Bittersüßes Happy End - Caroline Anderson - E-Book

Bittersüßes Happy End E-Book

Caroline Anderson

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Beschreibung

Plötzlich steht er wieder vor ihr: Sam Cavendish, der Arzt mit dem unwiderstehlichen Lächeln, den Krankenschwester Gemma vor zehn Jahren verlassen hatte! Eine Entscheidung, die sie jeden Tag bitter bereut hat – und Sam scheint nicht bereit, ihr zu verzeihen …

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IMPRESSUM

Bittersüßes Happy End erscheint in der Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg

Redaktion und Verlag: Postfach 301161, 20304 Hamburg Telefon: +49(0) 40/6 36 64 20-0 Fax: +49(0) 711/72 52-399 E-Mail: [email protected]
Geschäftsführung:Katja Berger, Jürgen WelteLeitung:Miran Bilic (v. i. S. d. P.)Produktion:Christina SeegerGrafik:Deborah Kuschel (Art Director), Birgit Tonn, Marina Grothues (Foto)

© 2009 by Harlequin Books S.A. Originaltitel: „The Rebel of Penhally Bay“ erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

© Deutsche Erstausgabe in der Reihe JULIA PRÄSENTIERT ÄRZTE ZUM VERLIEBENBand 35 - 2010 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg Übersetzung: Michaela Rabe

Umschlagsmotive: sakkmesterke / Shutterstock

Veröffentlicht im ePub Format in 5/2024

E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 9783751529587

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:BACCARA, BIANCA, ROMANA, HISTORICAL, TIFFANY

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PROLOG

Es wäre nicht passiert, wenn er besser aufgepasst hätte.

Aber Sam war abgelenkt und mit seinen Gedanken meilenweit weg. Genauer gesagt in Cornwall, und das hatte er nur dem Brief seiner Mutter zu verdanken, den man ihm beim Verlassen des Krankenhauses in die Hand gedrückt hatte.

Er waren die üblichen Klagen.

Ich hoffe, es geht Dir gut. Jamie hat ein exzellentes Zeugnis bekommen. Der Himmel weiß, warum, der Junge ist so faul. An wen erinnert Dich das? Nun, wenn er es so weit bringt wie Du, soll es mir recht sein. Ich verstehe nur nicht, warum Du Dich in Afrika vergräbst. Ich wünschte, Du wärst hier, Du könntest ihn zur Vernunft bringen …

Eher nicht. Der Einzige, der Jamie zur Vernunft bringen konnte, war Jamie selbst. Das wusste Sam genau, schließlich waren er und sein Bruder aus demselben Holz geschnitzt.

Doch dann hatte der Brief eine unerwartete Wendung genommen.

Übrigens habe ich Gemma wiedergetroffen, und sie hat nach Dir gefragt. Kaum zu glauben, dass es schon zehn Jahre her ist, seit Du kurz mit ihr zusammen warst. Danach hast Du Dich hier ja kaum blicken lassen, aber vielleicht reizt es Dich, mal wieder nach Penhally Bay zu kommen – Gemma ist doch bestimmt interessanter als Deine langweilige alte Mutter.

Sie arbeitet als Krankenschwester bei Dr. Roberts und ist immer noch unverheiratet. Das verstehe ich gar nicht, so ein bildschönes Mädchen. Sie wollte alles über Dich wissen. Du hast hier eine Chance verpasst, Sam. Vielleicht solltest Du wirklich nach Hause kommen und da weitermachen, wo Du damals aufgehört hast …

Den Rest hatte er sich geschenkt. Zu einer Papierkugel zusammengeknüllt landete der Brief im Abfallkorb, und Sam war hinausmarschiert. Draußen begrüßten ihn die ersten gleißenden Sonnenstrahlen. Verdammt. Er hatte im Morgengrauen aufbrechen wollen, aber dann war eins zum anderen gekommen und jetzt noch dieser verfluchte Brief …

Sein Motorrad war schwer bepackt mit allem, was er für die Fahrt zu der kleinen, dreißig Meilen entfernten Behelfsklinik brauchte, und er konnte keine Ablenkung gebrauchen. Erst recht nicht so etwas wie die Erinnerung an Gemma oder jenen Sommer. Das war jetzt zehn lange, einsame Jahre her. Zehn, verflucht! Von wegen Chance verpasst, als wäre es seine Schuld gewesen. Gestohlen hatte man sie ihm …

Wütend schwang er sich auf den Sitz und trat den Anlasser durch. Während er den Helm festzurrte, jagten ihm Fragen über Fragen durch den Kopf. Warum zum Teufel war sie wieder in Penhally Bay? Und warum arbeitete sie als Krankenschwester? Sie wollte doch Ärztin werden, war Feuer und Flamme gewesen für das Medizinstudium.

