Die Ruhe weg - Eva Sichelschmidt - E-Book

Die Ruhe weg E-Book

Eva Sichelschmidt

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Beschreibung

Warum kann man im Leben nicht alles haben? Man hat doch nur eins!

Marlies zog mitten nach Berlin, als das Leben hier versprach, wild und aufregend zu sein. „No regrets“ war schon damals ihr Lebensmotto, und die Jahre gingen ins Land. Nun ist Marlies 49 und fragt sich, wann eigentlich diese entsetzliche Verspießerung ihrer ganzen Umgebung begann. Auch ihr Mann, einst sexy Gitarrist in einer Rockband, ist zu einem antriebslosen Kerl mutiert. Doch der erotische Side-kick, den Marlies sich gönnt, endet mit einer wüsten Bauchlandung. Ein Jobangebot macht es möglich, dass Marlies alles hinter sich lassen und nach Italien verschwinden kann. Aber nicht jedem Neuanfang wohnt ein Zauber inne.

Eva Sichelschmidts Roman ist eine tragikomische Aufbruchsgeschichte über eine Frau, die es nochmal wissen will: pointiert, stilsicher, amüsant.

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Seitenzahl: 425

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Über das Buch

Marlies zog mitten nach Berlin, als das Leben hier versprach, wild und aufregend zu sein. „No regrets“ war von Anfang an ihr Lebensmotto, und die Jahre gingen ins Land. Nun ist Marlies 49 und fragt sich, ob das alles gewesen sein soll. Wann hat eigentlich diese entsetzliche Verspießerung ihrer ganzen Umgebung begonnen? Auch ihr Mann, einst sexy Gitarrist in einer Rockband, ist zu einem antriebslosen Kerl mutiert. Doch der erotische Side-kick, den Marlies sich gönnt, endet mit einer Bauchlandung. Ein Jobangebot macht es möglich, dass Marlies alles hinter sich lässt und nach Italien verschwindet. Dass sie dafür einen Teil der Familie opfern muss, war so nicht geplant. Nicht jedem Neuanfang wohnt ein Zauber inne.

Ein raffinierter „Coming-of-a-certain-age-Roman“ mit Tiefsinn über die Frage, warum wir so geworden sind, wie wir sind, wo wir doch eigentlich ganz anders hatten werden wollen.

Über die Autorin:

Eva Sichelschmidt

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

1. Auflage Copyright © 2017 beim Albrecht Knaus Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München Schutzumschlag: Sabine Kwauka Schutzumschlagmotiv: shutterstock Images LLC Gesamtherstellung: GGP Media GmbH, Pößneck ISBN: 978-3-641-19532-8V001www.knaus-verlag.de

Für Durs

Marriage is an act of will.

Papst Johannes Paul II.

Willst du mit mir geh’n Wenn ich nicht mehr bin wie einst Willst du mit mir geh’n Auch wenn du um gestern weinst Wenn jedes Schweigen uns verrät Was reden wir

Daliah Lavi, 1971

You wake up one day and you realize that all these years have gone by and I have this mortgage and I have this couch and I have this life and … is this going to be my prison?

Lynn Shelton

EINS

Ficken. Ficken, dachte sie. Das Wort war ihr beim Anblick des Familienvaters in den Sinn gekommen, der umständlich und in gekrümmter Haltung damit beschäftigt war, eine schwere Gründerzeithaustür aufzuschließen. Eines dieser kleinen Holzfahrräder ohne Pedale klemmte unter seinem rechten Arm, von seiner linken Schulter drohte ihm ein Jutekorb zu rutschen, aus dem buntes Sandspielzeug ragte.

Ficken, dachte sie, und »ficken« sagte sie beiläufig vor sich hin, als sie auf der Höhe des jungen Mannes angekommen war, der sich soeben mit seinem gesamten Körpergewicht gegen die einen Spalt breit geöffnete Tür stemmte. Leise sagte sie es, doch gerade laut genug, damit er es hören musste. Sie spürte seine Verwunderung in ihrem Nacken, den verdutzten Blick, den er ihr nachwarf, und ging in unvermindertem Tempo weiter.

Ein Paar mit einem Kinderwagen und einem Kleinkind kam ihr ziellos schlendernd entgegen. Sie schätzte das Alter der beiden auf Ende zwanzig. Die vornübergeneigte Mutter hielt das vor sich hin stolpernde Kind, das anscheinend erst vor Kurzem zu laufen begonnen hatte, an beiden Händchen. Der Vater schob einen unförmigen Kinderwagen, aus dem das kleine, heisere Krähen eines Neugeborenen zu hören war. Es war einer dieser teuren Geschwisterbuggys, die aussahen wie ein aufgebockter Bürostuhl mit integriertem Wäschekorb. Die junge Frau trug ihr blondes Haar zu einem dicken Pferdeschwanz gebunden, eine ausgebeulte Jeans mit elastischem Schwangerschaftsbund und Wandersandalen mit Klettverschlüssen. Sie wirkte müde und ausgelaugt, als hätte sie eine lange Wanderschaft in einem unwegsamen Gelände hinter sich gebracht.

Dem jugendlichen Vater lichtete sich bereits das Haar über der Stirn, und auch auf dem Hinterkopf breitete sich eine Art Naturtonsur aus. Passend dazu umgab ihn die Sprachlosigkeit eines Schweigemönchs. Sowohl die Frau als auch der Mann starrten Marlies im Näherkommen mit unverhohlener Neugier an. Erst da bemerkte sie, dass sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht ausgebreitet hatte, als hätte sie sich soeben selbst einen Witz erzählt.

Plötzlich schoss ihr eine Liedzeile durch den Kopf: »Was hat die Zeit mit uns gemacht?« Zeit. Die Zeit war ein grausamer Gegner.

Vor nicht allzu langer Zeit war dieses Paar wirklich einmal jung und unbeschwert gewesen. Ja, wer weiß, vielleicht sogar unbändig ineinander verknallt. Mit ein wenig Fantasie konnte Marlies sich die Mutter mit einer Hartgummifigur als Strandschönheit in einer Bar auf Ibiza vorstellen. Und der Prenzlauer-Berg-Papi? Vielleicht war das mal ein hotter Typ gewesen? Mit einem Augenaufschlag, der den Damen in die Magengrube fuhr. Oder war er der Schlauste, ein unwiderstehlicher Frauenversteher gewesen, der mit dem halben Meter Kant und Hegel neben dem Futon und einem Pariser für alle Fälle unterm Kopfkissen? Das alles konnte noch nicht einmal zwei Jahre her sein. Und nun? Wann mochten die beiden wohl das letzte Mal Spaß oder Sex gehabt haben?

Es war später Nachmittag an einem Sonntag im Frühsommer. Marlies war auf dem Heimweg vom Yoga. Berlin zeigte sich in der schon tief stehenden Sonne wieder einmal von seiner charmanten Reisekatalogseite. Die bunt sanierten Altbauten warfen lange Schatten über die breiten Gehwege, auf denen junge Menschen in engen Hosen und mit weiten Mützen die Straßencafés belagerten. Pärchen schuckelten gemeinschaftlich an Kinderwagen, in die sie verliebte Blicke versenkten, und die zahlreichen Spielplätze waren so gut besucht wie das Oktoberfest zum Anstich.

Seitdem Marlies’ Kinder nicht mehr in die Kita gingen und selbstständig, den Hausschlüssel am Band um den Hals, von der Schule nach Hause kamen, hatte sie keines dieser Cafés mehr aufgesucht. Man hatte dort ohnehin nie seine Ruhe. Kindergeplärr und die lauten, vor Langeweile mäandernden Gespräche der frisch gebackenen Eltern raubten ihr den letzten Nerv. Außerdem konnte man dort unfreiwilliger Zeuge von Gesprächen werden, in denen sich Frauen untereinander mitteilten, wie häufig ihrer pro Nacht kam. Und dabei ging es nicht, wie man hätte vermuten können, um die Schilderung aufregender Liebesnächte.

