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Wenn die Suche nach dem Täter im eigenen Spiegel beginnt … Nick Petrov, Ex-Cop und Privatdetektiv, erwacht ohne Erinnerungen an die letzten zwei Wochen in einem Krankenhaus. Laut der Ärzte ist der Grund für seinen Gedächtnisschwund schnell geklärt: ein aggressiver Tumor und ein brutaler Übergriff, der ein Gehirntrauma auslöste. Doch Nick stellt die schwerwiegende Diagnose vor einen Abgrund aus Fragen: Wer ist sein Peiniger und was passierte während der verlorenen Zeit? Zurück in seiner Wohnung stößt er auf ein mysteriöses Foto auf dem er keinen einzigen der abgelichteten Menschen erkennt. Als Nick kurz darauf einen Dieb stellt, der eben dieses Foto entwenden will, und ihm dann auch noch aus anonymer Quelle eine horrende Geldsumme überwiesen wird, beginnt er zu ermitteln. Doch mit jedem neuen Fetzen der Erinnerung rückt ein Täter in den Fokus, der Nick nur allzu vertraut ist … »Ein Thriller erster Klasse.« Publishers WeeklyUnvorhersehbar und hochspannend bis zum Ende: Ein fesselnder Pageturner des amerikanischen Bestsellerautors für die Fans von Michael Connelly und Mark Dawson
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Seitenzahl: 458
Veröffentlichungsjahr: 2025
Über dieses Buch:
Nick Petrov, Ex-Cop und Privatdetektiv, erwacht ohne Erinnerungen an die letzten zwei Wochen in einem Krankenhaus. Laut der Ärzte ist der Grund für seinen Gedächtnisschwund schnell geklärt: ein aggressiver Tumor und ein brutaler Übergriff, der ein Gehirntrauma auslöste. Doch Nick stellt die schwerwiegende Diagnose vor einen Abgrund aus Fragen: Wer ist sein Peiniger und was passierte während der verlorenen Zeit? Zurück in seiner Wohnung stößt er auf ein mysteriöses Foto auf dem er keinen einzigen der abgelichteten Menschen erkennt. Als Nick kurz darauf einen Dieb stellt, der eben dieses Foto entwenden will, und ihm dann auch noch aus anonymer Quelle eine horrende Geldsumme überwiesen wird, beginnt er zu ermitteln. Doch mit jedem neuen Fetzen der Erinnerung rückt ein Täter in den Fokus, der Nick nur allzu vertraut ist …
Über den Autor:
Peter Abrahams ist ein renommierter amerikanischer Autor zu dessen weltweiter Leserschaft auch Stephen King gehört, der ihn als seinen »liebsten amerikanischen Spannungsromanautor« bezeichnet. Einige seiner Werke wurden mit hochkarätigen Stars wie Robert De Niro für die große Leinwand adaptiert.
Bei dotbooks veröffentlichte der Autor seine Standalone-Thriller »Der Nachhilfelehrer«, »Der Häftling«, »Der ideale Ehemann«, »Das Wunschkind«, »Dear Wife«, »Blacked Out – Gefährliche Erinnerung«, »Missing Code – Verlorene Spur« und »Hard Rain – Schleier aus Angst«.
Die Website des Autors: peterabrahams.com/peter-abrahams/
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eBook-Neuausgabe März 2025
Die amerikanische Originalausgabe erschien erstmals 2005 unter dem Originaltitel »Oblivion« bei William Morrow, New York.
Die deutsche Erstausgabe erschien 2010 unter dem Titel »Ausradiert« bei Knaur Taschenbuch, München.
Copyright © der amerikanischen Originalausgabe 2005 by Pas de Deaux
Copyright © der deutschen Erstausgabe 2010 by Knaur Taschenbuch, ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt
Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG
Copyright © der Neuausgabe 2025 dotbooks GmbH, München
Published by arrangement with The Aaron Priest Literary Agency New York and Michael Meller Literary Agency, Munich
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung eines Motives von © NeuroCake/Adobe Stock sowie mehrerer Bildmotive von © shutterstock
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (fe)
ISBN 978-3-98952-588-7
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Bei diesem Roman handelt es sich um ein rein fiktives Werk, das vor dem Hintergrund einer bestimmten Zeit spielt oder geschrieben wurde – und als solches Dokument seiner Zeit von uns ohne nachträgliche Eingriffe neu veröffentlicht wird. In diesem eBook begegnen Sie daher möglicherweise Begrifflichkeiten, Weltanschauungen und Verhaltensweisen, die wir heute als unzeitgemäß oder diskriminierend verstehen. Diese Fiktion spiegelt nicht automatisch die Überzeugungen des Verlags wider oder die heutige Überzeugung der Autorinnen und Autoren, da sich diese seit der Erstveröffentlichung verändert haben können. Es ist außerdem möglich, dass dieses eBook Themenschilderungen enthält, die als belastend oder triggernd empfunden werden können. Bei genaueren Fragen zum Inhalt wenden Sie sich bitte an [email protected].
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Peter Abrahams
Blacked Out – Gefährliche Erinnerung
Thriller
Aus dem Amerikanischen von Frauke Czwikla
dotbooks.
Für Niki und ihre Kinder
Josh, Jan und Caitlin
»Grundsätzlich muss festgehalten werden, dass eine Krankheit nie ausschließlich Verlust oder Zerstörung bedeutet – im betroffenen Organismus oder Individuum entsteht stets eine Reaktion, wieder aufzubauen, zu ersetzen, zu kompensieren und die Identität zu wahren, wie befremdlich die Mittel auch immer sein mögen.«
Oliver Sacks,
Der Mann, der seine Frau
mit einem Hut verwechselte
Nick Petrov wartete im Zeugenstand auf die nächste Frage. Der Verteidiger sah von seinen Notizen auf und richtete seinen – Millionen von Talkshow-Zuschauern bestens bekannten – skeptischen Blick auf Petrovs Gesicht. Die Augenbrauen des Verteidigers glichen denen Einsteins, er ähnelte ihm überhaupt, fand Petrov, nur hatte er einen besseren Haarschnitt. Das Parfüm der vorherigen Zeugin hing noch in der Luft.
»Tolle Karriere«, sagte der Verteidiger. »Nicht wahr, Mr. Petrov? Bisher.«
Einen besseren Haarschnitt und einen mieseren Charakter.
»Dazu kann ich nichts sagen«, erwiderte Petrov. Er befand sich jetzt seit achtundzwanzig Minuten im Zeugenstand, lange genug, um zu dem Schluss gelangt zu sein, dass nur eine der Geschworenen Anlass zur Sorge bot – eine Frau mittleren Alters in der hinteren Reihe, mit einer Schmetterlingsbrosche am Revers. Die übrigen elf Mienen sagten schuldig, wenigstens ihm; aber auf dem Gesicht dieser Frau, weich, hübsch, ungeschminkt, stand in Großbuchstaben BARMHERZIGKEIT. Der Angeklagte Ty Canning, der gerade seine Brille mit dem Ende seiner Krawatte polierte, hatte keine gezeigt.
»Aber Sie denken es«, sagte der Verteidiger. »Sie halten sich für das schärfste Werkzeug im Schuppen.«
»Ist das eine Frage?«, erkundigte sich Petrov.
»Aber sicher«, sagte der Verteidiger.
»Muss ich darauf antworten, Euer Ehren?«
»Der Zeuge wird die Frage beantworten«, wies die Richterin an.
»Ich bin eher so etwas wie ein Laubbläser«, sagte Petrov. Einige Leute lachten, aber nicht die Schmetterlingsfrau.
»Finden Sie das komisch?«, fragte der Verteidiger. Petrov schwieg, und der Verteidiger, vielleicht ein wenig aus dem Konzept geraten, verlangte keine Antwort. Er blätterte verärgert in seinen Notizen. Petrov, der gewohnheitsmäßig auf Kleinigkeiten achtete, bemerkte, dass seine Augen sich nicht bewegten, was bedeutete, dass er nicht las. Handelte es sich um eine theatralische Pause, oder hatte er den Faden verloren? »Euer Ehren«, bat der Verteidiger, »ich möchte, dass die Jury die letzte Frage und Antwort noch einmal hört.« Er hatte den Faden verloren; der selbstbewusste, aber unbegabtere jüngere Bruder, der niemals geboren worden war, um die Einstein’sche Familiendynamik zu stören. Petrov wartete auf eine Blöße.
»Frage«, rief der Gerichtsstenograph. »Was sagte der Gefangene auf dem Rückweg aus Mexiko? Antwort: ›Sie haben mich.‹«
»›Sie haben mich‹«, wandte sich der Verteidiger direkt an die Geschworenen. »Klingt eindeutig. Praktisch ein Geständnis.« Er wirbelte zu Petrov herum. »Aber in Ihrer Aussage vom 11. Juni geben Sie die Worte des Angeklagten folgendermaßen wieder: ›Wieso glauben Sie, dass ich es war?‹ Kein Schuldeingeständnis, eher die verletzte Reaktion eines Unschuldigen.« Er schwieg einen Moment. »Nun, angesichts der Tatsache, dass Sie unter Eid stehen, welche Ihrer Antworten sollen die Geschworenen glauben?«
Petrov spürte den Blick der Schmetterlingsfrau auf seinem Gesicht, er wusste, dass diese Floskel – die verletzte Reaktion eines Unschuldigen – tief in ihrem Inneren an etwas rührte. Die Geschworenen, die mittlerweile hellwach waren, lehnten sich erwartungsvoll nach vorn. »Beide«, sagte Petrov.
