Blankenese - Zwei Familien - Michaela Grünig - E-Book
SONDERANGEBOT

Blankenese - Zwei Familien E-Book

Michaela Grünig

0,0
12,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 12,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Hamburg 1939. Der Krieg hat die Jugendfreunde Kurt und Fanni auseinandergerissen. Kurt, der als Jude mit einem Kindertransport nach England verschickt wurde, wächst nicht in einer fürsorglichen Familie, sondern im Heim auf. Als er im Mai 1940 als »feindlicher Ausländer« interniert werden soll, gelingt es ihm über einige abenteuerliche Umwege der Royal Air Force beizutreten. Er ahnt nicht, dass Fanni zur gleichen Zeit trotz einiger Zweifel dem insgeheim schon länger von ihr verehrten Blankeneser Kinderarzt Otto Casparius näherkommt. Eines Tages soll Kurt an einem Luftangriff auf seine alte Heimat teilnehmen. Doch in Hamburg lebt seine Familie und auch die Frau, die er seit Kindertagen liebt ...

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 708

Veröffentlichungsjahr: 2024

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhalt

CoverÜber dieses BuchÜber die AutorinTitelImpressumWidmungPersonenverzeichnisKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18Kapitel 19Kapitel 20Kapitel 21Kapitel 22Kapitel 23Kapitel 24DankWeiterführende Literatur

Über dieses Buch

Hamburg 1939. Der Krieg hat die Jugendfreunde Kurt und Fanni auseinandergerissen. Kurt, der als Jude mit einem Kindertransport nach England verschickt wurde, wächst nicht in einer fürsorglichen Familie, sondern im Heim auf. Als er im Mai 1940 als »feindlicher Ausländer« interniert werden soll, gelingt es ihm über einige abenteuerliche Umwege der Royal Air Force beizutreten. Er ahnt nicht, dass Fanni zur gleichen Zeit trotz einiger Zweifel dem insgeheim schon länger von ihr verehrten Blankeneser Kinderarzt Otto Casparius näherkommt. Eines Tages soll Kurt an einem Luftangriff auf seine alte Heimat teilnehmen. Doch in Hamburg lebt seine Familie und auch die Frau, die er seit Kindertagen liebt …

Über die Autorin

Michaela Grünig, geboren und seelisch beheimatet in Köln, war lange Jahre im Ausland tätig. Dort kam sie nicht nur mit interessanten Menschen und ihren Geschichten zusammen, sie entdeckte auch ihre große Liebe zum Reisen. Seit 2010 hat sie ihr Hobby, das Schreiben, zum Beruf gemacht. Zusammen mit ihrer Familie und vielen Tieren lebt sie in der Westschweiz.

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Originalausgabe

Copyright © 2024 by

Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6 – 20, 51063 Köln

Vervielfältigungen dieses Werkes für das Text- und Data-Mining bleiben vorbehalten.

Textredaktion: Claudia Schlottmann, Berlin

Umschlaggestaltung: Massimo Peter-Bille

Einband-/Umschlagmotiv: © Richard Jenkins Photography;

© Miguel Sobreira/Trevillion Images; © shutterstock: Alvov | Canetti | Forrest9 | Okyela | poomooq

eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7517-4811-7

luebbe.de

lesejury.de

Für meine geliebte Mutter, Hella Grünig

Personenverzeichnis

Familie Casparius

Werner Casparius, 1862–1919, ehemaliger Patriarch der Familie und Chef der Reederei

Veit Casparius, *1870, sein unverheirateter Bruder, nach der Arisierung pro forma Besitzer der Reederei

Esther Casparius, 1872–1899, Werners verstorbene jüdische Ehefrau, die das Geld in die Familie brachte

Viktoria Casparius, *1876, Werners evangelische zweite Ehefrau

John Casparius, *1892, Sohn von Werner und Esther, Erbe des Familienunternehmens

Leni Casparius, geb. Hansen, *1897, Ehefrau von John

Sonja Casparius, *1924, Tochter von Leni und John

Max Casparius, *1924, Zwillingsbruder von Sonja

Felicitas Casparius, *1899, Tochter von Werner und Esther

Kurt Jacobson, *1925, Sohn von Felicitas und Elias Jacobson, *1894

Charlotte Jacobson, *1926, Schwester von Kurt

Michael Jacobson, *1937, kleiner Bruder von Kurt und Charlotte

Otto Casparius, *1910, Sohn von Werner und Viktoria, Kinderarzt

Familie Hansen

Gustav Hansen, 1870–1910, verstorbener Kapitän

Irma Hansen, *1873, Gustavs Witwe

Albert Hansen, *1892, Irmas Sohn, Fischhändler, ehemals Lotse

Nelly Hansen, *1893, Alberts Frau, zwei Kinder (Fritz und Peter)

Gesine Georg, geb. Matusiak, *1894, ehemalige Verlobte von Irmas Sohn Hendrik (1893–1918), verheiratet mit dem NSDAP-Ortsgruppenleiter von Othmarschen

Fanni Matusiak, *1919, uneheliche Tochter von Gesine und Hendrik, Kinderkrankenschwester

Heinz Hansen, *1910, Irmas jüngster Sohn, Angehöriger der SA

Adelheid Hansen, *1912, Heinz’ Frau

Andere wichtige Personen

Friedrich Koenig, *1910, ein U-Boot-Kommandant

Emil Koenig, *1885, ehemaliger Vorstand der Hapag-Reederei und Vater von Friedrich

Ilse Koenig, *1887, Mutter von Friedrich

Jacques Junod, *1923, ein französischer Zwangsarbeiter

Felix Mansfeld, *1888, ehemaliger Kriegsfreund von John Casparius und dessen jetziger Erzfeind, Besitzer der Wehrmann-Bank nach deren Arisierung

Max Wehrmann, *1867, deutscher Bankier und Patenonkel von John

Eric Wehrmann, *1900, Neffe von Max Wehrmann und hoher amerikanischer Offizier

Roger Lafferty, *1895, ein englischer Lord

Dr. Olaf Berenzen, ein mit Otto befreundeter Kinderarzt und Nazi

Alan Russel, ein Toter

Tom Davies, Pilot der Royal Air Force

Paul Jones, Pilot der Royal Air Force

Lucy Boyle, eine junge Barfrau

Nora Heidenreich, eine kleine Patientin

Kapitel 1

Altona, Februar 1939

Auf dem letzten Stück des Weges musste Fanni sich sputen. Sie war spät dran. Ihr Dienst im Kinderhospital begann um Punkt sieben Uhr, und schon bei der geringsten Verspätung erntete man einen Tadel von Oberschwester Karin. »Die deutsche Frau ist pünktlich«, sagte diese dann mit vorwurfsvollem Blick und brummte einem zur Strafe einige unvergütete Nachtdienste auf. Die Oberschwester führte ihre Untergebenen mit harter Hand. Aber wenn einer der Ärzte die Zeit vergaß oder gar einen Termin versäumte, verzogen sich ihre dünnen Lippen zu einem nachsichtigen Lächeln. Sobald man einen Doktortitel trug, konnte man in ihren Augen keine Fehler mehr machen. Nur der Führer selbst stand für sie noch über diesen Halbgöttern in Weiß.

Fanni, von der körperlichen Anstrengung außer Atem, sog hastig die kalte Februarluft ein. Im Grunde war es gar nicht ihre Schuld, dass sie beim Frühstück so viel Zeit vertrödelt hatte. Seit ihre Großmutter Irma die Leitung des Ausflugslokals Elbrauschen an ihre Enkelsöhne Fritz und Peter abgegeben hatte, fehlte es ihr an Ansprache. Notgedrungen verbrachte sie nun den größten Teil des Tages allein in ihrer Tweehus-Hälfte im Blankeneser Treppenviertel. Ein Zustand, der für die vormals so umtriebige Mittsechzigerin wohl nur schwer zu ertragen war. Aber jedes Mal, wenn Fanni vorschlug, dass sie doch ihrer Tochter einen Besuch abstatten könne, die in einer herrschaftlichen Villa in der Elbchaussee wohnte, schüttelte ihre Großmutter den Kopf. »Leni hat schon genug Sorgen. Da muss ich ihr nicht auch noch die Zeit stehlen.« Das stimmte zwar, änderte aber nichts daran, dass sie tagsüber nun niemanden für ein Schwätzchen hatte. War es da ein Wunder, dass sie beim gemeinsamen Frühstück jedes Mal vom Hölzchen aufs Stöckchen kam? Worüber hatte sie sich heute Morgen wieder aufgeregt? Fanni musste zugeben, dass sie dem Redefluss nur mit halbem Ohr gelauscht und mit wachsender Beklemmung auf den immer weiter vorrückenden Zeiger der Uhr geschielt hatte. Aber während sie jetzt weiter Richtung Bleickenallee eilte und aufpasste, beim Überqueren der Straße nicht von der Linie 7 angefahren zu werden, fiel es ihr wieder ein: Ihre Großmutter hatte sich über einen Erlass der Reichsmusikkammer echauffiert, den sie in der Zeitung erspäht hatte. »Stell dir vor! Jetzt schreiben die Nazis einem sogar schon vor, wie man ihre Lieder aufzuführen hat. Das Horst-Wessel-Lied soll als ›revolutionäres Kampflied‹ schnell gespielt werden, das Deutschlandlied als ›Weihelied‹ ganz langsam. Hat man da noch Töne? Gibt es irgendeinen Bereich, in den diese Kerle nicht ihre Nasen stecken?« Voller Entrüstung hatte sie den Kopf geschüttelt, bis sich eine schlohweiße Strähne aus ihrem Dutt löste.

