch zu Ross geknipst, Inga mit dem entschlossenen Blick, den Po im Galopp aus dem Sattel gehoben. Später, als frischgebackene Mama, hält sie dem Fotografen den Säugling wie einen Reiterpokal entgegen.

Mal schmust sie mit einem Pudel auf dem Arm, dann wieder streichelt sie einen Dackel auf ihrem Schoß. Und immer strahlt sie ihr Zahnpastalächeln – zwei Reihen, gleichmäßig wie japanische Zuchtperlen. Auf den Abzügen mit dem welligen weißen Rand aus der Nachkriegszeit sieht man sie als Kommunionkind im Spitzenkleid, das ihre Großmutter aus der Gardine genäht hatte – ein Mädchen mit noch windschiefen Zähnen. Eines der ersten Fotos zeigt sie als wildgelocktes, nacktes Baby mit Grübchen, auf dem obligatorischen Schaffell.

Auf einem Foto schaut mein Vater im Karo-Sakko verwegen über das Lenkrad seines Cabrios. Man könnte ihn für einen Schauspieler in einem James-Bond-Streifen halten, Curd Jürgens an seiner Seite. Der Fotograf hat sein strenges Profil, den festen Blick und die Geheimratsecken gut getroffen. Im weißen Rollkragenpullover wirkt er, als habe er die Berliner Philharmoniker dirigiert.

Auf dem Grund der Schubladen liegen achtlos angehäuft Bilder von entfernten Verwandten und fast vergessenen Bekannten, kreuz und quer über Ansichten von Einfamilienhäusern, Reithallen, kalten Buffets, Rassehunden, Gartenlandschaften und Weihnachtsbäumen hinter überquellenden Gabentischen. Eines haben all die Fotos gemeinsam, aus so unterschiedlichen Jahrzehnten sie auch sind: Es bleiben Bilder einer formstrengen Zeit. Alles scheint akribisch inszeniert, stark auf Außenwirkung getrimmt.

Von mir gibt es nur ein paar senffarbene, verwackelte Farbbilder. Diese rauen, körnigen Abzüge, die mit der Zeit immer mehr an Kontur und Kontrast verlieren, könnten tatsächlich meine heimliche Erinnerungsstütze sein. Viele sind es nicht. Ein paar zeigen einen pausbäckigen Säugling auf der Wickelkommode und im Hochstühlchen, andere das nachdenklich dreinblickende, rothaarige Kindergartenkind. Vom Tag meiner Einschulung ist nur ein einziges Bild erhalten. Ich lehne mit einer Schultüte vor der Beifahrertür des dunkelblauen Mercedes meines Vaters und schaue voll hellsichtiger Skepsis in die Kamera. Danach haben die Fotografen es aufgegeben. Die Pubertät war kein abbildungswürdiger Zustand.

Die Bilder aus den Siebzigern stecken in zerfledderten Papieretuis, in deren schmaler Innentasche die braunen Negativstreifen zusammenpappen. Wie oft habe ich mir diese Fotos angeschaut? Unzählige Male, immer auf der Suche nach der Geschichte einer Familie, in der über die Vergangenheit nicht gesprochen wurde.

 

Am 29. Juni 1971 hat niemand fotografiert. Keiner der Familienangehörigen, auch keiner der sonstigen im Haus der Großeltern Anwesenden will sich an dieses Datum erinnern, und doch wird es keiner vergessen. Ich habe von diesem Tag Erinnerungsausschnitte im Kopf, seltsame Bilderschnipsel, aber auch Bewegtbilder, die bestimmt nicht aus der Fotokiste stammen.

Da taucht eine geblümte Vase auf, in der ein starrer Strauß von rosa Nelken steckt. Die Vase steht auf einem über Eck gelegten Deckchen, das wiederum auf dem Fernsehapparat liegt, der seinerseits auf einem gewaltigen zylindrischen Ständer thront. Ich befinde mich direkt vor diesem monströsen Gerät, in einem roten Plastikställchen, in dem mich keine Reihe von Gitterstäben, sondern ein grobmaschiges Synthetiknetz von der Außenwelt abgrenzt. An den diagonal verzwirnten Nylonschnüren kann man sich besser hochziehen als an glatten Holzstäben, und so geschieht es, dass ich einigermaßen wacklig auf die kurzen Beine komme und einen Arm in Richtung der bestickten Tischdecke ausstrecke. Meine darauffolgende Erinnerung ist nur mehr Blumenwasser. Ich sitze in einer Pfütze. Um mich herum liegen die Stängel wie Mikadostäbe, und ich blicke durch das Netz des Ställchens auf die Auslegware im Wohnzimmer meiner Großeltern.

Ziemlich lange sitze ich so, die Stoffwindel wird immer schwerer, und mein Po wird kalt. Ich spiele mit den Nelkenstielen und stecke eine der Blüten in den Mund. Die Blumen schmecken und riechen grün metallisch.

Nicht auszuschließen, dass ich, bis ich ein Teenager war, nie wieder so lange unbeaufsichtigt geblieben bin. Dabei bin ich nicht allein im Zimmer. Fremde Menschen gehen zwischen der Wohnstube und dem Esszimmer auf und ab, leise Gespräche sind von der Sitzgruppe her zu hören. In das Gemurmel mischt sich Schniefen und leises Gewimmer. Jemand hat einen Blechkuchen mitgebracht und Schnittchen mit gekochtem Schinken und Ei. Die Platten mit der Petersiliendekoration werden herumgereicht, aber niemand greift zu. Eine allgemeine Lähmung liegt in der Luft. Sie versetzt diejenigen, die nicht ohnehin mit Trauer und Verzweiflung angefüllt sind, in einen entleerten Zustand, in eine bleierne, kaum zu ertragende Schwermut.

«Und, was unternehmen wir jetzt?», fragt Asta, meine Schwester, in die dumpfe Stimmung hinein. Das Gemurmel der Anwesenden verstummt schlagartig, und die Erwachsenen blicken das sechsjährige Mädchen an. Die Großmutter springt von ihrem Stuhl auf und stürmt laut schluchzend aus dem Zimmer.

Was ist nur los mit ihrer Enkeltochter? Wie kann sie so gefühllos sein, eine solche Frage zu stellen? Und warum hat sie den ganzen Tag noch keine einzige Träne vergossen? Aber wen wundert’s? Immer schon hat sie sich gegenüber ihrer Mutter so distanziert verhalten, und nicht selten war sie unerträglich frech gewesen.

Die Großmutter wird ihrer Enkelin diesen Satz jahrelang nachtragen. Und Asta bekommt auf die Frage nach dem weiteren Verlauf des Tages natürlich keine Antwort. Sie wird demonstrativ mit Missachtung gestraft.

Der füllige Nachbar raucht eine Zigarre, die aussieht wie ein kleiner brauner Zeppelin. Die Freundinnen der Großmutter sitzen auf dem Sofa und paffen Zigaretten mit goldenen Filtern. In der Luft stehen verschiedenfarbige Tabakwolken. Tante Uta öffnet die Tür zum Balkon. Durchzug entsteht. Die Wohnzimmertür schlägt krachend zu. Der Großvater ruft: «Nun passt doch mal auf! Gleich zerspringt noch das Glas in den Türen.» Aufpassen? Jemand ist alarmiert. Tante Uta eilt zum Ställchen. Sie hebt mich auf und drückt mich fest an ihre Brust. Ihr Gesicht ist rosig verquollen, und ihr Herz pocht so laut, dass ich den Herzschlag deutlicher hören kann als alle anderen Geräusche um mich herum. Meine Tante trägt eine Kette mit einem herzförmigen Anhänger aus kleinen Granatsteinen. Als ich ihn in den Mund nehme, kitzelt mich die kantige Fassung der Steine am Gaumen.

Kann ich mich wirklich so genau an diesen Tag erinnern?

«Das Ganze bildest du dir nur ein», sagt die Großmutter. «Das reimst du dir alles bloß zusammen», sagt sie. «Du hast eine blühende Phantasie.» Was nicht als Kompliment gemeint ist.

Sie hat recht, wie immer. Denn am Tag der Beerdigung meiner Mutter bin ich keine zehn Monate alt.

1

Der Sand in der Reithalle staubt, es ist heiß und die Luft stickig. Der Rappe trabt, die junge Frau wirkt konzentriert, der Reitlehrer lehnt an der Bande der Halle und brüllt Kommandos. Durch die ganze Bahn Wechseln im Galopp, Schenkelweichen, Rückwärtssetzen, Durchparieren in den Stand, Scheh-ritt!

