Transitmaus - Eva Sichelschmidt - E-Book

Transitmaus E-Book

Eva Sichelschmidt

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Beschreibung

Eine Fluchtgeschichte: Ein Mädchen will erwachsen werden, sie will Spaß. Im düsteren, lange schon mutterlosen Elternhaus am Rande des Ruhrgebiets ist der gewiss nicht zu finden. Doch in diesem Winter 1988 tönen Sirenenklänge von einer glitzernden Insel im grauen, realsozialistischen Meer: West-Berlin. Dort glaubt sie zunächst, in einem Fotografen ihre neue Liebe gefunden zu haben. Sie stürzt sich in das Leben dieser seltsamen Metropole, deren bekanntester Club nicht von ungefähr «Dschungel» heißt. Doch der Freund entpuppt sich als Filou, und auch diverse andere Bekanntschaften taugen kaum als Ersatz für den fernen Vater, zu dem sie immer mehr den Zugang verliert. Sie weiß nicht, wie schlimm es um ihn steht, zu sehr ist sie selbst gefangen in einem Sog aus Lügen und Betrug, in dieser Stadt zwischen Mauern, gebaut wie für die Ewigkeit …

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Seitenzahl: 329

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Eva Sichelschmidt

Transitmaus

Roman

 

 

 

Über dieses Buch

Eine Fluchtgeschichte: Ein Mädchen will erwachsen werden, sie will Spaß. Im düsteren, lange schon mutterlosen Elternhaus am Rande des Ruhrgebiets ist der gewiss nicht zu finden. Doch in diesem Winter 1988 tönen Sirenenklänge von einer glitzernden Insel im grauen realsozialistischen Meer: Westberlin.

Dort glaubt sie zunächst, in einem Fotografen ihre neue Liebe gefunden zu haben. Sie stürzt sich in das Leben dieser seltsamen Metropole, deren bekanntester Club nicht von ungefähr «Dschungel» heißt. Doch der Freund entpuppt sich als Filou, und auch diverse andere Bekanntschaften taugen kaum als Ersatz für den fernen Vater, zu dem sie immer mehr den Zugang verliert. Sie weiß nicht, wie schlimm es um ihn steht, zu sehr ist sie selbst gefangen in einem Sog aus Lügen und Betrug, in dieser Stadt zwischen Mauern, gebaut wie für die Ewigkeit …

Vita

Eva Sichelschmidt wuchs am grünen Rand des Ruhrgebiets auf. 1989 zog sie nach Berlin, wo sie als Kostümbildnerin für Film und Oper arbeitete und erst ein Maßatelier für Abendmode, dann das Geschäft «Whisky & Cigars» eröffnete. 2017 erschien ihr erster Roman, Die Ruhe weg. Ihr zweiter, Bis wieder einer weint, war u. a. für den Deutschen Buchpreis nominiert. 2022 war sie zum Bachmann-Wettbewerb eingeladen. Eva Sichelschmidt lebt in Rom und Berlin.

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, August 2023

Copyright © 2023 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

Zitate: S. 7 Zauberland. Text: Rio Reiser; S. 263 f. Jörn Pfennig, Liebes-Erklärung, aus: Keine Angst dich zu verlieren, Heyne Verlag; S. 264 Jörn Pfennig, Da erst, aus: Grundlos

zärtlich, Edition Talberg

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

Covergestaltung und -abbildung Nurten Zeren, Berlin

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-644-01384-1

www.rowohlt.de

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

Für Elke

Die Wolken ziehen

Von West nach Ost

Ich lieg’ im Bett

Und denk’ an dich

Und wie es früher war

 

Rio Reiser

Mein Vater trug ein Paar unterschiedliche Schuhe. Am linken Fuß einen Slipper aus braunem Veloursleder, mit kleinen Troddeln über dem Spann, am rechten eine Art Budapester, einen festen Schnürschuh mit gestanztem Lochmuster in Bordeauxrot. Verschiedener konnten Herrenschuhe kaum sein. Ich berührte ihn leicht am Ellenbogen, und er zuckte zusammen. Auf der Empore erhob sich, mit den Gesangbüchern raschelnd, der gemischte Chor. Tochter Zion, freuheuheuheue dich.

«Hey», flüsterte ich. «Deine Schuhe!»

Mein Vater schaute auf seine Füße, wippte erst mit den Zehen in dem Slipper und scharrte dann mit dem Schnürschuh auf dem Boden. Sein Blick schweifte unsicher von links nach rechts und wieder zurück, als würde er die zwei dazu passenden Exemplare irgendwo unter der Kirchenbank vermuten.

Der Pastor stieg ein letztes Mal auf die Kanzel und gab der Gemeinde ein Zeichen, sich für den Segen zu erheben. Mein Vater wuchtete sich neben mir aus der Bank. Der Pastor gedachte noch einmal der Toten des Flugzeugunglücks in Schottland und bat darum, für deren Angehörige zu beten – amen. Die Brüder und Schwestern schmetterten inbrünstig das Abschlusslied. «O du fröhliche».

Mein Vater sang nicht, er starrte weiter ungläubig auf seine Füße.

«Na, so was, ich war wohl in Gedanken. In der Garderobe funktioniert das Licht nicht, da müsste man mal die Glühbirne wechseln.» Er tippte sich an die Stirn und lachte. «Vielleicht sollte meine Birne auch mal gewechselt werden.»

Ich war erleichtert. Wenn er lachte, war die Welt in Ordnung.

Wie immer an Heiligabend war die Kirche überfüllt. Die Luft roch nach Haarspray und Mottenpapier, die Menschenmassen hatten den Saal in den zwei Stunden aufgeheizt, rosig glühten die Gesichter der Gemeindemitglieder, die während der letzten Orgelklänge zum Ausgang drängten, eine Schafherde in Festtagskleidung.

Ob jemand das ungleiche Paar Schuhe bemerkt hatte? Hinter uns trug eine Frau im himmelblauen Umstandskleid mit beseeltem Lächeln ihre kleinen Kinder links und rechts auf der Hüfte. Neben uns ging eine Dame mit Schildpattkamm im donaugewellten Haar, schwerer Silberschmuck überdehnte ihre Ohrläppchen. Hinter uns schlurfte mit gebeugten Knien ein ergrauter Herr, sein Wanderstock klackerte über den Kirchenboden. Mein Vater kannte hier alle beim Namen. Die Älteren unter ihnen sprach er, selbst über sechzig, immer noch mit Tante und Onkel an. Früher waren wir jeden Sonntag zur Andacht erschienen, doch seit einigen Jahren ließen wir uns nur noch selten blicken, an den üblichen kirchlichen Feiertagen. Dennoch war es ihm immer noch wichtig, dass die Leute keinen Anlass bekamen, über uns zu reden. Mir hatte er an Sonntagen das Tragen von Make-up und Netzstrümpfen verboten, der Lederminirock hätte für seinen Geschmack ohnehin in den Müll wandern können.