Endlich erblickte Fanni das dreistöckige rote Backsteingebäude mit den vielen weißen Fenstern, in dem sie ihre Ausbildung zur Kinderkrankenschwester absolviert hatte. Trotz der gebotenen Eile huschte sie mit einem Lächeln durch die Pforte des Personaleingangs. Sie liebte ihre Großmutter abgöttisch und das nicht nur, weil die ihr trotz widriger Umstände zu einer behüteten Kindheit verholfen hatte. Die alte Dame sprach in ihrer resoluten Art auch Dinge aus, die man sich selbst nicht zu sagen traute. Sogar vor ihrem jüngsten Sohn Heinz, einem fanatischen Nazi, kuschte sie nicht, jedenfalls nicht in der Abgeschiedenheit ihrer vier Wände. Nur in der Öffentlichkeit war sie vorsichtig. Das Denunziantentum hatte sich in der letzten Zeit arg ausgebreitet, und ein falsch verstandener Witz in der Schlachterei oder beim Anstehen vor der Bäckerei konnte unabsehbare Folgen haben. Wahrscheinlich war das auch der Grund, warum sie inzwischen kaum noch das Haus verließ und ihre Enkel zum Einkaufen schickte.

Kurz vor sieben Uhr erreichte Fanni das Umkleidezimmer. Hastig zog sie sich die weiße Schürze über das hellblaue, wadenlange Kleid. Während sie sich die Haube auf dem Kopf feststeckte, fiel ihr Blick auf die Schlagzeile der Norddeutschen Nachrichten, die eine Kollegin auf der Fensterbank hatte liegen lassen: Hitler kündigt im Kriegsfall die Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa an. Unwillkürlich lief Fanni ein Schauer über den Rücken. Es war verrückt, wie man sich an den kleinen Sorgen des Alltags festklammerte, um die großen Katastrophen auszublenden. Doch die fett gedruckte Überschrift rief ihr die schweren Wochen und Monate, die hinter ihnen lagen, nachdrücklich ins Gedächtnis. Wie mochte es wohl gerade Tante Lenis Sohn Max gehen, der gemeinsam mit seiner Cousine Charlotte und deren Zwillingsbruder Kurt vor den Nazis nach England geflüchtet war? Wie lebten die drei in der Fremde? Ob sie wenigstens dort in Sicherheit waren?

In diesem Moment streckte Schwester Beate den Kopf zur Tür herein. »Moin, Fanni. Mensch, beeil dich! Der Drache ist bereits im Anmarsch.« Hastig machte sie sich auf den Weg ins Schwesternzimmer, wo Oberschwester Karin jeden Morgen eine Besprechung abhielt. Während ihre Vorgesetzte wortreich den zu hohen Verbrauch von Zellstofftüchern und Verbandsmaterial beklagte, schweiften Fannis Gedanken zu der Schlagzeile in den Nordeutschen Nachrichten ab. Würde es tatsächlich wieder Krieg geben? Was würde dies für ihre Familie bedeuten, die politisch schon jetzt zutiefst gespalten war? Auf der Seite der Nazis standen ihr Onkel Heinz, der im Konzentrationslager Fuhlsbüttel arbeitete, seine Frau Adelheid, die gerade ihr erstes Kind erwartete, und leider auch ihre eigene Mutter, die vor einiger Zeit einen grauenhaften Ortsgruppenleiter geheiratet hatte und sich seitdem wie die Königin von Othmarschen gebärdete. Ihre Großmutter, die Familien von Onkel Albert und Tante Leni, deren halbjüdischer Ehemann John vor der Gestapo in den Untergrund hatte fliehen müssen, waren dagegen erklärte Gegner des Regimes. Das alles bot schon genügend Anlass zur Sorge, aber wie sollte es enden, wenn sich die Situation weiter zuspitzte?

»Das war’s«, beschloss die Oberschwester ihre Gardinenpredigt. »Ab an die Arbeit!«

Jetzt war keine Zeit mehr für private Gedanken. Fanni drängte sich mit den anderen Schwestern Richtung Ausgang, um so schnell wie möglich zu ihren kleinen Patienten zu kommen. Seit Januar arbeitete sie auf der Infektionsstation, wo Kinder lagen, die an Mumps, Masern und anderen Infektionskrankheiten litten und deren Symptome so stark waren, dass sie nicht zu Hause gepflegt werden konnten. Besonders um den kleinen Thomas, der gestern mit Verdacht auf Kinderlähmung eingeliefert worden war, machte sie sich Sorgen.

Während die Lernschwestern den älteren Patienten das Frühstückstablett vor die Nase stellten und den jüngeren beim Essen halfen, bereitete sich Fanni auf die Visite mit dem leitenden Oberarzt Dr. Mook vor. Mit gerunzelter Stirn musterte sie die Krankenblätter, in die die Nachtschwestern die Ergebnisse der letzten Fiebermessung und andere Kommentare zum Krankheitsverlauf eingetragen hatten. Glücklicherweise schien es den meisten Kindern ein wenig besser zu gehen. Besonders für die kleine Ilse, die einen hochkomplizierten Scharlachverlauf nur knapp überlebt hatte, freute sie das. Aber ausgerechnet Thomas ging es schlechter. Er fieberte stark und klagte über Schmerzen in beiden Beinen. Natürlich war der Rachenabstrich positiv aus dem Labor zurückgekommen. Mit einem leisen Seufzen trug Fanni das Ergebnis ein. Sie hatte Dr. Mook erst daran erinnern müssen, den Abstrich anzuordnen. Der Oberarzt hatte diesen Angriff auf seine Autorität mit einem unwilligen Nicken quittiert. Er war ein schwieriger Chef, der einerseits über ein übersteigertes Selbstwertgefühl verfügte, andererseits aber nur über sehr begrenzte medizinische Fähigkeiten. Seine leitende Stellung verdankte er wohl eher seiner strammen politischen Gesinnung als seiner fachlichen Kompetenz.

»Moin, Schwester Fanni«, grüßte eine männliche Stimme hinter ihr.

Errötend fuhr sie herum. »Oh … moin, Otto … ähm … ich meine, Doktor Casparius.« Der blonde Kinderarzt war der Halbbruder von Tante Lenis Ehemann und seit Kindertagen ihr erklärter Schwarm. Doch leider schien er in ihr immer noch das kleine Mädchen zu sehen, das er einst beim Pütschern auf der Elbe von einer Eisscholle gerettet hatte. Jedenfalls verhielt er sich ihr gegenüber gleichbleibend freundlich – leider in der Art eines gutmütigen älteren Bruders. Trotzdem hatte sie sich auch seinetwegen für die Ausbildung zur Kinderkrankenschwester entschieden. Er hatte so leidenschaftlich von seiner Arbeit im Krankenhaus berichtet, dass sie den kleinen Patienten ebenfalls hatte helfen wollen. Dass sie Otto Casparius dabei fast täglich auf den langen Krankenhauskorridoren begegnete, war ein zusätzlicher Bonus.

Über sein blasses Gesicht huschte ein verärgerter Ausdruck. »Es tut mir leid, Fanni, dass Doktor Mook im Krankenhaus auf solchen Förmlichkeiten besteht.«

Erleichtert, dass sein Unmut nicht ihr galt, winkte sie ab. »Ach, das ist nicht schlimm. Und bestimmt wäre es auch Oberschwester Karin nicht recht, wenn wir uns bei der Arbeit duzen würden. Aber … was machst du überhaupt hier? Bist du diese Woche nicht auf der Neugeborenenstation?« Die letzte Frage war rhetorisch. Natürlich kannte sie seinen Dienstplan in- und auswendig.

»Eigentlich … ja«, erwiderte Otto gedehnt. Seine hellblauen Augen blitzten kurz auf. »Aber da Doktor Mook die Hitlerjugend Altona heute als Bannarzt auf einen Ausflug begleitet, werde ich ihn ein weiteres Mal bei der Visite vertreten.«

Fanni atmete auf. »Gott sei Dank.«

Otto blickte ihr prüfend ins Gesicht. »Wieso?«

»Ach, wir haben einen Jungen mit Kinderlähmung, und Doktor Mook nimmt den Fall nicht richtig ernst. Da …«

Ungeduldig nahm ihr Otto das Holzbrett mit dem Krankenblatt aus der Hand. »Ist er das?«

Sie nickte.

»Also, dann schauen wir uns …« Er suchte nach dem Namen. »… den kleinen Thomas gleich als Erstes an. Solche Patienten müssen unbedingt warmgehalten werden. Außerdem braucht er ein Mittel gegen die Schmerzen. Zusätzlich sollten wir noch seine Atmung kontrollieren … wenn das Zwerchfell ebenfalls von Lähmungserscheinungen betroffen ist, müssen wir ihn sofort an einen Respirator anschließen.«

Fanni nickte erneut, und gemeinsam machten sie sich auf den Weg.

Der restliche Vormittag verging wie im Flug. Nachdem die Visite beendet war, wurden die von Otto angeordneten Medikamente ausgeteilt sowie weitere Maßnahmen und Untersuchungen durchgeführt. Bei einem älteren Mädchen musste die Lunge durchleuchtet werden, ein anderes bekam wegen Verdauungsproblemen einen Einlauf. Alle Patienten mussten gewaschen und in neue Laken gebettet werden. Eine Heidenarbeit, besonders weil einige Eltern sich nicht an die ausgewiesenen Besuchszeiten hielten und umgehend über den Zustand ihres Kindes informiert werden wollten. Trotzdem klappte das Zusammenspiel mit den anderen Schwestern wie am Schnürchen … bis am späten Vormittag ein entsetzter Schrei ertönte.

»Was ist denn da los?«, fragte Schwester Beate.

»Ich weiß nicht … es scheint aus dem Schwesternzimmer gekommen zu sein. Wahrscheinlich sollten wir …« Fanni sprach den Satz nicht zu Ende, sondern schloss sich ihrer Kollegin an, die bereits losgelaufen war.

Als sie näher kamen, sah sie, dass sich bereits die meisten Schwestern der nahegelegenen Neugeborenen- und der Chirurgischen Station im Korridor versammelt hatten.