Aber für ihn war sie auch Feuer und Flamme gewesen … anfangs.

Er gab Gas, hörte das schwache Brummen des kleinen Motors und vermisste wieder einmal seine alte, kraftvolle Maschine. Gemma hatte sein Motorrad geliebt, und sie hatten unzählige Touren unternommen. Ein Jahr lang waren sie unzertrennlich gewesen – jedes Mal, wenn sie mit ihren Eltern aus Bath kam, um in Penhally Bay Urlaub zu machen.

Nicht dass ihre Eltern etwas wissen durften. Sam galt als ungestüm und draufgängerisch, ein ausgemachter bad boy und deshalb kein Umgang für die Tochter der Johnsons. Also hatten Gemma und er sich heimlich getroffen.

Im zweiten Jahr kam sie dann allein nach Penhally Bay. Wie Sam hatte auch sie ihren Schulabschluss in der Tasche, und dieser Sommer war der letzte, bevor sie auf die Universität gehen würden. Doch es war nicht das Ende, sondern der Anfang von etwas Neuem in ihrer Beziehung. Beide hatten an derselben Universität in Bristol einen Studienplatz für Medizin bekommen, und für Sam war das Leben perfekt.

Deshalb hatte er sie gefragt, ob sie ihn heiraten würde. Es war verrückt und unglaublich gewesen, aber sie hatte Ja gesagt, und an einem sonnigen Augusttag waren sie ein Paar geworden. Unendlich verliebt versprach er ihr ewige Liebe und Treue, und seine Worte waren aus vollem Herzen gekommen.

Die Flitterwochen verbrachten sie in der baufälligen Holzhütte am Strand, sein Ausweichquartier, wenn er es zu Hause nicht aushielt. War die Hütte zu Beginn für ihn ein Hafen der Ruhe, so wurde sie mit Gemma zum Paradies.

Bis ihre Eltern sie dort fanden.

Mr. und Mrs. Johnson waren außer sich gewesen. In der folgenden Szene fielen harte Worte, und Gemma flossen die Tränen in Strömen übers Gesicht. Doch sie hatte sich nicht einschüchtern lassen. Sie erklärte ihnen, sie wäre mit Sam verheiratet, und Sam hatte ihnen die Tür vor der Nase zugemacht und die schluchzende Gemma in die Arme geschlossen.

Nur wenige Tage später fand er einen Brief von ihr vor. Gemma schrieb, sie hätte es sich anders überlegt und würde auch nicht zur Uni gehen. Sie wüsste nicht, ob sie überhaupt Medizin studieren wollte, und würde sich erst einmal eine Auszeit von einem Jahr nehmen, um über alles nachzudenken. Reisen wollte sie – Gemma, die mit ihren reichen Eltern schon die halbe Welt gesehen hatte –, und zwar allein. Sie wollte ihn nicht wiedersehen.

Damit war sie verschwunden. Sie und ihre Eltern auch, die ihr anscheinend wichtiger waren als er. Das Feriencottage war leer und schon für den Winter verschlossen.

Seitdem hatte er nichts mehr von ihr gehört. Kein einziges Wort, obwohl er in all den Jahren seines Studiums darauf gewartet und gehofft hatte, sie würde ihre Meinung ändern. Einmal war er sogar nach Bath gefahren, aber ihre Eltern hatten ihm gesagt, Gemma wolle ihn nicht sehen, und so zog er unverrichteter Dinge wieder ab. Betteln war nicht seine Sache.

Sam hatte versucht, sie zu vergessen und in der Zwischenzeit sein Studium abgeschlossen, war schließlich nach London gezogen, hatte seinen Allgemeinarzt gemacht und eine zusätzliche Qualifikation in Chirurgie erworben. Seit einer halben Ewigkeit arbeitete er nun schon für eine Hilfsorganisation hier in Afrika, und trotzdem ließ Gemma ihm keine Ruhe. Seine Mutter brauchte sie nur zu erwähnen, und schon spielte sein Herz verrückt.