Marlies verspürte neuerdings einen immer stärker werdenden Unmut gegen ihre Wohngegend. Das Viertel, in dem sie seit fast zwanzig Jahren komfortabel lebte, war ihr langsam entfremdet worden. Warum nur war sie gezwungen, in ihrem fortgeschrittenen Alter noch immer in diesem Kindergartenkiez auszuharren? Okay, das hier war mit Sicherheit einer der besten Orte auf der Welt, um Kinder aufzuziehen, keine Frage. Zumindest für frisch gebackene Hipster mit doppeltem Einkommen. Nur war sie eben nicht mehr jung, fühlte sich alles andere als frisch und wünschte ihre Kinder neuerdings immer öfter auf den Mond. Und mit dem Geldverdienen ging es in letzter Zeit noch rasanter bergab als mit ihrer Jugendlichkeit.

Vor dem Spätkauf wurde Marlies von einer Mutter, die mit zwei schlecht gelaunten Kleinkindern diskutierte, der Weg in den Laden versperrt.

»Weißt du, Lea-Marie, wenn du den Leon beißt, dann ist der ganz, ganz traurig, und das wollen wir doch nicht«, hörte sie die Frau mit zittriger Stimme eindringlich zu einem trotzig dreinblickenden Zwerg sagen. Dass sie dabei für ihre Mitmenschen, in dem schmalen Durchgang zum Geschäft zwischen Primelstiegen und Tomatenkisten, ein Hindernis darstellte, war der Frau anscheinend schnuppe. Sie trug einen Fahrradhelm in Form einer aufgeblasenen Basecap, und an ihrer rechten Wade blinkte im gleißenden Sonnenschein ein Reflektorband. Auch die Kinder trugen Helme. Das Mädchen in Form eines Marienkäfers, der Junge war ein quietschgrünes Krokodil. Beiden Tieren waren neongelbe Sicherheitswesten über ihre T-Shirts angezogen worden. Sanft versuchte Marlies den bockigen Käfer ein kleines Stück beiseitezuschieben und erntete umgehend einen vernichtenden Blick der Mutter. Wann hatte eigentlich diese »Generation Stiftung Warentest«, diese ältliche Jugend die Hoheit über ihre Gegend übernommen? Okay, der Rock ’n’ Roll war schon länger tot, auch sie hatte ihn nur noch von hinten gesehen, aber dass es diesen Nachgeborenen gelingen würde, auch noch in rasanter Geschwindigkeit sein Grab aufzulösen, das überraschte sie dann doch.

In dem vollgestopften, fensterlosen Laden schnappte sich Marlies einen Einkaufskorb. Joghurt mit der Ecke oder Fruchtzwerge? Wie lange würde sie sich diese fundamentale Frage noch stellen müssen? Vorbei an den Tütensuppen, am Eierregal, den überfüllten Tiefkühltruhen, der stattlichen Batterie Putzmittel, der Babykost und der beeindruckenden Auswahl von Haustiernahrung schlenderte sie bis zur hintersten Ecke der Getränkeabteilung. An der Kasse legte sie ein Dreierpack Dosenbier und eine Flasche Weißwein unbestimmter Herkunft und mit Designeretikett neben die in Zellophan eingepackten und mit Mustern versehenen Ananasviertel, die eine kleine Vietnamesin allmorgendlich im Hinterstübchen des Ladenlokals schnitzte. Der Spätkauf sei eine Goldgrube, hörte sie immer wieder die Leute sagen. Fest stand, dass die Vietnamesen mit der vereinten Kraft all ihrer Familienangehörigen etwas schafften, zu dem kein einziger der ihr bekannten Kiezbewohner bereit gewesen wäre: sieben Tage in der Woche zwölf Stunden oder mehr und ohne Ferien zu schuften. »Einen schönen Tatort – Abend«, wünschte ihr der vietnamesische Ladenbesitzer beim Bezahlen.

Sportlich vorgekommen war sich Marlies immer, Sport getrieben hatte sie eigentlich nie. Besonders zuwider waren ihr überflüssige Bewegungen in geschlossenen Räumen. Das Thema Sport hatte sie Till überlassen. Und auch der betrieb, wenn er nicht gerade mit ihrem Sohn Jan in Zeitlupe auf dem Spielplatz bolzte, die Sache eher passiv, also vor dem Fernseher und als Zuschauer im Fußballstadion.

Erst kurz vor ihrem vierzigsten Geburtstag und unter großem Widerwillen hatte sie die ersten zaghaften Joggingrunden im Park zu drehen begonnen, um an ihrem runden Geburtstag perfekt in ein hautenges weißes Etuikleid zu passen.

Vierzig und trotz der zwei Kinder ein Kleid auf den Rippen, in dem schon die meisten Zwanzigjährigen gewirkt hätten, als würde zur Weißwurst nur noch der süße Senf fehlen.

Irgendwann hatte sie dem Laufen in freier Natur, neben dem Vorteil körperlicher Fitness, doch noch einen gewissen Erholungsfaktor abgewinnen können. Sie lief nun immer öfter. Es reichte schon, dass sie sich müde fühlte, dass ihr am Schreibtisch nichts einfiel, dass Till oder die Kinder ihr wieder einmal auf die Nerven gingen, wenn Hausarbeit drohte und die Steuererklärung oder die Schwiegereltern zu Besuch waren. Kurz und gut – beinah täglich. Manchmal ertappte sie sich nach einem Morgenlauf bei dem Plan, einen neuen Streckenrekord am Abend aufstellen zu wollen. Das Laufen war zu einer Sucht geworden, die sich, verglichen mit der nach Weißwein und der schon weitgehend unterdrückten nach Zigaretten, nicht unvorteilhaft auswirkte.

Mit neunundvierzig hatte Marlies jetzt Waden und Oberschenkel wie Martina Navrátilová 1981 beim Grand-Slam-Turnier gegen Chris Evert. Dennoch befand sich an ihrer Körpermitte eine träge Masse, die sich früher entweder gar nicht an ihr oder nur als Füllmenge in ihrem Gesicht befunden hatte.

Unlängst hatte sie sich auf einem Foto von einer Geburtstagsparty entdeckt, in einem kleinen Schwarzen in Rückenansicht, und erschrocken die kleinen Wülste seitlich ihrer BH-Träger hervorquellen sehen.

Und als wäre dies nicht schon verstörend genug, musste auch noch eines Abends im Bad ihre zwölfjährige Tochter Anni – Marlies war gerade dabei, aus der Wanne zu steigen – sie mit dem konzentrierten Blick eines Insektenforschers mustern und verwundert feststellen: »Merkwürdig, du bist der einzige Mensch, den ich kenne, der hinten dicker ist als vorne.« Eben das war die traurige Wahrheit: ein Bauch ließ sich einziehen, Hüftspeck nicht.

Kurz darauf traf sie eines Morgens eine stark verschlankt wirkende Bekannte im Bioladen, die ihr von einer unglaublich effektiven Form des Schwitz-Yoga vorschwärmte, und schon wenige Tage später kaufte sich Marlies eine Zehnerkarte und legte los.

Bikram Yoga war eine sehr spezielle Form indischer Körperertüchtigung, die den Vornamen ihres äußerst biegsamen und bestimmt steinreichen Erfinders trug, einem Misanthropen, vielleicht sogar einem Sadisten, der sich sechsundzwanzig Yogaübungen und die Idee, sie in einem vierzig Grad heißen, viel zu kleinen Zimmer zu praktizieren, hatte patentieren lassen. Das karge Studio, in dem Marlies zusammen mit einer Horde Mädchen in Bikinis und vereinzelt auftretender Jungs schwitzte – einfallslos tätowiert die einen, die anderen garantiert schwul –, lag in einer schicken Büroetage in Mitte. Sie besuchte mit Vorliebe die Kurse von Ralf (bestimmt nicht schwul). Der immer gleiche Ablauf der Positionen im Stehen und Liegen und die immer gleichen Kommandos zur richtigen Atmung und korrekten Haltung erinnerten auf wohltuende Weise eher an den Drill bei einem amerikanischen Marinecorps als an tiefenentspannende Meditation. Mit spirituellem Ein- und Ausatmen konnte sie ihre kostbare Lebenszeit nicht vertrödeln. Das Namasté am Ende ließ sie genauso weg wie den Entspannungsteil, den Ralf immer begann mit: »Now you get all the benefits.« Wenn Ralf den Raum verließ, verschwand Marlies mit ihm, der Gewinn war dann längst eingefahren.