Es riecht nach Pferdeschweiß, Sattelfett und nach den Zigarillos des Reitlehrers. Inga stehen kleine Schweißtropfen auf der Oberlippe. Das Pferd soll am Zügel gehen, den Kopf an die Brust nehmen, doch es reckt ständig den Hals, als wäre es eine Giraffe in der Savanne auf der Suche nach frischem Blattgrün. Herr Lüttmann war heute fast die ganze Reitstunde über unzufrieden mit seiner Schülerin. «Absatz runter, Kinn hoch, Zügel nachfassen, Bauch rein, Brust raus, Knie ran, umsitzen, aussitzen. Treib mit dem Hintern und hör auf, dich im Spiegel zu bewundern.» Warum nur müssen Reitlehrer immer wie Offiziere auf dem Kasernenhof brüllen? Ein paarmal hat Inga mit den Tränen gekämpft. Nicht weil ihr die Schreierei des Lehrers so zugesetzt hätte, sondern vor Wut. Warum macht der Gaul nicht, was sie ihm durch Schenkelweichen und andere Kommandos zu verstehen gibt? Als die Reitstunde nach fünfundvierzig Minuten, die ihr wie Stunden vorgekommen sind, ein Ende findet und Inga vom Sattel gleitet, sieht sie ihn. Er hat hinter einem Pfeiler gestanden und sie heimlich bestaunt. Nicht ihre Reitkünste, mit denen ist nicht viel los. Sie lacht, schüttelt ihren Bubikopf und läuft übermütig auf ihn zu.

Strubbel nennt er sie – ein merkwürdiger Kosename für eine junge Frau, die so sehr auf ihr Äußeres bedacht ist wie Inga. Doch wenn sie reitet, stehen ihre blonden Locken in kürzester Zeit in alle Himmelsrichtungen ab, und etwas verwegen Unternehmungslustiges umgibt sie.

Er küsst ihr den Schweiß von den Lippen, nimmt sie in den Arm, und im Gleichschritt geht es durch das hohe Tor der Reithalle. Sie steuern den Gasthof an. Der Knecht in dem dreckigen Arbeiterkittel, der den ganzen Tag Unverständliches in sich hineinmurmelt, hält für einen Moment an der Bande des Parcours inne, stützt sich auf den breiten Besen und schaut den beiden versonnen nach. Was für ein Paar!

Die Kneipe auf Brinkmanns Hof ist jeden Nachmittag ab fünf gerappelt voll. Reiter nehmen, am Tresen stehend, ihr Feierabendbier zu sich, gerne auch mit einem Korn. «Machst du mir noch ein Gedeck, Hanni?» Die Arbeiter und Angestellten aus den großen Firmen der Umgebung sitzen an den klobigen Eichentischen, schweigen müde oder kloppen Skat.

Der Hof ist seit drei Generationen in Familienbesitz. Lange war das eine der typischen Bauernklitschen der Gegend, mit einem Misthaufen hinter der windschiefen Scheune. Doch dann baute Bauer Brinkmann ihn von seiner Kriegsversehrtenrente zum schmucken Gutshof um – im bergischen Stil, mit Schieferfassade und grünen Fensterläden. Als nach dem Krieg die Landstraße vor dem Heuschober zur zweispurigen Fernstraße ausgebaut wurde, erkannte Brinkmann die Zeichen der Zeit und tauschte einen Gutteil der Schweine gegen Pferde. Die riechen besser, leben länger, und der Reitbetrieb bringt ein Vielfaches ein von dem, was mit Leberwurst je zu verdienen gewesen war.

Jetzt, in den sechziger Jahren, hat sich der geschäftstüchtige Bauer eine große, stahlglänzende Gastronomieküche gegönnt. An den Bauernhof grenzt nun, hinter der Küche, der Hühnerstall an und weiter hinten die Reithalle. Alles geht ineinander über, ein wildes Sammelsurium verschiedener Baustile und Materialien. Brinkmanns Hof wächst wie die Wirtschaft in dieser Gegend, heils- und glücksversprechend.

 

In der chromglänzenden Küche schuftet am Vormittag Hanni, die strenggläubige Bauersfrau. Um fünf Uhr ist sie aufgestanden, nachmittags hat sie das Bier im Reiterstübchen gezapft, und abends bedient sie die Gäste im Restaurant. Jeden Morgen füttert sie vor Sonnenaufgang die Tiere, schickt ihre vier Kinder pünktlich zur Schule und macht nach dem Frühstück die fünfzehn Betten für die Pensionsgäste. Auch am Sonntag. Niemand weiß, warum Bauer Brinkmann dennoch im Suff hin und wieder die Hand ausrutscht.

Hanni trägt ihre Veilchen mit Würde, soweit das möglich ist. So ein blaues Auge, das ist Privatsache, darum kümmert man sich nicht. «Das ist dem Bauer sein Bier», wird höchstens mal hinterm vorgehaltenen Skatblatt genuschelt. Und doch gibt es eine gesunde Gemeinschaft. Seit Jahren, seit Generationen schon versammelt man sich sonntags auf den immer gleichen Plätzen im Gemeindesaal zum Gebet. Nur einmischen mag man sich nicht. Auch der unzeitgemäße Spruch «Meine Ehre heißt Treue», der über dem Eingang zur Brinkmann’schen Wohnstube prangt, wird allgemein übersehen. Der alte Bauer war seinerzeit ein Hundertfünfzigprozentiger. In seiner Wohnstube sollen gekreuzte SS-Dolche über dem Sofa hängen, ein Kauz eben, aber zuverlässig ist er, und gute Preise macht er für seinen Hafer, und auch das Zigeunerschnitzel ist erschwinglich, da kann man nicht meckern.

Als Inga und Wilhelm die Kneipe betreten, ist nur noch ein Stehplatz an Hannis Tresen frei. Männer mit zerfurchten, braunen Gesichtern, mit Halbglatze oder Pomadentolle rauchen schweigend Roth-Händle oder reden über Politik. In einer Ecke döst ein Arbeiter im Blaumann, das Kinn auf der Brust. Einige tragen ihre stattlichen Bäuche wie pralle Medizinbälle über dem auf halb acht gerutschten Hosenbund. «Der is mein Kapital, der war nich billig», sagen sie und klopfen sich auf die Wamme. «Hab ich mir hart erarbeitet.» Die jungen Reiter in ihren engen Hosen lachen über die alten Witze, die sich hier schon seit Jahren in immer ähnlicher Reihenfolge erzählt werden.

Während Inga und Wilhelm sich ihren Weg durchs Lokal bahnen, wird es stiller im Schankraum. Wilhelm ist schon Mitte dreißig, aber keiner sieht so schmuck aus wie er und hat auch nur annähernd so viel Moos, wie man hier sagt. Und die Olle daheim ist bei den meisten keinen Tag jünger als sie selber. Aber selbst wenn die Angetraute ebenfalls Anfang zwanzig wäre, es würde ihr im Schatten Ingas nichts helfen. Das Leben kann schon ungerecht sein. Warum sind Schönheit und Geld nur immer so ungleich verteilt? «Wo viel is, kommt noch mehr hin», sagen sie hier schulterzuckend. Neid ist das Problem der sturen Westfalen nicht. «Das sieht man doch gern, so ein junges Glück. Wie schnell kann alles vorbei sein.» Außerdem arbeitet die Mehrzahl der Anwesenden in der Rautenberg’schen Fabrik. Wes Brot ich ess, des Lied ich sing.

Wilhelm bestellt einen Schoppen Mosel für Inga, und Hanni zapft ihm unaufgefordert noch ein kleines Wicküler. Dann macht sie einen Strich auf seinen Bierdeckel, an dessen Rand sich bereits eine ganze Reihe kleiner Kugelschreibermarkierungen angesammelt hat.

Wilhelm hat zuvor schon bei Hanni auf Inga gewartet. Er reitet natürlich nicht bei Brinkmanns. Er hat seine Pferde in der nächsten Ortschaft stehen, in einem Privatstall. Brinkmanns Hof ist nichts für ihn, da ist ihm zu viel Trubel. Das Reiten ist ja schließlich nicht sein Hobby. Er hat Großes vor, mit seinen Pferden und auch mit sich. «Die Reiterei ist meine Bestimmung», sagt er.

Der Krieg war schon fast vorbei, als Wilhelm, gerade mal siebzehn, als Flakhelfer auf den letzten Drücker in britische Gefangenschaft geraten war. Unweit des Elternhauses, nur ein paar Kilometer Luftlinie entfernt, hatten ihn die Briten in einem Lager beinahe verhungern lassen. Aber nach einigen Wochen war es ihm gelungen, sich zu befreien. Mit bloßen Händen hatte er sich in einer mondlosen Nacht unter dem Zaun hindurchgebuddelt, als die Wachposten nach einer Schnapslieferung in seligem Tiefschlaf lagen. Der Tagelöhner in der nächstgelegenen Hütte hatte ihm eine graue Arbeitskluft geschenkt. In der lief Wilhelm geduckt im Dunkeln über Wiesen und Weiden zu seinem Elternhaus zurück.

Mehr Glück als Verstand habe er gehabt, sagt man in der Familie. Was mit siebzehn kein Wunder ist. Seine Flucht aber schon. Einem seiner Mitschüler war es schlechter ergangen. Fritz, ein paar Wochen jünger als Wilhelm, wurde mit Typhus aus dem Lager getragen, die Füße voran.