Gemma hatte sich nach ihm erkundigt. Hatte wissen wollen, wie es ihm ging.

Ohnmächtiger Zorn kochte in ihm hoch. Wie konnte sie es wagen, nach ihm zu fragen?

Heute Abend werde ich wieder von ihr träumen, dachte er verbittert, während er die Kupplung kommen ließ und den Feldweg entlangschoss, der zur Straße führte. Jedes Mal, wenn er an Gemma dachte, verfolgte sie ihn im Schlaf. Und es verging kaum ein Tag, an dem er nicht an sie dachte. Er hörte sie lachen und sah ihr bezauberndes Lächeln vor sich, durchlebte wieder die kostbaren, zärtlichen Momente und wusste heute wie damals, dass sie die einzige Frau war, die er je lieben würde.

Seine Mutter hatte gut reden! Aber er müsste schon von allen guten Geistern verlassen sein, wenn er freiwillig nach Penhally Bay kommen würde. Es würde ihn umbringen. Schon allein die Vorstellung, Gemma zu berühren, sie in seinen Armen zu halten, brachte ihn halb um …

Und deshalb hatte er nicht aufgepasst, als er von der Straße abschwenkte, um dem parkenden Wagen auszuweichen. Er verschwendete keinen Gedanken daran, dass es eine Falle sein könnte. Dass es ein Trick der Rebellen sein könnte, ihn auf den Straßenrand zu lenken.

Nein, Sam dachte an seine Frau, an ihre Seufzer, an den Duft ihrer Haut und ihre kehligen Laute, wenn sie in seinen Armen vor Lust verging.

Sekunden später fuhr er auf die Landmine.

1. KAPITEL

„Er ist da.“

Gemma blickte von ihren Unterlagen auf und sah, wie Doris Trefussis mit dem Kopf zur Tür deutete. Ihr Herz fing an zu hämmern, Panik wallte in ihr auf. Ich bin noch nicht so weit!

Wie albern. Sie hatte gedacht, sie wäre darauf vorbereitet. Aber so wie ihr Herz schlug und wie ihre Beine zitterten, hatte sie sich wohl gründlich getäuscht.

Seit seine Mutter einen Schlaganfall erlitten hatte, versuchte Gemma, sich für die Begegnung mit Sam zu wappnen. Er kam aus London, und sie hatte ihn seit Jahren nicht gesehen. Seit zehn Jahren, neun Monaten, zwei Wochen, drei Tagen und viereinhalb Stunden, um genau zu sein.

Es waren lange, einsame Jahre gewesen, in denen sie sich nach ihm gesehnt und gehofft hatte, irgendetwas über ihn zu erfahren. Als seine Mutter ihr im letzten Jahr verzweifelt erzählte, er hätte einen Motorradunfall gehabt, hatte sie in einer ersten Schrecksekunde geglaubt, er sei gestorben. Es klärte sich schnell auf, dass sie Mrs. Cavendish missverstanden hatte, aber der Schock ließ sich nicht so leicht abschütteln. Gemma war klar geworden, wie sehr sie Sam immer noch liebte.

Was eigentlich lächerlich war. Sie kannte ihn doch gar nicht, nicht mehr jedenfalls. Damals waren sie fast noch Kinder gewesen, heute war er ein Mann.

Und was für einer!

Im Schatten der Aktenschränke verborgen beobachtete sie, wie Sam die Tür aufstieß und die Praxis betrat – groß, breitschultrig und kräftiger als mit neunzehn, aber genauso atemberaubend wie damals. Sein leichtes Hinken, offensichtlich eine Folge des schweren Unfalls, tat seiner Attraktivität keinen Abbruch, und sein verwegenes Lächeln ließ ihren Puls rasen.