Am liebsten ging sie am Sonntag zum Yoga. Sonntage waren die schwierigsten Tage der Woche, da sich dann bei ihr zu Hause alle auf der Pelle hingen. Mittwochmorgen gab Ralf den Frühkurs Silence, in dem er leider schwieg. In der Zeit, als sie ihn erobern wollte, schaffte sie sogar noch den Spätkurs am Freitag, in dem seine schöne Stimme wieder erklang. Wie verjüngend Yoga doch wirken konnte, mit einem solch durchschlagenden Erfolg hatte Marlies nicht zu rechnen gewagt.

Sonntagnachmittags, wenn sie ausgepowert, befreit und fröhlich auf dem Heimweg vom Yoga durch ihr Viertel spazierte, kehrten auch die jungen Familien aus ihren Wochenenden im Berliner Umland zurück und suchten in ihren Volvos und Passat-Kombis nach den raren Parkplätzen. Dann wurde aus den geöffneten Heckklappen das Gepäck auf den Gehsteig geladen. Blaue Ikea-Taschen versperrten die Gehwege, und jammernde Kleinkinder wurden eilig in die Wohnungen getragen, während sich die Geschwister im Vorschulalter lauthals auf den Rücksitzen der Familienkutschen stritten. Auch die Eltern wirkten angespannt – keine Rede davon, dass so ein Wochenende auf dem Land Erholung gebracht hätte.

Was für ein Glück, dass uns wenigstens das umgebaute Schulhaus in Luckenwerder, das zugige Stationsvorsteherhäuschen in Biesdorf oder die Bauernkate mit undichtem Reetdach im Spreewald erspart geblieben ist, dachte Marlies. Bei ihren Nachbarn und den Bekannten mit Brandenburger Feriendomizilen war es doch immer auf das Gleiche hinausgelaufen: Erst hatten sie sich für das Haus mit dem verwilderten Garten, in dem die Kinder spielen sollten, bis über beide Ohren verschuldet, danach bekamen sie schwielige Hände von der Gartenarbeit, und ehe man sich’s versah, waren die Kinder auch schon aus dem Matschhosenalter heraus und wollten die Eltern nicht mehr an die Havel begleiten, weil sich dort partout keine Internetverbindung mit vierhundert Megabits herstellen ließ. Ließen die Erziehungsberechtigten ihre halbstarke Brut dann aber am Wochenende allein und unbeaufsichtigt zu Hause, lebten sie in beständiger Angst, die lieben Kleinen könnten womöglich eine dieser SMS-Partys veranstalten, auf denen einhundertfünfzig sehr schnell betrunken werdende Jugendliche einem die Sofakissen aufschlitzten und im Wohnzimmer Abfahrtski praktizieren.

Till und Marlies hätten es ohnehin niemals zu einem Landhaus gebracht. Ja, aus eigener Finanzkraft noch nicht einmal zu dem viel zu kleinen, aber modern ausgebauten Dachgeschoss, das sie mit ihren beiden Kindern bewohnten. Die Maisonettewohnung war das Geschenk gewesen, das Tills Eltern und Marlies’ Mutter dem hoffnungsfrohen Paar zu gleichen Teilen zur Hochzeit gemacht hatten. »Und das war’s dann aber auch mit dem Erben, nun brauchst du mit nichts mehr zu rechnen«, hatte Gisela schroff bemerkt. »Mit der warmen Hand geben«, nannte sie das. Aber die alleinerziehende Studienrätin ohne Ansprüche, Freunde, Hobbys und Geschmack, die ihr ganzes Leben lang mehr verdiente, als sie ausgeben wollte, hatte letztlich doch noch ein ganz hübsches Sümmchen hinterlassen. Letztes Weihnachten hatte der Lungenkrebs die Mutter, eine militante Nichtraucherin, nach jahrelangem Siechtum dahingerafft.

Beim Ausräumen ihrer kargen Hamburger Zweizimmerwohnung stellte Marlies Giselas abgeschabtes Mobiliar kurz entschlossen auf den Bürgersteig in der Nähe des Horner Kreisels, von wo aus es in Kürze, wie von Geisterhand fortgenommen, verschwand.

Das Sparbuch der Mutter entdeckte Marlies im Badezimmerschrank, unter den muffig riechenden Nylonstrümpfen. Zunächst hatte sie der Kontostand überrascht, dann erfreut, später beschämt. Ein ganzes Leben Verzicht und Rücksichtnahme, und nun blieb von Gisela nichts weiter übrig als ein Sparkonto mit einem Guthaben, zu klein, dass sich ihre Tochter hätte wohlhabend fühlen können, und doch wiederum groß genug, damit sich Marlies überlegen konnte, was für nutzlos schöne Dinge sie sich kaufen, welchen luxuriösen Urlaub sie mit ihrer Familie machen wollte. Sie parkte das Geld auf einem Sparkonto, als Schutzschild gegen unvorhersehbare Bedrängnisse. Denn nicht selten gab es in Marlies’ Leben Steuernachzahlungen von ungeahnter Höhe oder einen kapitalen Wasserschaden ohne die dazu passende Versicherung. Und obwohl sie ein stets wachsames Auge auf diesen erfreulichen Kontostand hielt, wurde das Guthaben langsam, aber schleichend weniger.

Von dem unverhofften Geldsegen erzählte Marlies Till wohlweislich nichts. »Und, noch was da?«, war seine lakonische Frage nach der Beerdigung der Schwiegermutter gewesen. Feige, aber nicht ohne ein schlechtes Gewissen hatte er sich vor dem letzten Abschied gedrückt.

»Nicht der Rede wert«, hatte Marlies geantwortet; eine ihrer Standardantworten, die sie aufgrund der universellen Anwendbarkeit bei gleichbleibender Wahrhaftigkeit schätzte.

Marlies und Till lebten, seitdem sie verheiratet waren, beständig im Dispo ihres gemeinsamen Girokontos. Doch erst seit Kurzem wuchs bei Till die Angst vor dem sicheren Absturz in die Verarmung. Er verdiente wenig und gab für sich noch weniger aus. Das Teuerste in ihrem gemeinsamen Leben waren die Kinder. Till hatte einmal in einem Zeitungsartikel von einem kinderhassenden Schlaumeier mit Taschenrechner erfahren, dass ein Kind die Erzeuger bis zur Volljährigkeit 130 000 Euro kostete. Diese Information hatte ihn erschüttert. Woher um Himmels willen sollte sie bei ihrem Leben einen so gewaltigen Betrag nehmen? Eine Viertelmillion nur für die beiden Kinder? Überhaupt, wäre es nach ihm gegangen, so hätte ihm die Tochter durchaus zum Glück gereicht, aber Marlies hatte mit Ende dreißig zum Thema Familienplanung eine derart explizite Vorstellung an den Tag gelegt, dass sein Einspruch nicht nur unsportlich, sondern auch beziehungssprengend gewirkt hätte.

Als er Marlies von dieser Aufrechnung der zu erwartenden Kinderkosten berichtete, hatte sie nur ein müdes Lächeln für ihn übriggehabt. Diese bahnbrechende Neuigkeit erinnerte sie an die Sache mit den Zigaretten. Jetzt rauchte sie schon seit über zehn Jahren nicht mehr, da hätte sich doch in den letzten zehn Jahren insgesamt 20 000 Euro angespart haben müssen. Und, hatte die Familie etwas von diesem unverhofften Reichtum bemerkt? »Na siehste, dann wird es sich wohl umgekehrt genauso verhalten.«

Marlies lehnte es ab, sich Sorgen zu machen. Sich Gedanken zu machen, reiche ihr voll und ganz. »Wenn mir etwas nicht gefällt, dann ändere ich es.« So war sie, die Frau, in die Till sich vor Zeiten verliebt hatte und die bis heute seine Nerven beruhigte. Trotzdem lag er neuerdings nachts auf dem grauen Ecksofa im Wohnzimmer wach und malte sich seine Zukunft in finsteren Endzeitfarben aus.

Als Marlies im Flur ihre Jacke an die überfüllte Garderobe hängte und ihre Turnschuhe abstreifte, hörte sie von oben bereits die jaulende Jimi-Hendrix-Gitarre. Sie stolperte zunächst über ein Paar hellblauer Gummistiefel in Größe 34 und trat dann mit dem rechten Fuß schmerzhaft auf ein Plastikzebra.