»Beide?« Jene Augenbrauen, so lebendig und beredt, hoben sich ungläubig. »Sind Sie sich darüber im Klaren, was mit Ihrer Zulassung geschieht, wenn Sie sich selbst der Falschaussage bezichtigen?«
»Durchaus«, sagte Petrov. Endlich erwiderte er den Blick des Anwalts. »Als ich die Aussage machte, wurde ich nur nach den ersten Worten des Angeklagten gefragt – ›Wieso glauben Sie, dass ich es war?‹. Die zweite Bemerkung – ›Sie haben mich‹ – machte er erst, nachdem ich ihm beschrieben hatte, welchen Spuren ich gefolgt war. Außerdem äußerte er sich noch ein drittes Mal, kurz bevor ich ihn auslieferte.«
Schweigen. Der Verteidiger wusste ebenso wie die Richterin und jeder mit dem leisesten Wissen über Kreuzverhörstrategien, dass man niemals eine Frage stellte, ohne die Antwort zu kennen. Aber eine Verhandlung folgt einem theatralischen Aufbau, und dieser Aufbau verlangte jetzt, dass die Frage gestellt wurde.
Der Verteidiger leckte sich die Lippen. »Dritte Äußerung?«
»Der Angeklagte sagte außerdem: ›Ich habe jede Minute davon genossen.‹«
Bevor der Verteidiger reagieren konnte, schrie Ty Canning, ein junger reicher Mann, dessen Verhalten während der Verhandlung untadelig gewesen war: »Einen Scheiß habe ich«, und donnerte mit der Faust auf den Tisch. An seinem Hals pochte eine Ader, und sein Gesicht schwoll an und verfärbte sich; die Wirkung war phallisch, unkontrolliert, gefährlich: einer dieser elektrisierenden Momente im Gerichtssaal, die meistens nur in Erzählungen vorkommen. Die Schmetterlingsfrau zuckte zurück. Die Richterin schlug mit ihrem Hämmerchen. Die Ordner kamen herein.
Es gab keine weiteren Fragen. Petrov trat aus dem Zeugenstand. Einer der Ordner klopfte ihm auf dem Weg nach draußen diskret auf die Schulter.
Der Santa Ana wehte heiß und trocken. Petrov liebte die Hitze, möglicherweise eine Reaktion auf seinen Geburtsort, obwohl er Russland im Alter von zwei Jahren verlassen hatte und keine Erinnerungen daran besaß. Aber während er den Parkplatz überquerte, erwog Petrov, zur Abkühlung schwimmen zu gehen. Freitagnachmittag kurz nach drei. Er hatte vorgehabt, das Wochenende am See zu verbringen – warum nicht sofort fahren, bei Tageslicht ankommen, vielleicht auch ein wenig angeln? Er hatte die Wagentür geöffnet, als eine Frau rief: »Mr. Petrov?«
Sie eilte über den Parkplatz. Nach ihrem Gesicht zu urteilen war sie Mitte dreißig, obwohl ihr Körper zehn Jahre jünger wirkte und ihre Kleidung – T-Shirt mit Spaghettiträgern und Minirock – zu einem Teenager gehörte. Ihre Augen waren die ängstlichen Augen einer zukünftigen Klientin.
»Ich heiße Liza«, sagte sie. Sie blieb stehen und schwankte leicht auf ihren hohen Absätzen. »Eigentlich Lisa, aber beruflich Liza. Liza Rummel. Es geht um Amanda.«
»Wer ist das?«
Liza Rummel schüttelte den Kopf, ein rasches Hin und Her, als würde sie das Gesagte löschen und noch einmal von vorn beginnen. »Ich habe im Gerichts-TV gehört, dass Sie heute aussagen. Deshalb bin ich hergekommen.«
»Von wo?«
»Von wo? Van Nuys. Früher haben wir in Encino gewohnt, aber jetzt leben wir in Van Nuys. Amanda gefiel es in Encino viel besser, wenn ich so darüber nachdenke – ich frage mich, ob das einer der Gründe dafür ist.«
»Wofür?«
»Amandas Verschwinden, Mr. Petrov, deshalb bin ich hier. Das ist doch Ihre Spezialität, oder? Vermisste Kinder?«
»Vermisste Personen generell«, sagte Petrov. »Ist Amanda Ihre Tochter?«
»Sie ist trotz allem ein gutes Kind.«
Petrov nahm das als ja. »Was meinen Sie mit trotz allem?«
»Ich schätze, Sie würden es normale Teenagerrebellion nennen. Im November wird sie sechzehn.« Liza Rummels Augen wurden ein wenig feucht. »Sie wurde an Thanksgiving geboren.«
»Wie lange ist sie schon verschwunden?«
»Drei Tage und zwei Nächte.«
»Wann haben Sie sie zuletzt gesehen?«
»Sie richtig gesehen? Dienstagmorgen. Sie schlief schon, als ich nach Hause kam.«
»Um welche Uhrzeit war das?«
»Gegen vier, vier oder halb fünf.«
»Mittwochmorgen?«
Sie blickte ihm direkt in die Augen. »Korrekt.«
»Waren Sie bei ihr im Zimmer?«
»Nein. Aber als ich aufstand, stand ihr Frühstücksgeschirr auf dem Tisch.«
»Haben Sie die Polizei verständigt?«
»Mittwochabend, als sie nicht nach Hause kam. Aber Sie kennen die Bullen. Sie halten sie einfach für eine weitere Ausreißerin. Taucht sicher wieder auf, wenn sie Hunger kriegt.«
»Ist sie früher schon mal verschwunden?«
»Irgendwie schon. Aber dieses Mal mache ich mir wirklich Sorgen.«
»Was ist anders?«
»Ich habe ein schlechtes Gefühl.«
Ein schlechtes Gefühl. Petrov suchte auf ihrem Gesicht nach Anzeichen dafür. Als er vor Jahren begann, hatte er dreiundneunzig unterschiedliche Gesichtsausdrücke skizziert und benannt. Sorge, Nummer einundsechzig, war das, was er jetzt sah. Angst, die in ihrer Miene fehlte, war achtundsechzig. »Warum?«, fragte er.
»Die anderen Male hatten wir uns vorher gestritten oder so. Dieses Mal gibt es keinen Anlass.«
»Worüber gestritten?«, fragte Petrov.
»Das Übliche – Hausaufgaben, Hausarrest, rauchen.«
»Körperliche Auseinandersetzungen?«
»Oh, nein.« Liza Rummel legte die Hand an die Brust, die Geste unschuldig, die Brust schwer; beide ein wenig künstlich.
»Was haben Sie unternommen, um sie zu finden?«
»Außer die Polizei zu rufen? Alles, was mir einfiel – herumfahren, die Schule anrufen.«
Petrovs Erfahrung nach fiel den meisten Leuten mehr ein. Er musterte sie. Kam sie ihm nicht irgendwie bekannt vor, vielleicht ihr Mund? Sie hatte volle, schön geformte Lippen, beweglich und ausdrucksvoll. »Haben wir uns schon mal getroffen?«, fragte er.
»Nein, an Sie würde ich mich bestimmt erinnern.« Er wusste, was folgen würde. »Wegen des Films«, sagte sie. Der Film war mittlerweile zehn Jahre alt und in Petrovs Augen gar kein richtiger Film, nur ein Fernsehfilm der Woche, Der Fall Reasoner, mit Armand Assante als Nick Petrov; er lief, erregte einige Aufmerksamkeit und verschwand in der Versenkung. Gab es im ganzen Land noch eine Stadt, in der sich jemand daran erinnerte? Aber sie waren in L. A.
»Haben Sie ein Foto von Amanda?«
Liza Rummel klappte ihre Brieftasche auf. »Das ist von dem Empty-Box-Konzert im Juli.«
Petrov nahm das Foto von Amanda. Gesicht, Mund, Augen; bereits ein wenig verloren, das Ausreißeraussehen. Man fand sie, brachte sie zurück und änderte kaum jemals etwas. Kaum jemals, aber nicht niemals. »Empty Box ist eine Band?«
»Sie hält sie für Gott.«
»Was für Musik?«
»Sie wissen schon. Schwer zu beschreiben.«
Petrov gefiel der Name der Band; zudem zog ihn der Altersunterschied zwischen Liza Rummels Gesicht und ihrem Körper an, es war eine jener menschlichen Verwerfungslinien, denen er nur schwer widerstehen konnte. Aber die Wahrheit lautete, dass er noch nie einen Fall abgelehnt hatte, in den ein Kind verwickelt war. »Ich muss ihr Zimmer sehen«, sagte er.
»Heißt das, Sie wollen mir helfen?« Aufregung lag in ihrem Blick, die sofort von Sorge überspült wurde. »Ich habe nicht viel Geld.« Liza kramte in ihrer Tasche. »Hier sind fünfzig Dollar, reicht das für den Anfang?« Sie legte sie auf seine Hand, bog seine Finger um das Geld, umschlang sie mit ihren beiden. Ihre Hände waren heiß und feucht, das Geld ebenfalls. Auf der anderen Seite des Parkplatzes saß ein großer Polizist auf seinem Motorrad und beobachtete sie; das Sonnenlicht schimmerte auf seinem blonden Schnurrbart.