»Wir müssen umgehend die Gestapo rufen!«, hörte man Oberschwester Karin keifen. »Sonst machen wir uns alle zu Komplizen dieser widerwärtigen Verbrecher.«

Fanni und ihre Kolleginnen drängten sich neugierig ins Schwesternzimmer. Mitten im Raum stand ihre Vorgesetzte und hielt ein Stück Papier wie eine Jagdtrophäe in die Luft. »Wer von euch war das?«, fauchte sie. »Wer verteilt unter meiner Aufsicht solch ekelhafte Flugblätter?«

In diesem Moment betrat Otto den Raum. »Was ist hier los, Oberschwester?«, fragte er mit ruhiger Stimme.

»Es gibt einen schändlichen Verräter unter uns … einen Schmierfinken, der vor nichts Halt macht und den Führer und seine Mannen in den Dreck zieht.«

»Darf ich bitte einmal sehen?« Otto streckte die Hand aus, und die Oberschwester reichte ihm widerwillig den Zettel.

Schweigend las er. Als er aufblickte, meinte Fanni auf seinen Lippen ein flüchtiges Lächeln zu sehen. Doch er klang ernst, als er sagte: »Also, ich kann beim besten Willen keine Herabwürdigung unseres Führers in diesen Worten erkennen.«

»Nicht?« Oberschwester Karin nahm ihm ungefragt den Zettel aus der Hand. »Dann halten Sie dies für eine angemessene Botschaft?« Sie atmete wutschnaubend ein und deklamierte: »Komm, Herr Hitler, sei unser Gast und gib uns, was du uns versprochen hast, aber nicht nur Kartoffeln und Hering, sondern dasselbe wie Goebbels und Göring.«

Ein aufgeregtes Raunen erhob sich.

»Da haben Sie es! Ich sage Ihnen, Doktor Casparius, wir müssen die Gestapo alarmieren, damit dieser aufrührerische Schmierfink dingfest gemacht wird.« Die Wangen der Oberschwester hatten die Farbe von überreifen Tomaten angenommen. »Und zwar sofort!«

Otto schüttelte den Kopf. »Meinen Sie wirklich, dass ein dummer Spruch über Kartoffeln und Heringe einen solchen Einsatz rechtfertigt? Also, ich denke, die Gestapo hat Wichtigeres zu tun.«

»Man bezichtigt den Führer, seine Versprechen nicht einzuhalten!«

»Meines Erachtens stellen diese Zeilen keine politische Losung dar, sondern bestenfalls einen schlechten Scherz.«

»Einen Scherz?«, wiederholte die Oberschwester empört. »Ich kann nichts Lustiges daran entdecken.«

Fanni dachte fieberhaft nach. Irgendwie musste sie Otto zur Seite springen.

»Rufen Sie jetzt die Gestapo, Doktor Casparius, oder soll ich das übernehmen?«

»Aber …«, rief Fanni mit klopfendem Herzen. »… der Verfasser will den Führer sogar einladen. Er schreibt ja ›sei unser Gast‹ … das kann doch nichts Böses bedeuten.« Weder die Oberschwester noch Otto beachteten sie.

»Niemand wird die Gestapo rufen!«, sagte Otto in diesem Moment mit Nachdruck. »Ich vertrete Doktor Mook und bin der Meinung, dass sich die Krankenhausleitung lächerlich macht, wenn sie wegen eines solchen Unfugs Alarm schlägt.«

Sekundenlang herrschte eine angespannte Stille, dann erwiderte Oberschwester Karin spitz: »Wie Sie meinen, Doktor Casparius. Doch ich werde Doktor Mook über Ihre Entscheidung in Kenntnis setzen müssen.«

»Tun Sie, was Sie nicht lassen können. Aber ich wäre Ihnen dankbar, wenn wir uns jetzt wieder der Heilung und Pflege unserer Patienten widmen könnten.« Otto drehte sich um und verließ das Schwesternzimmer. Die anderen taten es ihm gleich. Sogar Oberschwester Karin rauschte wütend aus dem Raum, nur Fanni verweilte noch einen Moment. Otto hatte ihren Einwurf einfach ignoriert. Dabei hatte sie ihn lediglich unterstützen wollen. Ihre Großmutter hatte recht: Sie musste sich endlich ihre fehlgeleiteten Gefühle für ihn abschminken. Trotzdem hoffte sie inständig, dass Oberschwester Karin ihre Drohung nicht wahrmachte. Mit Dr. Mook war in Bezug auf die Partei und den Führer nicht zu spaßen.

* * *

Sonja seufzte leise. Noch vor einem Jahr hätte ihr ein Besuch bei der Werft Blohm & Voss mit ihren Freundinnen vom Bund Deutscher Mädel sicherlich Spaß gemacht. Gemeinsam hätten sie über die anerkennenden Pfiffe der Werftarbeiter gekichert und darüber getuschelt, wer von ihnen dem berühmten Hans Albers am ähnlichsten sah. Anschließend hätten sie die Kräne und Werkstätten auf dem weitläufigen Gelände bestaunt und atemlos der Rede des Führers gelauscht, die dieser anlässlich des feierlichen Stapellaufs des größten deutschen Schlachtschiffs, der fast zweihundertfünfzig Meter langen Bismarck, hielt. Doch jetzt war alles anders. Jetzt musste sie sich zwingen, über die Scherze ihrer Freundinnen zu lachen. Wobei sie sich keineswegs sicher war, ob sie überhaupt noch echte Freundinnen waren. Manchmal hatte sie das Gefühl, dass zumindest Irmgard und Lotte, deren Väter bei der SS waren, sie schräg von der Seite ansahen. Oder bildete sie sich das nur ein? Doch die Angst, die sie seit Vaters Flucht verspürte, war leider sehr real.

Der Führer, der in einiger Entfernung auf einem mit Girlanden aus Tannenzweigen geschmückten Podest neben dem Schiff stand, wirkte trotz seiner Uniform so klein und unscheinbar. Kaum zu glauben, dass ausgerechnet dieser Mann einen solchen Eindruck auf alle Anwesenden machte. Irmgard, die seit jeher für den Führer schwärmte und ihm schon unzählige Briefe mit gepressten Blumen geschickt hatte, war bei seinem Anblick sogar kurzzeitig in Ohnmacht gefallen. Sonja selbst beäugte ihn mit ungläubiger Neugierde. Konnte das ganze Unglück, das ihrer Familie widerfahren war, tatsächlich auf diesen Mann zurückgeführt werden, der, zwischen stilleren Passagen, genauso herumbrüllte wie die Verkäufer auf dem Hamburger Fischmarkt? Was fanden die Leute an ihm? Oder war die Erhabenheit des Führers in Wirklichkeit nur ein Trugbild, dem wie in ihrem Lieblingsmärchen Des Kaisers neue Kleider alle Bürger gleichzeitig aufsaßen? Doch wo blieb das Kind, das mit ausgestrecktem Finger auf ihn zeigte und die Wahrheit hinausposaunte?

Ihre amerikanische Großmutter Esther war gestorben, als ihr Vater noch ein kleiner Junge gewesen war. Sie hatte sie nie kennengelernt. Trotzdem machte ihr Blutanteil – zumindest in den Augen der Nazis – ihren Vater zum Halbjuden und ihren Zwillingsbruder Max und sie zu Vierteljuden. Natürlich war es eine schreiende Ungerechtigkeit, dass sie, nur weil sie die blonden Haare und blauen Augen ihrer Mutter geerbt hatte, zu den beliebten Mädchen ihrer Schule zählte. Insgeheim hatte sie wegen dieser Willkür, obwohl sie nichts dafürkonnte, ein schlechtes Gewissen, denn Max, der mit Vaters braunen Augen und dunklen Haaren geboren worden war, erging es leider völlig anders. Ihm war das Leben bei jeder Gelegenheit schwer gemacht und der Eintritt in die Hitlerjugend gleich ganz verwehrt worden. Ihr Bruder hatte in der Schule und auf den Hamburger Straßen so viele Demütigungen ertragen müssen, dass er sich letzten Herbst entschlossen hatte, gemeinsam mit ihrer Cousine Charlotte und ihrem Cousin Kurt nach England auszuwandern. Und das alles nur, weil der Führer und seine Anhänger die Juden zum Sündenbock für alles machten, was im Deutschen Reich schieflief.

Wegen der Ereignisse der letzten Wochen und Monate war Sonjas schlechtes Gewissen einem nagenden Schuldgefühl gewichen. Warum durfte ausgerechnet sie hier unbehelligt in der Menge stehen, während Kurts und Charlottes Vater Elias seit der Reichspogromnacht verschollen, ihr Bruder ausgewandert und ihr Vater vor der Verhaftung durch die Gestapo geflohen war? Das ergab doch alles keinen Sinn. Dennoch bestand ihre Mutter darauf, dass sie ihr Leben so »normal« wie möglich weiterlebte. Als könnte es in ihrer Familie überhaupt noch so etwas wie Normalität geben. Bei jedem Telefonklingeln schreckten Tante Felicitas, ihre Mutter und sie selbst wie von der Tarantel gestochen hoch. Aber es war niemals ihr Bruder, ihr Vater oder Onkel Elias am anderen Ende der Leitung.

Max schrieb wenigstens von Zeit zu Zeit Briefe, und von ihrem Vater hatten sie eine Postkarte aus Osnabrück erhalten. »Alles gut. In Liebe, John«, hatte er eilig darauf gekritzelt. Aber von Onkel Elias hatte seit der schrecklichen Nacht seiner Verschleppung niemand mehr etwas gehört oder gesehen. Manchmal konnte Sonja vor Sorge um die geliebten Menschen kaum schlafen.

Sie zuckte zusammen. Irmgard hatte ihre Hand ergriffen. »Ist er nicht großartig?«, flüsterte die Freundin und drückte ihre Finger. »Und diese Rede. Einfach kolossal!«

Sonja nickte mit einem hoffentlich überzeugenden Lächeln und lauschte demonstrativ Hitlers Worten, die sie vorher ausgeblendet hatte.

»Der Nationalsozialismus aber hat in seiner Bewegung und in der deutschen Volksgemeinschaft die geistigen, weltanschaulichen und organisatorischen Elemente geschaffen, die geeignet sind, die Reichsfeinde von jetzt ab und für alle Zukunft zu vernichten«, brüllte der Führer gerade.