Es war ganz erstaunlich, was für eine Verwüstung ihre Familienmitglieder im Haushalt anrichten konnten, wenn man ihnen auch nur für zwei Stunden den Rücken kehrte. Sie erklomm die enge Wendeltreppe zur Wohnküche, stellte das Bier und den Wein in den Kühlschrank und betrachtete eine Weile in stiller Konzentration den Turm aus verschmierten Tellern und verkrusteten Töpfen, der schief aus der Spüle ragte. Ihr Blick wanderte an dem mit Tomatensoße gesprenkelten Griff der Besteckschublade entlang, als Jimi urplötzlich Ruhe gab und sie Till vom Sofa aus »Marliese!« rufen hörte.

Das Sofa war seit Langem schon – nicht nur bei nächtlichen Schlafproblemen, sondern auch tagsüber – zu Tills beliebtestem Aufenthaltsort geworden. Marlies aber Marliese zu rufen war ihm bei Androhung der schlimmsten ehelichen Konsequenzen seit jeher verboten.

Till lächelte sanft, rekelte sich behaglich und verschränkte die Arme hinter dem Kopf, als Marlies ins Zimmer trat. Von wegen vor Sorgen wegen seiner Familienprobleme kein Auge zutun können, sogar tagsüber und bei bester Beleuchtung gelang ihm das ganz prächtig. Marlies kam es so vor, als ob seine echten Bedenken sich genau genommen nur darauf beschränkten, dass sein Lieblingsfußballverein eventuell einen Listenplatz abrutschen oder eine seiner teuren Platten einen Kratzer bekommen könnte.

Till verbrachte die Tage damit, vom Sofa aus Sportsendungen oder seine Lieblingsserien im Pay-TV zu schauen und dazu Musik zu hören. Hin und wieder klampfte er dabei uninspiriert, wie sich Marlies ausdrückte, auf seiner alten Akustikgitarre. Kamen die Kinder nachmittags nach Hause, machte er mit ihnen Hausaufgaben, ging mit den beiden zum Arzt oder einkaufen oder brachte sie zum Sportverein. Wenn sich Marlies abends von ihrem Schreibtisch erhob, war die Küche in ein Schlachtfeld verwandelt, aber es stand auch meistens ein Topf mit Nudeln auf dem Herd, immerhin. Es gab nicht wenige Freundinnen, die sie um diese Art Hausmann beneideten.

Das einzige regelmäßige Einkommen, über das Till verfügte, war die klägliche Gage eines Auswechselgitarristen in einem Musical. Zunächst hatte er sogar den Hauptpart gespielt mit fünf Auftritten pro Woche, doch dann waren seine alten Depressionen wieder aufgetaucht. Die Dauerschleife der immer gleichen Gassenhauer hatte Tills Gemüt stark in Mitleidenschaft gezogen. Als Frohnatur konnte er ohnehin kaum durchgehen. Sein Therapeut riet ihm schließlich zum Aufhören, der Job bei einem Musical sei nichts für sein Selbstbewusstsein. Eine Erkenntnis, zu der Till nach einem Jahr auch ohne die Investition von hundert Euro pro Sitzung hätte kommen können, wie Marlies fand. Aber Till genoss es, bei jedem Wehwehchen einen Therapeuten aufzusuchen. Er kannte für jede Stimmungsschwankung einen anderen Experten und für Erektionsstörungen sogar eine Frau vom Fach der Seelenklempner.

Der exklusive Zuhörer war dabei für ihn mehr als nur Nervenberuhigung, sondern die einzige und letzte Möglichkeit, Verständnis zu empfangen. Wenn er nicht in harter Währung bezahlte, wer würde ihm dann zuhören?

Seine Eltern hörten niemandem zu, noch nicht einmal einander, vor seinen Freunden schämte sich Till wegen seiner Unzulänglichkeiten – und Marlies’ Verständnis hatte sich im Mahlstrom der Zeit zerrieben.

Marlies’ Ansicht nach hatten die Therapien und die Erklärungen der Psychologen vor allem eine Funktion, sie erlaubten Till den schmerzfreien Rückzug aus unangenehmen Situationen, und das ohne ein lästiges schlechtes Gewissen oder die Übernahme von Verantwortung. Die Schuld an seinen vermeintlichen Bindungsproblemen trug entweder der strenge Vater, der ihn ein Kinderleben lang auf Distanz gehalten hatte, oder aber seine labile Mutter, der er seine mangelnde Entschlussfreudigkeit verdankte. Oder seinem Dasein als Einzelkind, da er nie unter Konkurrenzdruck gebracht und somit auch nicht wettbewerbsfähig gemacht wurde. Es mangelte ihm an Verständnis und Fürsorge, und auch seine Frau geizte mit ihrer emotionalen Großzügigkeit, so hatten es die diversen Therapeuten in unzähligen Sitzungen herausgearbeitet.

Seine sexuellen Probleme hingegen hätten etwas mit seinem verletzten inneren Kind zu tun. Diese letzte Erkenntnis hatte Till Marlies erst unlängst zu erklären versucht. Aber da Marlies dazu eine ganz andere Meinung hatte, war sie den Erläuterungen nicht so recht gefolgt. Fest stand, dass – wie sie es in nicht mehr ganz frischer Erinnerung hatte – die Dinge einmal ganz prima geklappt hatten. Warum Till, der sich immer schon mit Hingabe an der eigenen, doch immer gleichen Familiengeschichte abarbeitete und noch vor Kurzem ein recht passabler Liebhaber gewesen war, heute aber untenrum immer häufiger den lahmen Gartenschlauch gab, war ihr ein unlösbares und vor allem ein recht unerfreuliches Rätsel.

Vielleicht ist ja alles egal, dachte Marlies plötzlich und trat näher. Till lächelte noch immer. Dieser einfältige Gesichtsausdruck konnte Marlies auf die Palme bringen. Obwohl sie wusste, dass es bestimmt diese Art zu lächeln gewesen war, die Frauen wie Sina hatten auf den Plan treten lassen. Die nannte das dann bestimmt süß.

Plötzlich fühlte sie sich hundemüde. Sie hatte beim Yoga heute alles gegeben und wollte jetzt nur noch Ruhe. Sie hatte Sehnsucht nach einem Zustand, in dem ihr endlich einmal alles egal war. Alles egal.

Eigentlich war Till schon das, was man hübsch nennen konnte. Vor zwanzig Jahren hatte er ihr auf jeden Fall ausgesprochen gut gefallen. Sein braunes Haar und seine sanften Augen, die Ruhe und Gelassenheit, die er ausstrahlte, seine klassische Nase und seine breiten Schultern, der gerade Rücken und die für einen Gitarristen recht ungewöhnlichen Klavierspielerhände. Und auch heute noch, bei gut einem Meter neunzig, konnte er aussehen wie der kleine Junge auf dem Schwarz-Weiß-Foto im Bücherregal der Schwiegereltern. Nur sexy fand sie ihn irgendwie nicht mehr.

Wie das ging? So sehr hatte er sich doch gar nicht verändert. Nun gut, in Haar und Bart waren erste graue Strähnen sichtbar und um die Augen knittrige Fältchen. Obwohl er ständig schlief, hatte er immer leichte Ringe um die Augen. Ein unübersehbarer Bauchansatz wölbte sich über der Hose, aber auch das war nichts wirklich Neues. Wenn sie ihn so betrachtete, dann schien ihr, als würde sie durch mehrere Zeitschichten immer noch den jungen Mann erkennen, der er gerade noch gewesen war, als Unterlage sozusagen. Die Jahre waren wie Schichten aus Milchglas dazugekommen, und der Ur-Till war ihr von Jahr zu Jahr ein wenig verschwommener vorgekommen. Irgendwie wurde er mit der Zeit unschärfer, vielleicht war es das.

Warum eigentlich sich nicht auch mal wie Till am helllichten Tag aufs Sofa legen? Sie stieg aus der engen Jeans. Er breitete automatisch seine Arme aus und schlug einladend die Wolldecke zurück. Sie legte sich mit dem rechten Ohr auf seine linke Brust und hörte sein Herz schlagen. Sie roch den warmen Sofa- und den Tillgeruch, eine Melange aus der schafwollenen Decke, seinem ungelüftetem T-Shirt, der schon lange nicht mehr gewaschenen Jogginghose und den Paprikachipskrümeln in der Sofaritze.