«Was sollen denn die Leute denken?»

Verkehrte Welt, inzwischen war ich es, die sich Sorgen machte. Sollten die Gemeindemitglieder doch von mir halten, was sie wollten, das war mir egal, aber ein Recht, über ihn zu tuscheln, hatte hier keiner. Und es war nicht zu übersehen gewesen, wie die alten Weiber bei unserem Eintritt in die Kirche die weiß gelockten Köpfe zusammengesteckt hatten.

«Mein Gott, hat der Rautenberg abgebaut. Und in so kurzer Zeit …»

Der Erfolg hatte meinen Vater sein Leben lang gegen Tratsch und schlechte Nachrede imprägniert und sein Charme gegen den Neid. Doch nach dem Bankrott der Firma im vergangenen Sommer war alles anders geworden. Jetzt überwachte ein Schrittmacher seine Herzschläge. Ein diffuses Kribbeln in den Händen und Füßen machte ihm zu schaffen, dazu kamen Diabetes und Bluthochdruck – längst ersetzte der Tablettenschieber den Wochenplaner des Firmenchefs. Sogar das geliebte Reiten hatte er aufgeben müssen. Inzwischen fraßen die Pferde ihr Gnadenbrot auf der Weide.

Nein, niemandem war das Schuhproblem aufgefallen. Alle hatten nur Augen für den Pfarrer, der auf einmal am Ausgang stand, wie beim Wettlauf von Hase und Igel, und an der Kirchenpforte allen die weiche Hand hinstreckte. Höchstpersönlich wünschte er jedem ein friedliches neues Jahr, ein glückliches 1989 und ein gesegnetes Fest.

Auf Weihnachten hätte mein Vater verzichten können. Den Gottesdienst hatte er über sich ergehen lassen, weil das von ihm erwartet wurde und weil es sich so gehörte. Aber drei stille Tage hintereinander, und dann war auch noch die Gastwirtschaft zu – wofür sollte das gut sein?

Im Schritttempo chauffierte er mich durch die hügelige Landschaft nach Hause. Seltsam tief zurückgelehnt lag er im Sitz, wie ein Kurgast auf der Sonnenliege. In dieser Position konnte er kaum übers Lenkrad blicken. Hatte er nicht längst eine Brille nötig? Der Mercedes war schon ziemlich zerbeult, weiße Kratzer überzogen den dunkelblauen Lack. In letzter Zeit waren meinem Vater eine Menge Hindernisse auf seiner Stammstrecke zwischen unserem Zuhause und der Dorfkneipe in die Quere gekommen.

Auf dem Hof leuchtete eine einzelne kleine Laterne, das Haus und die Reithalle lagen im Dunkeln. Wie stets zu Weihnachten regnete es.

Frau Schmidt, die Haushälterin, hatte in der Küche die kalten Platten angerichtet und war danach zu ihrer eigenen Familie, den alten Eltern, aufgebrochen. Tristan hatte am Morgen die Pferde versorgt, dann war er von seiner Schwägerin abgeholt worden. Er wohnte in einer kleinen Einliegerwohnung in der Reithalle, in der es noch mehr nach Pferd roch als im ganzen Stall. Tristan machte nie Ferien und schlief nur eine einzige Nacht im Jahr nicht in seinem schmalen Bett unter dem Heuboden, am Heiligabend.

Mit einem Beutel voll schrumpeliger Äpfel und alter Brötchen überquerte ich den Hof, dabei ploppten mir die Regentropfen wie kleine Murmeln auf den Kopf. Als ich das Licht im Stall anknipste, standen die beiden Pferde schon an ihren Futterluken. Die alte Stute blinzelte mir erwartungsvoll entgegen, als wären wir verabredet gewesen. Milchglasaugen in Aspik. Der Wallach rieb seinen großen Kopf an den Eisenstangen, aus seinen Nüstern dampfte es. Ich streichelte die dunkle Stelle neben seinem Maul, diesen kleinen Fleck, weich wie Samt, an dem kaum Fell wuchs. Auf der flachen Hand hielt ich ihm ein Brötchen hin, und seine Sandpapierzunge kitzelte über meine Handfläche. Das Tier verströmte die Wärme eines riesigen Heizkörpers. Am liebsten hätte ich mich in dieser stillen Nacht zu ihm ins Stroh gelegt.

Vor dem Stall blieb ich kurz stehen und schmiss der dicken Rottweilerhündin, die die Reitanlage bewachte, ein rohes Kotelett über den Zaun, zur Feier des Tages. «Gute Nacht!»

ACHTUNG SPORTPFERDE stand in großen Lettern auf dem Pferdetransporter. Der würde nie wieder vom Hof rollen. Vaters Karriere als Dressurreiter war beendet. Auf dem letzten Seniorenturnier war er, der einmal den dritten Platz bei der Deutschen Meisterschaft belegt hatte, beinahe vom Pferd gerutscht. Seine Preise, die Zinnpokale und silbernen Platten mit den eingravierten Rangplätzen, verstaubten im Wohnzimmerregal.

Im strömenden Regen lief ich zum Haus zurück. Die ungarischen Hütehunde warfen sich, auf den Hinterläufen stehend, mit gefletschten Zähnen gegen das Zwingergitter, wie tollwütige Eisbären. Was wohl passieren würde, wenn sich plötzlich das Gatter öffnete? Wie lange würde es dauern, bis die Viecher mich zerfleischt hätten? Uwe, der junge Hausfreund meines Vaters, hatte die namenlosen Hunde im letzten Herbst angeschleppt, als Geburtstagsgeschenk.

In der Küche stand mein Vater auf Zehenspitzen. Er suchte etwas, ganz hinten in einem der braunen Hängeschränke. Er trug nun Pantoffeln und hatte den dunklen Anzug mit Hemd und Schlips gegen eine sandfarbene Freizeithose und ein bunt gemustertes Poloshirt getauscht, in dem er aussah wie Richard Burton in einer späten Rolle als kalifornischer Pensionär.

«Weißt du, wo die Schmidt ihre Pflaster versteckt?» Dabei lutschte er am Ballen seiner rechten Hand. Als ich mit dem Verbandskasten aus der Garage ins Haus zurückkehrte, schmetterte der Prominentenchor im Wohnzimmer Do They Know it's Christmas.