Nur gut, dass Wilhelm nicht der Größte ist. Er passt in den heimischen Wäscheschrank, wo ihn die Mutter noch eine Weile versteckt hält, bis der Krieg vorbei ist. Klein und abgemagert beginnt er bald darauf seine Reiterkarriere als Jockey auf der Dortmunder Trabrennbahn. Dort findet er Freunde, drahtige Kerle in bunten Jacken, die sein Leben prägen werden. Zu seinem Lebensinhalt, den Pferden, ist Wilhelm somit auch durch die Kriegsgefangenschaft gekommen. Doch daran, dass alles für etwas gut ist, glaubt er nicht. Einen Knall, einen Knacks hat er im Lager bekommen und dann noch einmal einen auf der Rennbahn. Seitdem ist sein Leben irgendwie verdreht, verwirrt. Inga soll es jetzt entknoten. Er hofft, dass ihr gelingt, was er selbst nicht vermag.

Klein kommt Inga ihr Zukünftiger gar nicht vor. Er hält sich stets baumgerade, wie es sich für einen Dressurreiter gehört. Ihn, den Jungen vom Lande, umgibt, neben einem feinen Aftershave, der unwiderstehliche Geruch frischen Geldes. Inga verfügt dafür über angeborene Grandezza. Letzten Sommer hat sie in Bad Arolsen den ersten Platz bei der Wahl der «Miss der schönsten Beine» belegt und als Preis acht Paar Feinstrumpfhosen der Marke Triumph nahtlos mit nach Hause genommen. Doch nicht nur ihr Liebreiz, neuerdings Charme genannt, ist es, was Wilhelm begeistert. Ingas Eltern kommen aus Köln und nicht wie seine Mutter aus Ostpreußen. Ihr Vater hat studiert. Sie stammt aus einem Arzthaushalt, in dem man klassische Musik hört und nicht bloß den Wetterbericht. Sie sind füreinander mehr als nur eine gute Partie. Sie hat den Stil und er das Geld.

Wie immer, wenn Wilhelm Inga von Brinkmanns Hof nach Hause chauffiert, hat er auf der Heimfahrt bei einem abseits gelegenen Parkplatz von «Bärbels Tanzdiele» am Rand des Stadtwalds angehalten. Ohne den Zwischenstopp anzusagen, biegt er auf dem Nachhauseweg von der Landstraße ab und parkt den Wagen unter den knorrigen Eichen beim Eingang des neumodischen Trimm-dich-Pfads. Man hat ja sonst nie seine Ruhe. Mit einem einzigen Handgriff kann er den Beifahrersitz umlegen. Das ergibt eine Rückwärtsbeuge wie beim Tangotanzen, und die Plötzlichkeit, mit der Inga sich nun in der gewünschten Liegeposition befindet, lässt die beiden laut auflachen. Die Fenster beschlagen schon nach dem ersten Kuss, sodass, sollte tatsächlich mal ein Grüppchen Vergnügungssüchtiger aus dem Tanzlokal dem Mercedes zu nahe kommen, nichts zu sehen wäre.

Mit Wilhelm ist alles anders als mit ihrem Jugendfreund. Wenn sie an Axel denkt, den Metzgersohn, dem sie den silbernen Kettenanhänger mit dem Tierkreiszeichen Schütze zum vorletzten Weihnachtsfest geschenkt hat. Der war im gleichen Alter wie sie, und sie hatten in der Volksschule dieselbe Klasse besucht. Bei dem hatte sie immer das Gefühl gehabt, mit ihm verwandt zu sein. Er war so zutraulich wie ihr schwarzer Zwergpudel Billy und so gesprächig wie ihre Busenfreundin. Aber küssen konnte der … «Dieser Jüngling ist ja nicht mehr als ein Schluck Wasser in der Kurve», hatte ihr Vater bemerkt, nach ihrem ersten Rendezvous, als sich Axel, bevor er sie ausführen durfte, bei den Lüdersheims zu Hause vorstellen musste. «Der könnte ja ebenso gut einer deiner halbgaren Vettern aus Koblenz sein.»

Dass es einen himmelweiten Unterschied zwischen den Kusskünsten des Cousins und Axel gab, wusste Inga nur zu genau, schließlich hatte sie sich auf dem letzten Schützenfest nach etwas zu viel Himbeerwein auch einmal von Vetter Günther küssen lassen. Aber das verriet sie dem Vater natürlich nicht.

Wilhelm dagegen ist für Inga und auch für den Schwiegervater in spe ein echter Mann. Aber nicht alles, was er tut und sagt, versteht Inga, und auf nicht alles, was sie fragt, gibt er eine Antwort.

«Bitte, sag doch mal richtig», bettelt sie dann. Neugierige, naive Kinderfragen stellt Inga.

«Findest du Marie hübsch?», fragt Inga nun, als Wilhelm sich über dem Schalthebel zu ihr herüberbeugt.

«Was du alles wissen willst. Die hat doch ein Hinterteil wie ein Droschkengaul.»

«Sie hat aber den ganzen Abend so zu dir geschaut. Ich hab’s genau gesehen. Und du hast ihr einmal zugezwinkert.»

Wilhelm streicht ihr eine Locke aus der Stirn. «Was in diesem hübschen Köpfchen nur alles so vor sich geht», sagt er belustigt und küsst sie sanft auf den Scheitel.

«Warst du eigentlich mit Rita schon mal aus?» Inga stützt sich auf den linken Unterarm, und Wilhelm lehnt sich wieder in seinem Sitz zurück.

«Was für ein Kind du doch bist.» Er schaut auf seine goldene Armbanduhr. Die Zeit läuft ihm davon. Bis um zehn muss er Inga nach Hause gebracht haben, die Schwiegereltern in spe finden nicht in den Nachtschlaf, bevor ihre Jüngste nicht wieder im Jugendzimmer schlummert.

«Du weißt doch, Strubbel, es gibt keine schöne Frau im Ruhrgebiet, die ich noch nicht geküsst habe.»

Dann küsst er Inga und fährt mit der Hand unter ihren eng sitzenden Pullover. Was für ein schöner flacher Bauch. Ihre warme Haut und der Geruch nach Waschmittel und Lavendelseife beruhigen ihn.

Inga erwidert seinen Kuss und streicht ihm über den Nacken. Eine Gänsehaut breitet sich an seinem Rücken aus, und leichter Schauder fährt ihm die Wirbelsäule hinab. Seine Gefühle zu ihr sind noch so zart und fragil. Er mag Ingas Reinheit, ihre Naivität. Begehren regt sich noch kein echtes. Nicht bei ihm und wohl auch nicht bei ihr, denn schon geht die Fragerei weiter.

«Sag doch mal, glaubst du, Harry und Petra sind glücklich verheiratet?»

Inga entwindet sich seiner Berührung und sieht ihn prüfend an. Sie hat einen guten Riecher, seine Zukünftige. Petra hat er auf dem letzten Karnevalsfest im Reiterverein in die dunkle Sattelkammer getanzt. Er erinnert sich noch an einen kurzen, heftigen Drang und an Petras Handrücken, ihre Fäuste, festgekrallt, links und rechts in zwei Trensen an der Wand.

«Kein Paar ist für heute so glücklich wie wir.»

«Ach, sei doch mal vernünftig, bleib doch mal ernst», bittet sie trotzig.

Aber vernünftig will er mit ihr nicht sein, und ernst ist es ihm schon mit so vielem anderen in seinem Leben. Er ist dreizehn Jahre älter als sie und erinnert sich mit Grauen an den Krieg, an den sie keine Erinnerung hat, in den sie gerade einmal hineingeboren wurde. Er gehört einer anderen Generation an. Manchmal kommt es Inga so vor, als würde er auch mit ihrer Mutter flirten. Kein Wunder, Wilhelm hatte jede Menge Freundinnen, die weitaus älter sind als die zukünftige Schwiegermutter. Wilhelm und Lotte trennen nur elf Jahre, also zwei Jahre weniger als Inga und ihn – interessant.

 

Als es auf zehn Uhr zugeht, wischt Wilhelm die Windschutzscheibe mit seinem gebügelten weißen Herrentaschentuch wieder blank. Die Initialen hat seine Mutter in das Tuch gestickt, WR mit hellblauem Faden. In jeder Hose und in jeder Sakkotasche hält er ein solches Taschentuch parat. Es gehört zu ihm wie seine roten Haare und die Sommersprossen auf seinen Händen. Wenn Inga die Nase läuft, reicht er es ihr, unaufgefordert. Sie schnäuzt sich, gibt es ihm zurück, und er steckt es dann wieder ein.

Das muss Liebe sein, denkt Inga. Dann fährt er sie heim.

 

Wilhelm parkt den Mercedes vor der Auffahrt, links vor dem großen Tor. Auf Zehenspitzen schleicht er den Weg zu seinem Haus hinauf. Als er leise die Haustüre öffnet, klirren die schmiedeeisernen Blätter und Ranken, die Tiermotive, mit denen die Tür großflächig verziert ist, und einem Hasen zittern die Löffel. Das reicht, sie ist wach, noch oder schon wieder. Wilhelm, klingt es weinerlich aus dem oberen Stock. Eigentlich ruft sie nur Wilm, sie verschluckt den letzten Vokal, dafür wird das I sirenenhaft gedehnt. Als er vor fünfunddreißig Jahren hier geboren wurde, genauer, auf dem Küchentisch des Sandsteinhauses, das ein Wäldchen weiter hinter der alten Schule steht, hat ihm der Vater diesen Namen gegeben. Karl, der Vorname des Alten, war schon vergeben. So hieß bereits der älteste Sohn, der seinen Sohn später wieder Karl nennen sollte, als ob es auf der Welt keine schöneren deutschen Vornamen gäbe.