Schön wäre es, er würde sie jetzt küssen. Warum konnte er nicht einfach gut küssen? Warum konnte er eigentlich nicht so küssen wie Ralf? Dann könnte ihr vielleicht alles andere – seine Lethargie, seine Langsamkeit, dieses Unentschlossene und Grüblerische – egal sein.

Marlies schaute Till erwartungsfroh an, der hatte aber schon wieder die Augen geschlossen.

»Till, warum küsst du mich eigentlich nie?«

»Quatsch, natürlich küsse ich dich, du könntest mich ja auch mal küssen.«

»Aber das ist nicht das Gleiche wie geküsst werden.«

»Genau. Ich würde auch gern mal geküsst werden, meinst du, das finden nur Frauen gut?«

Wie häufig hatte sie Dialoge wie diesen schon erlebt? Kannst du nicht mal? Mach ich doch! Nein, eben nicht. Dann mach du doch. Würde ich ja gerne, aber …

»Außerdem hast du wohl vergessen, dass ich gar nicht küssen kann, hast du zumindest neulich gesagt.«

»Nein, hab ich nicht, ich hab nur gesagt, dass du mich nicht so richtig leidenschaftlich küsst. Zum Beispiel schaust du mich nie mehr dabei an, so wie du das früher gemacht hast. Außerdem hast du es irgendwie immer eilig.«

Till drehte sich zu ihr um und küsste sie – es war ein Kuss wie der, den er seiner Tochter jeden Abend vor dem Einschlafen gab. Dabei blickte er sie traurig an. Dann drehte er sich wieder auf den Rücken. Kurz darauf hörte sie seinen regelmäßigen Atem und dann einen kleinen Puster, gefolgt von einem zarten Pfeifen – Till war einfach so eingeschlafen.

Wie verfahren doch alles war. Marlies spürte nur noch eine fade Resignation. Wenn sie doch wenigstens über Tills mangelnde Hingabe und seine nicht vorhandene Aufmerksamkeit verzweifeln könnte. Konnte sie aber nicht. Nicht mehr. Wozu auch? Wer so leidenschaftslos war, der musste sich nicht wundern. Muss ich mich etwa schon rechtfertigen, am Ende vor mir selbst?, dachte sie noch schläfrig und fühlte ihre angenehm schweren Glieder.

Tills leises Schnarchen, sein sanft rasselndes Einatmen und das pustende Ausatmen waren wie Wellen, die gegen den Strand rollten und wieder zurück. Sie lauschte diesem rhythmischen Wellenschlag – dann schlief auch sie.

Marlies hörte nicht mehr Bob Dylans wimmernde Mundharmonika, die den Hendrix-Krach abgelöst hatte und die sie nicht leiden konnte, und Till nicht das leise Vibrieren in der rechten Gesäßtasche ihrer Jeans auf dem Teppich, das eine eingehende SMS ankündigte – und deren Inhalt wiederum ihm ganz und gar nicht gefallen hätte.

Marlies wurde mit dem Gefühl wach, dass jemand sie anguckte.

»Schlaft ihr jetzt schon beide tagsüber?«, fragte Anni grinsend.

»Wie spät ist es denn, mein Schätzchen?« Marlies setzte sich auf.

»Fast sechs. Ich bin gleich wieder weg, ich muss nur schnell meine Zahnbürste holen, ich schlafe heute bei Carla.«

»Morgen ist ganz normal Schule, das passt mir aber gar nicht«, entgegnete Marlies, doch Anni war bereits verschwunden. Auf dem nicht mehr ganz weißen Berberteppich zeichneten feuchte Fußstapfen Annis Spur Richtung Flur nach. »Ach nö, Anni, wie oft soll ich dir denn noch sagen, dass du die Schuhe im Flur ausziehen sollst.«

Wie oft soll ich es noch sagen … Wann hatte sie eigentlich begonnen, in dieser Müttersprache zu reden? Wenn sie nicht aufpasste, würde sie bald mit Solange du deine Füße unter meinen Tisch … weitermachen.

Anni erschien wieder im Rahmen der Wohnzimmertür, jetzt balancierte sie vor sich eine Wasserflasche, eine Tüte mit Brötchen und eine Kekspackung auf einem Schlafsack und dem Viermannzelt der Familie.

»Was wird das denn, wenn’s fertig ist?« O nein, schon wieder hatte sie reflexhaft eine dieser Formeln ausgesprochen.

Jetzt rappelte sich auch Till neben ihr auf.

»Wir zelten im Hof. Das war Carlas Idee, und Carlas Mama hat schon Ja gesagt.« Anni setzte ihr charmantes Ich-bin-ein-liebes-kleines-Kind-Gesicht auf, mit dem sie, noch mehr als ohnehin schon, ihrem Vater ähnlich sah.

Sie war das, was man ein unkompliziertes Kind nennen konnte. Ganz im Gegensatz zu ihrem zwei Jahre jüngeren Bruder Jan wirkte sie stets gut gelaunt und ausgeglichen. In ihrem Leben schien es keinerlei Probleme zu geben, keine Mädchenzickereien und präpubertären Dramen, von denen Marlies’ Freundinnen, die ebenfalls Mütter von Töchtern waren, berichteten. Anni war durch nichts zu kränken und psychisch so stabil wie ein Playmobilmännchen.

Vor allem gab sie niemals Widerworte. Eine ihrer angenehmsten Wesenszüge war es, stets und zu allem Ja zu sagen. Bat man sie, den Tisch abzudecken, willigte sie umgehend ein. Sollte die Spülmaschine ausgeräumt werden, meldete sie sich meist freiwillig. Das absolut Erstaunliche an dieser Zuvorkommenheit war, dass auf ihre fortwährende Zustimmung und angebotene Hilfeleistung so gut wie keinerlei Taten folgten. Das Geschirr befand sich weiterhin dreckig auf dem Tisch oder stand sauber glänzend in der Maschine. Auf jede Nachfrage flötete Anni nur immer wieder ein neues, begeistertes »Gleich« oder »Sofort«, ohne auch nur den Ansatz einer Tat oder Handlung folgen zu lassen. Das Ganze endete stets damit, dass Marlies resigniert die anstehenden Arbeiten übernahm, da sie ein paar Handgriffe weniger ermüdeten als die immer gleiche Aufforderung. Fragte sie Anni, warum sie schon wieder keinen Handschlag getan habe, beteuerte das Kind, wie stets in Hochstimmung, dass sie mit Sicherheit alles erledigt hätte, wenn man ihr nur etwas mehr Zeit gelassen hätte. Dabei konnte sie ein bestechendes Lächeln an den Tag legen, mit dem sie ihrem Vater in Sekundenschnelle das Herz erweichte und das auch Marlies willenlos zurückließ.

Anni musste man stets ermahnen, sich das Gesicht zu waschen. Sie schien mit zwölf Jahren immer noch ganztägig einen Schokoladenbart zu tragen. Für Körperpflege war sie einfach zu beschäftigt. Wozu sich die Haare kämmen und die Zähne putzen? Kaum hatte man diese lästigen Prozeduren hinter sich gebracht, musste man damit auch schon wieder aufs Neue beginnen. Auch jetzt erschien Marlies die kleine pummelige Gestalt ihrer Tochter merkwürdig flächig verdreckt.

»Ich hab mir schon den Wecker auf meinem Handy auf sechs gestellt, dann bin ich wieder oben und mache für alle Frühstück, ja?«

Herrje, schon wieder eine dieser leeren Versprechungen, doch ehe Marlies protestieren konnte, sagte Till: »Okay, ist schon gut, aber vergiss die warme Jacke nicht.«

Das gab’s doch gar nicht, wurde sie hier vielleicht auch noch einmal gefragt?

»Du bist ein Schatz, Papilein«, rief Anni noch, und schon fiel die Haustür ins Schloss. In einer Schnelligkeit, an der man unschwer erkennen konnte, dass besagte warme Jacke natürlich an der Garderobe hängen geblieben war.