»Mein Vorschuss beträgt fünfhundert Dollar«, erwiderte Petrov. »Danach bekomme ich dreihundert Dollar pro Tag plus besondere Auslagen wie Flugtickets, die ich aber im Voraus mit dem Kunden abkläre.«
»Oh«, sagte sie und ließ seine Hand los.
»Vielleicht sollten Sie es noch einmal mit der Polizei versuchen«, sagte Petrov. »Ich gebe Ihnen den Namen eines guten Beamten.«
»Nehmen Sie auch Schecks?«, fragte Liza Rummel.
Petrov akzeptierte einen Scheck über vierhundertfünfzig Dollar. Er begleitete Liza zu ihrem Wagen, einem alten hellblauen Mustang Convertible, verbeult und zugemüllt, der Aschenbecher quoll von Zigarettenkippen mit rotverschmierten Mundstücken über. Beim Einsteigen schaute sie auf und fragte: »Haben Sie Armand Assante eigentlich mal getroffen?«
»Ein- oder zweimal.«
»Wie ist er denn so?«
Liza Rummels Weise, den hellblauen Mustang zu fahren, verriet, dass das Auto – in seinem idealen, nagelneuen Zustand – ihr Ich verkörperte. Während Petrov ihr folgte – über die 110 zur 101 –, lauschte er einem Konzert mit Jussi Bjoerling. Ein Mann im Publikum – vermutlich schon lange tot, die Aufnahme war 1956 in Paris gemacht worden – rief eine Bitte: »Nessun Dorma.« Gelächter folgte. Petrov hatte diese CD schon häufig gehört, aber jetzt fiel ihm zum ersten Mal ganz deutlich eine Frau auf, ihr Vergnügen und ihre Erregung, fast sexuell, digital gebannt für alle Ewigkeit. Er konnte beinah die Perlen um ihren Hals erkennen.
Liza Rummel lebte in einem kleinen Fertighaus mit einer einzelnen Palme im Vorgarten, deren Wedel staubig und grau waren. Sie hielt ihm die Tür auf. »Achten Sie nicht auf die Unordnung.«
Petrov trat ein. Er sah keine Unordnung, er sah überhaupt nicht viel. Das einzige Licht fiel durch ein rundes Loch in den geschlossenen Vorhängen, Staubkörnchen tanzten in dem schmalen Strahl. Hier und da die schattenhaften Umrisse von Möbelstücken. Er roch gebratenen Speck.
»Ich arbeite nachts«, sagte Liza. Was sie damit erklären wollte, wusste er nicht. Die Unordnung? Die Dunkelheit? Amanda?
»Und als was?«, fragte Petrov, obwohl er es schon ahnte. Schweigen. »Bleibt alles, worüber wir reden, unter uns, oder muss zuerst noch Papierkram erledigt werden?«
»Ich bin verpflichtet, kriminelle Handlungen anzuzeigen, Verträge hin oder her«, erwiderte Petrov. »Alles andere wird absolut diskret behandelt.«
»Wie steht es mit einem Hostessenservice?«
»Arbeiten Sie dort, oder besitzen Sie einen?«, erkundigte sich Petrov.
»Besitzen? Davon kann ich nur träumen.«
»Dann bleibt das unter uns.« Petrov knipste eine Lampe an. Auf dem Läufer darunter – ein blauer Läufer in der gleichen Farbe wie der Mustang – lag ein Stofftier, ein Elefant mit goldenem Krönchen: Babar.
»Hat Amanda einen kleinen Bruder oder eine kleine Schwester?«, fragte Petrov.
»Sie ist ein Einzelkind«, erwiderte Liza.
Petrov hob Babar hoch: Gamaschen, grüner Anzug, das Gesicht eines gelassenen Königs. Eine plötzliche Erinnerung stieg in ihm auf: die Berührung einer dicken Seite in einem Babarbuch, aus dem seine Mutter ihm vorlas, und das raschelnde Geräusch, wenn sie umblätterte. Er konnte den Rubinring an ihrer Hand sehen, wie ein wunderbares Bonbon. Eine weitere erstaunliche Erinnerung überkam ihn: Einmal hatte er an dem Rubin geleckt – völlig geschmacklos, wie eine Fensterscheibe. Und hatte seine Mutter geglaubt, er lecke ihre Hand, und hatte ihn geschlagen? Petrov war erschüttert. Er war drei Jahre alt gewesen, als seine Mutter starb, hatte keine Erinnerungen an jene Zeit. Und jetzt diese zwei, die aus dem Nichts auftauchten.
Er schaute auf, Liza beobachtete ihn. »Ich weiß, was Sie denken«, sagte sie. »Amanda ist zu alt, um noch mit Stofftieren zu spielen.«
»Ist das Ihre Meinung?«
»Sie spielt nicht wirklich damit, keine Phantasiespiele oder so. Sie schmust nur damit, wenn sie fernsieht.« Ein großer Flachbildschirm, vermutlich teurer als der Mustang, hing an der Wand gegenüber. »Was sieht sie sich an?«
»Meistens den Wetterkanal, würde ich sagen. Ich weiß wirklich nicht, was das für eine Rolle spielen soll. Wollten Sie nicht ihr Zimmer sehen?«
Amandas Zimmer: ungemachtes Bett, Schreibtisch mit zwei halb geöffneten Schubladen, Schranktür, ebenfalls geöffnet, Kleidung und Kaugummipapier auf dem Fußboden; überall Unordnung abgesehen von dem Empty- Box-Poster, das sorgfältig ausgerichtet an die Wand geklebt worden war. »Ich muss mich umschauen«, sagte Petrov. Er bemerkte eine Eintrittskarte, die an das Poster geheftet war: Empty Box im Beacon Theater in Inglewood am 23. August.
»Tun Sie, was Sie müssen«, sagte Liza.
Petrov zog sein Notizbuch hervor, riss eine Seite heraus und reichte sie ihr. »Ich möchte eine Liste ihrer Freunde – Adressen und Telefonnummern, falls möglich.«
»Amanda hat hier noch keine neuen Freunde gewonnen, nicht seit dem Umzug.«
»Was ist mit ihrem alten Freundeskreis?«
»In Encino? Der hat sich irgendwie aufgelöst.«
»Warum?«
Sie zuckte die Achseln. »Sie sind nicht mehr an derselben Schule, Sie wissen doch, wie Kinder sind.« Ihr kam eine Idee, er konnte sehen, wie sie sich hinter ihrem Blick regte. »Haben Sie welche?«
Ungewöhnlich. Klienten stellten ihm nur selten persönliche Fragen. Erstens waren sie nicht an ihm interessiert. Zweitens wurden sie von ihrem Problem aufgefressen, was immer es war. War diese Frau auf irgendeine Weise an ihm interessiert? Wurde sie nicht von ihrem Problem aufgefressen? Oder war sie eine Ausnahme von der Regel und wenn ja, warum? »Ich habe einen Sohn.«
»Wie alt?«
»In Amandas Alter.«
»Wie heißt er?«
»Dmitri.«
»Ziemlich ungewöhnlich. Wie heißt Ihre Frau?«
»Wir sind geschieden.« Er drückte ihr das Notizblatt in die Hand. »Tun Sie Ihr Bestes.« Liza ging hinaus.
Petrov durchsuchte Amandas Zimmer. Nicht von oben nach unten, sondern von unten nach oben. Vor langer Zeit hatte er gelernt, dass die wichtigsten Entdeckungen weit unten zu erwarten waren. Er kniete sich hin, zog seine Stiftlampe hervor und richtete den Strahl unter Amandas Bett, um sofort eine Entdeckung zu machen – eine Karte von Hallmark, in drei Stücke gerissen. Während er sich aufrichtete, um sie zu untersuchen, zuckte ein winziger, centstückgroßer Schmerz über seinem linken Auge, dessen Mittelpunkt ungefähr drei Zentimeter hinter seiner Stirn lag.
Petrov fand Liza Rummel am Küchentisch, wo sie an einem Bleistift kauend saß, das Notizblatt und ein Telefon vor sich. »Mehr ist mir nicht eingefallen«, sagte sie, als sie ihm das Blatt reichte.
Oben stand ein durchgestrichener Name, Mindy oder Mandy. Darunter las Petrov:
Sarah Mathis? Mathews? noch an der Encino HS
Abby Irgendwer vom Volleyball
Vielleicht Beth Franklin?
Darunter hatte sie eine Tulpe gemalt, über deren Blütenblättern eine Biene summte. Eine gute Zeichnung, die Biene war weder niedlich noch irgendwie vermenschlicht.
»Amanda spielt Volleyball?«, fragte Petrov.
»Bis letztes Jahr. Sie hat es aufgegeben. Ihre Trainerin hat sogar noch ein paarmal angerufen, versucht, sie zur Rückkehr zu überreden.«
»Wie heißt die Trainerin?«
»Ms. ... oh, es liegt mir auf der Zunge«, sagte Liza. »Es fällt mir gleich ein.« Aber das tat es nicht. »Beth Franklin könnte die bessere Idee sein. Ich würde nicht behaupten, dass sie Freundinnen sind, aber sie wohnt ein Stück die Straße runter. Zwölf sechsundneunzig. Ihre Mutter ist unsere Vermieterin.«
»War Amanda gut im Volleyball?«
»Ich glaube schon. Sie ist einsachtundsiebzig groß, wissen Sie.«
Liza war ungefähr einssechzig. »Wie groß ist ihr Vater?«, fragte Petrov.