Wilhelm sollte auf jeden Fall dieses zerknautschte, erdbeerrote Wesen heißen, so bestimmte es der Vater nach der Geburt seines Zweiten. Der Haarflaum und das Gesicht des Kleinen waren von dem gleichen Rotton. Marianne, die Mutter, wurde gar nicht erst gefragt.

«Nicht, dass er später einmal Willi genannt wird», so ihr einziger Einwand.

«Wenn etwas aus ihm wird, wird er Wilhelm heißen», sagte der Vater.

Und so ist es auch gekommen. Niemals wird er, in seinem ganzen Leben nie, und sei’s auch nur im Scherz, Willi genannt werden.

 

In Mariannes Schlafzimmer fällt ein schmaler Streifen Flurlicht, sie schläft stets, auch im Winter, bei geöffnetem Fenster und angelehnter Zimmertür. Doch trotz der Frischluftzufuhr kann man noch die Farbe und den feuchten Tapetenleim riechen. Erst vor wenigen Tagen, als der Anbau im Parterre fertiggestellt wurde, ist Mariannes Schlafzimmer, ein dunkelbraunes Komplet aus Schrankwand, massivem Ehebett mit gedrechselten Pfosten und einer gewaltigen Frisierkommode, von den Arbeitern der Firma in das Eckzimmer im ersten Stock gehievt worden. Marianne hat darauf bestanden, all ihre alten Möbel zu behalten, obwohl das Mobiliar in der neuen Umgebung so wirkt, als habe man eine H0-Modelleisenbahn in eine Liliput-Landschaft gestellt. Wilhelm hatte mit ihr Ausflüge in die neuen, modernen Möbelhäuser der Umgebung gemacht und ihr Versandhauskataloge auf den Couchtisch gelegt. Es half nichts, Marianne wollte partout kein einziges neues Möbelstück für ihr neues Reich, wie Wilhelm nun die erste Etage nennt, in der früher die Kinderzimmer der Familie Rautenberg untergebracht waren. «Wenigstens etwas soll mich doch noch an damals erinnern», hatte Marianne bemerkt und dabei eigensinnig aus dem Fenster der Familienküche gestarrt.

In die ist nun eine dieser modischen Einbauküchen eingepasst worden. In Hellblau, mit Durchreiche und Tischgrill. Hier soll demnächst die neue Schwiegertochter walten. «Dann brauchst du nie mehr mittags zu kochen, Mutter», hatte der Sohn sie zu trösten versucht. So weit wird das kommen, denkt Marianne, sagt aber nichts, sondern presst nur die dünnen Lippen aufeinander.

Als Wilhelm sich nun auf ihre Bettkante setzt, wirkt ihr Mund noch ein wenig schmaler, die Zähne liegen im Wasserglas auf dem Nachttisch. Der winzige Vogelkopf ruht auf zwei schweren Kissen, und ihr dünner, geflochtener Zopf liegt über ihrer knochigen Schulter. Als Wilhelm klein war, so klein, dass er, ohne sich zu bücken, durch das Schlüsselloch der Badezimmertür linsen konnte, hatte er sie abends manchmal dabei beobachtet, wie sie ihren Dutt gelöst und die Haare mit einer silbernen Bürste minutenlang gekämmt hatte. Mit offenem Haar glich sie damals noch dem jungen Mädchen auf der gerahmten Fotografie im Flur, dieser vorsichtig lächelnden Frau, die der Vater in seiner Matrosenuniform stolz in den Armen hält. Die Mutter war ihm in ihrem weißen Nachthemd fremd vorgekommen – gar nicht mehr so wie Mutter, sondern plötzlich nur noch wie Vaters Frau –, heute noch kann er bei dem Gedanken an diesen verbotenen Anblick eine Gänsehaut bekommen.

«Ich habe den ganzen Abend auf dich gewartet, Junge», sagt sie, guckt ihn dabei aber nicht an, sondern stur in eine Schlafzimmerecke, und ihre Oberlippe zittert bei jedem Wort leicht. «Die Butterbrote stehen im Kaminzimmer, aber die Cervelatwurst ist jetzt bestimmt trocken.»

Er will ihren blau geäderten Handrücken streicheln, doch sie zuckt zurück. Das Bett rechts neben ihr ist seit zehn Jahren leer, dort bedeckt nur eine gesteppte Tagesdecke die durchgelegene Matratze. Für sein eigenes neues Bett, es ist ein französisches, hat Wilhelm vor wenigen Wochen leichte Daunendecken gekauft und mehrere Garnituren Damastbettwäsche, im ersten Bettenhaus am Platz. Nie mehr im Leben will er unter den Säcken seiner Kindheit schlafen müssen, die schweren Dinger, die einem die Brust beschweren, dass man Albdrücke bekommt. Auch Wilhelms rechte Bettseite ist leer. Noch, aber nicht mehr lange – diese Aussicht stimmt ihn froh und beunruhigt ihn gleichermaßen.

Er steigt die Treppe hinab und schaut sich um. Alles ist so, wie Inga es sich gewünscht hat, genauso gediegen wie bei Wilhelms Freunden in Bonn, einem Unternehmerehepaar, das in einer Villa mit Bediensteten wohnt.

Personal wird es bei ihnen natürlich fürs Erste noch nicht geben, aber bei der Einrichtung hat Wilhelm sich nicht lumpen lassen. Das Esszimmer ist Bauernbarock aus dem achtzehnten Jahrhundert, er hat es in einem Antiquitätengeschäft erstanden, weil es so gut zu seinen alten Wäschetruhen passt. Wilhelm hatte einmal eine Verehrerin, ein etwas älteres Kaliber, die hat ihm die erste Truhe, die mit den Intarsienarbeiten, vermacht. Die Jahreszahl 1748 ist in schwarz-weißer Einlegearbeit – Elfenbein und Ebenholz – auf dem Deckel verewigt. Die wird wohl einiges wert sein.

Diese Edeltraut bewohnte damals ein Wasserschloss bei Münster und schmiss die dollsten Partys. Ihr Mann, ein Hundertfünfzigprozentiger, hatte sich in den letzten Kriegswochen nach Argentinien abgesetzt. Und er fehlte ihr nicht die Bohne. Edeltraut lud sich abends zur Unterhaltung die adretten Reiter vom benachbarten Jagdverein ein, dazu eine Blaskapelle und eine Handvoll fröhlicher Witwen und Lebedamen, darunter auch Marika Rökk, und manchmal kam auch Zarah Leander aus Schweden zu Besuch. Kurz nach dem Krieg hatten beide UFA-Diven zwar noch jede Menge Zaster, aber kaum mehr Engagements, dafür umso mehr Zeit und Bedarf an Zerstreuung. Die Rökk brachte Edeltraut ein paar Kisten Champagner mit, und Edeltraut versorgte ihre Freundinnen im Gegenzug mit Frischfleisch. Nicht jeder in der Umgebung wollte sich da noch gern mit den Nazissen blickenlassen, aber solche Ängste plagten Wilhelm und seinen Freund Uli nicht im Geringsten. Sie wurden satt, hatten ihren Spaß und waren gerngesehene Gäste auf dem Schloss. Galant schoben sie die Damen übers Parkett und trieben allerlei deftige Späße mit ihnen. Es wurde eine Menge gebechert. Ganz erstaunlich, was die Filmstars so alles wegstecken konnten. Einmal, bei einem besonders feuchtfröhlichen Fest, rutschten diverse Ladys im Überschwang das Geländer der Freitreppe des Schlosses hinunter. Wilhelm und Uli mussten sie auffangen, doch bei der Leander hatte sich sein Freund einfach umgedreht und sie aufs Parkett plumpsen lassen, die war ihm zu schwer. Das nahm ihm aber niemand krumm. Die beiden Jungs sahen gut aus, und die nicht mehr ganz taufrischen Damen mussten nicht mehr jede Nacht allein schlafen.

Mit Obsttanz fingen die Abende an – der Kunst, möglichst lange Apfelsinen und Äpfel und für Fortgeschrittene auch Bananen beim Engtanz zwischen sich auf und ab zu bewegen, ohne dabei Fallobst zu erzeugen. Ja, auch Südfrüchte gab es in jenen mageren Zeiten bei der generösen Gastgeberin. Bis man zu später Stunde beim Strippoker landete, dem einzigen Kartenspiel, das Wilhelm je erlernte. Dann hieß es aber auch schon sich beeilen. Denn es galt, eine der weniger beschwipsten und vor allem weniger betagten Damen abzukriegen und auch noch eines der raren Betten im Schloss, um nicht in der Abstellkammer zu landen. Auch war es wichtig, nicht allzu häufig an die Gastgeberin zu geraten, denn die verfügte über einen Mordsappetit und schlief zusammen mit ihrem Wolfsspitz in einem großen Himmelbett, sodass einem am nächsten Morgen lange graue Haare am ganzen Körper klebten.