»Till, das ist doch bescheuert!«

»Ach, lass sie doch, die sind gleich wieder oben, ist doch viel zu feucht und in der Nacht auch viel zu kalt zum Campen.«

»Ja, eben.«

»Wie, eben?«

»Bis dahin hat sie sich vielleicht einen Schnupfen geholt, kann übermorgen nicht in die Schule gehen, ich kann daraufhin nicht konzentriert arbeiten, und zum Schluss steckt sie uns alle noch an, und wir sind zwei Wochen mit Teekochen und dem Befüllen von Wärmflaschen beschäftigt.« Marlies bemerkte, wie ihre Stimme den schrillen Ton der Klagelaute bekam, den sie bei ihrer Mutter immer als unsäglich ältlich empfunden hatte, und versuchte es mit einer veränderten Tonlage, einer halben Oktave tiefer, die Vernunft und Sachlichkeit ausdrücken sollte.

»Till, können wir uns bitte nur ein einziges Mal absprechen? Können wir irgendwann einmal als Eltern aus dieser Good-Cop-Bad-Cop-Nummer herauskommen? Oder wenigstens zur Abwechslung einmal die Rollen tauschen? Du streng, ich nachgiebig?«

Till erhob sich gemächlich vom Sofa. »Und du? Könntest du vielleicht einmal aufhören, mir Vorwürfe zu machen?« Das Thema schien ihn wenig zu interessieren und erst recht nicht aufzuregen, während Marlies bereits das heiße Glühen der sich schnell verbreitenden hektischen Flecken auf ihren Wangen bemerkte.

Mit hängenden Schultern suchte Till im Wohnzimmer nach einem fehlenden Badeschlappen. Nein, schön oder begehrenswert konnte man ihn wirklich nicht nennen. Wann hatte sich dieser Typ eigentlich das letzte Mal die Haare gewaschen? »Könntest du mir bitte mal sagen, warum …?«

Aber Till verließ ungerührt den Raum. »Ich muss jetzt zur Arbeit. Glaub mir, ich hab ganz andere Probleme.«

Marlies ging in die Küche und wappnete sich zum Angriff auf die dortige Verwüstung. Sie fühlte sich nach dem Nickerchen, das doch als ach so gesund gepriesen wurde, merkwürdig verdreht. Ihr war unangenehm warm, sie hatte einen trockenen Hals, leichte Kopfschmerzen und spürte eine lähmende Unzufriedenheit, eine ätzende Antriebslosigkeit. Sie ordnete das dreckige Geschirr, ließ Wasser ins Spülbecken ein, wischte den Tisch ab, sortierte die Glasbehälter mit Zucker, Mehl und Haferflocken, bis auf dem Küchenbord alles wieder in Reih und Glied stand. Nach zehn Minuten hatte sie wieder eine gewisse Grundordnung in die Küche gebracht, die sie beruhigte und deren beruhigende Wirkung sie zugleich beunruhigte und beschämte.

Plötzlich musste sie an die Mutter ihrer besten Schulfreundin Annika denken, die nach dem Mittagessen immer die Spüle auf Hochglanz polierte, bis man sich im Becken spiegeln konnte. Die bekam Wutanfälle mit anschließenden Heulkrämpfen, wenn man sich nach ihrer gründlichen Küchenreinigung die Hände in der Küche wusch und Seifenspritzer den perfekten Glanz zerstörten. Annika hatte sich für dieses Vergehen sogar einmal eine Backpfeife von ihrer Mutter eingefangen. Wie unglaublich bescheuert ihr diese verhärmte Frau vorgekommen war, und auf eine überhebliche, anmaßende Teenagerart hatte sie ihr sogar leidgetan. Heute begann sie, das verborgene Lebensdrama dieser Frau zu verstehen. Wie hieß es doch gleich in diesem Lied? »Und dann staubsaugt sie los im Zimmer ihrer Tochter, und wieder sieht sie das Bild von James Dean …«

War es etwa auch bei ihr schon so weit? Immerhin musste sie seit Neustem wieder selber saugen, seitdem sie sich Olga aus Kasachstan nicht mehr leisten konnten. Aber war sie jetzt wirklich schon »Jenseits von Eden, mit zitternden Knien«? Au Backe.

Als sie gerade den letzten Teller abtrocknete, kam Till in die Küche, trat von hinten an sie heran und umarmte sie. Till lehnte schwer und warm an ihrem Rücken, und sie wünschte sich, dass diese Schwere jetzt sofort zusammen mit ihm die Wohnung verlassen würde. Musste denn Till, der demonstrativ gequält zu seinem Musicaljob ging, immer einen Teil seiner Lethargie in ihrer Wohnung zurücklassen? Es konnte Stunden dauern, bis sie an ihrem Schreibtisch wieder in Schwung kam, einen Artikel zu Ende schreiben oder einen neuen Gedanken fassen konnte.

»Kann mich nicht einfach mal jemand dafür bezahlen, dass ich ich bin?«, raunte er hinter ihrem Rücken. O nein, nicht schon wieder diese Leier. Marlies konnte sich jetzt keinen Hänger leisten, sie musste die Familie ernähren, von ihr wurde Esprit verlangt. Nur nicht runterziehen lassen, dachte sie, machte sich aus der Umarmung frei, drehte sich schwungvoll um und gab ihm einen schmatzenden Kuss auf die Wange und einen Klaps auf den Hintern.

»Auf gehts, wird schon«, sagte sie in aufgesetzt fröhlichem Ton und gab ihm dazu noch einen leichten Schubs vor die Brust, der ihn in Gang bringen sollte.

Till schaute sie mit dem traurigsten all seiner trübsinnigen Blicke an, dem des ewig unverstandenen und verkannten Künstlers. Während er aus der Küche schlich, pfiff Marlies »Hinterm Horizont geht’s weiter«.

»Wer kann das schon mit Sicherheit bezeugen?«, murmelte Till resigniert, und weg war er.

ZWEI

Till schob sein Fixie aus der Hofeinfahrt, setzte sich die Gitarrentasche als Rucksack auf und schwang sich aufs Rad. Die Straße war ungewöhnlicherweise menschenleer. Links und rechts der Bordsteinränder standen Kirschbäume. Im Frühling, wenn sie blühten, verwandelten sie die enge, schmucklose Straße mit den unscheinbaren Ladenlokalen, dem holprigen Kopfsteinpflaster, den zahllosen in der Sonne dampfenden Hundehaufen und den aus ungeklärten Gründen auch immer wieder auf dem Bürgersteig herumliegenden Kondomverpackungen zu der schönsten Straße der Hauptstadt. Sieben Tage währte diese Pracht, das weiße und rosa Blütenmeer, diese unverbrauchte Schönheit, der imaginierte Duft von der frischen Bettwäsche aus der Fernsehwerbung. Am achten Tag zeigten die Blüten meist die ersten braunen Stellen, und nach zehn Tagen lagen die zermatschten Blättchen in den Pfützen der Straße, breitgetreten und plattgefahren wie das Konfetti am Tag nach der Hochzeit, um wiederum wenige Tage darauf ganz verschwunden zu sein – als hätte es den Frühling nie gegeben.

Till trat kräftig in die Pedale. Am liebsten fuhr er auf dem Bürgersteig. So wie jetzt. Dass ihn dabei immer wieder Passanten beschimpften, ältere Herrschaften und besorgte Mütter, nahm er mit einer Mischung aus schlechtem Gewissen und dem Hochmut des Schnelleren billigend in Kauf.

Das modische Fahrrad verfügte weder über eine Gangschaltung noch über eine Bremse und wurde deshalb mit Vorliebe von lebensmüden, unter Knebelverträgen leidenden Fahrradkurieren gefahren. Es war Till auf eBay ins Netz gegangen.

Er konnte ganze Tage am Computer in diesem virtuellen Ramschladen verbringen. Dinge suchen, finden, stets viel zu niedrige Angebote abgeben und sich dann freuen, dass er diesen Plunder doch nicht kaufen musste.

Bei dem erbsengrünen Rennrad war das anders gewesen, das brauchte er dringend, das wusste er sofort. Ein paar Tage zuvor war ihm vor der Dönerbude sein solides Hollandrad geklaut worden. Für drei Minuten nur hatte er es an eine Linde gelehnt, schon hatte sich das Fahrrad im Smog des Berliner Berufsverkehrs aufgelöst. Der Raub hatte seinen Glauben in seine wohlbehütete Wohngegend zutiefst erschüttert. Wo lebte man denn bitte, wenn man fünfzehn Jahre alte Gazelle Räder nicht mehr für einen Imbiss aus den Augen lassen durfte? Und was hieß das für den Schulweg seiner Kinder und die Sicherheit seines Mikrokosmos?