Doch das Lächeln galt nicht ihr, sondern Mrs. Trefussis. „Morgen, Doris!“, sagte er, und seine raue, so schmerzlich vertraute Stimme nahm Gemma für einen Moment den Atem. „Wie geht es Ihnen? Sie sehen ja keinen Tag älter aus!“

Die hagere Putzfrau der Praxis legte die Zeitschriften, die sie gerade sortiert hatte, zurück ins Regal und musterte ihn kritisch von oben bis unten. Aber ihre Augen funkelten belustigt. „Guten Morgen, Dr. Cavendish.“

Gemma sah, wie er die Augenbrauen hochzog. „Dr. Cavendish? Früher hieß es immer Samuel. Stehe ich bei Ihnen etwa immer noch auf der schwarzen Liste, Doris … oder muss ich jetzt Mrs. Trefussis sagen?“

„Du kannst wohl kaum erwarten, dass wir dich herzlich willkommen heißen, Samuel. Du warst lange weg, und deine arme Mutter …“

Er schnaubte. „Ich habe meine arme Mutter immer unterstützt, seit mein Vater vor siebzehn Jahren das Weite gesucht hat. Und das wissen Sie genau.“

„Ja, aus der Ferne. Du hättest hier sein sollen, Sam“, tadelte sie milde.

Täuschte Gemma sich, oder verlor sein Lächeln wirklich ein bisschen von seinem Glanz? Vielleicht für einen schwachen Moment, dann blitzten die weißen Zähne wieder auf, und Sam antwortete: „Jetzt bin ich da, und Sie dürfen mir gern eine Tasse Tee anbieten. Ich bin kurz vorm Verdursten.“

Doris machte ein missmutiges Gesicht. „Ich weiß nicht, ob du eine verdient hast.“

Sam grinste und zwinkerte ihr zu. „Das sagen Sie doch nur so. Im Grunde Ihres Herzens beten Sie mich an“, entgegnete er, und Gemma sah, wie Doris unter seinem Charme buchstäblich dahinschmolz.

„Ab mit dir“, schimpfte Doris ungnädig, während sie errötete. „Ich bringe dir deinen Tee. Dr. Roberts erwartet dich schon. Und vielleicht haben die Herren Doktoren ein paar von Hazels Ingwerkeksen übrig gelassen. Sie hat extra ein Blech mehr gebacken, als sie hörte, dass du nach Hause kommst.“

„Was, um mich wieder herzulocken?“ Er lächelte und warf Hazel Furse, der Praxismanagerin, ein spitzbübisches Lächeln zu. Und dann, als hätte er Gemma gerade erst wahrgenommen, sah er sie an. Sein Gesicht war ausdruckslos.

„Hallo, Gemma.“

Mehr sagte er nicht. Nur zwei Worte, aber sie genügten, dass ihr Herz einen Schlag aussetzte. Oh, Sam. Waren deine Augen immer so blau? Kobaltblau, wie der Himmel einer lauen Sommernacht?

„Hallo, Sam.“ Ihre Stimme klang gepresst, und Gemma schluckte, weil sich all ihre Gefühle zu einem dicken Kloß im Hals ballten. „Willkommen zu Hause.“

An seinem Kinn zuckte ein Muskel, seine Miene blieb unbewegt. „Danke. Es wird hoffentlich nicht für lange sein. Mrs. Furse, könnten Sie bitte Dr. R. sagen, dass ich hier bin?“

„Sam!“ Als hätte er ihn gehört, kam der Seniorchef aus seinem Sprechzimmer. „Schön, dass du da bist. Ich habe dich auf den Parkplatz fahren sehen. Komm herein. Doris, wäre es möglich, dass Sie uns mit Tee versorgen …?“

„Bin schon dabei, Dr. Roberts. Wasser habe ich gerade aufgesetzt.“

Ohne Gemma eines Blickes zu würdigen, drehte Sam ihr den Rücken zu und ging zu Nicks Zimmer. Der legte ihm kameradschaftlich den Arm um die Schultern, und dann schloss sich die Tür hinter den beiden Männern.

Gemma stieß den Atem aus. Sam war wieder da. Doch ihr Wiedersehen war ganz anders verlaufen, als sie es sich in ihren Träumen immer ausgemalt hatte. Seit sie im letzten Jahr nach Penhally Bay gezogen war, hatte sie insgeheim gehofft, dass er davon erfahren und ihretwegen zurückkommen würde. Stattdessen war es ein Pflichtbesuch, weil seine Familie ihn brauchte.