Was sollte das nun schon wieder bedeuten? Welche Reichsfeinde meinte er? Sprach er etwa von den Juden? Plötzlich wünschte Sonja, dass sie der Rede von Anfang an zugehört hätte. Doch selbst jetzt hatte sie Mühe, sich zu konzentrieren. In ihrem Kopf spukten so viele Fragen herum. Wo blieb zum Beispiel ihr Großonkel Veit? Um ihrem Vater die Flucht zu ermöglichen, hatte er die Gestapo mit einem Trick an der Nase herumgeführt. Trotzdem hatte ihre Familie damit gerechnet, dass Veit als Mitglied der NSDAP nicht dafür belangt werden würde. Doch nun saß er schon seit Wochen im Hamburger Gestapo-Hauptquartier und durfte weder einen befreundeten Anwalt noch ihre Mutter sprechen. Wie wurde er dort behandelt? Bekam er genug zu essen? Würde man ihm den Prozess machen? Auch ihre Mutter, sonst eher eine Frohnatur, war seit Vaters Flucht so schrecklich still und in sich gekehrt. Sonja scheute sich, sie unter diesen Umständen auf die familieneigene Reederei anzusprechen. Dabei konnte Herr Claasen, der Prokurist, der ihren Großonkel zurzeit vertrat, bestimmt nicht alle wichtigen Entscheidungen treffen, die dort täglich anstanden. Und da es leider nicht so aussah, als würden ihr Vater und Großonkel Veit bald wiederkommen, hätte eigentlich ihre Mutter die Zügel in die Hand nehmen müssen. Oder wer sonst sollte das Unternehmen leiten?

Irmgard drückte erneut ihre Finger. Diesmal fast schmerzhaft fest. Wahrscheinlich neigte sich die Rede des Führers dem Ende zu.

»Mögen sich die deutschen Soldaten und Offiziere, die die Ehre besitzen, dieses Schiff einst zu führen, jederzeit seines Namensträgers würdig erweisen! Möge der Geist des eisernen Kanzlers auf sie übergehen, möge er sie begleiten bei all ihren Handlungen auf den glückhaften Fahrten im Frieden, möge er aber, wenn es je notwendig sein sollte, ihnen mahnend voranleuchten in den Stunden schwerster Pflichterfüllung! Mit diesem heißen Wunsch begrüßt das deutsche Volk sein neues Schlachtschiff Bismarck!«, brüllte Hitler.

Selbst aus der Entfernung konnte Sonja die feuchte Aussprache des Führers erahnen. Er schien die Worte geradezu aus seinem Innersten hervorzupressen. Trotzdem klatschten die Menschen um sie herum frenetisch Beifall. Irmgards Augen leuchteten voller Stolz. »Hast du gesehen, wie stark und männlich der Führer ist? Ich liebe ihn!«

Während ihre BDM-Freundinnen Irmgard umringten und ihr wortreich beipflichteten, verspürte Sonja ein hohles Gefühl im Bauch. Sie hatte zwar niemals in diesem Ausmaß für den Führer geschwärmt, aber der Gedanke an ein neues, starkes Deutschland mit einer sportlichen, unabhängigen Jugend hatte auch sie früher einmal mit Hoffnung erfüllt. Wie überschwänglich hatten die anderen Mädchen auf Wanderungen, bei Vorträgen und in Zeltlagern von dieser neu anbrechenden, goldenen Zukunft gesprochen. Doch seit in ihrem Leben die vorherrschende Farbe ein tristes Dunkelgrau war, wäre sie am liebsten gar nicht mehr zu den Veranstaltungen des BDM gegangen, aber aus Erfahrung wusste sie, dass so etwas unangenehme Konsequenzen haben konnte. Magda, die Tochter ihres Religionslehrers, war nach einer kritischen Bemerkung über die Politik der Nazis zuerst des BDM verwiesen worden und dann von der Schule geflogen. Da war es doch besser, Scham, Ärger und Kritik einfach runterzuschlucken. Weitere Dramen würden weder ihre Mutter noch sie selbst verkraften.

In diesem Moment bemerkte sie, dass zwei Herren in Mantel und Hut auf Irmgard zusteuerten und sie etwas fragten. Irmgard zeigte in ihre Richtung, und die beiden Männer nahmen – genau in dem Moment, als das neue Schlachtschiff zu Wasser gelassen wurde – Kurs auf sie. Was zum Teufel wollten sie von ihr? Gehörten nun auch blonde und blauäugige Vierteljuden zum unerwünschten Teil des deutschen Volkes? Ginge es ihr nun auch an den Kragen?

»Bist du Sonja Casparius?«, erkundigte sich der größere der beiden Männer. Obwohl er lächelte, trat Sonja unwillkürlich einen Schritt zurück. Er hatte keine besonders freundliche Ausstrahlung.

»Ja, das bin ich«, erwiderte sie.

»Die Tochter von Leni und John Casparius?«

Sonja nickte.

»Und wie alt bist du jetzt?«

Für den Bruchteil einer Sekunde überlegte sie, die Antwort zu verweigern. Aber dann erinnerte sie sich, dass es sich nicht gehörte, ungehorsam gegenüber Erwachsenen zu sein. »Fast fünfzehn«, entgegnete sie. »Und wer sind Sie?«

»Mein Name ist Felix Mansfeld«, antwortete er von oben herab, als wäre es eine Bildungslücke, ihn nicht zu kennen. »Ich bin der Bankier der Casparius-Reederei, und ich möchte, dass du deiner Mutter etwas von mir ausrichtest.«

Sonja erschrak. Mansfeld – diesen Namen hatte sie bereits gehört. Handelte es sich nicht um einen ehemaligen Freund ihres Vaters, der sich inzwischen zu seinem Widersacher gewandelt hatte? Was konnte dieser Kerl von ihrer Mutter wollen?

Sie versuchte, sich ihre Bestürzung nicht anmerken zu lassen, doch das amüsierte Glitzern in seinen Augen verriet ihr, dass ihre Bemühungen umsonst waren. »Und was soll ich ihr sagen?«

»Ich werde sie nächste Woche mit …«, er zeigte auf den grauhaarigen Mann an seiner Seite, »… Herrn Koenig besuchen, um über die weitere Arisierung der Reederei Casparius zu sprechen.«

Sonja brauchte einen Moment, um das Gesagte zu verdauen. Plötzlich war ihr Mund ganz trocken. Zögernd erwiderte sie: »Aber unsere Reederei ist doch längst arisiert. Mein Großonkel Veit Casparius ist Arier und hält alle Anteile.«

Beide Männer verzogen den Mund zu einem hämischen Lächeln.

»Dein Onkel ein Arier? Nun, da kann man wohl geteilter Meinung sein … bei dieser Sippschaft«, sagte Mansfeld.

Immer noch grinsend, drehten sie sich um und entfernten sich ohne ein Wort des Abschieds.

Mit klopfendem Herzen sah Sonja ihnen nach. Dann schaute sie sich besorgt um. Hatten ihre Freundinnen etwas von der Unterhaltung mitbekommen?

* * *

Es war ein herrlicher Frühlingstag. Die Sonne stand hoch am Himmel und tauchte die Elbe in goldenes Licht. Einige am Steg vertaute Jollen tanzten auf dem Wasser. In den Bäumen am Ufer zwitscherten Vögel. Die leichte Brise, die Kurt entgegenwehte, duftete nach Flieder. Doch er nahm sich nicht die Zeit, das paradiesische Bild in sich aufzunehmen. Stattdessen rannte er den Strandweg entlang, als ginge es um sein Leben, und bog schließlich rechts ab zu der steilen Strandtreppe, die zu Fannis Haus führte. Der schmale Weg schlängelte sich an reetgedeckten Fischerkaten und weißen Häuschen mit hübsch angelegten Gärten vorbei, doch auch an diese Postkartenmotive vergeudete er keinen Blick. Er wollte … er musste Fanni sehen. So schnell wie möglich. Obwohl er das Blut in seinen Ohren rauschen hörte, nahm er bei jedem Schritt zwei Stufen auf einmal. Er konnte bereits die Umrisse des Tweehus ausmachen, in dem seine geliebte Freundin wohnte. Ob sie schon vom Krankenhaus zurück war? Er hatte ihr so viel zu erzählen und …

»Kurt! Wach auf! Es ist Zeit!«, flüsterte eine heisere Stimme.

»Nein, Mama … ich …« Kurt fuhr von seinem Bett hoch. Verwirrt blinzelte er die junge, blonde Frau an, die ihn geweckt hatte. Dann fiel ihm wieder ein, wo er war. »Ich komme gleich«, flüsterte er. Die Betreuerin nickte und ging auf Zehenspitzen zurück zur Tür.

Er atmete tief ein und aus. Natürlich war das nicht die zärtliche Stimme seiner Mutter gewesen. Schließlich befand er sich nicht in Hamburg, sondern in England, auch wenn ihm sein Traum ungeheuer realistisch vorgekommen war. Irgendwie hatte er noch immer das Gefühl, dass er nur die Hand ausstrecken müsste, um Fannis Gartentor zu öffnen. Mit einem unterdrückten Seufzen betrachtete er die drei langen Reihen mit Betten im Halbdunkel des Schlafsaals. In jedem dieser Betten lag ein Junge, der genau wie er seine Eltern, seine Freunde und die alte Heimat vermisste. Manche der Kinder waren sogar erst vier oder fünf Jahre alt. Für sie war es schwer zu verstehen, warum ihre Eltern sie aus ihrer angestammten Umgebung weggeschickt hatten. Sie waren noch zu klein, um zu begreifen, dass sie in Sicherheit gebracht worden waren, weil in Deutschland Synagogen brannten und jüdische Menschen auf offener Straße verprügelt, in Konzentrationslager gesteckt oder verhaftet wurden. Oder – wie sein Vater – spurlos verschwanden.