«Versuch du doch mal, diese beknackten Dinger aufzubekommen», brummte er, während ich ihm einen strammen Mullverband anlegte.

Eigentlich lag ihm Hausmannskost mehr, doch für Austern ließ er alles liegen. Die Schalen, das wusste ich, durften erst kurz vor dem Verzehr geöffnet werfen. Wenn man einen Spritzer Zitronensaft auf das freigelegte Tier gab, sollte es zucken. Er wartete immer gespannt auf diesen spastischen Reflex. Ich machte mir nichts aus Austern, schlürfte ihm zuliebe aber immer zwei, drei der kalten Schleimbatzen schnell weg.

Für das Weihnachtsessen hatte er extra einen Austerntisch im Heizungskeller aufstellen lassen. An der Kopfseite der Tischplatte war eine chromblitzende Apparatur mit einem Dorn angebracht. Auf dem Tisch lag die große Holzkiste mit den geschlossenen Austern, daneben eine Platte mit einigen von ihm bereits geöffneten Exemplaren und ein Kettenhandschuh. Ich zog den Handschuh über, nahm eine Auster in die Hand und suchte nach der Naht im Saum, die man mit der Spitze des Öffners aufbrechen musste. Mir gefielen die schrundigen Schalen, die aussahen wie Bergmassive im Handschmeichlerformat. Mit diesem komischen Ritterhandschuh bekam ich sie aber nicht richtig zu fassen, immer wieder rutschte ich an dem Öffner ab. Ich zog den Handschuh aus und probierte es mit bloßen Händen. Als ich das bläulich schillernde Innenleben der geöffneten Dinger auf der Platte genauer betrachtete, sah ich feine Blutstropfen, winzige rote Perlen, die in der Flüssigkeit um die Auster herumschwammen, und ich gab auf.

Mein Vater saß mit verbundener Hand auf dem Sofa und schaute zu, wie ich die Kerzen am Baum anzündete. Den Champagner hatte ich bereits entkorkt. Es war nicht der mit dem orangefarbenen Etikett, wie sonst immer, sondern eine Flasche, die Uwe gekauft hatte, bei Aldi.

«Der schmeckt genauso», behauptete mein Vater und bat mich, ihm noch Bier nachzuschenken.

«Jetzt machen wir erst einmal Bescherung», rief er dann aufgekratzt und zog umständlich eine Plastiktüte hinter dem Sofa hervor. Horten, eine Welt voller Ideen.

Schön, wenn an seinem Gemütshorizont wieder die Sonne aufging, denn seine Stimmungswechsel schienen mir so unvorhersehbar wie das Wetter im April. Mit Gegenwind war immer zu rechnen, er ließ es gerne aus heiterem Himmel gewittern. Wenn er zum Mittagessen aus der Firma nach Hause kam, konnte man nicht wissen, welche der vielen verschiedenen Versionen seiner selbst gleich in der Tür erschien. Ein misslungener Vertragsabschluss, zwei Bier zu viel, und der charismatische Firmenchef, der großzügige und liebevolle Vater verwandelte sich in einen unberechenbaren Haustyrannen. Neu jedoch waren die schweren dunklen Wolken, die ihn immer häufiger umgaben.

Früher hatte er mir jeden Wunsch erfüllt, jedes Spielzeug gekauft, das ich im Schaufenster unseres Spielwarenladens bestaunt hatte. Ich war die Erste in der Klasse gewesen, die einen Donkey-Kong-Gameboy besaß, im Gegensatz zu den anderen Eltern hatte er auch mit den neumodischen Videospielen keine Probleme.

«Hauptsache, dir macht’s Freude.»

Seitdem ich für Spielsachen zu alt war, schenkte er mir jedes Jahr Parfum. Ich sprühte mir den neuen Duft auf die Innenseiten der Handgelenke. Opium roch süß und leicht faulig, wie das Gewürzregal im Dritte-Welt-Laden. Er holte noch ein kleines Päckchen mit elastischer Goldschleife hervor, in dem sich eine Schmuckschatulle befand.

Die Brosche habe er extra für mich anfertigen lassen, nach einer eigenhändigen Zeichnung. Ich hatte meinen Vater nur ein einziges Mal zeichnen sehen, als ich in der vierten Klasse an einem Sankt Martin hoch zu Ross verzweifelt war. Mit zittrigem Kugelschreiberstrich hatte er mir einen Reitersmann auf einem Pferd skizziert, und ich hatte die Figur mit Filzstiften ausgemalt.

«Wer hat dir denn diesen aufgesattelten Dackel gezeichnet?», hatte mich der Lehrer damals sichtlich erheitert gefragt.

Ich steckte mir die rotgoldene Rose an den Pulli. Mein Vater rückte ein Stück von mir ab, um sein Werk besser betrachten zu können, und lächelte zufrieden. Das Ding war eines dieser Schmuckstücke, wie sie in Kaufhausvitrinen lagen, federleicht.

Ich wusste, dass Uwe dieses Jahr die Geschenke besorgt hatte. Seitdem der Insolvenzverwalter Vaters Büro gekapert hatte, war der nicht mehr in die Stadt gefahren, weiter als bis zur Kneipe kam er nicht mehr.

Beim Blick auf die altmodische Brosche erfasste mich eine heiße Woge der Rührung. Bestimmt hätte er mir tatsächlich gern mal ein Schmuckstück entworfen. Waren es nicht der Wunsch und die Idee, die zählten? Jetzt tat er mir leid. Wie so häufig in der letzten Zeit.

 

Das Wachs tropfte auf die Christbaumkugeln. Schweigend saßen wir da, während die Kerzendochte leise zischend in ihren blechernen Haltern verglommen.

«Was macht eigentlich Uwe heute Abend?», fragte ich, um die Stille zu durchbrechen. Mein Vater erhob sich langsam vom Sofa und ging steifhüftig in Richtung Esszimmer.

Uwe war vor einigen Jahren aus dem Nichts aufgetaucht. Wo er wohnte, was er beruflich tat, ob er überhaupt arbeitete – ich wusste es nicht. Mein Vater erzählte immer etwas anderes. Nur eines wusste ich mit Bestimmtheit: dass seine anfängliche Behauptung, Uwes Frau sei, wie meine Mutter, vor vielen Jahren an Krebs gestorben, eine ziemlich ungeschickte Lüge gewesen war. Auf seine verstorbene Ehefrau angesprochen, hatte mich Uwe so überrascht angestarrt, als hätte ich den Muskelprotz nach seiner Karriere als Primaballerina gefragt. Zu einer Unterhaltung war es damals und auch danach nie mehr gekommen. Wir gingen uns aus dem Weg.