Eines Tages bekam Wilhelm von Edeltraut dann auch noch den Wäscheschrank aus ihrem Ankleidezimmer geschenkt. Den mag Inga nicht, obwohl sie doch eigentlich gar nicht ahnen kann, womit er ihn sich verdient hat.

 

Inga hat sich eine rehbraune Ledercouch ausgesucht und ein Blumenfenster gewünscht, so was ist grade der neuste Schrei. Vor einem der großen Panoramafenster hat Wilhelm also ein Blumenbeet in die Fensterbank einbauen lassen. Wenn man da hinausschaut, sieht man auf die gackernden braun gefleckten Hühner in dem halb vermoderten Stall und auf Mariannes Küchengarten. Dort humpelt sie jeden Tag herum und zupft an ihrem Gemüse. Diese beiden Dinge scheinen nicht so recht zueinander zu passen, drinnen die teure Einrichtung mit den Usambaraveilchen und draußen das Landleben. Aber was soll man machen? Der Mutter gehören nun einmal das Haus und der Boden, auf dem es steht. Und allein kann Wilhelm die gebrechliche Marianne auch nicht lassen. Das ist ganz unmöglich.

Das Blumenfenster macht bei Ingas Freundinnen Furore – nein, so etwas Modernes, sagen sie, das haben sie bisher nur in der «Neuen Illustrierten» gesehen. Wilhelms Freunde interessieren sich mehr für seine Hausbar. Sie ist in die Schrankwand eingebaut. Wilhelm hat Wodka, Fernet-Branca, Cognac und Whisky hineingestellt. Dabei schmeckt ihm der heimische Korn am besten. Oder etwas, das sich «Linie» nennt. Ein Aquavit, der einmal um den Äquator geschippert wurde. Aber den muss man aus dem Eisschrank holen, der hat in seiner Bar nichts zu suchen.

Immer noch in Reitstiefeln, durchquert er das frisch renovierte Parterre, sein neues Heim und das seiner zukünftigen Frau und derer, die da noch nachkommen wollen. Er hofft sehr, dass es nicht allzu viele werden.

Seitdem er das Erdgeschoss allein bewohnt, hat er die Pantoffeln im Kamin verbrannt und wird nie wieder welche tragen. Revolution!

Er denkt über einen Dimple nach. Morgen braucht er nicht allzu früh aufzustehen; am Sonntag geht es erst um halb zehn raus, wenn die Mutter in die Kapelle gefahren werden will.

Einen darf er sich noch gönnen. Die Hausbar ist ganz mit Spiegeln ausgekleidet, die Seiten, die rückwärtige Wand und auch die Decke. Öffnet man die ebenfalls verspiegelten Türen, erstrahlt automatisch die Innenbeleuchtung. Während Wilhelm nach der bauchigen, dreifach eingedellten Flasche sucht, sieht er sich zwischen den vielen Spirituosen: einmal, zweimal, dreimal hintereinander seinen Kopf, immer noch einen, immer kleiner werdend. Er ist viele, das weiß er, und es macht ihm Angst. Prost!

Gottesdienst

Das erste Mal in der Kapelle war ich mit vier oder fünf Jahren.

Als ich noch ein Kleinkind war, hatte mich der Vater nur manchmal samstags im Haus der Großeltern besucht. Brachte er, was selten geschah, Asta mit, langweilte die sich bei der Familienzusammenführung demonstrativ. Sie lümmelte in den klobigen Ledersesseln, schwang ihre langen Beine über die Armlehnen, wackelte mit den Füßen, bis ihre Holzclogs lautstark zu Boden fielen, und steckte dabei die Nase in einen Karl-May-Roman. Grundsätzlich sprach sie bei den Besuchen im Haus der Großeltern wenig und mit ihrer kleinen Schwester gar nicht.

«Lotte, sag Asta, dass sie sich wie ein normaler Mensch hinsetzen soll», bat dann der Großvater die Großmutter. Und obwohl alle um den gleichen Couchtisch saßen, in gleicher Hörweite zueinander, gab unsere Großmutter diese Bitte tatsächlich weiter. Unter mürrischem Ächzen und indem sie ihren Pony hochpustete, nahm Asta dann eine halbwegs aufrechte Haltung an, während der Vater die ganze Zeit unbeteiligt tat.

Hatte mein Vater seinen Besuch telefonisch angekündigt, ging die Großmutter vorher zum Friseur und zog hochhackige Schuhe an. «Was siehst du heute wieder fabelhaft aus, Lotte», sagte er dann zur Begrüßung. Er brachte damit seine Schwiegermutter, die von ihrem Ehemann nicht gerade mit Komplimenten verwöhnt wurde, jedes Mal zum Erröten. Die Besuche des Vaters fanden im Wohnzimmer statt, immer in gleicher Sitzordnung, und waren meist nicht von langer Dauer. Länger als eine Stunde hielt es Wilhelm nicht aus. Die beiden Männer saßen sich in den Ohrensesseln gegenüber, die Großmutter hatte auf dem Sofa Platz genommen, und ich hockte auf ihrem Schoß. Asta war der Springer, saß mal hier, mal da. Der Vater sprach seine kleine Tochter nicht an. Wir interessierten uns beide nicht übertrieben füreinander. Der Großvater verhandelte mit seinem Schwiegersohn die steigenden Ölpreise und die aktuelle Tagespolitik. Wilhelm gab die Gesprächsbälle charmant zurück – ein Boulevardtheaterstück, bei dem keine Verwechslungen stattfanden, niemand aus dem Schrank fiel, aber alle Akteure froh waren, wenn es nach kurzer Zeit wieder vorbei war. So kam dem Vater dann die Idee mit den Ausflügen.

 

Als ich nicht mehr gefüttert werden musste und mir, kurz darauf, auch den Po selber abwischen konnte – trocken war ich zum Stolz der Großmutter bereits mit einem Jahr –, hatte mein Vater damit begonnen, mich manchmal an den Wochenenden bei den Großeltern abzuholen, um mit mir die Kirmes, einen Freizeitpark oder einen Abenteuerspielplatz zu besuchen. Für die erste Landpartie musste mich die Großmutter zum Vater ins Auto tragen und auf dem Rücksitz anschnallen. Hysterisch wehrte ich mich, ich strampelte und heulte mit hochrotem Kopf, bis wir in einem Wildgehege ankamen, in dem ich gemeinsam mit Asta die bereits stark gemästeten Rehe mit Trockenfutter traktieren durfte.

Der Vater war mir fremd und unheimlich. Nichts an ihm war wie bei den Menschen meiner häuslichen Umgebung. Das begann schon mit der Sprache. Er fand manche Dinge okay und nicht nur in bester Ordnung. Er sagte Hallo anstelle von Guten Tag und steckte beim Gehen die Hände – am geöffneten Jackett vorbei – in die Hosentaschen. In den Augen der Großeltern eine schlechte Angewohnheit. Die konnten diese Art umherzustolzieren schon bei Showmastern wie Blacky Fuchsberger und Hans-Joachim Kulenkampff im Fernsehen nicht ausstehen.

Mein Vater hatte in den Jahren seines Witwerdaseins zudem eine starke Allianz mit seiner älteren Tochter gebildet. Im Profil sahen sie sich verblüffend ähnlich, sie lachten auf dieselbe Weise und über das Gleiche und hatten beide denselben geraden Gang. Das Befremdlichste an meinem Vater war für mich allerdings, dass er ein Mann war. Männer kannte ich nicht. Um mich kümmerten sich ausschließlich Frauen. Großmutter und Tante Uta, der Großvater war nicht primär der Mann, er war Arzt. Sein weißer Kittel war gleichsam seine weiße Weste. Bekam er abends von mir ein Gutenachtküsschen auf die Wange, sagte er, der bekennende Atheist, gespielt unwillig: «Geh mit Gott, aber geh.»

Großvater nannte mich «Es», mit einem langen E. «Was will Es trinken?», wurde ich gefragt, wenn wir in ein Café einkehrten, und Großmutter wusste die Antwort.

An dem Sonntag, an dem ich mit dem Vater zum ersten Mal zur Kirche gehen sollte, zog mir die Großmutter das braune Samtkleid an, das man mir für die Hochzeit einer Cousine gekauft hatte – die musste mit siebzehn heiraten, weil sie sich auf dem Schützenfest von einem Streifenpolizisten hatte schwängern lassen. Links und rechts noch eine orange Stoffnelke ins rote Haar gesteckt, schon war ich fertig. Und grüß die Oma schön. Welche Oma?