»Ihr Vater?«
»Wegen Amandas Größe.«
»Oh«, sagte Liza. »Ich bin nicht ganz sicher.«
»Ungefähr.«
»Ein bisschen größer als Sie.«
»Ich würde gern mit ihm reden.«
»Er lebt nicht hier.«
»Sind Sie geschieden?«
»Wir waren gar nicht erst verheiratet.«
»Trägt Amanda Ihren Nachnamen?«
»Korrekt.«
»Wie heißt ihr Vater?«
Sie schüttelte den Kopf. »Er hat nichts damit zu tun.« Petrov warf noch einen Blick auf die Biene und registrierte, dass Liza sogar an den Stachel gedacht hatte. Der centgroße Schmerz über seinem linken Auge verstärkte sich etwas. Petrov hatte nie Kopfschmerzen, er hatte Mühe, sich, abgesehen von morgendlichen Katern in seiner Studienzeit, auch nur an ein einziges Mal zu erinnern.
»Wie lange leben Sie schon getrennt?«, erkundigte er sich.
»Seit Ewigkeiten. Amanda kennt ihn nicht mal, wenn es das ist, worauf Sie hinauswollen.«
»Was für eine Einstellung hat sie zu ihm?«
»Gar keine, das habe ich doch schon gesagt. Sie kennt ihn nicht und will ihn auch nicht kennenlernen.«
»Wie steht es mit Ihnen und Amanda?«
»Hä?«
»Beschreiben Sie Ihre Beziehung.«
»Toll. Wir sind eher wie Schwestern.«
Das Telefon klingelte. Liza griff danach, meldete sich. Er las ihre Gedanken: Amanda. Aber sie war es nicht. Sie drehte sich um, zog eine Papierserviette vom Tresen, kritzelte etwas darauf. Petrov las verkehrt herum: Airport Marriott – 21:30 – Zi 219. Sie legte auf.
Petrov sagte: »War Amandas Vater ein Kunde?«
Schweigen: Sie verdaute das. Er spürte etwas Zähes und Hartes in ihr, wie Narbengewebe. »Das ist eine hässliche Frage.«
»Aber wie lautet die Antwort?«
Sie stieß sich vom Tisch ab, stand auf. »In dem Film waren Sie wesentlich netter.«
Petrov machte sich bereit, ihr die fünfzig Dollar und den Scheck zurückzugeben, etwas, das er, wie er feststellte, nicht wollte. Der Fall interessierte ihn, obwohl er nicht wusste, warum, denn bis jetzt hatte er nichts Atypisches daran entdecken können.
Liza wandte ihm den Rücken zu, starrte aus dem Küchenfenster. Hatte er die Sache versiebt? Wenn ein Kind verschwindet, muss man beide Eltern in Betracht ziehen, und zwar sofort, das war Basisarbeit. Er hörte sie tief Luft holen. »Ich ging noch aufs College, als Amanda geboren wurde«, sagte sie.
Ihre Stimme stockte, so leicht, dass er es beinah nicht gemerkt hätte. Noch ein oder zwei weitere Jahre des Lebens, das sie führte, und es würde nicht mehr passieren, die Vergangenheit würde vollständig vernarbt sein. »Wo war das?«, fragte Petrov.
»UC Irvine.«
»Was war Ihr Hauptfach?«
»Kommunikation, wenn es geklappt hätte.«
»Aber?«
»Ich habe keinen Abschluss gemacht.«
»Wegen Amanda?«
Liza sah ihm ins Gesicht. »Amanda?«
Eine offensichtliche Frage. Warum reagierte sie erstaunt?
»Die Schwierigkeit, allein ein Kind aufzuziehen und gleichzeitig zu studieren«, sagte Petrov.
»Amanda hatte nichts damit zu tun, dass ich ausgestiegen bin. Und wissen Sie was? Ich habe keine Ahnung, wie Sie jemals jemanden finden wollen, wenn Sie hier herumsitzen und irrelevante Fragen stellen, während die Zeit davonrennt.«
Die Antwort lautete fast immer Glück und Hartnäckigkeit. Er behielt sie für sich. »Ich würde gern Amandas Geburtsurkunde sehen.«
»Warum?«
»Das tue ich immer in Vermisstenfällen.«
»Sie ist verlorengegangen.«
»Wann ist das passiert?«
»Durchsuchen Sie mich.«
Petrov zog die Hallmark-Karte aus der Tasche, die er unter Amandas Bett gefunden hatte, und legte die Teile auf dem Küchentisch aneinander. Auf der Vorderseite war das Bild zweier kleiner Kinder, die, einen Korb zwischen sich, durch ein Feld voller Blumen spazierten. Innen stand in großer Mädchenschrift: Hey, Rui – wir werden uns gegenseitig helfen, okay? Bis dann, Amanda.
»Ist das Amandas Handschrift?«
»Ja.«
»Irgendeine Idee, was sie damit meint?«
»Nein.«
»Wer ist Rui?«
»Kann ich Ihnen nicht sagen.«
»Sie hat ihn nie erwähnt?«
»Nicht mir gegenüber.«
»Vielleicht ihr Freund, mit dem Sie nicht einverstanden waren?«
»Nein.«
Ihre Blicke trafen sich. Sie hielt seinem Blick mühelos stand, aber im Schimmern ihrer Iris lag etwas, ein winziges Schwanken, als würde sie in einen Brunnen voller Gedanken gesogen. Das und die Tatsache, dass sie keine Fragen wegen der Karte gestellt hatte, wo gefunden, warum nicht abgeschickt, warum zerrissen: Petrov entschied, dass er ihr nicht trauen konnte.
»Schien sich Amanda in letzter Zeit wegen irgendetwas Sorgen zu machen?«
»Nicht, dass ich wüsste.«
»Vielleicht Probleme mit Ihnen?«, fragte Petrov. »Ohne dass es etwas mit einem Freund zu tun hatte?«
»Ich habe es Ihnen doch schon gesagt – wir kommen großartig miteinander aus. Worauf wollen Sie hinaus?«
»Weiß sie, womit Sie Ihren Lebensunterhalt verdienen?«, fragte Petrov.
Liza schloss die Augen, langsam, als könnte sie seinen Anblick nicht länger ertragen. Als sie die Augen wieder aufschlug, wich sie seinem Blick aus. »Wollen Sie mich absichtlich reizen?«, erkundigte sie sich.
»Ich versuche herauszufinden, warum Ihre Tochter verschwunden ist.« Seiner Erfahrung nach im Allgemeinen der schnellste Weg, sie wieder zurückzubringen.
Liza stiegen Tränen in die Augen, Farbe und Form lösten sich auf, während sie feucht wurden. Das Blut wich aus ihrem Gesicht, außer den Lippen, die sich tiefrot verfärbten. »Es gibt keine Gerechtigkeit – deshalb ist sie verschwunden.« Liza brach in Tränen aus.
»Wie meinen Sie das?«
Vielleicht hatte sie ihn nicht gehört. Das Weinen hatte die Oberhand gewonnen, ungehemmt, schluchzend, schleimig. Petrov öffnete die Hintertür und trat hinaus.
Liza hatte einen kleinen Swimmingpool im Garten. Ein weißer Ball – ein Volleyball – trieb außer Reichweite auf der schmierigen Oberfläche. Der Kescher lag neben dem Zaun, der das Grundstück von dem des Nachbarn trennte. Petrov kniete sich an den Beckenrand, zog die Aluminiumstange aus und angelte nach dem Ball. Er hatte ihn schon halbwegs zu sich herangezogen, als unter der Oberfläche etwas wogte. Ein wilder Gedanke durchzuckte ihn: Amanda, aufgebläht von Verwesungsgasen, trieb nach oben. Aber es war nicht Amanda. Stattdessen glitt eine Schlange – dick und schwarz – aus dem Wasser. Petrov ließ los. Der Kescher versank und nahm die Schlange mit sich.
Ganz plötzlich fühlte er sich seltsam, heiß und atemlos. Schweiß begann über sein Gesicht zu rinnen. Er lockerte seine Krawatte. Eine dritte Erinnerung aus der Zeit vor der Erinnerung überfiel ihn: Er öffnete die Tür zum Arbeitszimmer seines Vaters und sah seinen Vater und Pauline, die Babysitterin, auf dem Boden zwischen seinen Beinen. Er erinnerte sich sogar – woher kam das bloß –, wie sein Vater zu ihm sagte: »Pauline hat meinen Füller fallen lassen.« Und erst jetzt, hier neben Liza Rummels Schwimmbecken, verstand er die Szene. Einfach, sein Alter anhand Paulines Anwesenheit zu bestimmen – er wusste aus der Familiengeschichte, dass Pauline nach dem Tod seiner Mutter zurück in den Osten gegangen war. Demnach hatte seine Mutter zu jenem Zeitpunkt noch im Sterben gelegen, Brustkrebs, und er war nicht einmal drei Jahre alt gewesen.