Mein Vater stand eine Weile unschlüssig vor dem Esstisch und starrte auf die Silberplatten mit den Kanapees. Lachs mit Meerrettichsahne und Frau Schmidts trockenes Roastbeef, auf dem sie Preiselbeerkleckse und Tomatenröschen verteilt hatte.

«Von dem Kram mag ich nichts. Schade um die schönen Austern.»

Traurig schaute er auf die Toastdreiecke und die einsamen Zitronenschnitze am Rand der leeren Platte.

«Schade, dass es morgen keinen Gänsebraten gibt, so wie früher», sagte ich und folgte ihm in die Küche. Das Beste an Omas Gans waren immer die Klöße gewesen, halb und halb, aus rohen und gekochten Kartoffeln, die hatte nur sie so hingekriegt, die gab es in keinem Restaurant. Bei Frau Schmidt waren sie aus der Tüte, von Pfanni. Vor zwei Jahren war Oma in ihrem Garten bei der Spinaternte ausgerutscht. Oberschenkelhalsbruch, der Klassiker. Sie war nicht mehr auf die Beine gekommen. Opa hatte sie noch gepflegt, aber die Sache hatte ein schnelles Ende genommen. Und nur einen Tag nach ihrer Beerdigung war er ihr nachgefolgt. Die Putzfrau hatte ihn mit über der Bettdecke gefalteten Händen im Bett liegend gefunden, neben ihm ein halb ausgefülltes Kreuzworträtsel, als würde er nur eben ein Nickerchen halten.

«Ich bin heilfroh, dass wir morgen nicht auch noch zu Oma und Opa müssen.» Dass er seine Schwiegereltern nicht hatte leiden können, wusste ich, nur nicht, warum. Die beiden waren immer lieb zu mir gewesen und ausgesucht höflich zu dem distanzierten Schwiegersohn, den sie tatsächlich verehrten, besonders meine Großmutter.

«Gans vertrag ich nicht, die ist mir zu fettig. So viel Schnaps, wie ich brauche, um die zu verdauen, kann ich gar nicht trinken.»

Aus dem Fach über dem Backofen holte mein Vater die Flasche Fernet-Branca hervor.

Im Kühlschrank fand er einen Ring Fleischwurst, und wir setzten uns gegenüber an den Küchentisch. Mit der Messerspitze spießte er eine Wurstscheibe auf und hielt sie mir hin, dann nahm er einen großen Schluck Fernet aus der Flasche.

Die Backofenuhr zeigte zwanzig Uhr achtunddreißig.

«Du kannst ruhig gehen», sagte er. «Reisende soll man nicht aufhalten.»

Gehen, okay. Nur wohin? Ich dachte an Lutz, der mit seinen kleinen Geschwistern und den Eltern sicher gerade Gesellschaftsspiele spielte oder noch an der Weihnachtstafel saß. Ein Anruf genügte, und er würde das Festtagsessen sausen lassen und mich mit seinem Auto abholen, mich zu ihm nach Hause fahren, wo seine Mutter uns am anderen Morgen die weltbesten Pfannekuchen backen würde. Lutz war okay, der netteste Junge mit einem Führerschein, der sich je für mich interessiert hatte. Ich hatte vor ein paar Monaten etwas mit ihm angefangen, grundlos, genauso grundlos, wie ich letzte Woche mit ihm Schluss gemacht hatte. Meinen Abschiedsbrief würde er bis zu seinem Lebensende aufbewahren, in einem Safe, hatte er bei unserem letzten Telefonat mit bebender Stimme gesagt. Ich konnte mich nicht mehr erinnern, was ich ihm genau geschrieben hatte. Mit ihm zusammen hatte ich mich jedes Mal noch mehr gelangweilt als mit mir allein. Gut möglich, dass ich ihm das so mitgeteilt hatte.

Ich hätte mit dem Mofa ins Live düsen können, der Pinte am Postplatz, wo sich vielleicht immer noch die Dorfjugendlichen an Heiligabend nach der Familienfeier trafen. Aber eigentlich kannte ich dort niemanden mehr. Draußen vorm Küchenfenster schüttelte der Wind die Zweige der Kiefer wie ein Rockgitarrist seine Mähne beim Solo. Fürs Kickern und Flippern war es an diesem Heiligabend ohnehin noch zu früh.

Mein Vater löschte die Kerzen am Adventsgesteck, schaltete die Stehlampe im Flur aus und kam noch einmal kurz in die Küche.

«Gute Nacht, Mäuschen.»

Ich blickte ihm nach, wie er auf Socken mit unsicheren Schritten die Treppe in Angriff nahm. Mit dem rechten Arm zog er sich am Geländer hoch und holte bei jeder Stufe mit dem linken Bein Schwung. Er war immer viel älter als die Väter meiner Klassenkameraden gewesen, nur hatte man das früher nicht so gesehen. Er war nur immer der Einzige gewesen, der stets Schlips und Anzug trug. Unheimlich, wie sehr er binnen Wochen gealtert war.

Allein in der Küche, hob ich noch einmal die Champagnerflasche an, die schwer war und trotzdem fast leer, nur noch eine warme Neige kam aus dem Hals.

Wenn ich selbst einmal Kinder hätte, würde ich alles besser machen. Das hieß aber auch, nicht mit dreißig zu sterben, wie meine Mutter. Ihr kurzes Leben und die Ehe mit meinem Vater kamen mir inzwischen wie ein verheddertes Wollknäuel aus falschen Entscheidungen vor, wie ein gemeiner Twist des Schicksals.

Wir lösen uns auf, dachte ich, inzwischen schon ziemlich beschwipst. Uwe hatte unsere Zweisamkeit torpediert, von der Familie war nicht mehr viel übrig. In ein paar Tagen war ich achtzehn. Volljährig. Wie sich das anhörte, als ob man als Kind noch nichts Ganzes gewesen wäre.