 

Nie zuvor hatte man von mir verlangt, eine geschlagene Stunde lang stillzusitzen. Während des Gottesdienstes saß ich zwischen dem Vater und der Oma. Es gab nichts zu tun an diesem Sonntag, noch nicht einmal etwas zu sehen in dem schmucklosen, weiß gekalkten Gebetssaal. Ich fürchtete mich erst vor der Stille, dann vor den Gesängen und schließlich vor der dröhnenden Orgel. Während des gemeinsamen Gebets begann ich leise zu summen, dann lief mir die Nase, und ich zog den Rotz hoch. Ich löste die gefalteten Hände, zog mit der einen Hand an den Fingern der anderen und ließ die Knöchel knacken. Die Langeweile verwandelte sich in bohrenden Schmerz, immer stärker wurde der Druck auf meiner Brust, und meine Waden begannen zu kribbeln. Die Beine zappelten ganz von allein. Mehrfach ermahnte mich die Oma flüsternd stillzusitzen. Dann, auf einmal, umfasste sie mit ihrer Linken blitzschnell meine beiden Hände und presste sie in einer Art Klammergriff auf meine dünnen Beine. Ruhe war. Es starrte diese fremde Frau in Schockstarre an. Sie wiederum blickte ungerührt in die Richtung des großen Holzkreuzes am Ende des Saals und drehte ab und zu an den Rädchen ihrer hautfarbenen Hörgeräte. «Aber warum hast du denn so große Ohren?» Auch ihre Nase war groß, sogar noch größer, aber von der gleichen Form wie die meines Vaters. Alles an ihr war grau, das Haar, die Haut, die Augen und wohl auch ihr Gemüt. Niemals zuvor hatte ich einen so farblosen Menschen gesehen, und noch nie hatte mich jemand so hart angefasst. Mir liefen die Tränen über die Wangen, obwohl ich von den Ausflügen mit dem Vater wusste, dass Tränen bei den Rautenbergs keinerlei Wirkung zeitigten. Auch mein Vater schaute mich nicht an, er starrte ebenfalls wie gebannt nach vorn, zur leeren Kanzel, wo der Pfarrer gerade abtrat. Der gemischte Chor sang unsichtbar von einer rückwärtigen Tribüne ein Lied. Hosianna – was das nur bedeuten mochte?

Großmutter, liebe Großmutter, ich will sofort zu dir, hol mich hier raus.

Ich begann zu schluchzen, und Oma Mariannes Griff wurde noch etwas fester. Plötzlich reichte mir jemand von der hinteren Bankreihe ein Bonbon über die Schulter. Da ich durch Oma Mariannes Umklammerung die Gabe nicht annehmen konnte, wurde es mir von der freundlichen Unsichtbaren in den Mund gesteckt. Es war rosa, die Zuckerhülle krachte, als ich draufbiss, und es schmeckte nach Pfefferminz. Ein Bonbon, auf dem man kauen konnte. Das war eine neue, ganz tolle Sensation. So etwas kannte ich noch nicht. Ich hörte auf zu weinen, und die Oma löste den Griff, faltete ihre Hände in ihrem Schoß zu einem erneuten Gebet und neigte den Kopf zur gemeinsamen Fürbitte.

Bei allen Kirchgängen in den vielen darauffolgenden Jahren saß immer Tante Jutta mit den Mentos in der Handtasche in meiner Nähe und versorgte mich in tröstlichen Abständen mit den weißen und rosa Bonbons. So blieb für mich der Protestantismus immer mit dem befreienden Mentholgeschmack des Zähneputzens verbunden.

 

Am Abend, wieder im Kinderzimmer mit den rot-weiß karierten Gardinen, setzte sich die Großmutter zu mir auf die Bettkante und küsste mich auf die Stirn. «Schlaf gut.»

Im Rausgehen drehte sie sich noch einmal um. «War der Tag mit deinem Vater schön?» Ich nickte. «Ja, ja, alles gut.» Was sollte ich sagen? Ich mochte es nicht, wenn Großmutter sich Sorgen machte.

2

Inga hört das geschäftige Treiben auf dem Wohnungsflur und das Tassenklappern in der Küche. Sie liegt in ihrem Bett im Kinderzimmer, wie der Raum, in dem sie mit der zwei Jahre älteren Uta schläft, immer noch genannt wird, obwohl die beiden schon lange keine Kinder mehr, ja noch nicht einmal mehr Backfische sind. Das Bett auf der anderen Zimmerseite ist leer, ihre Schwester ist längst auf. Uta ist Frühaufsteherin, und sie hat schwarze Locken. Ihr ganzes Wesen, ihr Naturell, aber erst recht ihr Äußeres, alles verhält sich genau umgekehrt wie bei Inga. Schwestern können sich nicht unähnlicher sein. Bestimmt deckt Uta gerade mit Papi den Tisch. Ihr Vater ist für die Zubereitung des Frühstücks zuständig, alles andere, aber auch wirklich alles nur Erdenkliche an Verrichtungen im Haushalt, besorgt die Mutter. Für die Familie ist sie zuständig, aber zuallererst für den Ehemann, von dem behauptet wird, er könne trotz größten handwerklichen Geschicks noch nicht einmal einen Dosenöffner benutzen. Das ist eine Masche, wie allen klar ist, aber sie zieht. Wer an der Spaltlampe mit ruhiger Hand die dicksten Fremdkörper aus einer Hornhaut herausfräsen kann, der könnte durchaus auch Kartoffeln schälen. Nichts spräche dagegen, dass er auch einmal einen Knopf annähen würde, so geschickt, wie er Schlupflider operiert und den grauen Star sticht. Aber Hausarbeit ist keine Männersache, da ist sich das Ehepaar Lüdersheim einig. Für das Frühstück jedoch gilt die eine Ausnahme. Darum wenigstens muss Lotte sich nicht kümmern, nie, niemals in ihrem gesamten Eheleben.

Während ihr Mann den Kaffee aufsetzt, nimmt sich die Mutter im Bad die Lockenwickler aus dem Haar, auf denen sie samstagnachts schläft. In der Woche stehen sie um halb sieben auf, an den Wochenenden um halb acht. Alles in diesem Haushalt ist minuziös geplant. Die Brötchen sind abgezählt und portionsweise eingefroren und werden jeden Morgen exakt für zehn Minuten im vorgeheizten Backofen aufgebacken. Das Kaffeepulver wird löffelweise auf die Personenanzahl berechnet und das Kaffeewasser im Messbecher abgemessen, Litermaß genannt. Und doch heißt es manchmal: Nein, was ist der Kaffee heute stark, da bleibt einem ja der Löffel drin stecken. Oder auch: Was ist denn das für ein Wischwasser, man sieht ja den Tassenboden durch die Plörre.

«Ich glaub, es wird einmal ein Wunder geschehn.»

 

Sonntags gibt es für jeden ein weichgekochtes Ei. Ist Ingas Vater gutgelaunt, zeichnet er mit der ruhigen Hand des Augenarztes kleine Bilder auf die Eier. Den DKW zum Beispiel, mit dem die Familie früher Ausflüge in die Eifel und an den Rhein unternahm, oder einen funkelnden Kettenanhänger für seine Frau, den sie sich zum Geburtstag wünscht und von dem alles andere als klar ist, ob sie ihn jemals bekommen wird. Wird dann der Eierwärmer gelüftet, ruft Lotte begeistert aus: «Nun schaut doch mal, wie schön der Papi zeichnen kann», als wäre das etwas ganz Neues, Unerwartetes. Und tatsächlich – es qualmt aus dem Auspuff des Autos, und die Scheibenwischer scheinen sich, winzig klein, hin und her zu bewegen. Hans’ Laune ist an diesen Sonntagen meistens blendend. Das erkennt man nicht nur an den verzierten Eiern, sondern auch an dem Blumenstrauß, der auf dem Wohnzimmertisch steht und der Lotte überraschen soll. Er hat ihn mit einem Fünfmarkstück aus dem messingbeschlagenen Automaten vor dem benachbarten Blumenladen gezogen, der gegenüber dem Krankenhaus liegt. Man wirft die Münze in den Schlitz und kann dann mit einem Ruck eine Schublade öffnen und die in Zellophanpapier eingewickelten Chrysanthemen, Rosen oder Gerbera entnehmen, deren drahtverstärkte Stängel in kleinen Wasserbehältern stecken. Seitdem Uta und Inga samstagabends zum Tanz zu Brinkmanns Hof gehen, gibt es sonntags Blumen. Diese Gleichzeitigkeit zwischen der sturmfreien Bude der Eltern und den Blumenpräsenten des Vaters verleitet die beiden Mädchen regelmäßig zu albernen Bemerkungen. Was die Eltern wohl so treiben, wenn die Töchter nicht zu Hause sind? Dafür reicht ihre Phantasie eigentlich gar nicht.

Vor zwei Monaten ist Inga großjährig geworden. An ihrem einundzwanzigsten Geburtstag hat sich Wilhelm mit ihr verlobt. Er führte sie zu diesem feierlichen Anlass in ein Restaurant in Köln aus, mit bodenlangen Tischdecken und Rheinblick, und überreichte ihr zwischen Krabbencocktail und Bœuf Stroganoff einen Verlobungsring mit Brillant. «Welcher Monat ist dir lieber, Mai oder September?», hatte er gefragt und sich dann mit sich selber auf den Juli geeinigt. Danach passt es ihm nicht mehr, dann ist Turniersaison.

«Du musst aber doch noch Papi fragen», erinnerte Inga ihn, nicht im mindesten irritiert darüber, dass er formell gar nicht um ihre Hand angehalten hat. Sein Heiratsantrag ist eher eine gemeinschaftliche Feststellung – Zweifel ausgeschlossen.