Ihn fröstelte. Leise stand er auf, zog seinen Koffer unter dem Bett hervor und kleidete sich an. Über sein Unterhemd zog er ein Hemd und zwei Pullover – so viele Lagen wie möglich –, denn die Räume hier in Dovercourt waren nicht geheizt. Der an den Schlafsaal grenzende Waschraum bestand aus zehn offenen Duschkabinen und mehreren Becken mit ausschließlich kaltem Wasser. Bibbernd verrichtete er eine Katzenwäsche. Anschließend ging er die Treppe hinunter und betrat die Küche, die durch eine Durchreiche mit dem Speisesaal verbunden war.

Mit gerunzelter Stirn betrachtete er das gefrorene Wasser in den aufgereihten Keramikkrügen. Hoffentlich taute es bis zum Frühstück auf. Ob er die Gefäße näher an den Ofen schieben sollte, die einzige Wärmequelle im Raum?

»Kurt, kannst du bitte anfangen, die Sandwiches zuzubereiten?«, rief ihm dieselbe Betreuerin zu, die ihn auch geweckt hatte. Sie hieß Sophie und war Engländerin, sprach aber akzentfreies Deutsch, weil sie zwei Jahre lang in Deutschland als Kinderfräulein gearbeitet hatte. Nur manchmal flossen einige englische Wörter in ihre Sätze mit ein. Selbstverständlich war auch sie Jüdin, so wie die meisten hier. Trotzdem wurde der Schabbat nicht wie zu Hause begangen. Kurt wusste nicht, warum, und scheute sich, danach zu fragen.

»Natürlich«, antwortete er und begann, die zu einem Turm geschichteten, labberigen Brotscheiben dünn mit Margarine und Marmelade zu bestreichen. Jede fertige Scheibe wurde quer durchgeschnitten, anschließend wurden die beiden Hälften zusammengeklappt, damit auch die kleineren Kinder sie ohne zu kleckern essen konnten.

Er hatte sich freiwillig bereit erklärt, eine Stunde früher aufzustehen, um bei der Essensvorbereitung und -ausgabe zu helfen. Einerseits gehörte er mit seinen fast vierzehn Jahren zu den älteren Jungen und fühlte sich deshalb dazu verpflichtet. Andererseits gab es für die Unterstützung manchmal eine Extraportion Essen, die er dringend benötigte. In den letzten Wochen war er derart in die Höhe geschossen, dass alle seine Hosen Hochwasser hatten und die Ärmel seiner Pullover auf der Mitte des Unterarms endeten. Dieses schnelle Wachstum hatte die lästige Begleiterscheinung, dass ihn ständig Hunger plagte. Und da es außer den drei kargen Kantinen-Mahlzeiten nichts zu beißen gab, war er für ein übrig gebliebenes Sandwich und die eine oder andere zusätzliche Kartoffel auf seinem Teller sehr dankbar.

Wenn Fanni ihn hätte sehen können, hätte sie gestaunt. Bestimmt überragte er sie jetzt um einen Kopf, dabei war sie sechs Jahre älter als er. Unwillkürlich musste er an seinen Traum denken. Fanni! Er träumte fast jede Nacht von ihr. Von ihrem hübschen, von honigblonden Haaren umrahmten Gesicht, der sanften Stimme und ihrem lieben Wesen. Manchmal fühlte er sich schuldig, weil er sie so viel mehr vermisste als seine Mutter und seine Geschwister. Aber vielleicht lag das auch an dieser anderen Art von Gefühl, das er für sie hegte, seit er sie das erste Mal gesehen hatte. Seit jenem Tag im Haus seines Onkels liebte er sie. Mit jeder Faser seines Herzens.

Natürlich war seine Begeisterung für die Nichte seiner angeheirateten Tante von allen Erwachsenen … und zunächst leider auch von Fanni selbst belächelt worden. Der Altersunterschied kam ihnen einfach zu groß vor. Er war damals noch ein kleiner Junge gewesen und sie schon fast ein junges Fräulein. Aber all das hatte ihn nicht beirrt. Er wusste tief in seinem Inneren, dass er Fanni eines Tages heiraten würde. Und tatsächlich waren sie in den letzten Jahren gute Freunde geworden. Er hatte sie besucht und sie ihn. Doch seit seinem Umzug nach England musste er auf diese für ihn so wichtigen Glücksmomente verzichten. Dennoch hielt er eisern an seiner Überzeugung fest. Fanni und er gehörten zusammen. Wenn er erst einmal dreiundzwanzig Jahre alt wäre und sie neunundzwanzig, würde niemand mehr an diesen lächerlichen sechs Jahren Anstoß nehmen.

Der einzige Vorteil ihrer erzwungenen Trennung war, dass er momentan krächzte wie ein Rabe. Der Stimmbruch hatte ihn mitten in einer Englischstunde erwischt, und sein plötzliches hohes Fiepen hatte die anderen Kinder in prustendes Lachen ausbrechen lassen. Seit kurzem machte er sich noch aus einem anderen Grund Sorgen. Sein Cousin Max, der erst vor drei Wochen aus einem anderen Heim hierher nach Dovercourt verlegt worden war, hatte ihm aus einem Brief seiner Zwillingsschwester Sonja vorgelesen, in dem sie schrieb, Fanni sei in ihren gemeinsamen Stiefonkel, den viel älteren Kinderarzt Otto Casparius, verliebt. Kurt hatte schon früher so etwas vermutet, aber seinen Verdacht laut ausgesprochen zu hören tat weh. Manchmal wünschte er seinen Konkurrenten deshalb dahin, wo der Pfeffer wuchs, aber dann schämte er sich für seine Missgunst. Schließlich heilte Otto kranke Kinder. Und wie sollten sich diese beiden ineinander verlieben können, wenn Fanni doch für ihn bestimmt war!

»Kurt? Bitte beeil dich. Du musst noch den Porridge in die Schälchen füllen.«

Dankbar für die Unterbrechung seiner dunklen Gedanken, beeilte er sich mit den restlichen Brotscheiben. Porridge war zwar in seinen Augen widerlich – bis er serviert wurde, hatte sich eine Haut darauf gebildet, und die schleimige Masse darunter war grau und kalt –, aber es gab tatsächlich Kinder, die sich täglich darauf freuten. Und Freude war etwas, das hier eher selten vorkam.

Ursprünglich war das in der Nähe von Harwich gelegene Heim als reines Sommerferienlager geplant gewesen. Erst seit es die Kindertransporte nach England gab, wurden die für rund tausend Bewohner ausgelegten Gebäude auch im Herbst, Winter und Frühling betrieben. Leider unter schwierigen Bedingungen: Die Häuser waren in Leichtbauweise errichtet worden, die keinen Schutz boten vor eisigen Temperaturen. Im Januar hatte es sogar geschneit, und die bittere Kälte war durch alle Ritzen gedrungen und hatte viele Kinder krank werden lassen. In dieser Zeit hatte sogar der eigentlich obligatorische Englischunterricht ausfallen müssen, da sämtliche Betreuerinnen und Lehrerinnen als Krankenschwestern eingesprungen waren.

Die ersten Kinder trafen im Speisesaal ein und setzten sich an einen der langen Tische. Wie immer zerriss ihm der Anblick der Kleineren das Herz, und er war froh, dass sein jüngerer Bruder Michael bei seiner Mutter in Hamburg geblieben war. Bestimmt war er dort besser aufgehoben als hier, denn auch wenn die Nazis seinen Vater verschleppt hatten, würden sie einem Zweijährigen wohl kaum etwas antun. Und die Kleinsten wirkten so verloren ohne ihre Eltern. Er selbst war seinem Onkel John und seiner Mutter dankbar, dass sie ihn vorgewarnt hatten: Der Aufenthalt in England würde kein Zuckerschlecken sein, sondern lediglich Sicherheit bedeuten. Doch vielen der anderen Kinder hatte man offenbar den Himmel auf Erden versprochen, um sie zu überreden, die Reise nach England anzutreten. Dabei war das Leben im Heim alles andere als einfach, wenn man ein liebevolles Elternhaus gewohnt war. Es waren schlicht zu wenige Betreuer, um jedem einzelnen Kind gerecht werden zu können. Und so blieben viele Bedürfnisse und Wünsche der Kleinen auf der Strecke. Traurig nahm Kurt sich ein Butterbrot und eine Tasse Tee und setzte sich neben einen Vierjährigen mit dunklen Locken, der sich mit großen Augen im Speisesaal umschaute.

»Bist du gerade erst angekommen?«, fragte er ihn.

Der Lockenkopf nickte.

»Weißt du, es wird besser, wenn man sich erst einmal an alles gewöhnt hat. Willst du mal kosten?« Lächelnd hielt er ihm sein Butterbrot hin und ließ ihn abbeißen.

Während Kurt weiter mit dem Jungen plauderte und versuchte, sich möglichst fröhlich zu geben, fiel ihm ein, dass heute Nachmittag ein weiterer »Viehmarkt« abgehalten werden würde. Bestimmt hatte der Kleine gute Chancen, von einer englischen Pflegefamilie mit nach Hause genommen zu werden. Die Hübschesten und vermeintlich Pflegeleichtesten wurden immer als Erstes herausgepickt. Er selbst hasste diese Veranstaltungen, bei denen auch regelmäßig bereits vermittelte, ziemlich verstört wirkende Mädchen und Jungen »zurückgegeben« wurden, weil angeblich die Chemie nicht gestimmt hatte. Doch man konnte offenbar auch Glück haben, so wie seine Schwester Charlotte, die direkt nach ihrer Ankunft in einer Familie untergekommen war. Wenn er ihren Briefen Glauben schenken konnte, behandelten ihre Londoner Pflegeeltern sie wie eine eigene Tochter.

»Morgen, Kurt«, wurde er von seinem soeben im Speisesaal eingetroffenen Cousin Max begrüßt. Da er ein Jahr älter war als Kurt, wohnte er mit anderen Halbwüchsigen in einem separaten Häuschen in einiger Entfernung vom Hauptgebäude.