Die Hintertür öffnete sich. Liza trat heraus, sie weinte nicht mehr, trug Jeans und ein weites T-Shirt, hatte ihr Make-up entfernt, das Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden. Der Volleyball war in Reichweite getrieben. Petrov hob ihn auf und erhob sich. »Was haben Sie damit gemeint?«, fragte er. »Es gibt keine Gerechtigkeit.« Sie zuckte die Achseln. »Wie kann es die geben, wenn Amanda verschwunden ist?«
Er gab ihr den Ball. Tolle Saison, Amanda stand in roter Tinte darauf, und einige Mannschaftskameradinnen hatten unterschrieben – Tiffany Mattes, Jen Dupuis, Abby Cohen, BJ Tillison, Angie Garcia und Trainerin Betsy Matsu.
»Betsy Matsu«, sagte Liza. »Ich wusste, es würde mir wieder einfallen. Tut mir leid, wenn ich mich da drin habe gehenlassen. Sie werden doch trotzdem Ihr Bestes geben, nicht wahr?«
»Ich werde den Ball brauchen.«
Sie gab ihn zurück. »Amanda glaubt, ich arbeite für einen Partyservice«, sagte sie.
»Ich werde ihr nichts anderes erzählen«, erwiderte Petrov und bedauerte umgehend seine Worte, die implizierten, dass er sie finden würde, Hoffnung weckten, die zu spenden er kein Recht hatte.
Petrov fuhr eine halbe Meile den Block hinunter. Die Häuser wurden ansehnlicher. Er parkte vor der 1296, klopfte an die Haustür. Auf der Fußmatte stand: Home Sweet Home.
Die Tür öffnete sich, und eine Frau in Sportkleidung spähte hinaus. Sie hatte einen drahtigen Körper, ledrige Haut, ein ungeduldiges Gesicht.
»Ms. Franklin?«
»Ich kaufe nichts.«
»Nick Petrov«, sagte er und zeigte ihr seine Zulassung. »Eine Ihrer Nachbarinnen wird vermisst, und ich hoffe, Sie können mir helfen, sie zu finden.«
»Ich kenne keinen der Nachbarn.«
»Amanda Rummel«, sagte er. »Ich glaube, sie ist eine Freundin Ihrer Tochter Beth.«
Über ihre Schulter konnte er einen Flur entlang in die Küche sehen; im Fernseher auf dem Tresen lief eine Gymnastiksendung.
»Wer hat Ihnen das erzählt?«
»Liza Rummel. Soweit ich weiß, sind Sie ihre Vermieterin.«
»Nicht mehr lange.«
»Warum?«
»Ende des Monats läuft der Vertrag aus.«
»Und die Rummels wollen nicht verlängern?«
»Korrekt.«
»Irgendeine Vorstellung, warum?«
»Ja, ich kann mir denken, warum. Aber ich wüsste nicht, was Sie das angeht.«
»Alles, was die Rummels betrifft, geht mich etwas an. Ich will das Mädchen sicher nach Hause holen.«
Ein Wagen voller Teenager hielt mit quietschenden Reifen am Straßenrand, und ein pummeliges Mädchen mit Schmetterlingstätowierung – groß und rot – auf der nackten Taille stieg aus. Petrov fiel sofort die Geschworene mit der Schmetterlingsbrosche ein. Ein Zufall, bedeutungslos; aber plötzlich begann sein Herz sehr schnell zu schlagen, als hätte er etwas falsch gemacht, und das Schicksal holte ihn ein. Sein Kopfschmerz schwand. Aber nicht ganz; stattdessen wurde er fast unmerklich schwach und hatte die Position geändert, sich aus seinem Kopf geschoben und schwebte nun ein kleines Stück darüber. Selbstverständlich unmöglich, aber er konnte ihn dort deutlich spüren.
Das Mädchen kam den Pfad hoch, ihr Rucksack baumelte von ihrer Hand. Ms. Franklin sah auf ihre Uhr. »Wo bist du gewesen?«, fragte sie.
»Pizza«, antwortete das Mädchen, während es Petrov einen Blick zuwarf.
»Geh ins Haus.«
Petrov trat einen Schritt beiseite. Das Mädchen ging hinein, ließ den Rucksack fallen, streifte die Schuhe ab, wandte sich zur Küche.
»Pizza, Blödsinn«, sagte ihre Mutter. »Die haben Gras geraucht.«
Petrov nickte; er hatte den Geruch ebenfalls wahrgenommen. »Aber sie ist jetzt zu Hause«, bemerkte er.
Die Frau sah ihn lange an, stieß einen irgendwie resignierten Seufzer aus. »Sie verlängern nicht, weil ich die Miete erhöht habe.« Ihre Augen verengten sich. »Wie es mein gutes Recht ist. Ich habe mich umgehört. Sie zahlen weit unter dem Marktpreis. Ich könnte für das Haus achtzehnhundert im Monat kriegen. Und wissen Sie, was die bezahlt haben?«
»Fünfzehnfünfzig.«
»Sie hat es Ihnen gesagt?«
»Ich habe geraten«, sagte Petrov. »Will sie hier wohnen bleiben?«
»Was glauben Sie? Zwei Schlafzimmer, anderthalb Bäder, Swimmingpool, Markenküche, gute Nachbarschaft – wer würde das nicht?«
Hatte es irgendeine Bedeutung, dass Liza seinen Vorschuss und sein Honorar bezahlen konnte, aber diese Mieterhöhung nicht? Petrov wusste es nicht. Er zog seine Brieftasche heraus und zählte zweihundertfünfzig Dollar von seiner, wie er sie nannte, Bestechungsrolle ab. »Erzählen Sie ihr, Sie würden zum alten Mietpreis verlängern. Denken Sie sich einen Grund aus.« Er hielt ihr das Geld hin.
»Das kapier ich nicht«, sagte sie. »Sind Sie so ’ne Art Wohltäter?«
»Nein«, sagte Petrov. Aber zusätzliche Instabilität in Lizas Leben würde bei der Lösung des Falls wenig hilfreich sein.
»Irgendwelche Bedingungen?«
»Nur eine«, sagte Petrov. »Lassen Sie den Pool reinigen.«
»Das ist einfach«, sagte die Frau und nahm das Geld. »Ich werde es selbst erledigen.«
»Ich hab total keine Ahnung, wo sie hin ist«, sagte Beth. »Wir hängen nicht zusammen ab oder so.« Sie saßen im Familienzimmer, Beth und ihre Mutter auf den entgegengesetzten Enden eines weißen Ledersofas, Petrov in einem dazu passenden Sessel.
»Aber ihr besucht dieselbe Schule.«
»Van Nuys West. Wir sind nicht in derselben Klasse. Amanda ist ziemlich gescheit.«
Petrov rief sich das Foto ins Gedächtnis; hatte Amanda da besonders intelligent ausgesehen? »Wie kommst du darauf?«
»Wegen der Art, wie sie redet.«
»Wie redet sie?«
»Wie Sie.«
»Kannst du dich an irgendeine kluge Bemerkung von ihr erinnern?«
Beth legte ihr Gesicht in Denkerfalten und überraschte sich selbst damit, dass ihr etwas einfiel. »Sie stand bei der Pep Rally neben mir. Die für das Spiel gegen Agoura vor ein paar Wochen. Der Mannschaftskapitän hielt eine Rede, dass nicht genügend Kids zu den Spielen kommen, echt stinkig. Amanda sagte: ›Glaubst du, er mag Football um seiner selbst willen, oder geht’s ihm nur um die Aufmerksamkeit, die er kriegt?‹ Das ist clever, stimmt’s?«
»Was hast du geantwortet?«
»Er tut es, um flachgelegt zu werden.«
»Beth«, mahnte ihre Mutter.
»Mom – ich bin fünfzehn.«
»Das ist keine Entschuldigung für –«
Petrov unterbrach sie. »Wie hat sie darauf reagiert?«
»Sie hat gelacht.«
Er zog das Foto heraus. »Ist das ein gutes Bild von ihr?« »Eigentlich nicht. Sie sieht betrunken aus oder so.« Er musterte es selbst. Intelligenz? Er war nicht sicher. Das Mädchen hatte etwas Verschwommenes, obwohl das Bild scharf war. »Trinkt Amanda?«
»Nicht, dass ich wüsste.«
»Wie steht es mit Drogen?«
»Darüber weiß ich auch nichts.«
Petrov konnte das Marihuana immer noch riechen, wahrscheinlich hing der Geruch in ihren Haaren. »Ich meine, harte Drogen.«
Beth starrte auf ihre Füße, kurze, breite Füße mit scharlachroten Fußnägeln. Sie passten zu ihrem Schmetterling und den blutunterlaufenen Augen.
»Amanda könnte sich in Gefahr befinden«, sagte Petrov.
Beths Blick blieb fest auf ihre Füße geheftet. Wartete sie einfach darauf, dass das hier vorüberging?
»Hat sie jemals davon gesprochen, wegzulaufen?«, fragte Petrov.
»Nein.«
»Hat sie Feinde?«
»Sie ist erst seit Mitte letzten Jahres hier. Sich Feinde zu machen dauert an unserer Schule länger.«
»Wie steht es mit Feinden außerhalb der Schule?«
Beth zuckte die Achseln.
»Wie kommt sie mit ihrer Mutter zurecht?«
»Ganz gut, schätze ich.«
»Sind sie wie Schwestern?«
Beths Blick streifte ihn rasch, dann sah sie wieder fort.
»Wie Schwestern?«, wiederholte sie.
Ihre Mutter sagte: »Manche Mütter und Töchter sind wie Schwestern, ob du’s glaubst oder nicht.«
»Was soll daran so gut sein?«, sagte Beth.