Das Fixie, das aufgrund der auffallend hässlichen Farbe keine weiteren Kaufinteressierten gefunden hatte, war für einen bemerkenswert niedrigen Preis in Tills Besitz übergegangen und sofort zu seinem absoluten Lieblingsspielzeug avanciert.

Zunächst hatte ihn die Frage beschäftigt, wie er Jan die Sache mit den fehlenden Bremsen erklären sollte, aber dann hatte er sich an die Helmdiskussion erinnert.

»Wieso tragt ihr eigentlich keine Helme, und ich darf ohne dieses Ding noch nicht einmal zum Vietnamesen radeln und Brötchen holen?«, hatte Jan Marlies gefragt.

»Weißt du, auf uns kommt es hier nicht mehr an«, hatte die geantwortet. »Für uns ist die Sache auf diesem Planeten quasi gelaufen. Aber du, du kannst noch Großes bewegen.« Was den Sohn dazu bewog, seinen Helm unterm Kinn noch etwas fester zu ziehen und niemals nach einem Rennrad mit viel zu dünnen Reifen und ohne Bremsen zu fragen.

»Kinder sind CDU«, das hatte mal ein befreundeter Journalist zu ihm gesagt, der schwul und kinderlos und daher auf eine sehr souveräne Weise mit Weitsicht geschlagen war.

Till sauste die Greifswalder Straße in Richtung Alex und dann weiter die dreispurige Leipziger Straße entlang. Die Strecke vom behaglichen Bötzowviertel zum gesichtslosen Potsdamer Platz war, genau genommen, eine Tortur. Die in die Stadt gehauenen, grauen Magistralen mit den farblosen Plattenbauten machten ihm schlechte Laune und manchmal sogar so etwas wie Angst. Hinter jedem Fenster wohnen Menschen – kaum vorstellbar. Fuhr er dann später am Abend, meist deutlich langsamer, wieder heim und blickte neugierig an diesen Häusern hoch, schaute er in die wenigen noch hell erleuchteten Fenster. Er sah Teile von braunen Schrankwänden, vergilbte Hängelampen, Ausschnitte von violett beleuchteten Aquarien und zerschlissene Gardinen, Nippes, Kakteen und Trockenblumen, grelle Plakate, verrutschte Fahnen und Wimpel, Teddys und sinnfreie Wohnelemente wie Windspiele und Lavalampen. Aber eines hatten fast alle diese Buden gemein: Es herrschte in ihnen eine ganz unsägliche Lichtstimmung, die es einem schwer machte zu glauben, dass man hier einen Blick in die sorgsam umhegten nächtlichen Rückzugsorte müder Menschen warf und nicht in die Verhörkammern perfider Geheimdienste weit entfernter Bananenrepubliken.

Stell dir vor, du müsstest in einer dieser Wohnungen leben, zusammen mit der Frau, die diese Porzellanpuppen in Harlekinkostümen sammelt und die vor der Fototapete – überdimensionale Pusteblumen auf grün-orangen Streifen – noch zu später Stunde Patiencen legt. Till spielte gerne dieses Spiel mit sich selbst: Welches Fenster würdest du wählen, wenn du gezwungen wärst, ausgerechnet hier zu leben? Er spielte es an Ausfallstraßen, in Bahnhofsgegenden, aber auch in entlegenen Bergdörfern oder in Villenvororten. Dabei kam er regelmäßig ins Grübeln. Welchem Zufall hatte er die exakten Umstände seines Lebens zu verdanken? Und wie wäre alles gekommen, wenn Linda während der Skifreizeit in Bad Ischl 1987 seinen Kuss erwidert hätte? Wenn er zum Bund eingezogen worden wäre? Wenn er in der Nacht, bevor er Marlies traf, nicht zu krank gewesen wäre, um an Weihnachten seine Eltern zu besuchen, wie ursprünglich geplant? Er konnte Stunden damit verbringen, sich vorzustellen, welches Ereignis sich ohne eine vermeintlich nebensächliche Entscheidung nie zugetragen hätte. Zufälle wie die, sich nach dem Sport noch einen Energiedrink zu gönnen oder zu Fuß nach Hause zu gehen, anstatt den Bus zu nehmen. Man konnte von einer Bombe in Stücke gerissen werden, wenn man am falschen Tag in einer beliebigen Disco tanzen wollte, oder überraschend Vater werden, wenn man in die falsche Besenkammer geriet. Gern würde er einmal ein festes Garn am Anfang dieses Gedankenlabyrinths festbinden und dann den ganzen Weg bis hin zu dem Minotaurus seines eigenen Schicksals abwickeln. Denn so war es doch: Man kam per Zufall in die tollsten Situationen, aber selten wieder beiläufig aus einem Schlamassel heraus.

Vor dem Hintereingang des Musicaltheaters hantierte Till in der Hocke an seinem schweren Fahrradschloss, einer Kette, die mehr wog als das zu sichernde Objekt, und schloss das Rad an einen Laternenmast an. Dabei musste er sich unter den orangenen Mülleimer ducken, auf den die Berliner Stadtreinigung in großen weißen Lettern einen dieser flotten Werbesprüche geklebt hatte: »Corpus für alle Delicti.«

»Sach mal, zieh dir mal die Buxe hoch, man kann dir ja voll Rohr in die Kimme gucken.« Jost stand direkt neben ihm und schwang seinen Bass lässig hin und her, als käme er von einem Straßenkonzert aus der nächstbesten Unterführung. Er rauchte, die Kippe zwischen Daumen und Zeigefinger ins Innere der Handfläche haltend, eine filterlose Zigarette. Jost trug eine dünne, aralblaue Trainingsjacke mit Kapuze unter einem alten grauen Leinenjackett, eine betont enge Anzughose und dazu Adidas-Turnschuhe, deren Verfallsdatum schon vor Jahren abgelaufen war. Aus seiner rechten Jackentasche ragte der Hals einer flachen grünen Flasche.

Till schaute von unten an Jost hoch und stellte mal wieder nicht ganz neidlos fest, dass noch der letzte fadenscheinige Fummel an seinem Freund cool und lässig aussah, wohingegen er immer so wirkte, als hätte er sich am Kleiderschrank seines zehnjährigen Sohns bedient. Es war Josts hochgewachsener, schlaksiger, fast magerer Körper, der die Klamotten so wirken ließ, als hätte er sie sich nur provisorisch übergeworfen. Josts Frisur war seit zwanzig Jahren unverändert: feines blondes Haar, halb lang, mit einem schräg geschnittenen Pony, den er von Zeit zu Zeit hochpustete, wie das früher schon ihre gemeinsamen Klassenkameradinnen auf der Gesamtschule zu tun pflegten. So lange er Jost kannte, hatte sein Haar noch nie frisch geschnitten oder frisch gewaschen ausgesehen. Trotzdem waren in der Schule die hübschesten und sportlichsten Mädchen auf ihn geflogen, und auch heute immer noch die schärfsten Frauen.

»Und du stinkst wie ’ne Bahnhofskneipe nachts um halb drei«, sagte Till, erhob sich, nachdem das Schloss endlich eingerastet war, und stieß sich den Kopf an der scharfen Unterkante des Mülleimers.

Für eine Sekunde wurde es ihm schwarz vor Augen, und er spürte, wie ihm die Tränen in die Augen schossen. Warum durfte er, nur weil er ein Mann war, nicht einfach mal losheulen? Ein Rätsel. Ihm war heute schon den ganzen Tag zum Weinen zumute.

»Lass mal gucken«, sagte Jost plötzlich besorgt, trat seine Zigarette aus und fummelte zutraulich mit seinen gelben Nikotinfingern in Tills braunen Locken herum.

»Pfoten weg!« Till verscheuchte Josts Hand wie einen Schwarm lästiger Fliegen, hob die Gitarre vom Boden auf, zog sich die Jeans hoch und machte einen Schritt in Richtung der breiten Eisentür mit der Aufschrift Bühneneingang.