Sie war also nicht der Grund und würde es nie sein, so, wie Sam sie angeblickt hatte …

„Geht es dir nicht gut, Gemma?“

Sie schlug die Augen auf und sah, wie Kate Althorp, eine der Hebammen, sie besorgt musterte. „Doch, alles in Ordnung, Kate.“

„Sicher? Du bist ganz blass.“

„Mir geht’s gut, wirklich“, sagte sie fest. Wenn Kate nicht lockerließ, passierte ihr noch etwas Dummes – wie zum Beispiel, dass sie hier am Empfang in Tränen ausbrach! Um keinen Preis wollte Gemma sich ihre Gefühle anmerken lassen.

Auch wenn es ihr das Herz zerriss …

Sam stand am Fenster und starrte auf die Harbour Road, um nicht immer Gemmas Gesicht vor sich zu sehen. Die Schäden, die die Flutkatastrophe im letzten Herbst hinterlassen hatte, waren noch nicht alle beseitigt. „Was ist mit dem Anchor Hotel passiert?“, fragte er, obwohl es ihn eigentlich nicht interessierte. Der noble Kasten mit seinen steifen Gästen war nie seine Welt gewesen.

„Man hat es abreißen müssen, aber es soll neu aufgebaut werden“, antwortete sein alter Freund und Mentor. „An der Bridge Street und in der Gull Close sind die meisten Häuser schwer beschädigt worden. Viele Bewohner leben noch in Behelfsquartieren.“

„Es muss der reine Horror gewesen sein.“

„Das kannst du laut sagen. Es grenzt an ein Wunder, dass die Brücke stehen geblieben ist.“

„Ich fürchte, ich habe von dem Unglück nicht viel mitbekommen. Ich lag im Krankenhaus.“

„Ja, ich weiß. Deine Mutter hat mir von dem Unfall erzählt. Du hinkst noch ein bisschen, wie geht es dir?“

Sam zuckte mit den Schultern. „Besser. Ich bin etwas frustriert, weil es nur langsam vorangeht, aber im Großen und Ganzen fühle ich mich gut. Wie ich höre, ist deine Bande inzwischen verheiratet?“, lenkte er das Gespräch von sich ab.

Nick lächelte, und sein schmales Gesicht wirkte gleich weniger streng. „Ja, alle drei. Jack und Lucy haben auch Familie. Lucy erwartet ihr zweites Kind und will vorerst nicht mehr arbeiten. Du könntest einen Job haben, falls du gerade in der Luft hängst …“

Sam schüttelte den Kopf. „Ich bin dir einiges schuldig, Dr. R., aber so viel nun auch wieder nicht.“ Vor allem nicht, wenn Gemma hier arbeitet. „Außerdem habe ich genug zu tun.“

„Natürlich. Wie geht es deiner Mutter?“

„Den Umständen entsprechend ganz gut. Sie haben sie direkt auf die Spezialstation für Schlaganfallpatienten gebracht.“

„Ausgezeichnet. Wir können von Glück sagen, dass wir diese Abteilung haben. Trotzdem wird Linda noch eine Weile deine Hilfe brauchen. Wird das schwierig für dich?“

„Eigentlich nicht.“ Die letzten Monate hatte er sowieso nicht voll arbeiten können. Krankengymnastik und ein ungeliebter Schreibtischjob bei der Hilfsorganisation hatten seinen Alltag bestimmt, und Sam fragte sich oft, wie es für ihn weitergehen würde. Damit verglichen war die Aussicht, sich wegen seiner Mutter für eine Weile einschränken zu müssen, kaum von Bedeutung.

Das Leben seiner Mutter würde sich allerdings ändern, und wenn es nach ihr ginge, seins gleich mit. „Sie wird sich erholen“, fügte er hinzu. „Ihre linke Seite ist betroffen, aber mit intensiver Behandlung sollte das in den Griff zu bekommen sein.“

„Weißt du schon, warum es passiert ist?“

„Noch nicht. Ihre Blutdruckwerte sind furchtbar, und zugenommen hat sie auch, was mich allerdings nicht wundert. Sie ist nahezu süchtig nach Schokolade. Dass sie nicht noch mehr in die Breite gegangen ist, liegt wahrscheinlich nur daran, dass sie außer Schokolade kaum etwas anderes isst. Der Himmel weiß, wie Jamie über die Runden kommt – es gibt so gut wie nichts zu essen im Haus. Ich vermute, dass sie unter Depressionen leidet.“