»Was ist so gut daran, wenn man gern zusammen ist?«, erwiderte ihre Mutter. »Respektvoll miteinander umgeht? Den gesunden –«
Petrov hob die Hand. Er war ein wenig überrascht, als sie aufhörte zu reden. Mutter und Tochter musterten ihn. In dem Schweigen wanderten seine Gedanken zurück zu dem Ausdruck in Beths Augen, als er sie nach der Beziehung zwischen Amanda und Liza gefragt hatte. Selbstverständlich hatte er sagen wollen: Kommen sie wie Schwestern miteinander aus?, aber gesagt hatte er: Sind sie wie Schwestern? Und hatte damit etwas in ihr ausgelöst. Er feuerte einen Schuss ins Blaue ab, der auf fast nichts basierte, einzig auf dieser Veränderung in Beths Blick und der fehlenden Geburtsurkunde. »Willst du damit andeuten, dass Amanda und Liza Rummel tatsächlich Schwestern sind?«
Beth schüttelte den Kopf, ein wenig zu heftig.
»Aber etwas in der Art wolltest du doch sagen.« Schweigen. Petrov dehnte es aus. Schließlich machte Beth den Mund auf: »Ich habe Amanda versprochen, nichts zu verraten.«
Er wartete. Ihre Mutter, die jetzt schwieg, wartete ebenfalls.
»Dann müssen Sie aber auch versprechen, nichts zu verraten«, forderte Beth.
»Das kann ich nicht«, sagte Petrov.
»Dann versprechen Sie, nicht zu verraten, von wem Sie es haben.«
»Ich werde versuchen, es zu vermeiden. Aber ich kann nichts versprechen.«
Beth sah zu ihm auf, verstand, nickte. »Amandas Mutter ist nicht ihre richtige Mutter. Sie wurde adoptiert.«
»Wann hat sie dir das erzählt?«
»Nach dieser Pep Rally. Weil sie so lange gedauert hat, haben wir den Bus verpasst, und dann sind wir zusammen zu Fuß nach Hause gegangen.«
»Wer ist ihre leibliche Mutter?«, fragte Petrov.
»Äh, ihr Name?«
»Der Name.«
»Den hat sie nicht gesagt. Außerdem ist ihre leibliche Mutter tot.«
»Wann ist das passiert?«
»Schon lange her. Sie wurde umgebracht.«
»Umgebracht?«
»Ermordet, hat Amanda gesagt.«
Petrov hörte, wie Beths Mutter die Luft einsog. »Von wem?«, fragte er.
»Das ist ein Geheimnis.«
»Verstehe ich nicht«, sagte Petrov.
»So hat sie es mir erzählt«, erwiderte Beth.
»Hat sie damit gemeint, dass der Fall nie gelöst wurde?«
»Ich schätze schon.«
Petrov fuhr zurück zu Liza Rummels Haus. Der blaue Mustang stand nicht mehr in der Auffahrt. Er stieg aus und klopfte an die Haustür. Niemand erschien; drinnen rührte sich nichts. Während er außen herum zur Rückseite ging, hörte er etwas in der Mülltonne rumoren.
Die Schatten senkten sich, der Himmel färbte sich violett. Ein kleines Flugzeug mit blinkenden Positionslichtern flog quer über ihn hinweg und sank dem Van Nuys Airport entgegen. Petrov spürte den Kopfschmerz, noch immer schwach und über ihm lauernd. Er versuchte es mit Stirnreiben. Der Kopfschmerz verschwand, wie ein Flaschengeist, nur umgekehrt. Mehr musste man nicht tun? Petrov probierte die Hintertür. Verschlossen. Er probierte eines der Fenster – verriegelt –, dann ein weiteres. Ebenfalls verriegelt, aber billig gemacht. War er je zuvor in das Haus eines Klienten eingebrochen? Mehrere Male, unter unterschiedlichen Umständen, aber immer bei Klienten der verlogenen Sorte. Er wollte diese Geburtsurkunde sehen.
Das Fenster gab dem Druck nach. Er öffnete es und stand mit einem Bein im Badezimmer des Erdgeschosses, als das Handy in seiner Tasche lautlos vibrierte. Es erschreckte ihn ein wenig, so als würde Gott zuschauen. Petrov kletterte hinein, schloss das Fenster und meldete sich.
»Nick? Elaine Kostelnik. Herzlichen Glückwunsch.«
»Wozu?«
»Hast du es noch nicht gehört? Vor einer halben Stunde wurde das Canning-Urteil verkündet. Schuldig in allen Punkten der Anklage, und Eddie meint, deine Aussage sei Dynamit gewesen.«
Eddie Flores war der Bezirksstaatsanwalt. Petrov öffnete das Medizinschränkchen. Unterstes Regal: Gesichtscreme, Körperlotion, Gesichtspeeling, Lockenstab, Lockenwickler. Mittleres Regal: rosa Rasierer, Ibuprofen, Nagelscheren, Nagellack. Oberstes Regal: Old Spice Extra Dry Deodorant, schwarzer Rasierer.
»Ich sollte dir gratulieren«, erwiderte Petrov, »falls es nicht zu spät ist.«
»Noch kann ich gar nicht genug davon kriegen«, sagte Elaine. Sie war seit vier Monaten Polizeipräsidentin – der erste weibliche Präsident des LAPD; fast wie Gott, zumindest was die Strafverfolgungsbehörden anging. »Rat mal, wer mir die unglaublichsten Blumen geschickt hat.« Petrov griff nach dem Deodorant, studierte das Etikett. Darauf stand Für den aktiven Mann. »Wer?«
»Kim Delaney.«
Das hätte er wissen können; ein oder zwei Jahre, bevor sie richtig berühmt wurde, hatte Kim Delaney in Der Fall Reasoner Elaine gespielt. Natürlich war sie hübscher als das Original und hatte sich ziemlich in den Vordergrund gedrängt, indem sie Elaine in einen unwiderstehlich anziehenden Charakter verwandelte, obwohl sie oder vielleicht auch weil sie deren Intelligenz und Schwung die Schärfe nahm. »Was für Blumen?«, erkundigte sich Petrov.
Elaine lachte. »Woher zum Teufel soll ich das wissen? Was für eine Frage! Du hast dich überhaupt nicht verändert.«
Petrov schloss das Medizinschränkchen, wanderte durch das Haus, stand in Lizas Schlafzimmer am Ende des Flurs. Die Geburtsurkunde mochte in einem sicheren Bankschließfach liegen, aber falls nicht ... Er zog die rechte Schublade von Lizas Schreibtisch auf.
»Verrat es mir«, sagte Elaine. »Hat der Typ das wirklich gesagt – ›Ich habe jede Minute davon genossen‹?«
»Das ist eine seltsame Frage«, antwortete Petrov.
Elaine lachte wieder. »Besonders von der Polizeipräsidentin, oder?«, sagte sie. »Ich hab dich ewig nicht gesehen, Nick. Was machst du denn so?«
»Das Übliche«, antwortete Petrov. Er durchsuchte die Schublade seiner Klientin, fand ein Scheckheft, ein Adressbuch, den Mietvertrag und, ganz zuunterst, eine Geburtsurkunde des Staates Kalifornien.
»Arbeitest du an einem interessanten Fall?«, fragte Elaine.
»Eigentlich nicht.« Er entfaltete die Urkunde: Lizas, nicht Amandas.
»Wir sollten uns mal treffen«, meinte Elaine.
»Das wäre schön.« Lizas Geburtsname lautete Lisa Anne Rummel, geboren in Barstow, vor sechsunddreißig Jahren. Vater: George Bennet Rummel. Mutter: Cynthia Louise Connerly Rummel. Wohnhaft: 4922 Quartzsite Road, Barstow. Geburtsort beider Eltern: Barstow.
»Wie wäre es mit heute Abend?«, schlug Elaine vor.
»Heute Abend?«
»Warum nicht? Ich sitze gerade im Auto. Wo bist du? Wir könnten vorbeikommen und dich einsammeln. Wir sind ich und der Fahrer – ich habe die Motorradkerle nach Hause geschickt.« Wieder ein Lachen; der Klang brachte sie ihm zurück, ihren Appetit, jenes Wochenende in Cabo. Vielleicht erinnerte sie sich ebenfalls, denn sie sagte: »Es gibt ein neues Restaurant in San Vicente. Isst du immer noch gern mexikanisch?«
»Ja.«
»Erinnerst du dich an die Casa Felix?«
»Ja.«
»Das waren noch Zeiten. Wo bist du?«
Das waren noch Zeiten? Was sollte das heißen? Elaine war diejenige, die die Beziehung beendet hatte. In diesem Moment kehrten seine Kopfschmerzen zurück, jetzt innerhalb seines Schädels. Petrov versuchte es wieder mit Stirnreiben; diesmal funktionierte es nicht. Im Spiegel an der Kleiderschranktür sah er sein Gesicht: vollkommen weiß.
»Nick? Bist du noch dran?«
Er fand sich im Badezimmer wieder, wo er in den Medizinschrank starrte. Petrov schluckte keine Tabletten, nicht einmal Vitamine. Er griff nach Liza Rummels Ibuprofen. »Nick?«
»Heute Abend geht nicht«, sagte er.
»Erwartet dich eine heiße Verabredung?«, fragte sie.