«Du hast es gut, dein ganzes Leben liegt noch vor dir», hatte mein Vater neulich gesagt. Das hatte sich einerseits ermutigend, aber gleichzeitig auch irgendwie resigniert angehört, nach Abschied. Dass er mich liebte, daran zweifelte ich nicht, und ich spürte doch unmissverständlich, dass er mich loswerden wollte. Ich wollte auch gar nicht hierbleiben. Ich wusste nur noch nicht, wohin es gehen sollte. Ins Ausland? Wenn ich doch nur in der Schule im Englischunterricht besser aufgepasst hätte. Egal, im Frühjahr, gleich nach der Gesellenprüfung würde ich die Koffer packen und mich verabschieden. Nach mir die Kernschmelze, wie sie in der Berufsschule immer sagten. Ich nahm noch einen Schluck aus der Fernet-Flasche. Die Küche hatte inzwischen, von der Eckbank aus betrachtet, eine ziemliche Schlagseite. Am liebsten hätte ich mich jetzt einfach zu meinem Vater ins Ehebett gelegt, so wie früher. Bis zu meinem dreizehnten Geburtstag hatte ich dort jede Nacht schlafen dürfen. Auch später noch war ich nachts zu ihm gekommen, wenn mich die Träume quälten. Die schönen, die mich aus einer sonnigen Illusion in mein finsteres Kinderzimmer entließen, und die schlimmen, in denen ich von gesichtslosen Schemen gejagt oder von Mitschülern vor der Tafel ausgelacht wurde. Dann schulterte ich meine Daunendecke und legte mich neben ihn. «Muss das sein?», hatte er bei meinem letzten nächtlichen Einzug in sein Schlafzimmer gemurmelt.

Auf einmal kam mir die Vorstellung, Lutzens Stimme zu hören, wieder ganz verlockend vor. In der Diele stand der kleine Tisch mit dem Telefon auf dem Goldbrokatdeckchen. Ich setzte mich im Schneidersitz in den Ohrensessel davor. Als ich den Hörer abnahm, war die Leitung besetzt. Mein Vater telefonierte mit Uwe.

Anfahren am Berg. Ohne Handbremse, nur mit Kupplung. So steil war die Straße nun auch wieder nicht. Wir waren die Ersten an der Kreuzung. Nur weg hier. Die Ampel stand auf Rot. Rot, immer noch rot, vielleicht war sie kaputt, sie wurde einfach nicht grün. Ich spürte die Ungeduld der nachfolgenden Fahrer in meinem Nacken. Im Rückspiegel glänzte die Stirnglatze des Fahrprüfers. Er kritzelte mit dem Kugelschreiber etwas in sein winziges Notizbuch. Der Typ in dem blauen Opel hinter uns betätigte die Scheibenwaschanlage. Feiner Schaum flog über die Windschutzscheibe und an den Außenspiegeln vorbei, und die Wischer des Autos zuckten aufgeregt hin und her. Plötzlich prasselten Hagelkörner aufs Autodach, nur kurz, als hätte jemand einen Sack Reis ausgeschüttet. Genau, Scheibenwischer einschalten, wie ging das noch gleich? Ich betätigte den linken Hebel neben dem Lenkrad, und schon erleuchtete das Fernlicht die Kreuzung. Ich drückte am rechten Hebel herum, nun ruckte der Scheibenwischer quietschend über die Rückscheibe. Und vorne?

Der Fahrlehrer räusperte sich. Grün! Ich ließ die Kupplung kommen und gab Gas. Der Motor stöhnte auf, doch das Auto bewegte sich nicht von der Stelle. Der Fahrlehrer nickte mir aufmunternd zu.

Wir hatten Geheimzeichen ausgemacht. Wenn er den Daumen seiner linken Hand abspreizte, hieß das langsamer fahren. Klopfte er sich mit der rechten Hand auf den Oberschenkel, sollte ich Gummi geben, oder war es umgekehrt? Mehr Kupplung, weniger Gas, jetzt hüpfte das Auto wie ein aufziehbarer Frosch mitten auf die Kreuzung. Kurz vorm Abwürgen stieg ich noch einmal aufs Gaspedal, und der Wagen schoss über die Bergkuppe, direkt in eine Tempo-30-Zone. Leere Pflanzenkübel aus Muschelkalk verengten hier die Straße zu einer Art Slalomstrecke. Der Daumen des Fahrlehrers war weit abgespreizt. Rechts vor links. Wie gut, dass der kleine Junge auf dem Klapprad eine leuchtend gelbe Steppjacke getragen hatte. Er umfuhr das Fahrschulauto in Zeitlupe.

Eine Fahrprüfung im Januar in der Dämmerung, bei Bodenfrost und dazu noch im Bergischen Land, überall Hügelkuppen und rutschige Kurven. Schlimmer ging’s nicht. Aber es half ja nichts, mit dem Mofa würde ich nie weiter wegkommen als bis in die nächste Kreisstadt.

Die Dörfer in dieser Gegend lagen an unwirtlichen Schnellstraßen, die größeren Städte verband ein Autobahngeflecht, feinmaschig wie ein Einkaufsnetz. Ein Führerschein war hier überlebenswichtig. Jeder, der noch was vorhatte, legte in seinem Auto täglich so viele Kilometer zurück wie ein Trucker im Mittleren Westen der USA.

Aber um demnächst meinen Fluchtwagen steuern zu können, brauchte ich den Schein wirklich dringend. Ich musste weg von hier, nur wohin wusste ich noch nicht.

Der Prüfer entdeckte einen Parkplatz, einen schönen, wie er sagte. Da vorne rechts.

Bestimmt waren alle Fahrprüfer Sadisten. Genauso wie Sportlehrer. Das Exemplar, das auf der Rückbank saß, sah dem alten Lehrer sogar ähnlich, dem aus der Unterstufe, der den Mädchen bei der Hilfestellung für die Radwende über den Kasten immer in den Schritt gegriffen hatte. Wie der trug auch der Prüfer die verbliebenen Nackenhaare mit einem dünnen roten Haushaltsgummi zu einem Zöpfchen gebunden.

Rückwärts einparken, parallel zur Straße. Meine feuchten Hände machten schmatzende Geräusche auf dem Lenkrad, und mein rechtes Bein zitterte, als würde ich mit dem Gaspedal Morsezeichen aussenden. Schulterblick, den fließenden Verkehr abwarten, langsam rückwärts setzen, bis der linke hintere Reifen des parkenden Autos vor der Parklücke im Seitenspiegel erschien, dann einschlagen, immer ein wenig steiler als gedacht, und dann wieder in entgegengesetzter Richtung kurbeln. Tür auf und den Probeblick zum Bordstein geworfen. Ha, wie eine Eins stand der Wagen in der Parklücke. Ich lehnte mich zurück, und das Zittern ließ nach. Der Fahrlehrer besprach mit dem Prüfer die aktuellen Bundesligaergebnisse. Sein Atem roch wie eine Regenpfütze im Hochsommer.