»Auweia«, sagte Kurt, als er Max’ rechtes Auge sah, das geschwollen war und violett schillerte. »Was ist dir denn passiert?«

»Einer von den Wiener Jungs«, knurrte sein Cousin, griff nach einem Schälchen Porridge und setzte sich neben ihn. »Aber mein Kontrahent sieht auch nicht besser aus.«

Kopfschüttelnd biss Kurt von seinem Butterbrot ab. Es war verrückt, dass einige der aus Wien geflüchteten jüdischen Jungen es sich in den Kopf gesetzt hatten, die angeblich arroganten Deutschen verprügeln zu müssen. Dabei saßen sie doch alle im selben Boot.

Nach dem Mittagessen mussten alle Kinder im Speisesaal bleiben. Dann wurden die Türen geöffnet, und ungefähr dreißig Personen strömten in den Raum und sahen sich neugierig um. Kurt verbarg sich wie gewohnt hinter einem Pfeiler. Er wollte niemandem ins Auge fallen, da er nicht die Absicht hatte, sich fremden Leuten auf Gedeih und Verderb auszuliefern. Aus seinem Versteck beobachtete er das Geschehen. Man konnte die Erwachsenen grob in zwei Kategorien einteilen: junge oder ältere Paare, die nach einem niedlichen Kleinkind suchten, und Einzelpersonen mittleren Alters, die mit taxierend zusammengekniffenen Augen nach kostenlosen Arbeitskräften Ausschau hielten.

Die meisten wurden schnell fündig und marschierten mit dem Kind ihrer Wahl zum Tisch des Heimleiters, um den Papierkram zu erledigen. Man brauchte in dieser Hinsicht nicht viel zu tun, lediglich eine Adresse musste angegeben und eine Erklärung unterschrieben werden, in der man versicherte, sein Mündel gut zu behandeln. Dann konnten die Leute ihr neues Familienmitglied gleich mit nach Hause nehmen.

Voller Abscheu beobachtete Kurt, wie eine rotgesichtige, korpulente Dame mit Dutt sich das hübscheste Mädchen des Heims schnappte. Lily war erst vierzehn, mit ihren großen, dunklen Augen und den blonden Haaren aber trotzdem schon der heimliche Schwarm vieler Jungen. Mit gesenktem Blick ging sie hinter der rabiat wirkenden Dame her. Sich der Auswahl zu widersetzen, schien ihr nicht in den Sinn zu kommen. Innerlich schüttelte Kurt den Kopf. Bestimmt war Lily von ihren Eltern wie eine Prinzessin behandelt worden, und nun war ihr weiteres Schicksal völlig ungewiss. Würde sie hinter einem Tresen stehen, Bier ausschenken und mit ihrem Puppengesicht Kundschaft für das Pub der Frau anlocken müssen? Oder tat er der zukünftigen Pflegemutter unrecht?

»Was schaust du denn so böse drein?«, fragte sein Cousin, der in diesem Moment zu ihm trat.

Kurt versuchte zu lächeln. »Ach, nichts, Max. Ich hoffe nur, dass all diese Pflegeeltern ehrliche Leute sind.«

Max grinste. »Na, dann kannst du auch mir die Daumen drücken.«

Überrascht starrte er ihn an. »Du machst Witze.«

»Nein, der Herr dort drüben will mir ein neues Zuhause in London geben.«

Kurt musterte den schlanken, vielleicht fünfzigjährigen Mann. Er trug einen Anzug und wirkte »kultiviert«, wie seine Mutter gesagt hätte, aber das konnte auch Fassade sein. »Max … um Gottes willen … bist du sicher?«

Sein Cousin nickte grimmig. »Mir reicht’s. Die Kälte, der schreckliche Fraß, die prügelnden Wiener … eigentlich kann es doch nur besser werden. Es tut mir nur leid, dich allein zurückzulassen.«

Er winkte ab. »Um mich brauchst du dir keine Sorgen zu machen, aber …« Er zeigte auf das blaugeschlagene Auge seines Cousins. »Warum will dieser Herr ausgerechnet dich? Mit dem Veilchen siehst du doch geradezu gefährlich aus.«

Max zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht … vielleicht hat er Mitleid mit mir?«

»Willst du es dir nicht noch einmal überlegen?«, bat er.

»Nein. Aber ich werde dir schreiben, und wenn es ganz schlimm wird, nehme ich Reißaus und komme zurück.«

Kurt nickte beklommen. Er würde seinen Cousin vermissen, aber er wollte ihm nicht unnötig das Herz schwermachen. »Ich wünsche dir alles Gute.«

»Ich dir auch … bis bald.« Max wandte sich um und ging.

Kapitel 2

Blankenese, März 1939

An einem dienstfreien Samstag schaute sich Fanni mit ihren Kolleginnen Beate und Ursula die Matineevorstellung des Films Hotel Sacher in den Blankeneser Lichtspielen an. Eigentlich hatte sie keine Lust gehabt, aber ihre Großmutter hielt sie schon seit Wochen dazu an, etwas zu unternehmen. »Weißt du, mein Kind, es gibt auch noch ein Leben neben der Arbeit. Du kannst nicht jedes Wochenende mit einer alten Frau zu Hause sitzen, über die Kinder auf deiner Station grübeln und von deinem Arzt träumen. Man ist nur einmal jung. Geh aus und amüsier dich. Andere Mütter haben auch hübsche Söhne.«

Weil Fanni nicht unmittelbar nach dem knapp zweistündigen Film ins Tweehus zurückkehren wollte, wo sie zweifellos weitere Ratschläge erwarteten, stimmte sie zu, als ihre Freundinnen ein Mittagessen im Elbrauschen vorschlugen. Nachdem sie sich in dem urigen Ambiente – der Gastraum war von ihrer Großmutter liebevoll mit Bildern von Seemannsknoten und anderen maritimen Gegenständen eingerichtet worden – niedergelassen und bei ihrem Cousin Peter das Tagesgericht und je ein Glas Limonade bestellt hatten, tauschten sie sich über den Film aus.

»Der Schauspieler, der den Leutnant gespielt hat, dieser Wolf Albach-Retty, ist schon ein schicker Mann«, seufzte Beate sehnsüchtig.

»Lass das besser nicht seine Ehefrau hören«, erwiderte Ursula, die regelmäßig die Klatschspalten der Zeitungen las. »Mein Fall ist er sowieso nicht. Ich mag lieber richtige Kerle, nicht solche Schönlinge.« Sie warf Fanni einen prüfenden Blick zu. »Warum bist du so schweigsam?«

Natürlich hatte sie an Otto gedacht, den Mann ihrer Träume. Doch das konnte sie den beiden nicht auf die Nase binden. Freundinnen hin oder her … ein solches Geständnis hätte die Gerüchteküche im Krankenhaus garantiert zum Überkochen gebracht. »Hm«, versuchte sie, Zeit zu schinden. »Der Film hat mich irgendwie mitgenommen.«

»Bist du wirklich so eine Mimose? Das war doch nur Kintopp«, meinte Ursula, die in der Neugeborenenstation arbeitete.

Fanni zuckte mit den Schultern. Hoffentlich wechselten ihre Kolleginnen bald das Thema.

»Habt ihr schon die Neuigkeiten von Doktor Casparius gehört?«, fragte Beate in diesem Moment.

Fanni, die gerade an ihrer Limonade genippt hatte, verschluckte sich. »Ähm … nein. Was ist mit ihm?«

»Es heißt, er versteht sich nicht mehr mit Doktor Mook und der Oberschwester und will eine eigene Praxis gründen.«

»Er will das Kinderhospital verlassen?« Fanni konnte nicht verhindern, dass ihre Stimme bei diesen Worten zitterte.

Doch da Peter gerade Grünkohl mit Pinkelwurst servierte, blieb ihre Frage zunächst unbeantwortet.

Erst nachdem sie eine Gabel Grünkohl gekostet hatte, sagte Ursula: »Reisende soll man nicht aufhalten.«

Beate nickte. »Ich bin mir sicher, dass er eine der Schwestern als Sprechstundenhilfe mitnimmt.«

»Bestimmt Schwester Gisela«, prophezeite Ursula mit vollem Mund.

»Wieso?« Fanni senkte den Blick auf ihren unangerührten Teller, damit die Kollegin nicht den verletzten Ausdruck in ihren Augen sah.

»Er hält große Stücke auf sie«, erklärte Ursula.

Und Beate fügte hinzu: »Außerdem ist Gisela genauso ein kalter Fisch wie er.«

»Kalter Fisch?«, fragte Fanni tonlos und stocherte mit der Gabel im Grünkohl herum. Ihr Magen war wie zugeschnürt.

»Na ja, die halbe Belegschaft macht ihm schöne Augen, und er kümmert sich nur um seine Patienten.«

In Fannis Kopf drehte sich alles. War sie so verliebt in Otto, dass sie ihre Konkurrenz gar nicht bemerkt hatte?

»Ich glaube, er wird sich für Gisela entscheiden, weil sie bei jeder Gelegenheit erwähnt, dass sie keine Kinder will. Da kann er sich sicher sein, dass er sich nicht alle naselang eine neue Praxishilfe suchen muss.«

Zum Schein säbelte Fanni an ihrer Wurst herum. »Und das steht alles schon fest?«

»Fest steht es erst, wenn er seine Kündigung eingereicht hat«, erwiderte Beate. »Aber genug von Doktor Casparius … was habt ihr so für Zukunftspläne?«

»Also, ich will unbedingt das Mutterkreuz ergattern«, antwortete Ursula kauend. »Deshalb muss ich mir irgendwann einen Mann suchen, der mich heiratet und mindestens viermal schwängert.«

Fanni schaute sie mit großen Augen an. War das ihr Ernst?