»Nein.« Er legte das Handy auf die Ablage, schraubte das Ibuprofenfläschchen auf.
Ihre Stimme, jetzt winzig, drang aus dem Handy. »Arbeitest du gerade an einem Fall?«
Petrov steckte zwei Tabletten in den Mund, drehte den Hahn auf, spülte sie hinunter.
»Nick?«
Er nahm das Handy auf. »Ich bin mitten in der Arbeit.« Er spürte ihren bohrenden Verstand, unhörbar, und doch übertrug er sich irgendwie digital.
»Falls ich dir behilflich sein kann«, sagte Elaine, »sag einfach Bescheid.«
»Klar.«
»Was bedeutet, dass du eher sterben würdest.«
Er lachte, sah sein weißes Selbst im Spiegel des Medizinschranks lachen.
»Pass auf dich auf, Nick.«
Petrov durchsuchte das Haus nach Amandas Geburtsurkunde, fand sie nicht. Er prüfte Lizas Kontoauszüge und die Mietzahlungen, notierte sich einige Namen aus ihrem Adressbuch, nahm noch zwei Ibuprofen, reparierte den Riegel des Fensters, durch das er eingedrungen war, und verschwand durch die Hintertür. Es wurde dunkel. Er saß in seinem Wagen draußen vor Lizas Haus und lauschte Jussi Bjoerling. Niemand sang mehr so wie er; schlimmer noch, er vermutete, dass auch niemand das wollte. Worin lag das Geheimnis, optimistisch zu bleiben, während die Jahre vorüberzogen? Petrov wusste es nicht. Das Ibuprofen zeigte Wirkung. Um 21:05 fuhr er zum Airport Marriott – 101, 405 – und ging hinein.
Juwan Barnes war Leiter des Sicherheitsdienstes. Sie waren zusammen bei der Polizei gewesen, bei der Sitte in Huntington Park, zwei oder drei Jahre vor dem Fall Reasoner. Juwan Barnes schüttelte ihm die Hand. »Verdammt viel zu tun heute«, sagte er. »Fliegst du irgendwohin?«
»Nein.«
»Dann gebe ich einen aus.«
»Ein anderes Mal, danke.«
»Arbeitest du?«
»Ja.«
»Hier?«
»Ja.«
»Woran?«
»Schon mal von Liza Rummel gehört?«
»Wer ist das?«
Petrov zog sein Notizbuch heraus. »Sie arbeitet für Candyland Escorts.«
»Von denen hab ich auch noch nie gehört«, sagte Barnes. »Es gibt so verdammt viele, kann mir nicht alle merken. Was kann ich für dich tun?«
»Zimmer 219«, sagte Petrov.
Barnes drehte sich zu seinem PC, begann die Tasten zu drücken. »Warum müssen nur alle hier bei mir vögeln?«
»Betten, Ungestörtheit, die Illusion der Anonymität.«
»Die Frage war nicht ernst gemeint.«
Zimmer 219 war auf James McMurray gebucht, Vizepräsident Marketing der Chemcom Company in Saint Paul. Am nächsten Tag würde er in eine Suite umziehen, Frau und Kinder besuchten ihn über das Wochenende. Um 21:45 klopfte Petrov an seine Tür.
Sie öffnete sich sofort. Der Mann auf der anderen Seite, in Unterhosen, eine Minibarflasche Jack Daniels in der Hand, wollte gerade sagen: »Du kommst zu spät«, verstummte dann aber. Zu diesem Zeitpunkt war Petrov bereits im Zimmer, schob die Tür mit der Hacke zu, sah sich dabei um. Keine Spur von Liza.
»Was zum Teufel ist hier los?«, sagte James McMurray.
Das Bett war aufgeschlagen, im Fernsehen lief ein Softporno. Petrov warf einen kurzen Blick ins Bad, entdeckte ein Fläschchen Viagra auf dem Waschbeckenrand. Bett, Porno, Viagra: eindeutig. »Ich suche Liza Rummel«, sagte er über die Schulter.
»Nie von ihr gehört.« James McMurray, groß und schwer, folgte ihm. »Du bist im falschen Zimmer, Kumpel.« Petrov drehte sich zu ihm um. »James, Jimmy, Jimbo, wie immer du dich nennst – wir sind keine Kumpel. Das als Erstes. Zweitens: Liza war um einundzwanzig Uhr dreißig hier verabredet.«
»Einen Scheiß war sie. Wer immer sie ist. Hau ab, oder ich rufe die Bullen.«
Petrov ging an ihm vorbei, hob eine Brieftasche auf, die auf dem Nachttisch lag, schüttelte einen Stapel Visitenkarten aufs Bett. Candyland Escorts landete ganz oben. Petrov steckte die Karte ein. »Tu das.«
Jimbo kam hinter ihm her, griff nach der Brieftasche, versetzte Petrov einen Stoß. Petrov ließ sich stoßen, gerade weit genug, um eine halbe Drehung zu vollziehen, brachte seine Schulter in Position und stieß zurück, härter, als er beabsichtigt hatte. Waren es die Kopfschmerzen – plötzlich wieder an Ort und Stelle, das Ibuprofen verlor an Wirkung –, die ihn so gemein machten? Jimbo knallte mit dem Kopf an die gegenüberliegende Wand und rutschte zu Boden, wo er sitzen blieb. Seine Lider schlossen sich flatternd, dann öffneten sie sich flatternd wieder; er versuchte nicht länger, seinen Bauch einzuziehen. Petrov dachte an Jimbos Kinder, die in genau diesem Moment wahrscheinlich ganz aufgeregt wegen der Reise waren, und hatte kein Mitleid mit ihm.
»Etwas dagegen, wenn ich mal in die Minibar schaue?«, erkundigte er sich. Keine Antwort. Petrov öffnete die Minibar, fand Johnny Walker Black. Er setzte sich in den einzigen Sessel, schaltete den Fernseher ab, goss sich ein Glas ein. Ein Schluck, und seine Kopfschmerzen lösten sich auf. Er trank noch einen, fühlte sich wirklich gut, merkte, wie hungrig er war. Wann hatte er das letzte Mal gegessen? Frühstück: Apfelspalten mit extrascharfem Cheddar und einer Banane. Nein – die Bananen waren ihm ausgegangen. In diesem Augenblick begriff er, was seine Kopfschmerzen waren: Nervenkrämpfe in der Stirn, verursacht von einem Mangel an Kalium und Erschöpfung. Er erinnerte sich, in den Wissenschaftsseiten darüber gelesen zu haben. Das Rezept dagegen war eine Banane und eine Nacht Schlaf. Petrov öffnete erneut die Minibar. Keine Bananen. Er musterte eine Tüte Cashewkerne: 150 mg Kalium pro Unze, 4 Prozent des täglichen Bedarfs, und zusätzlich eine Menge Eisen, Magnesium und Kupfer, alles gut. Er nahm die Cashewkerne und setzte sich wieder hin.
»Zieh dir was an, Jimbo. Dann reden wir.«
Jimbo sah zu ihm herüber. »Ich hab’s kapiert«, sagte er. »Sie sind selbst ein Bulle.«
»Ein T-Shirt reicht schon.«
»Sie dürfen hier nicht einfach ohne Durchsuchungsbefehl reinkommen.«
Petrov riss die Tüte mit Cashewkernen auf. »Wann wird deine Familie eintreffen?«
Jimbo zog eine seltsame Grimasse, vielleicht nur das Viagra, das in einem unpassenden Moment Wirkung zeigte. Die Kleidung, die er an diesem Tag getragen hatte, lag auf der Kommode. Er zog sich an – Oberhemd, Anzughosen, Jackett, sogar den Schlips, nur Schuhe und Socken ließ er aus –, dann setzte er sich auf die Bettkante, die gefalteten Hände im Schoß. Seine Fingernägel waren säuberlich manikürt, alles rosa; aber seine Zehennägel waren dick, gelb, rissig.
»Hat Liza sich früher schon mal verspätet?«, fragte Petrov.
»Nein.«
»Wie oft warst du mit ihr zusammen?«
»Ich weiß nicht. Drei- oder viermal vielleicht.«
»Wie findest du sie überhaupt?«
»Über den Service.«
»Was kostet das?«
»Dreihundert die Stunde. Ein Riese pro Nacht.«
»Du hast für die ganze Nacht geblecht?«
»Einmal.«
»Darf ich dir eine persönliche Frage stellen?«
»Was sonst machen Sie denn die ganze Zeit?«
»Das waren professionelle Fragen.«
»Und was ist dann persönlich?«
»Wie viel hast du letztes Jahr verdient?«, fragte Petrov.
»Ungefähr hundertzehn Riesen.«
»Demnach gibst du ein Prozent für Liza aus?«
»Wenn Sie so wollen.«
»Erzähl mir von ihr.«
»Wie meinen Sie das?«
»Sie muss etwas Besonderes haben.«
»Besonderes?«
Wie konnte er ihn erreichen? »Um die Höhe der Ausgaben im Vergleich zu deinem Budget zu rechtfertigen.«
Jimbo verstand sofort, von zahllosen Besprechungen mit Vokabular und Satzbau vertraut. »Sie ist überhaupt nicht anstrengend, eine amüsante Gesprächspartnerin, so in der Art«, sagte er. »Und sie besteht nicht auf Kondomen.«
Petrov sah auf seine Uhr: 22:05. Sie würde nicht kommen. Er trank noch einen Schluck, aß ein paar Cashewkerne, fühlte sich besser und besser.