Ich holte ein Erfrischungstuch aus der Hosentasche, faltete es auseinander und wischte das Lenkrad ab. Im Wageninneren breitete sich Limettenduft aus.

«Machen wir jetzt Ferien?», fragte der Prüfer. Sofort begannen meine Ohren zu glühen.

«Wenn Sie ausgeschlafen haben, fädeln Sie sich bitte wieder in den Verkehr ein.»

Dem viereckigen Spiegelei, wie mein Fahrlehrer das Vorfahrtszeichen nannte, folgte die durchgestrichene blasse Fünfzig. Auf der Landstraße war kein Auto zu sehen, sie führte schnurgerade durch eine Talsenke, parallel zum Fluss, und war weit und leer wie die Startbahn West. Mein Fahrlehrer klopfte sich aufs Bein, ich beschleunigte den Wagen auf Tempo achtzig. Die weißen Fahrbahnpfosten mit den schwarzen Streifen flogen wie Mikadostäbe vorbei. Ich überlegte, welche Musik demnächst zu so einem Geschwindigkeitsrausch passen würde – Behind The Wheel von Depeche Mode hatte ich sofort im Ohr. Wenn alles gut ging, konnte ich gleich morgen losfahren. Der Zündschlüssel lag schon auf der Flurkommode, und der Golf, gebraucht, aber gut in Schuss, stand auf dem Hof. Leider in Azurblau metallic, peinliche Farbe. Dabei war mein Farbwunsch ausdrücklich Marineblau gewesen. Blau ist Blau, hatte mein Vater entgegnet.

«Er fährt, und das ist die Hauptsache.»

Hinter einer scharfen Rechtskurve tauchte ein Mähdrescher auf. Vollbremsung. Der Sicherheitsgurt des Fahrprüfers ruckte hörbar. Wo wollte denn jetzt so ein Trumm hin, mitten im Winter?

«Das ist Pech, kann aber vorkommen», beruhigte mich der Fahrlehrer, der mir während der letzten Stunde noch erklärt hatte, dass er zu Stillschweigen verpflichtet sei und keine meiner Handlungen kommentieren dürfe. «Komm, lass dich mal ganz feste drücken», hatte er beim Abschied gesagt. «Du schaffst das morgen, mach dir mal keine Sorgen.»

Und ich hatte mich von ihm im Flur der Fahrschule in den Arm nehmen lassen, von diesem schlappen Riesen im gestreiften Poloshirt. Als er die weichen Oberarme ausbreitete, sah ich die dunklen Halbmonde unter seinen Achseln. Mit der Hand auf meinem Knie, «stell dir mal vor, das wäre die Schaltung», so hatte er mir am ersten Tag erklärt, wo die Gänge lagen, der erste oben links, und den Rückwärtsgang erwischte man mit sanftem Druck ganz rechts unten. Sein Arm streifte meine Brust, wenn er mir ins Lenkrad griff, wozu es nie einen triftigen Grund gab. Die theoretische Prüfung hatte ich mit sieben Fehlern bestanden. Mit acht fiel man durch. Ich hatte seine Umarmung im Flur der Fahrschule erwidert, meinen Kopf an seine Brust gelehnt. Das konnte der Sache nicht schaden, dachte ich mir, während er seine Nase in mein Haar gedrückt hielt und ich hörte, wie er die Luft über meinem Scheitel einsog.

 

Wie das Graugansjunge hinter der Mutter klebte ich nun hinter dem Mähdrescher auf der Landstraße. Räuspern, der Fahrlehrer gab mir einen winzigen Fingerzeig nach links. Überholen? Das war mein Albtraum.

«Fürs Überholen habe ich zu viel Fantasie», hatte ich dem Fahrlehrer mal erklärt, doch der hatte nur blöde gekichert. Dabei konnte man doch nie wissen, was so alles auf einen zukam, nicht nur auf der Straße. Was gab’s denn da zu lachen?

Der Mähdrescher blinkte und bog in einen Feldweg ein, so langsam, dass ich in den ersten Gang wechseln musste, den ich kurz mit dem Leerlauf verwechselte. Jetzt tauchten vor uns die verlockenden Autobahnschilder auf. Autobahn war das Tollste. Diese wohlklingenden Autobahnkreuznamen aus dem Verkehrsfunk – Kamener Kreuz, Westhofener Kreuz. Kein Wunder, dass da immerzu Stau herrschte, all diese Autos mussten sich durch diese Nadelöhre in die verschiedenen Himmelsrichtungen fädeln, wenn sie hier wegwollten.

«Wir ordnen uns jetzt hinter der Brücke rechts ein und nehmen die Auffahrt Richtung Bremen», ordnete der Prüfer an. Bei der Autobahnfahrt gab es doch eigentlich nur ein Problem, man musste irgendwie in diesen tosenden Verkehr gleiten, Teil des Schwarms werden, was bedeutete, dass einem der Absprung vom Zubringer gelingen musste. Und hier stand ich wieder vor einer abgewandelten Form des Überholproblems, denn man brauchte Glück, wenn sich am Ende des Zubringers eine Lücke im rauschenden Autostrom auftun sollte. Was aber, wenn alle Kraftfahrzeuge aneinanderklebten, wenn niemand mir Platz machte? Schon sah ich mich mit gesetztem Blinker für Kilometer auf dem Standstreifen kriechen.

Das Unfassbare geschah in weicher Zufälligkeit, im Verkehr entstand eine platzgenaue Lücke, und schon war ich mit hundert Sachen unterwegs Richtung Norden. Auf dem Mittelstreifen stand der kleine Bär, der unternehmungslustig die Tatzen hob:

 

Berlin 500 Kilometer.

Nur die Streber und Sportasse gingen nach der Schule oder der Lehre zur Bundeswehr, die Junge-Union-Typen in Polohemd und mit Akneproblem. Die Frauenversteher in Norwegerpullis, die Weltverbesserer, die fair gehandelten Tee tranken und mit denen ich nächtelang Risiko spielen konnte, ohne eins einzugehen, hatten sich wie auch Lutz für Zivildienst entschieden. Die richtig Coolen aber hatten sich komplett vor der Sache gedrückt und nach Berlin abgesetzt. Das machte den Landstrich, in dem ich noch bis zum Ende meiner Lehrzeit ausharren musste, nicht attraktiver, entfachte dafür umso mehr die Neugier auf diese Insel im grauen realsozialistischen Meer.