Auch Beate schien sich zu wundern. »Warum hast du dann die Ausbildung gemacht? Mit vier Blagen kannst du jedenfalls nicht mehr arbeiten.«

»Mit den Erfahrungen als Säuglingsschwester kann ich mich später gut um meine eigene Brut kümmern.« Ursula blickte überrascht in die Runde. »Wollt ihr denn keine Kinder?«

Beate senkte die Stimme. »Nicht so, wie es der Führer verlangt«, erklärte sie und sah sich vorsichtig um. Mit gedämpfter Stimme fügte sie hinzu: »Ein Kind an der Hand, eins auf dem Arm, eins im Kinderwagen und eins unter dem Herzen. Entschuldigung, aber das ist mir zu viel. Ich bin doch keine Brutmaschine!«

Ursula hob eine Augenbraue. »Lass das nicht meinen Vater hören. Der hält dir umgehend einen Vortrag, dass es die oberste Pflicht der deutschen Frau ist, die arische Rasse zu erhalten. Der Führer zählt auf uns.« Sie schaufelte sich eine weitere Fuhre Grünkohl in den Mund. »Und du, Fanni?«

»Ach … darüber habe ich mir noch gar keine Gedanken gemacht«, antwortete sie wahrheitsgemäß. Obwohl ihr beim Gedanken an Ottos Pläne das Herz schwer wurde, klang ihre Stimme aufgekratzter als sonst. Lag das an dem Schock, dass sich ihre Freundin Ursula als stramme Nazibraut entpuppt hatte?

Zwei schlaflose Nächte und einen grauenhaften Sonntag später eilte Fanni erneut zum Dienst. Sie hatte unentwegt über Otto nachgegrübelt, der es noch nicht einmal für nötig erachtete, sie in seine Pläne einzuweihen. Gleichzeitig machte sie sich Vorwürfe, dass ihr privates Glück überhaupt einen so großen Raum in ihren Gedanken einnahm. Gab es nichts Wichtigeres? Der kleine Thomas würde wegen seiner Kinderlähmung ein steifes Bein behalten. Letzte Woche war ein anderer kleiner Junge an einer Blutvergiftung gestorben. Das waren doch wirkliche Katastrophen! Ihr gebrochenes Herz würde dagegen wieder heilen. Und war es nicht besser, wenn Otto endgültig aus ihrem Alltag verschwand? Sagte der Volksmund nicht: Aus den Augen, aus dem Sinn?

Mit neugefundener innerer Stärke streifte sie die Schwesterntracht über und machte sich auf zur morgendlichen Besprechung. Doch sie war noch keine zwei Meter durch den Flur gegangen, als die Oberschwester ihr zurief: »Schwester Fanni! Bitte sofort in den Operationssaal. Doktor Casparius braucht Unterstützung bei einem Luftröhrenschnitt.«

Mit klopfendem Herzen rannte sie los. Bestimmt handelte es sich um einen akuten Diphtheriefall. Während sie in den Korridor abbog, der zum OP führte, rief sie sich alle Einzelheiten über die hochansteckende Infektion mit dem Diphtheriebazillus ins Gedächtnis. Man nannte diese Krankheit auch »Würgeengel der Kinder«, weil ihr Hals dabei so stark anschwellen konnte, dass sie zu ersticken drohten. In diesem Stadium waren die Symptome – grauweißer Belag auf den Mandeln und süßlicher Mundgeruch – so ausgeprägt, dass man auch ohne weitere Untersuchungen eine Diagnose stellen konnte.

Als sie den Vorraum betrat, der nur durch eine Glasscheibe vom OP getrennt war, sah sie, wie Otto, Schwester Beate und Schwester Gisela bereits den Hals des Kindes desinfizierten, lokal betäubten und den Oberkörper mit sterilen Tüchern abdeckten. Deswegen brauchte Otto also weitere Unterstützung … normalerweise wurde der Luftröhrenschnitt in Vollnarkose durchgeführt, aber dafür reichte die Zeit wohl nicht mehr. Unter diesen erschwerten Bedingungen musste eine Schwester die Instrumente für die Operation anreichen, während zwei weitere den Kopf und die Beine des Kindes fixierten, damit das Skalpell nicht versehentlich abrutschte.

Als sie sich die Hände desinfiziert hatte und gerade einen sterilen Kittel und einen Haarschutz überzog, sah Otto plötzlich auf. »Los, Schwester Fanni! Bitte kommen Sie, oder wir verlieren die Kleine!«

Das ließ sie sich nicht zweimal sagen. Gemäß den Krankenhausvorschriften hätte sie eigentlich noch eine sterile Maske vor Mund und Nase tragen müssen … aber wenn sie sowieso nur die Beine des Kindes festhielt, ging es wahrscheinlich auch ohne. So schnell sie konnte, eilte sie durch die Tür in den OP.

Doch sie hatte sich geirrt. Schwester Gisela stand am Instrumententisch, und ihre Freundin Beate hielt die Beine des Mädchens. Da Otto bereits das Skalpell gezückt hatte, eilte Fanni zum Kopf des Kindes und nahm sich fest vor, keinesfalls in die Wunde zu atmen.

Kaum hatte sie mit beiden Händen den Schädel des schwach röchelnden Kindes fixiert, als Otto das Skalpell ansetzte und die Luftröhre mit einem waagerechten Schnitt im oberen Drittel des grotesk angeschwollenen Halses öffnete. Er wollte gerade die von Schwester Gisela angereichte Metallkanüle in die Öffnung schieben, als das Mädchen nach einem spitzen Befreiungsschrei – zum ersten Mal strömte wieder ausreichend Luft in ihre kleine Lunge – einen Schwall bakteriell verseuchten Sekrets mitten in Fannis Gesicht hustete.

Fanni erstarrte, hielt den Kopf der Kleinen jedoch weiterhin eisern fest.

Auch Otto, der kurz aufsah, blieb die Ruhe in Person. »Nicht schlucken und möglichst flach atmen«, sagte er knapp, bevor er sich wieder seiner Patientin widmete.

Erst als die eingeführte Kanüle, die die weitere Luftversorgung des Kindes gewährleisten würde, mit Nähten gesichert war, sagte er zu Schwester Gisela: »Bitte veranlassen Sie alles Weitere.« Dann packte er Fanni am Arm und zog sie in den Vorraum.

Dort zog er seine Chirurgenhandschuhe aus, füllte medizinischen Alkohol in ein Glas und reichte es ihr. »Bitte gurgel damit … aber schluck es ja nicht runter.«

Sie befolgte seine Anweisungen, und auf einmal kam ihr in den Sinn, welche Folgen dieser Zwischenfall für sie haben würde: Während der Inkubationszeit konnte sie unmöglich Patienten betreuen oder bei ihrer Großmutter wohnen … wenn sie irgendjemanden mit Diphtherie ansteckte, würde sie sich das nie verzeihen.

»Warum zum Teufel hattest du keine Maske an?«, fragte Otto, als sie den Alkohol nach minutenlangem Gurgeln ins Waschbecken spuckte.

Sie senkte den Blick. »Es ging um Leben und Tod, und da dachte ich, wenn ich sowieso nur die Füße des Kindes …«, stammelte sie leise.

Otto atmete scharf aus. Fanni rechnete mit einer Gardinenpredigt, doch dann sagte er: »Die Ruhe, mit der du auf die mögliche Verseuchung reagiert hast, hat mich sehr beeindruckt. Leider musst du jetzt für sechs Tage ein Zimmer auf der Isolierstation beziehen. Aber danach würde ich gern etwas Wichtiges mit dir besprechen, ja?«

»Gern.« Sie fühlte, wie sich ihre Wangen wegen des unerwarteten Lobes röteten. Und worüber wollte er mit ihr sprechen? Sie traute sich nicht, ihn danach zu fragen.

»Am besten veranlasse ich, dass dir deine Großmutter einen Koffer packt und vorbeibringen lässt, einverstanden?«

Sie schüttelte den Kopf. »Lieber nicht, sonst macht sie sich am Ende noch Sorgen. Es wäre besser, wenn du Leni anrufst. Sie kann meiner Großmutter die Situation schonend beibringen.«

Ottos Mundwinkel zuckten. »Du meinst, bei mir bekommt sie gleich einen Herzinfarkt?«

Ihre Wangen brannten wie Feuer. »Nein, aber …«

Er lächelte. »Schon gut. Ich verstehe. Bitte zieh dir jetzt einen Mundschutz an und begib dich umgehend auf die Isolierstation. Ich kümmere mich um alles Weitere.«

Die nächsten sechs Tage zogen sich endlos hin. Während sie darauf wartete, dass sich Halsschmerzen und Schluckbeschwerden als erste Symptome einer Diphtherieinfektion einstellten, fuhren ihre Gedanken Karussell. Was wollte Otto nur mit ihr besprechen? Die Möglichkeiten reichten von der lapidaren Information über seine baldige Kündigung bis zu einem Heiratsantrag. Letzteres war natürlich eine Illusion, sonst hätte Otto sie in der Zeit auf der Isolierstation sicher besucht. Lediglich ihre Großmutter und Leni kamen vorbei, um nach ihr zu sehen und sich durch das Glasfenster in der Tür per Handzeichen mit ihr zu verständigen.

Erst am sechsten Tag erschien Otto und erklärte sie nach dem Fiebermessen für kerngesund. »Hast du gleich jetzt Zeit für ein kurzes Gespräch?«, fragte er im Anschluss.

»Natürlich«, gab sie einsilbig zur Antwort und ärgerte sich sogleich über sich selbst. Sie musste endlich aufhören, sich in seiner Gegenwart in ein schüchternes Mauerblümchen zu verwandeln.

Er lehnte sich gegen die Wand und musterte sie aufmerksam. »Ich weiß nicht, ob es sich schon bis zu dir herumgesprochen hat, aber es ist wohl ein offenes Geheimnis, dass ich das Kinderhospital nächsten Monat verlasse, um eine eigene Praxis aufzumachen. Inzwischen habe ich geeignete Räume in Blankenese gefunden und wollte dich in diesem Zusammenhang fragen, ob du dir vorstellen könntest, für mich zu arbeiten?«

»Aber … was ist mit Schwester Gisela?«, platzte sie heraus.

Otto hob fragend eine Augenbraue. »Was sollte mit ihr sein?«

»Es geht das Gerücht um, dass du sie zur Sprechstundenhilfe auserkoren hast.« Himmel, sie klang wie ein eifersüchtiges Kind!