»Demnach unterhaltet ihr euch, wenn ihr zusammen seid«, stellte er fest.
»Ein bisschen.«
»Über welche Themen?«
»Meistens über Football, schätze ich.«
»Football?«
»Ich bin ein großer Fan der Vikings.«
»Ist Liza auch ein Fan?«
»Eigentlich nicht. Aber ihr alter Herr hat bei den Bears gespielt. Sehen Sie Football?«
»Nicht mehr.«
»Aber wahrscheinlich haben Sie von Dick Butkus gehört. George Rummel hat mit ihm gespielt, Offensive Tackle. Hat Tag für Tag mit Dick Butkus trainiert.«
»Stehen Liza und ihr Vater sich nahe?«, fragte Petrov. Jimbo kniff die Augen zusammen. »Da war irgendwas, aber ich kann mich beim besten Willen nicht daran erinnern.«
»Hat sie jemals ihre Tochter erwähnt?«
»Sie hat eine Tochter?«
»Warum überrascht dich das?«
Jimbo zuckte die Achseln. »Sie scheint nicht der Typ zu sein.«
Petrov leerte seinen Scotch, stand auf. »Keine Kondome, Jimbo, das weißt du aus erster Hand. Damit ist sie der Typ, der Töchter hat.«
Er nahm die Cashewkerne mit hinaus.
Petrov zahlte Lizas Scheck an einem Bankautomaten in der Lobby ein. Juwan Barnes kam herüber.
»Alles in Ordnung?«
Petrov nickte. »Diese Cashewkerne sind wirklich gut.«
»Gib ihnen einen Abschiedskuss.«
»Warum?«
»Ab nächstem Quartal Erdnüsse«, erklärte Barnes. »Kostensenkung. Das Mädchen gefunden?«
»Noch nicht«, sagte Petrov. Barnes hatte Liza gemeint, aber in diesem Augenblick wusste Petrov, dass beide verschwunden waren, Mutter und Tochter – adoptierte Tochter, die leibliche Mutter ermordet; er konnte spüren, wie sich der Fall in die Nacht dehnte.
Barnes begleitete ihn zur Tür. »Dein Film lief gestern Nacht auf Kanal drei zweiundneunzig im Fernsehen«, bemerkte er.
Petrov hatte nicht gewusst, dass er immer noch lief; hatte Liza ihn auch gesehen? »Es ist nicht mein Film«, sagte er. »Hast du Kim Delaney je getroffen?«
»Nein.«
»Armand Assante?«
»Kurz.«
»Er sieht dir nicht ähnlich.«
»Das weiß ich.«
»Er ist auch irgendwie kantig, aber hübscher.«
»Ich bin nicht so hübsch wie Armand Assante?«
»Nicht mal annähernd.«
Barnes hielt ihm die Tür auf. »Reasoner sitzt immer noch im Todestrakt?«
»Ja.«
»Was ist passiert?«
»Ein weiteres Gesuch«, antwortete Petrov. »Ich verfolge das Ganze nicht mehr.«
Barnes senkte die Stimme. »Man hätte ihn erschießen sollen, als er Widerstand gegen die Verhaftung leistete.« Ihre Blicke trafen sich. Barnes schaute weg.
Nick Petrov aß den letzten Cashewkern. Gab es im Leben eines Menschen Wendepunkte? In Geschichten fast immer; im wahren Leben fast nie, es sei denn, man betrachtete Ereignisse, die der Geburt vorangingen, als Wendepunkte. Das wahre Leben war meist einförmig. Aber in seinem eigenen Leben – Petrov saß wieder in seinem Wagen draußen vor Liza Rummels dunklem Haus, parkte im Schatten zwischen zwei Straßenlaternen, wartete darauf, dass der blaue Mustang die Straße herunterkam und in die Auffahrt einbog, obwohl er wusste, dass das nicht passieren würde – in seinem eigenen Leben konnte er Wendepunkte ausmachen, zwei, um genau zu sein. An den ersten, das Verlassen Russlands, genauer gesagt, das Überlaufen, noch genauer, die Flucht, konnte er sich nicht erinnern, da er damals noch nicht einmal zwei gewesen war. Der zweite war der Fall Reasoner. Hätte es den Fall Reasoner nicht gegeben, ginge er nicht allein aus, hätte er kein Filmgeld besessen, um die Blockhütte am Big Bear Lake zu bezahlen. Er erwog, jetzt dorthin zu fahren, zog stattdessen seine Stiftlampe heraus, klappte sein Notizbuch auf und begann sich Notizen zum Fall Rummel zu machen.
Petrov schrieb in einem Code, den er zum größten Teil selbst entwickelt hatte, der aber auf einer Idee seines Vaters basierte und deshalb wahrscheinlich mit den Methoden des KGB der Beria-Ära verwandt war. Er hatte Jahre gebraucht, um ihn flüssig schreiben zu können; heute fiel es ihm fast so leicht wie Englisch. Wie war er darauf gekommen? Zu Beginn hatte er sich eingeredet, es ginge ihm um den Schutz von Informationen, von Klienten, seiner selbst, aber tief im Innersten wusste Petrov, dass er damit nur eine emotionale Tatsache rationalisierte. Es – diese Geheimnistuerei – fühlte sich einfach richtig an.
BEKANNT:
LIZA:
1. Versteckte Amandas Geburtsurkunde. Mögliche Motive:
(a) damit ich nicht herausfinde, dass sie nicht Amandas leibliche Mutter ist;
(b) um den Namen der leiblichen Mutter geheimzuhalten.
AMANDA:
1. Gescheit.
2. Drogenprobleme.
FRAGEN:
1. Warum ist Liza nicht in Jimbos Zimmer aufgetaucht?
2. Warum kommt mir ihr Gesicht bekannt vor?
3. Old Spice Deodorant in Lizas Badezimmer im Erdgeschoss – wessen?
4. Wer ist Rui?
5. Wer war Amandas Mutter? Vater?
6. Warum hat Liza mich zuerst zu Beth Franklin geschickt?
VERMUTUNGEN:
1. Liza weiß, wer Rui ist.
2. Liza und Amanda stritten sich. Worüber?
(a) Lizas Arbeit? (b) Rui? (c) Amandas Vater?
3. Falls (c) – sucht Amanda nach ihm?
4. Liza und ihr Vater, George Rummel – schlechtes Verhältnis.
5. Liza hat die Hallmark-Karte unter Amandas Bett gelegt.
ENTFERNTE MÖGLICHKEITEN:
1. Amandas Verschwinden – steht in Zusammenhang mit dem nicht aufgeklärten Mord an ihrer Mutter (angenommen, Beths Geschichte entspricht der Wahrheit).
2. Liza – will mich reinlegen.
Warum sollte sie das tun? Petrov hatte keine Ahnung. Aber ihr Versäumnis, nach der Hallmark-Karte zu fragen, hatte sie Petrovs Vertrauen gekostet. Ihr nicht zu vertrauen hieß nichts zu glauben, was sie ihm erzählte; und sie hatte gesagt, Amanda wäre verschwunden. Bestand die Möglichkeit, dass Amanda gar nicht verschwunden war, dass Liza alles erfunden hatte, um ihn zu benutzen? Petrov konnte sich nicht vorstellen, warum.
ZU ERLEDIGEN:
1. Candyland.
2. Volleyballtrainerin – Betsy Matsu.
3. George Rummel – Barstow.
Rings um ihn brach leise die Nacht heran, noch summte die Stadt, aber leiser jetzt, ein Motor im Leerlauf. Petrov schloss die Augen, ließ seine Gedanken schweifen. Sie wanderten zum Fall Reasoner, zu den sieben Postkarten mit dem Rembrandtgemälde Die Anatomiestunde des Dr. Nicolaes Tulp. Das Bild stand ihm lebhaft vor Augen: der faszinierte Ausdruck auf den Gesichtern der Studenten des Dr. Tulp; die Intelligenz in Dr. Tulps Augen, suchend, fast manisch; die Detailtreue der Muskeln und Sehnen am gehäuteten Unterarm der Leiche. Sieben Postkarten, sieben Opfer: Janet Cody, Elizabeth Chang, Cindy Motton, Flora Gutierrez, Tiffany LeVasseur, Nicolette Levy, Lara Deems.
Zum ersten Mal war Petrov die Dr.-Tulp-Karte im Haus des dritten Opfers, Cindy Motton, aufgefallen. Cindy Motton, Friseurin, alleinlebend – sie alle lebten allein, außer Lara Deems –, wohnte im hinteren Teil eines Kutscherhauses in North Hollywood. Ungefähr eine halbe Stunde, nachdem die Spurensicherung ohne Ergebnisse das Haus verlassen hatte – sie erfuhren später, dass Gerald Reasoner stets OP-Handschuhe, -Kappe und -Kittel getragen hatte –, hatte Petrov eine Schublade in ihrer Küche durchsucht, eine Lade voller Rezepte, geschrieben in Cindy Mottons sauberer Handschrift. Sie hatte die Quelle jedes einzelnen notiert: Tante Ida zu Weihnachten, Moms Macadamiakekse – die sind großartig! Ganz unten entdeckte er die Dr.-Tulp-Postkarte, mit unbeschriebener Rückseite, und dachte nicht weiter darüber nach.