Einen Tag später sitzt Wilhelm also vor Hans im Wohnzimmer der Familie Lüdersheim und die beiden wiederum vor zwei Cognacschwenkern mit Asbach Uralt. Der Vater hat sich zur Feier des Tages eine Zigarette der Marke Krone angezündet, die er sonst nur zur Feier des Wochenendes raucht, nach dem Mittagessen am Sonntag.

«Sie haben doch nichts dagegen?», hatte Wilhelm forsch gefragt.

«Hans, ab jetzt für dich bitte Hans», hatte der zukünftige Schwiegervater nur geantwortet. Inga und Uta hatten währenddessen gemeinsam an der Wohnzimmertür gelauscht und kichernd nach Luft geschnappt. Dieser ernste Ton des Vaters ist aber auch wirklich zum Piepen. Wilhelm dagegen wirkt sehr souverän, als sei er geradezu auf Heiratsanträge spezialisiert.

Später, in der Nacht, umarmte Hans seine Frau über die Besucherritze des Ehebetts hinweg und bemerkte wehmütig: «Unser Püppi …», und Lotte streichelt ihm über die Wange und versucht, ihn zu beruhigen. «Etwas Besseres kann ihr doch gar nicht passieren.» Das weiß Hans so gut wie sie, nur traut er Männern, die im Sitzen die Knie breitbeinig übereinanderschlagen, sodass man den Sockenbund und ein Stückchen haariges Bein sehen kann, einfach nicht über den Weg.

 

Inga kann sich an diesem Sonntagmorgen nicht entschließen aufzustehen, weil sie Sonntage nicht ausstehen kann. Frühstück, Mittagessen, Kaffeetrinken, Abendbrot – der Sonntag kommt ihr vor wie ein besonders schwerer, fettiger Eintopf, der müde macht und lustlos, weil man genau weiß, dass immer dasselbe drin ist. Wilhelm hat sonntags keine Zeit für sie. Am Morgen muss er als Erstes in die Kirche. Seine Mutter besteht darauf. Danach geht es in ein Gasthaus, oder es gibt bei Marianne einen Sonntagsbraten, zu dem auch der Bruder Karl mit seiner Familie erscheint. Inga war auch schon einmal dazu eingeladen, es gab schlabbrigen Kopfsalat mit Kondensmilch, Zucker und Dosenmandarinen. Das Essen war so ungenießbar wie die Schwiegermutter – besser ist es, dass sie ein solches Mittagsmahl nie wieder mitmacht.

Nach dem Essen wird Wilhelm nicht, wie wochentags, sein Mittagsschläfchen halten, sondern sogleich die Pferde «bewegen».

Nach der Verlobung könnte sie jetzt eigentlich auch am Samstagabend bei Wilhelm übernachten – ihre Eltern hätten nichts dagegen, das weiß Inga. Doch Wilhelm macht keine Anstalten, sie zu sich zu bitten, und als sie einmal eine Andeutung macht – «Du könntest mir doch heute Abend mal unser neues Bett zeigen» –, fährt sie Wilhelm trotzdem nur auf den Parkplatz der Tanzdiele. «Nein», sagt er, «das wäre Mutter nicht recht», und sie gibt vor zu verstehen und kommt sich dabei sehr erwachsen vor, aber in Wirklichkeit versteht sie die Hinhaltetaktik nicht. Seit der Verlobung könnte sie auch mit in die Kapelle kommen. Ihre Anwesenheit wäre dort sogar gern gesehen. Vor allem die älteren Herrschaften würden sich freuen, sie lieben Wilhelms junge Braut, die an eine der Hollywood-Schauspielerinnen aus den neuen Modemagazinen erinnert. Inga bekommt gar nicht genug von den bewundernden Blicken und den Komplimenten der älteren Herren. Da macht es auch nichts, dass deren Gattinnen häufig gar nicht so begeistert dreinschauen. Immerhin: «Inga ist so schön wie diese Grace Kelly», flüstert eine der dürren Damen an Weihnachten in der Bank hinter ihr der Sitznachbarin zu, das hört Inga natürlich gern. Eine Freundin von Wilhelm hingegen verglich sie unlängst mit Ingrid Bergman. Na, das geht ja wohl doch zu weit. Das ist nicht freundlich. Hat Inga etwa eine große Nase, einen watschelnden Gang und Plattfüße?

Heute ist Inga jedenfalls ganz froh, nicht in die Kirche gehen zu müssen, ihr Kopf brummt ein wenig von dem allzu lieblichen Mosel, und reden möchte sie auch nicht. Erst recht nicht am Frühstückstisch, an dem ihre Familie bereits in Plauderlaune sitzt. Sie öffnet die Zimmertür, und Billy, ihr Hund, stürmt auf sie zu. Inga schlägt sich mit beiden Händen auf ihr Dekolleté, und er springt ihr in einem weiten Satz auf den Arm. Als Kind hat sie den Pudel dressiert wie ein Zirkustier. Als sie ihn wieder absetzt, rennt er in wilder Hatz durch den Korridor, um den Esszimmertisch, hüpft auf die Wohnzimmersessel, jagt hinter dem Sofa entlang und nimmt ein Stück des bodenlangen Spitzenvorhangs mit, der ihm kurz wie ein Brautschleier auf der Pudelkrone sitzt. Die Freude ist groß, dass das Frauchen endlich wach ist.

Schon bald, nach der Heirat, werden sich ihre Wege trennen. Billy wird bei Mami und Papi bleiben. Wilhelm hat schon einen Jagdhund, in einem Zwinger, Hunde kommen ihm nicht ins Haus, zudem kann er Pudel nicht ausstehen.

 

Um Viertel vor zehn steigt Marianne unsicheren Schrittes die Treppe von ihrer Etage hinab zu Wilhelm. Neuerdings machen ihr die Knie zu schaffen. «Ihnen liegen die Nerven blank», so die Diagnose des Hausarztes Dr. Westerhoff. Was das nun wieder heißen mag? Das wäre ja noch schöner, wenn einem der Kummer auch noch lahme Beine bescheren würde.

Wilhelm hatte Marianne zum Frühstück gerufen. Zum ersten Frühstück in seinem neuen Esszimmer, mehrmals sogar. Aber sei es, dass die Mutter die Hörgeräte noch nicht eingesetzt hatte oder es vorzog, in ihrer eigenen Küche zu brüten, er musste seinen Tee alleine trinken.

Sie erscheint dann pünktlich zum Aufbruch in die Kirche im Erdgeschoss. Marianne hat Kölnisch Wasser aufgelegt. 4711, die Notrufnummer der Frische und Reinlichkeit. Sie trägt den Schneefuchs um den Hals, der sich selbst in die buschige Rute beißt, und schweren Witwenschmuck am Revers ihres Seidenkostüms. Ein bescheidenes Äußeres sollen die Mitglieder der Gemeinde pflegen, so lautet die ungeschriebene Regel, an die sich die Brüder und Schwestern nicht immer halten. Wann, wenn nicht sonntags, soll man die guten Sachen denn ausführen? Der Gottesdienst ist das einzige gesellschaftliche Ereignis im Ort. Nur am Sonntagmorgen und am Weihnachtsabend sieht man Marianne ohne ihre verwaschene Kittelschürze. Prunksüchtig wirkt Marianne auch im Pelz nicht – das liegt an ihrer ernsten Miene, dem akkuraten Mittelscheitel und der protestantischen Strenge, die aus alldem spricht.

Als der Sohn, die Mutter am Arm eingehängt, nun die Auffahrt Richtung Garage hinabschreitet, fällt sein Blick auf das Dorf im Tal. Was für einen schönen Ausblick man doch von hier oben hat! Hoch über dem Firmengelände kann man über das kleine Eichenwäldchen, über Wiesen und Weiden bis in die Ruhrauen blicken. Von dort dringt wochentags ein Dröhnen, Knarzen und Quietschen den Berg hinauf, und nachts blinken in unregelmäßigen Abständen bunte Lichter. Das ist das mächtige Stahlwerk im Ort, der größte Steuerzahler der Region. Aus den kleinen Schlossereien an der Ruhr ist in den vergangenen hundert Jahren ein Zentrum der metallverarbeitenden Industrie geworden. So manch ein pfiffiger Unternehmer hat sich in der letzten Zeit von der Herstellung einbruchsicherer Schlösser ein alarmgesichertes Wasserschloss kaufen können. Die Firma Rautenberg ist ebenfalls zu einer ansehnlichen Größe herangewachsen. Die sogenannten Dörnkes, die kleinen Stifte in den Gewehren, die Wilhelms Vater im Krieg hatte drehen lassen, waren es, die ihn, zugegeben, zu einem noch sehr überschaubaren Wohlstand gebracht hatten. Aber immerhin. Ohne den alten Karl gäbe es heute keine Rautenberg’sche Maschinenfabrik, dem ist als Ingenieur soeben eine bahnbrechende Idee gekommen: die Entwicklung explosionsgeschützter Hallenfahrzeuge, ideal für die Farben- und Chemieindustrie. Aber das revolutionäre Gerät muss erst noch entwickelt werden. Bis dahin also strengste Geheimhaltung!