Mit Birgit hatte ich in der Schule nie sonderlich viel zu tun gehabt. Nur wenn die Tennismädchen wieder einmal fies zu mir waren, hatte ich mir mit ihr auf dem Schulhof eine Cola geteilt. Erstaunlich, ausgerechnet die farblose Birgit hatte es geschafft. Die Postkarte, die mir mein Vater auf den Küchentisch legte, zeigte einen kleinen Jungen mit Bommelmütze, der im Gegenlicht in die Kamera blinzelt. «Lebe wild und gefährlich, Artur», stand darauf.

«Ich jobbe jetzt in einem Café in Schöneberg», schrieb Birgit. «Komm mich besuchen. Du kannst auch bei mir pennen.» Jobben, das hörte sich gut an, das könnte vielleicht auch was für mich sein, demnächst. Und wenn ich erst in Berlin war, würde ich auch gleich mal schauen, was aus Stefan mit der tollen Zahnlücke geworden war, nach dem könnte man vielleicht im Telefonbuch fahnden.

Berlin, da war ich schon mal gewesen, vor Ewigkeiten, mit neun oder zehn. Die Stadt hatte einen nachhaltigen Eindruck auf mich gemacht, nicht zuletzt durch eine ziemlich windige Gestalt, die mir mein Vater als einen «Freund aus Jugendtagen» vorgestellt hatte. Uli, der uns zum Abendessen vom Hotel am Kurfürstendamm abholte, wartete in der Lobby auf uns, im Nerzmantel und mit Cowboystiefeln. In seinem goldenen Mercedes Cabrio fuhren wir hinaus zum Wannsee, mit geöffnetem Verdeck. Mein Vater wollte Zander essen. Ich kannte nur einen Entertainer, der so hieß.

An mehreren Stationen in der Stadt wurde angehalten, und Frauen stiegen zu, die mindestens so schön waren wie meine Barbies. Eine Dunkelhaarige hatte es mir besonders angetan, ich konnte gar nicht mehr wegschauen. Das musste eine aus der Mattel-Sonderedition «Bahia» sein. Als der Freund vor dem Restaurant parkte, kletterten wir zu acht aus dem Zweisitzer. Auf dem Rückweg durch die Nacht fuhr Uli zum Spaß schwungvolle Schlangenlinien auf der leeren Avus. Die lange blonde Mähne einer Frau mit Pferdegebiss flatterte mir dabei angenehm ins Gesicht.

Am nächsten Tag hätte ich eigentlich das Bett hüten müssen; der Ausflug in der Winternacht bei Minusgraden im offenen Wagen hatte mir eine ordentliche Erkältung mit Halsschmerzen und bellendem Husten eingebrockt. Damit ich mich aber im Hotelzimmer nicht langweilte, hatte Uli beschlossen, mit mir noch schnell einen Rundgang durch die Spielzeugabteilung im KaDeWe zu machen. Auf der Rolltreppe zog er mich an der Hand hinter sich her, ein Kind mit 39 Grad Fieber und weichen Knien.

«Such dir was Schönes aus», sagte er, drehte sich auf den Stiefelabsätzen um die eigene Achse und breitete die Arme aus wie ein Zauberer in der Manege. Es sollte ein Ausflug ins Schlaraffenland sein, doch auf der neongrellen Kaufhausetage kam ich mir vor wie Pinocchio zwischen Katze und Fuchs. Am liebsten hätte ich mich hinter dem Regal mit den tausend starräugigen Puppen versteckt. Uli zeigte auf eine Porzellandame in einem imposanten Reifrock, hielt einen Karton mit zusammensetzbarem Technikspielzeug hoch, einmal legte er sich eine glitzernde Kobra um den Hals. Erwartungsvoll schaute er mich an. Der Sulky mit dem praktisch lebensgroßen Plüschpony auf Rädern, der sei es doch. Hatte der nicht meine Augen zum Glänzen gebracht? Nun entscheide dich!

Auf dem Ku’damm fuhr ich im Sulky hinter ihm her, hielt tapfer die Zügel und trat mit letzter Kraft in die Pedale, mit der man das Gefährt in Bewegung zu setzen hatte. Neben mir auf dem Kutschbock stand eine große Tüte. Uli hatte noch ein paar Matchboxautos, eine Spieluhr, die Sur le pont d’Avignon spielen konnte, und einen steifen Berliner Braunbären mit Schärpe zur Kasse getragen. Zeug, das mich so peinlich berührte wie die ganze Aktion dieses fremden Erwachsenen.

«Da hast du dem alten Knaben aber ganz schön was aus dem Kreuz geleiert», sagte mein Vater feixend, als sein Freund den schwer beladenen Sulky ins Hotelzimmer schob.

Der Besuch im Zoo fiel für mich dann leider aus, und auch zur Grünen Woche gingen mein Vater und Uli allein. Bis zur Abreise verbrachte ich die Tage im Bett, mit Schüttelfrost und bunten Fieberträumen, zu schwach, um die Geschenke auch nur noch einmal anzuschauen.

Im Gedächtnis war mir dann vor allem die Rückfahrt geblieben. Die Grenzkontrolle im gleißenden Licht, der Schäferhund, der am Auto hochsprang und mich feindselig durch die Fensterscheibe anfletschte.

«Alles unter hundertachtzig ist für mich eine körperliche Qual», hatte mein Vater gestöhnt. Als Quittung hatten ihn dann die Vopos in einem eckigen Wagen verfolgt, bis er rechts ranfahren musste. Die Typen mit den Steingesichtern in ihren grauen Uniformen hatten mir ziemlichen Respekt eingeflößt. Zweihundert Mark hatte mein Vater hinblättern müssen.

«Durch solche Wegelagerei beschaffen die sich ihre Devisen», sagte er und blickte grimmig drein. In gedrosseltem Tempo waren wir danach über die holprige Autobahn an ausgestorben wirkenden Dörfern vorbeigerollt, die mich an Fernsehdokumentationen in Schwarz-Weiß erinnerten, Filmausschnitte vom Ende des Zweiten Weltkriegs, nur dass hier der Krieg anscheinend noch nicht ganz zu Ende war.

«Schau dir das an», hatte mein Vater gesagt und in Richtung einer Ruine gezeigt, die auf einer Anhöhe stand, eine mit Brettern vernagelte Kirche. «So sieht die Welt aus, wenn Gott vertrieben wird. Dann ist dem Menschen nicht mehr zu helfen.»

Die Pferde aus der DDR, die Uli ihm verkauft hatte, waren allerdings erstklassige Ware.

«Im Sport macht den Ostzonalen so leicht keiner was vor.»