Dahinter tat sich ein nackter Betonflur auf, ein lindgrün gestrichener Schacht in stechend heller Neonbeleuchtung. Dass man sich hier in einem Theater befand, war nicht zu spüren, genauso gut hätte man im Kellergeschoss eines Parkhauses oder im Inneren eines Atomkraftwerks umherirren können. Seit vier Jahren schon war Till gezwungen, regelmäßig diesen Flur zu passieren. Bereits als er das erste Mal die Umkleide gesucht hatte, war ihm die Schlusssequenz aus »Dead Man Walking« eingefallen. Seitdem hatte er hier keinen einzigen Arbeitseinsatz geschoben, der ihm nicht wie der Gang zu einer gut vorbereiteten Hinrichtung vorgekommen wäre. Jost hingegen schlenderte in seinem federnden Gang neben ihm her und plapperte unbeschwert irgendetwas von einer heißen Braut – er benutzte mit über vierzig tatsächlich immer noch diese albernen Schulhofausdrücke –, die er gestern in einem Rockabilly-Schuppen klargemacht hatte.

»So ein appetitlicher Bunny, Typus Olivia, die schwarzhaarige Frau von Popeye.« Über und über mit buntem Obst tätowiert: Bananen im Ausschnitt, Himbeeren um die Brustwarzen, Weintraubenranken bis zum Nabel und saftige Walderdbeerenbeete links und rechts direkt neben der Pflaume.

»Mensch, hör auf, mir so ’nen Mist zu erzählen.« Dabei konnte Till sich das Lachen nicht verkneifen. Niemand konnte einen solchen Chauvischeiß so charmant erzählen wie Jost.

»Nun grinst er wieder, der traurige Bernhardiner«, bemerkte Jost zufrieden.

In den Umkleideräumen war eine ihnen unbekannte Praktikantin damit beschäftigt, die weinroten Anzüge der Bandmitglieder mit einer Fusselbürste zu bearbeiten. Als Till und Jost eintraten, setzte sie grußlos ihre Arbeit fort. Ansonsten war die Garderobe menschenleer. Die meisten Musiker waren erst seit kurzer Zeit Mitglieder des ständig wechselnden Ensembles und nutzten die letzte Stunde vor dem Auftritt zu einer finalen Probe. Till und Jost hätte man hingegen aus tiefstem Nachtschlaf reißen und mit der Ansage »Dreiundzwanzigste Minute, zwölf Sekunden« punktgenau zum Einsatz bringen können. Sie erschienen immer erst auf den letzten Drücker. Heidi, die maskuline Maskenbildnerin, brachte das regelmäßig auf die Palme, aber genau genommen bestand ihre Aufgabe nur darin, einmal kurz in den Pomadetopf zu greifen, die Musikerhaare aus dem Gesicht zu striegeln und flüchtig mit der Puderquaste über ihre Nasen zu feudeln.

Eigentlich kein großes Ding und auch in wenigen Minuten zu machen, aber Heidi nahm ihr Zuspätkommen als Zeichen mangelnden Respekts vor ihrem Berufsstand. So nach dem Motto, auf die Make-up-Tube drücken kann doch jeder, und das gab Heidis konstant schlechter Laune Futter. Jost warf sich in einen der Schminksessel vor den mit Glühbirnen umrandeten Spiegeln und ließ seine Beine über eine Sessellehne baumeln. Till suchte währenddessen nach seinem verhassten Polyesteranzug.

»Na Mädels, auch schon da?«, begrüßte Heidi die beiden Nachzügler grimmig.

»Ach Süße, sei doch nicht immer so streng zu uns«, flötete Jost und setzte sich artig auf. »Sag mal, kennste den schon: Was machen drei schwule Männer mit einer Lesbe?«

Heidi stellte sich kerzengerade hinter Josts Sessel, nahm den Frisierumhang zwischen beide Hände und warf ihn wie einen Strick um seinen Hals.

»Klar, mein Häschen«, brummte sie mit ihrer tiefen Raucherstimme. »Zwei halten sie fest, und einer macht ihr die Haare. Und wenn du nicht aufpasst, dann legt dir so bald keiner mehr das Haar.« Dabei zog Heidi den Umhang fester, bis Jost theatralisch röchelte und mit beiden Händen in die Schlinge griff.

Ohne Jost wäre ich schon längst arbeitslos, dachte Till. Wie einfach alles sein konnte, wenn man über ein sonniges Gemüt verfügte. In Ermangelung eines solchen blieb Till nichts anderes übrig, als sich an seinen alten Schulfreund zu klammern. Es war Jost gewesen, der ihm den Job beim Musical besorgt hatte. Tills Dozentur an der Musikhochschule war gerade ausgelaufen, und er drohte wieder einmal, in eines der ihm allzu bekannten schwarzen Löcher zu fallen, als Jost bei ihm mit einem Zeitungsausschnitt angerückt kam. Konzertmusiker für Musical gesucht.

Zunächst hatte er sich geweigert, hatte sich sogar, ganz gegen sein phlegmatisches Naturell, richtig aufgeregt und Jost einen Verräter genannt. »Bei so einem Butterfahrtklamauk willst du anheuern? Musical allein ist ja schon schlimm genug, aber dann auch noch so eines. Ich soll hier in Berlin täglich die Gassenhauer von einer deutschen Rock-und-Pop-Legende spielen, in dessen Abwesenheit? Während der als Rentner in Hamburg an der Außenalster die Geldscheine zählt und mit Onkel Dagobert in die Wanne steigt, soll ich mir jeden Abend einen Wolf spielen? Mensch Jost, dir muss ich das doch nicht sagen, dafür haben wir doch nicht jahrelang Gigs in den letzten Kaschemmen und dreckigsten Bars hingelegt, um dann so zu enden. Bitte sag mir, dass das nicht wahr ist.«

Aber stattdessen klärte ihn der Freund darüber auf, wie hoch die Abendgage war und damit ihr monatliches Einkommen. Zwei Tage später spielten sie einem kleinen Mann in schwarzem Rollkragenpullover mit Intellektuellenbrille die Lieblingssongs ihrer älteren Mitschüler vor.

Beide hatten nicht gerade ein Faible für deutsche Rockmusik, und der Trubel der Wiedervereinigung war in ihren eigenen Pubertätswirren untergegangen. Daher hatte es sie anfänglich erstaunt, wie viele Menschen dieses Musical fortwährend sehen wollten – und wie glücklich sie dieses Stück machte.

Als die beiden nun in ihren Auftrittskostümen den hinteren Teil der noch verdunkelten und mit mehreren Vorhängen abgetrennten Bühne betraten, hatte sich der Saal bereits gefüllt, und die gespannte Vorfreude des Publikums war wie immer als Raumelektrizität zu spüren. Das Theater hatte gigantische Ausmaße. Die Tribünen verliefen über fünf großzügig angelegte und stufenweise versetzte Stockwerke. Aus der Perspektive der Musiker erschien der Zuschauersaal wie die Rückseite eines grundsanierten Maya-Tempels. Auf den Rängen herrschte Gemurmel und geschäftiges Gewusel.

Auf dem Bühnenboden zeigten kleine Kreuze aus schwarzem Gaffer Tape die Position der Musiker an. Till musste schon lange nicht mehr auf das Parkett schauen: Er stand ganz rechts außen, sodass er auch während der Bühnenshow im gleißenden Scheinwerferlicht nur wenige Male für das Publikum zu sehen war. Neben ihm stand die zweite Klarinette. Sie hieß entweder Klaus oder Sina. Heute war Sinas Abend. Sie unterhielt sich angeregt mit der Altflöte, deren Namen sich Till nie merken konnte. Die Intensität, mit der sie sich in das Gespräch vertieft gab, war schlecht geschauspielert. Till kam sich vor wie früher auf dem Schulhof, wenn die angesagten Jungs in kleinen Gruppen zusammenstanden und rauchten und die begehrenswerten Mädchen verschwörerisch kicherten. Da er noch nie ein Draufgänger gewesen war, hatten bei ihm immer alle weggeschaut, wenn er vorbeiging. Erst als Jost aus Eckernförde nach Kiel gezogen war und vom Biolehrer neben Till gesetzt wurde, endete sein Schattendasein.