 

In der Talsenke sieht man den Wetterhahn auf dem Kirchturm der katholischen Dorfkirche, daneben ragt ein großer gelber Baukran in den strahlend blauen Frühlingshimmel. Hier wird gerade ein moderner Kasten gebaut, ein Behindertenzentrum, in dem die körperlich und auch geistig Beeinträchtigten demnächst eine Berufsausbildung erhalten sollen. Das Krüppelheim, wie Marianne sagt. Ein Heim für körperlich und geistig Versehrte gibt es im Dorf schon seit Anfang des Jahrhunderts, aber was diesen Menschen seit neustem beigebracht werden soll, welche Fabrik diese an allen Fronten zu kurz Gekommenen einstellen soll, das ist Marianne schleierhaft. Verschleiert ist seit kurzer Zeit auch ihr Blick, sie sieht keinen Baukran, selbst das Wäldchen hinter dem Gartenzaun erscheint ihr als milchiges Dickicht. Ein grauer Star kündigt sich an, aber bisher ignoriert Marianne den Nebel.

Wilhelm freut sich jeden Tag aufs Neue über die unverbaubare Aussicht vor dem Wohnzimmerfenster. Bauer Heidkötter – mit dem hat er schon die Schulbank gedrückt – gehören die Koppeln unterhalb seines Grundstücks. Rundherum scheint es in den letzten Jahren, als ob die Siedlungshäuser stetig den Berg hinaufkröchen. Schon sieht man auf dem gegenüberliegenden Hügelsaum langgezogene Wohnblöcke, versetzt aufgestellt wie Dominosteine. Es wird wie wild gebaut, für die Arbeiter der umliegenden Fabriken. Die Wirtschaft läuft. Und die Geschäfte gehen fabelhaft. Nicht wenige Bauern verscherbeln jetzt ihr Ackerland und können sich von dem Erlös plötzlich mehr als nur einen Sportwagen leisten. Aber Dieter Heidkötter wird seine Wiesen nie verkaufen, darauf hat Wilhelm seinen Handschlag. Wo sollten Dieters zahlreiche Milchkühe denn sonst auch grasen?

Zum Dank hat Wilhelm Dieters Jüngstem einen Ausbildungsplatz in der Rautenberg’schen Vertriebsabteilung besorgt, sicher ist sicher. Dabei bestand dessen Zeugnis aus lauter Vieren, und der Filius machte auch sonst stark den Eindruck einer tauben Nuss.

Die einzigartige Lage des Elternhauses ist ein guter Grund, warum sich Wilhelm, jetzt, da die Hochzeit mit Inga bevorsteht, kein neues Haus gesucht oder gebaut hat. Doch der Dauerkonflikt mit Marianne ist mit dem Einzug Ingas vorbestimmt und der Krach so sicher wie das gemeinschaftliche Gebet in seiner Kirche, das weiß auch Wilhelm. Aber das Elternhaus, seit ein paar Monaten vom schlichten Klinkerbau zur weißen Villa umgebaut, liegt einfach zu schön. Im Grünen, hoch oben. Über den Fabrikhallen, dem Büro und dem Haus des Bruders, und doch sind es nur wenige Meter bis zum «Geschäft» – wie Wilhelm die Firma nennt. Und der neue Anbau bietet genügend Platz für Inga und das Kind, das sie sich wünscht. Der Nachwuchs ist schon besprochene Sache. Ein Kind, mehr braucht es nicht, man will ja schließlich noch etwas haben von dem schönen Leben.

 

Über den ausschlaggebenden Grund für den komplizierten Umbau seines Elternhauses redet Wilhelm nicht, und doch kennt ihn jeder. Seine beiden Schwestern sind im Rheinland verheiratet, und sein Bruder hat eigene familiäre Sorgen, der will sich nicht mit der Mutter herumschlagen. Wilhelms Befürchtung ist nun, dass die strenge Mutter und seine lebenslustige Auserwählte nicht so recht zueinander passen könnten. Marianne hat noch nie mehr als nur das Nötigste mit der Schwiegertochter in spe gesprochen. Nun ja, die Damen werden sich schon aneinander gewöhnen. Oder eben lernen, sich aus dem Weg zu gehen, hofft er.

Langsam chauffiert er Marianne ins Tal, wo bereits die neue Glocke der Freien Evangelischen Gemeinde zum Gottesdienst ruft. Wilhelm kann keinen Unterschied zur alten hören. Für Glockengeläut im Speziellen interessiert er sich so wenig wie für Musik im Allgemeinen. Er parkt in der Zufahrt zur Kapelle. Im absoluten Halteverbot, der Feuerwehrausfahrt. Vorbei die Tage, an denen für die Gläubigen die Benutzung der Bahn oder eines sonstigen Fuhrwerks eine Entheiligung des Sonntags darstellte. Die Gemeindemitglieder in ihren Kleinwagen und Limousinen suchen nach den letzten Parkplätzen in Laufnähe. Während Wilhelm Marianne den Wagenschlag aufhält und sie sich mühsam vom Beifahrersitz hievt, blickt er versonnen zum Glockenturm hinauf. Vor kurzem hat ihn die Gemeinde um eine Spende für dieses hohle Monstrum gebeten, und die Firma Rautenberg hat kurzerhand die Glocke mitsamt dem ganzen Glockenstuhl gespendet. Sollen ruhig alle sehen und hören, dass es wie am Schnürchen läuft mit den Rautenberg’schen Werkzeugen – das kann gar nicht schaden.

 

Im Vorraum des Gemeindehauses ist es klamm und das ganze Jahr über kühl. Ein unablässiger, kaum merklicher Luftzug führt zu kollektiven Nackenverspannungen. Dennoch halten sich alle Brüder und Schwestern erst einmal eine Weile im Entree auf, schütteln Hände, reden gedämpft und getragen miteinander. Der immer gleiche Geruch von Leichenschmaus – dünner Filterkaffee mit Leberwurstbrötchen und Streuselkuchen auf Margarinebasis – hängt in der Luft. Wilhelm bahnt sich seinen Weg durch die Grüppchen, während Marianne von Schritt zu Schritt schwerer an seinem Unterarm hängt. Sie zieht in Richtung Gebetssaal, zu den harten Kirchenbänken, die ihr nichts anhaben können, da die rote Henkeltasche, die sie beim Gehen schwenkt, in Wahrheit ein aufklappbares Sitzkissen aus Frottéstoff ist.

Es ist gar nicht so einfach, an Hunderten Geschwistern vorbei in den schmucklosen Versammlungsraum zu gelangen. Immer wieder legen sich Arme um Mariannes schmale Schultern, ruhen schwere Hände auf Wilhelms Rücken. «Na, wie isses?», wird gefragt und «Es muss, es muss» oder «Ich kann nicht besser klagen» geantwortet.

Im September wird Wilhelm hier seine Inga vor den Altar führen, den es in der freikirchlichen Gemeinde freilich nicht gibt. Er wird deutlich ja sagen und Inga natürlich auch, vielleicht sogar noch etwas lauter.

Wilhelm und Marianne brauchen sich nicht zu beeilen, ihre Plätze einzunehmen, die Sitzordnung im Saal bleibt über Generationen gleich und wird im Todesfall vererbt. Die Rautenbergs setzen sich auf die Bank im letzten Drittel des Saals, in den Gang mit der Beinfreiheit. Wilhelm beruhigt das, weil die Bank an einem Durchgang gelegen ist und eine günstige Fluchtmöglichkeit zum Hinterausgang bietet. Nach der Kriegsgefangenschaft hat es Jahre gedauert, bis er sich wieder in einen Raum mit mehreren hundert Menschen und nur zwei kleinen Türen getraut hat. Schnell wegkommen ist inzwischen sein Lebensmotto, vorwärts genauso wie im Rückzug – je nachdem, welche Bewegung angesagt ist.

Er geht auch gern, wenn andere gerade erst kommen. Wenn man es genau bedenkt, dann befindet er sich seit dem Lager auf der Flucht. Aber die nächste Stunde hält Wilhelm tapfer an Mariannes Seite durch.

 

Die Orgel erschüttert die Gemeinde, der Männerchor singt «Geh aus, mein Herz, und suche Freud». Einer der Brüder betet im Stehen laut für die Gemeinde. Die anderen Brüder und Schwestern rascheln mit den Dünndruckblättern der Gesangbücher und suchen die Nummern der Lieder, den Blick auf die Messinglettern, die in drei Schienen übereinander auf der weißen Wand stecken. Pastor Lenz betritt die Kanzel, die Lautsprecher an der Decke pfeifen. Margarete hält sich die Ohren zu. Bruder Lenz hat die Angewohnheit, während seiner anschaulichen Predigten im Tonfall immer leichter, leiser und sanfter zu werden. Nach wenigen Minuten schon kippen die ersten Köpfe in den Bankreihen nach vorn, auch in Mariannes Atem mischt sich ein feines Pfeifen. Da dröhnt von der Kanzel laut und plötzlich wie ein Donnerschlag das achte Gebot: «Du sollst nicht falsch Zeugnis reden.» Durch die Gemeinde geht ein Ruck der Erweckung, geraunte Zustimmung. Pastor Lenz lächelt beim Anblick seiner ausgeschlafenen Schäfchen – weiter geht’s.