 

Westberlin, rundum von der Mauer begrenzt, war die einzige Insel, die man ohne Boot und Brücke erreichen konnte. Aufregend weit entfernt, aber gerade noch so nah, dass ich mir die Fahrt mit dem neuen rosa Führerschein für ein Wochenende zutraute. Mit der richtigen Musik im Kassettenrekorder und netter Gesellschaft stellte ich mir die Tour sogar ganz unterhaltsam vor.

«Raucher oder Nichtraucher?», fragte die Frau von der Mitfahrzentrale am Telefon. Raucher natürlich! Ute stieg in einem Vorort von Hagen zu. Sie hatte schon eine ganze Weile im Regen gewartet, an einer Bushaltestelle ohne Überdachung, auf den Schultern einen Reiserucksack, der sie um einen halben Meter überragte. Klatschnass hievte sie ihr monströses Gepäck in den Kofferraum, pflanzte sich dann auf den Beifahrersitz und begann zu müffeln. Sie drehte sich eine Zigarette, und der trockene Tabak rieselte auf die Fußmatte.

«Macht nichts, tritt sich fest», murmelte sie. Dann war ihr kein Wort mehr zu entlocken.

Björn sollte in Dortmund abgeholt werden, bei einem Café im Univiertel, in dem es keine Parkplätze gab. «Ich trink nur noch kurz meinen Kaffee aus.» Schon hatte mir eine Politesse ein Knöllchen unter die Scheibenwischer geklemmt – Parken in zweiter Reihe verboten.

Da ging er hin, der Spritgeldzuschuss meiner Mitreisenden.

Jussuf wartete schon seit zwei Stunden in Hamm, als wir nach einer Vollsperrung der A2 und einer Umleitung durch eine unbekannte, platte Landschaft endlich am Bahnhofsplatz vorfuhren. Er freute sich, dass ich überhaupt noch kam. Sein Gepäck bestand aus einer Rolle, die er auf dem Schoß behielt. Beim Blick in den Rückspiegel war mir jetzt die Sicht durch Björns alten Seesack versperrt. Seine Gitarre stand zwischen ihm und Jussuf, der das mit dem Rauchen nicht gewusst hatte. Höflich bat er darum, sein Fenster etwas öffnen zu dürfen. Doch auf der Autobahn meinte Ute, sie würde vom Zug eine Nackenverspannung bekommen. Hinter Bielefeld war der Nebel im Wageninneren so dicht, dass mir die Bremslichter des Vordermanns als rosa Wattebäuschchen erschienen.

«Halt mal an, ich muss schiffen», sagte Ute. Auf dem Parkplatz der Raststätte lief ich um den Wagen herum, öffnete alle Türen und machte Durchzug. Dabei stolperte ich über Jussuf, der zwischen den parkenden Autos auf seinem ausgerollten Teppich kniete und betete, gen Mekka.

Auf der Weiterfahrt zogen meine Mitfahrer ihre Schuhe aus. Einer von ihnen musste Käsefüße haben, wenn nicht mehrere oder alle. Und dann wickelte Björn noch Stullen mit hart gekochten Eiern aus, und ich sah, wie ihm kleine Eibröckchen aus dem Mund fielen, die er mit spitzen Fingern vom Hemd schnippte.

Kurz vor Helmstedt hatten wir noch eine weitere Gebetseinlage und drei Staus von stattlicher Länge hinter uns und an jeder zweiten Tankstelle eine Pinkelpause für Ute machen müssen.

«Gehste einmal, gehste immer», erklärte sie. «Alte Kneipenweisheit.»

Eine Unterhaltung war während der Fahrt nicht aufgekommen, auch Musikhören ging nicht. Meine selbst aufgenommenen Kassetten waren auf Ablehnung gestoßen. Ute bekam von New Order Pickel. Und Björn, der uns die ganze Zeit etwas auf seiner Flamencogitarre vorspielen wollte, fand die Pet Shop Boys zum Kotzen.

Ich kämpfte schon eine ganze Weile mit weit aufgerissenen Augen gegen die Schwerkraft der Lider, als wir am Grenzübergang in die Warteschlange gerieten, in der es am langsamsten voranging. Das Leben ist eine Pralinenschachtel – man erwischt immer die falsche. Meine Mitreisenden waren inzwischen eingeschlafen. Mit zur Seite gekippten Köpfen und offenen Mündern hingen sie in den Gurten wie Kleinkinder in ihren Buggys.

«Ach du Scheiße, mein Pass ist hinten im Rucksack, ganz unten», sagte Ute ziemlich kleinlaut, als ich es endlich geschafft hatte, sie wach zu rütteln. Ohne Vorwarnung hüpfte sie direkt vor der Kontrolle aus dem Auto und machte sich am Kofferraum zu schaffen. Ein Grenzbeamter kam angerannt und scheuchte sie wie ein entlaufenes Huhn ins Auto zurück. «Ausscheren!», brüllte er durchs Fenster und ließ mich auf einem breiten Mittelstreifen anhalten. Plötzlich ging es für die Autos hinter uns ziemlich schnell voran, sie rollten nun eins nach dem anderen an uns vorbei.

«Die lassen uns hier abfaulen», jammerte Björn, während die Sonne rosarot hinter den Leitplanken verschwand. Von der Spanischen Nacht in der Flamencoschule im Wedding würde ohne seine musikalische Begleitung wohl nur noch die Paella übrig bleiben. Ausgeliefert waren wir denen, so viel stand fest – vier Fremde in einem Auto, von denen ich drei am liebsten auf den Mond geschossen hätte. Und das Thema Schießen lag in der Luft, ständig kam einer mit Pistole im Halfter an uns vorbei, direkt auf Augenhöhe. Nebenan, auf einer Waage, wurde ein Lkw kontrolliert. Zwei Volkspolizisten inspizierten in gleißendem Neonlicht den Unterboden mit Spiegeln, die an langen Stäben befestigt waren. Ein anderer patrouillierte zwischen den Fahrzeugreihen, einen Spürhund an der kurzen Leine. Mehrere graue Gestalten waren emsig dabei, die Innenverkleidung eines harmlos wirkenden Audi auszubauen. Das konnte ja heiter werden! Lief ich hier etwa Gefahr, meinen kostbarsten Besitz als Bausatz zerlegt in einer Haltebucht wiederzufinden? Doch zunächst passierte weiter nichts, niemand kümmerte sich um uns.

«Soll ich mal aussteigen und fragen, wie’s weitergeht?», bot Ute an. «Wehe!», tönte es von allen Seiten. Wir warteten nun schon Stunden und hatten uns heiser gebrüllt mit gegenseitigen Vorwürfen von grober Dummheit, Blasenschwäche, Zuspätkommen und dieser Dauerbeterei.