»Nun, das stimmt nicht.« Er runzelte die Stirn. »Aber wie es scheint, willst du mir einen Korb geben?«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein, aber ich möchte erst darüber nachdenken. Kann ich dir meine Entscheidung morgen mitteilen?«

»Natürlich.« Er drückte sich mit einem Fuß von der Wand ab. »Ich muss wieder an die Arbeit. Dann bis morgen.«

»Das ist doch eine Schnapsidee«, meinte ihre Großmutter, als sie ihr von Ottos Angebot berichtete. »Wie kannst du für jemanden arbeiten, in den du heimlich verliebt bist? Da schneidest du dir doch ins eigene Fleisch.«

Fanni biss sich auf die Lippe. »Aber es geht doch auch darum, was ich in der täglichen Zusammenarbeit mit ihm lernen kann … er ist so ein wunderbarer Arzt. Wenn du wüsstest, mit wie viel Mitgefühl, Hingabe und Fachwissen er seine kleinen Patienten behandelt.«

Ihre Großmutter lächelte bitter. »Es ist ein typischer Fall von ›Rate mir gut, aber rate mir nicht ab‹, stimmt’s? Nur sag später nicht, dass ich dich nicht gewarnt hätte. Dieser Mann zeigt keinerlei romantisches Interesse an dir – und du willst ihn am liebsten morgen heiraten. So etwas kann nicht gut gehen.«

Nach einer durchgrübelten Nacht musste Fanni ihr recht geben. Obwohl es ihr das Herz brach, durfte sie nicht auf das Angebot eingehen. Sie würde zu sehr unter dem engen, aber unpersönlichen Arbeitsverhältnis leiden.

Doch als sie nach einem hastigen Frühstück die Klöntür des Tweehus aufdrückte, blieb ihr fast das Herz stehen: Vor dem Gartentor stand Otto.

»Guten Morgen«, sagte er freundlich. »Ich hoffe, du bist mir nicht böse. Aber ich dachte, bevor du dich entscheidest, solltest du noch die Praxisräume begutachten. Was meinst du? Anschließend fahre ich dich rechtzeitig ins Kinderhospital.«

Mit einem beklommenen Gefühl nickte sie. Das würde die Absage nicht leichter machen.

In der Karstenstraße parkte er seinen Wagen vor einer zweigeschossigen, recht schnörkellosen Backsteinvilla, die von einem Garten umgeben war. »Hier ist es.«

Gemeinsam stiegen sie aus und gingen zum Eingang. Fannis Herz klopfte, als Otto den Schlüssel zückte und sie als Erste eintreten ließ.

»Natürlich müssen noch einige Umbauten vorgenommen werden«, erklärte er, als sie im Korridor standen. »Aber ich dachte, dass wir ungefähr hier den Empfangstresen aufstellen, dort das Wartezimmer einrichten und …« Er ging ein paar Schritte weiter und zeigte auf die angrenzenden Räume. »Hier wäre dann das Sprech- und dort das Behandlungszimmer. Was meinst du?«

Sie schluckte und betrachtete die hohen Decken und weiß gestrichenen Wände. Wenn Otto erst einmal alles hergerichtet hätte, wäre es ein Traum, in diesem kleinen Paradies zu schalten und zu walten. Ohne Oberschwester Karin und in seiner ständigen Gegenwart. Um nicht nur wie ein stummer Fisch alles anzuglotzen, sagte sie: »Und wer wohnt in der ersten Etage?« Sie deutete auf die Treppe hinter dem Behandlungszimmer.

»Na … ich«, antwortete Otto.

»Du hast das ganze Haus gekauft?«

»Natürlich. Von meiner Stadtwohnung wäre es zu weit bis hierher, und in Johns Villa mag ich auch nicht mehr einziehen. Leni hat schon genug um die Ohren.« Er sah ihr ins Gesicht. »Also … was meinst du? Wirst du für mich arbeiten?«

Sie öffnete den Mund, um die höfliche Ablehnung auszusprechen, die sie sich gestern Nacht zurechtgelegt hatte. Doch dann hörte sie sich sagen: »Mit dem allergrößten Vergnügen.«

* * *

Es war früh und das Haus noch still. Sonja lag wach in ihrem Bett und wackelte bekümmert mit den Zehen. Sie hatte keine Lust aufzustehen. Als ihr Vater und ihr Bruder noch bei ihnen gelebt hatten, war der Sonntag immer heilig gewesen. Nach einem ausgiebigen Frühstück hatten sie Ausflüge unternommen, waren auf der Elbe segeln gegangen oder hatten Freunde und Verwandte besucht. Doch jetzt war der Sonntag der Tag, an dem man noch nicht einmal in die Schule gehen konnte, um den endlosen Stunden bis zum Abend zu entkommen. Stattdessen musste sie die Zeit in gemeinschaftlicher Trauer mit ihrer Mutter und Tante Felicitas verbringen.

Seit dem Besuch der Herren Mansfeld und Koenig war alles nur noch schlimmer geworden. Die beiden Männer hatten ihrer Mutter ein Ultimatum gestellt: Entweder sie überschrieb Koenig freiwillig und unentgeltlich die Aktienmehrheit an der Reederei, oder sie würden den Gauleiter, einen guten Freund von Herrn Mansfeld, zur endgültigen Enteignung der jüdisch versippten Familie Casparius drängen. Ihre Mutter war Mansfeld und Koenig kühl und gefasst entgegengetreten und hatte gesagt, dass sie sich zunächst mit ihrem Anwalt beraten wolle, weil die Anteile schließlich Großonkel Veit und nicht ihr gehörten, doch nach dem Besuch hatte sie nur ratlos gemurmelt: »Was soll ich denn jetzt tun?«

»Kannst du dich nicht mit Papa beraten?«, schlug Sonja vor.

Ihre Mutter warf ihr einen strengen Blick zu. »Du weißt genauso gut wie ich, dass ich keinen blassen Schimmer habe, wie ich ihn erreichen kann.«

»Aber was machen wir, wenn Großonkel Veit – genau wie Onkel Elias – nicht wiederkommt?«

»Dann müssten wir ihn wahrscheinlich für tot erklären lassen«, flüsterte ihre Mutter, damit Tante Felicitas sie nicht hören konnte, die im Zimmer nebenan saß und gegen jede Wahrscheinlichkeit immer noch hoffte, dass ihr Mann eines Tages zurückkehren würde.

»Und wer erbt dann die Aktien der Reederei?«

Über das Gesicht ihrer Mutter zog ein Schatten. »Vermutlich sein nächster Blutsverwandter … Papa.«

Sonja schluckte. »Und wenn Papa nicht wiederkommt?«

Ihre Mutter fasste sie an den Schultern, damit sie ihr direkt ins Gesicht sah. »Daran, mein Fräulein … daran darfst du nicht einmal denken. Hörst du? Papa kommt wieder! Und Max auch! Das ist so sicher wie das Amen in der Kirche.«

Tief in ihrem Inneren schalt Sonja ihre Mutter töricht. So wie die Dinge standen, konnte alles Mögliche geschehen, und war es unter diesen Umständen nicht besser, auch über einen tragischen Ausgang nachzudenken? Aber sie wollte ihrer Mutter nicht wehtun und nickte deshalb bloß.

Kurzfristig schien sich die Vogel-Strauß-Politik ihrer Mutter sogar auszuzahlen. Obwohl ihr Anwalt bestätigt hatte, dass der Gauleiter die Reederei per Anordnung enteignen könnte, weshalb er ihr empfahl, auf die Forderung einzugehen, weigerte sie sich, die beiden Herren zu kontaktieren. Und zumindest bis heute hatten sie sie ebenfalls in Ruhe gelassen. Trotzdem zerrte die Ungewissheit an ihrer aller Nerven. »Selbst wenn sie jetzt nur die Aktienmehrheit fordern … wer sollte sie daran hindern, uns das Unternehmen eines Tages doch noch ganz wegzunehmen?«, fragte ihre Mutter. »Wenn die Einnahmen aus der Reederei wegfallen, könnte es mir unter Umständen sogar schwerfallen, die Villa zu halten. Die Kosten für den Unterhalt und das Personal sind enorm.«

Inzwischen verbrachte ihre Mutter oft ganze Tage in der Reederei, um dem Prokuristen über die Schulter zu schauen.

Ende Februar hatte Tante Felicitas die Nachricht erhalten, dass sie all ihren Schmuck und andere Gegenstände aus Gold, Platin und Silber abgeben musste. Offiziell gegen eine Entschädigung, aber die war so mager ausgefallen, dass es einem Diebstahl durch die deutschen Behörden gleichkam. Trotzdem hatte sie – bis auf ihren Ehering, den sie heimlich im Garten der Villa vergraben hatte – alles abgeliefert und war nicht auf den Vorschlag ihrer Mutter eingegangen, die den ganzen Schmuck als ihren hatte ausgeben wollen. »Die Nazis führen leider Buch, Leni«, hatte sie gesagt. »Wenn ich nichts oder nicht genügend abgebe, kommen sie hierher und suchen danach. Schließlich wissen Sie, dass ich die Wit…« Ihre Lippen zuckten nervös, als sie sich korrigierte. »… die Ehefrau eines vormals reichen Tabakfabrikanten bin.«

»Und der Ehering?«

Tante Felicitas presste die Hand vor den Mund. »Der kann verloren gegangen sein.«

Kurz darauf war der Erlass des Reichsverkehrsministers bekannt geworden, der Juden die Benutzung von Schlaf- und Speisewagen auf deutschen Eisenbahnstrecken verbot. »Sie schränken unsere Rechte immer mehr ein … bis wir irgendwann auf derselben Stufe wie Tiere stehen und man alles mit uns machen kann«, stellte Felicitas traurig fest.

Seitdem beteiligte sich ihre Tante kaum noch an der ohnehin gedämpften Unterhaltung. Sie wurde immer stiller. Meist saß sie mit ihrem einzig verbliebenen Sohn auf dem Schoß im Wohnzimmer und wartete auf hoffnungsvolle Neuigkeiten.