„Darum kümmern wir uns, sobald sie wieder zu Hause ist, Sam. Mach dir keine Gedanken. Wie kommt dein Bruder mit der Situation klar?“

Sam wandte sich vom Fenster ab und setzte sich auf einen der Besucherstühle. „Indem er sie ignoriert, schätze ich. Aber er hat Mum wohl schon vorher Kummer gemacht. Der Junge ist ein Albtraum für sie, doch ich war früher nicht viel besser, was mir heute noch leidtut. Zu allem Überfluss scheint er auch noch Ärger mit der Polizei zu haben.“

„Ja, ich weiß. Leider hat er sich die falschen Freunde ausgesucht – unter anderem Gary Lovelace.“

Sam zog die Brauen zusammen. „Lovelace?“

„Du erinnerst dich an ihn? Er war schon als Kind ein Quälgeist, und es ist eher schlimmer als besser geworden. Ich glaube, er ist ein Jahr älter als Jamie.“

„Gary kenne ich nicht, aber der Name Lovelace kommt mir bekannt vor. Von seinem Vater, wahrscheinlich. Der hat doch ständig im Kittchen gesessen, Bagatelldelikte meistens. Und mit dem Sohnemann treibt sich Jamie herum? Verdammt, das gefällt mir gar nicht.“

„Dummerweise macht Jamie jeden Blödsinn mit“, meinte Nick bedauernd. „Ich habe versucht, ihm ins Gewissen zu reden, aber ohne Erfolg. Ich kenne ihn nicht so gut wie dich damals. Meine Kinder sind groß, und mit Jamies Generation habe ich nicht viel zu tun. Außerdem bist du bei uns zu Hause ein und aus gegangen. Ich weiß noch, wie hungrig du immer warst, hast uns bald die Haare vom Kopf gefressen – und im Garten Unsinn gemacht.“

Sam grinste ihn über den Rand seines Bechers hinweg an. „Ich bereue aufrichtig.“

„Musst du nicht. Wir hatten dich gern bei uns. Vor allem Annabel mochte dich sehr.“

Ein trauriges Lächeln umspielte Sams Mundwinkel. „Ich sie auch. Sicher vermisst du sie.“

„Ja. Sie hat sich oft Sorgen um dich gemacht, weil deine Mutter dir so viel Verantwortung aufgebürdet hat. Kein Wunder, dass du über die Stränge geschlagen bist. Du hattest einiges zu schultern, nachdem dein Vater euch verlassen hatte.“

„Tja, und jetzt bin ich wieder einmal hier, um Scherben zu kitten. Kaum zu glauben.“

„Du warst ein guter Kerl und bist es noch. Das habe ich immer gewusst.“

„Red keinen Unsinn, Nick. Du weißt genau, dass ich nicht in Penhally Bay wäre, wenn ich auch nur den Hauch einer Ausrede gehabt hätte.“

„Deine Mutter braucht dich, du hast ihr sehr gefehlt. Und nicht nur ihr.“

„Quatsch. Die meisten halten mich doch heute noch für einen Chaoten. Sogar Doris Trefussis hat es mir gerade erst unter die Nase gerieben, und ich vermute, dass Audrey Baxter ins selbe Horn stoßen wird.“

„Nein, das wird dir erspart bleiben. Mrs. Baxter ist bei der Überschwemmung ums Leben gekommen.“

„Tatsächlich. Die Arme.“ Er grinste schief. „Nicht dass sie jemals Verständnis für mich gehabt hätte. Was sie auch über mich hörte, sie hat es immer brühwarm weitererzählt. Das ging so weit, dass ich vor ihren Augen absichtlich irgendeinen Blödsinn angestellt und mit mir selbst gewettet habe, ob meine Mutter schon Bescheid wusste, wenn ich nach Hause kam.“

„Keiner hat dich richtig verstanden.“

Die Vergangenheit rückte ihm zu sehr auf den Leib. Eine Vergangenheit, an die er ungern erinnert wurde. Unbehaglich blickte Sam sich im Zimmer um. „Bei euch scheint sich einiges getan zu haben. Als ich die Praxis das letzte Mal gesehen habe, war dein Bruder noch der Chef.“

„Seitdem hat sich viel verändert. Wir haben vor fünf Jahren neu eröffnet.“ Nick schwieg kurz, und Sam fand, dass er plötzlich gealtert und sehr müde wirkte. Doch dann schien er sich zusammenzureißen und stand auf. „Komm, ich führe dich herum. Wir haben neulich unseren Anbau eingeweiht. Du wirst beeindruckt sein.“

Einige Zeit später standen sie oben an der Treppe, und Nick erzählte von seiner Vision, die Praxis zu einem modernen Gesundheitszentrum auszubauen. Da kam ein Anruf für ihn, woraufhin Nick in einem der Zimmer verschwand, um ihn entgegenzunehmen.

Und Gemma, die ihm gesagt hatte, dass er am Telefon verlangt wurde, blieb allein mit Sam zurück. Der wachsame Ausdruck in ihren sanften graublauen Augen und ihre Körperhaltung verrieten innere Anspannung. So, als wäre er eine Gefahr für sie.

Was für ein Witz! Sie konnte ihm viel gefährlicher werden als er ihr. Schließlich war sie damals weggegangen.

Sam hielt ihren Blick fest und wappnete sich gegen die Gefühle, die ihr Anblick in ihm auslöste. „Meine Mutter hat mir erzählt, dass du wieder hier bist.“

„Ja, ich arbeite seit einem Jahr in der Praxis. Wie geht es ihr, Sam?“

„Etwas besser. Obwohl ihr der Schrecken immer noch in den Gliedern steckt … wie uns allen. Sie ist erst siebzigundfünfzig.“

„Ich weiß, aber ihr Blutdruck ist seit Jahren zu hoch, und sie ernährt sich mangelhaft.“

„Mangel an Schokolade kann es nicht sein“, meinte er ironisch, und sein Herz machte einen Satz, als Gemma sein Lächeln erwiderte. Oh, Gott, er begehrte sie, wollte sie in die Arme reißen, an seine Brust pressen und das Gesicht in ihrem dichten, weichen Haar vergraben, um herauszufinden, ob sie immer noch so betörend duftete wie früher.

Vergiss es. „Sie sagte, du bist immer noch unverheiratet.“ Das klang schärfer als beabsichtigt, und er beobachtete, wie ihr Lächeln verblasste.

„Was nicht stimmt, wie wir beide wissen“, antwortete sie leise.

„Eins habe ich nie verstanden. In all den Jahren hast du mich nie um die Scheidung gebeten. Warum nicht?“

„Das Gleiche könnte ich dich fragen.“

„Ich habe einfach nicht daran gedacht. Ich war beschäftigt.“ Beschäftigt damit, sie zu vergessen und nicht mehr an seine Ehe zu denken.

„In Afrika, die Welt retten. Ja, das habe ich gehört. Wie hast du es geschafft, vom Motorrad zu fallen?“

„Ach, du kennst mich doch – kein Risiko zu groß, Grenzen austesten, Dummheiten machen.“

„Du bist dreißig, Sam. Solltest du nicht langsam erwachsen werden und aufhören, deine Mutter vor Sorgen krank zu machen?“

Er schluckte. Oh, er war längst erwachsen geworden, an jenem Tag, als er eines Abends spät von der Arbeit gekommen war, einen Blumenstrauß für Gemma in der Hand, und ihren Brief gefunden hatte.

Nick kam zurück. „Tut mir leid. Wo waren wir stehen geblieben?“

„Ich lasse euch allein. Grüß Linda herzlich von mir.“ Gemma nutzte die Gelegenheit und flüchtete zurück in ihr Zimmer. Ihr Herz raste, ihre Knie zitterten, und ihre dummen Hormone waren hungrig aus einem elf Jahre dauernden Schlaf erwacht …

„Na, wie gefällt es dir?“

Nachdem sie zum Schluss die neuen Räume für die kleine Wundversorgung besichtigt und sich kurz mit der Krankengymnastin Lauren unterhalten hatten, standen sie wieder vorn an der Rezeption. Nick machte ein hoffnungsvolles Gesicht, und Sam ahnte, was der Seniorpartner wollte.