Palais Heiligendamm - Stürmische Zeiten - Michaela Grünig - E-Book

Palais Heiligendamm - Stürmische Zeiten E-Book

Michaela Grünig

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Beschreibung

Palais Heiligendamm, 1922: Während der Währungskrise kämpft Elisabeth erneut um das Überleben des frisch renovierten Palais. Erst als ein berühmter Regisseur in der schönen Kulisse des Hotels einen Film dreht, gibt es neue Hoffnung. Während der berufliche Erfolg zum Greifen nah ist, steht Elisabeths Liebe zu Julius unter keinem guten Stern. Auch ihr Bruder Paul muss Abschied von seinen Träumen nehmen. Er ist zutiefst unglücklich. Als er in den Dunstkreis der NSDAP gerät, trifft er eine Entscheidung, die die ganze Familie in Gefahr bringt ...

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Seitenzahl: 722

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Inhalt

CoverÜber dieses BuchÜber die AutorinTitelImpressumPersonenverzeichnis1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. Kapitel

Über dieses Buch

Palais Heiligendamm, 1922: Während der Währungskrise kämpft Elisabeth erneut um das Überleben des frisch renovierten Palais. Erst als ein berühmter Regisseur in der schönen Kulisse des Hotels einen Film dreht, gibt es neue Hoffnung. Während der berufliche Erfolg zum Greifen nah ist, steht Elisabeths Liebe zu Julius unter keinem guten Stern. Auch ihr Bruder Paul muss Abschied von seinen Träumen nehmen. Er ist zutiefst unglücklich. Als er in den Dunstkreis der NSDAP gerät, trifft er eine Entscheidung, die die ganze Familie in Gefahr bringt …

Über die Autorin

Michaela Grünig, geboren und seelisch beheimatet in Köln, war lange Jahre im Ausland tätig. Dort kam sie nicht nur mit interessanten Menschen und ihren Geschichten zusammen, sie entdeckte auch ihre große Liebe zum Reisen. Seit 2010 hat sie ihr Hobby, das Schreiben, zum Beruf gemacht. Zusammen mit ihrer Familie und vielen Tieren lebt sie in der Westschweiz.

MICHAELA GRÜNIG

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Die Zitate von Thomas Mann auf den Seiten 393 ff. wurden dem Band»Deutsche Ansprache.Ein Appell an die Vernunft. Rede, gehalten am 17. Oktober 1930im Beethovensaal zu Berlin«, S. Fischer Verlag, Berlin 1930 entnommen.

Originalausgabe

Copyright © 2021/2024 by Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6 – 20, 51063 Köln

Vervielfältigungen dieses Werkes für das Text- und Data-Mining bleiben vorbehalten.

Textredaktion: Claudia Schlottmann, Berlin

Umschlaggestaltung: Johannes Wiebel | punchdesign, München

Einband-/Umschlagmotive: © shutterstock.com: Inga Dudkina | Digiselector | SCOTTCHAN | vata | Ints Vikmanis | AlenKadr | Andreas Jung

eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7517-0138-9

luebbe.de

lesejury.de

Personenverzeichnis

Elisabeth Kuhlmann, Geschäftsführerin des Palais Heiligendamm

Paul Kuhlmann, der ältere Bruder

Friedrich Kuhlmann, der älteste Bruder

Luise Kuhlmann, die jüngere Schwester

Johanna Hirsch, geb. Kuhlmann, die ältere Schwester

Dr. Samuel Hirsch, Johannas Ehemann, Kinderarzt

Julius Falkenhayn, Erbe eines Industriekonzerns, Mitbesitzer des Hotels

Julia Falkenhayn (*1916), Elisabeths und Julius’ uneheliche Tochter

Minna Pohl, Köchin und Julias Ziehmutter

Robert Breitschneider, ehemaliger Chefkellner des Palais

Ottilie Kuhlmann, Mutter der erwachsenen Kuhlmann-Kinder

Heinrich Kuhlmann, verstorbener Gründer des Palais Heiligendamm und Vater der erwachsenen Kuhlmann-Kinder

Helene Kuhlmann, Pauls Ehefrau

Dr. Margot Fischer, Friedrichs zukünftige Ehefrau

Albert Schuhmacher, ein Kommunist, Minnas späterer Ehemann

Ulrich Sternhaus, ein berühmter UFA-Regisseur

Gustav Mittenbach, Generaldirektor von Julius’ Industriekonzern

Konrad, ehemaliger Hotelpage, nun SA-Sturmmann

Carl von Herrhausen,NSDAP-Parteifunktionär

Willy Frisch, UFA-Stummfilmstar

Baron Rosenberg, späterer Besitzer der Ostseebad Heiligendamm GmbH

Emil Stocker, Landknecht

Gabriel Hirsch (*1923), Johannas und Samuels Sohn

Thomas Kuhlmann (*1919), Pauls und Helenes erster Sohn

Martin Kuhlmann (*1920), Pauls und Helenes zweiter Sohn

Sophie Kuhlmann (*1921), Pauls und Helenes Tochter

1. Kapitel

Bad Doberan, Palais Heiligendamm, Januar 1922

Der kleine Bankettsaal erstrahlte in all seiner frisch renovierten Herrlichkeit und bot einen denkbar schönen Rahmen für die kleine Hochzeitsgesellschaft ihrer Schwester Johanna. Zufrieden ruhte Elisabeths Blick auf dem matt glänzenden französischen Parkett, das von einem Spezialisten in hochkomplexen Mustern verlegt worden war und unter anderem Sterne und Rauten zeigte. Sie hatte wochenlang mit Julius über die hohen Kosten diskutiert. Er war als Miteigentümer des Palais der Meinung gewesen, dass es ein schlichterer Bodenbelag auch getan hätte, aber das Ergebnis gab ihr recht: Der Raum wirkte sogar noch edler als vor dem Krieg, und man konnte sich beim besten Willen nicht mehr vorstellen, dass hier noch vor wenigen Jahren verletzte Soldaten in Feldbetten gelegen hatten.

Die Instandsetzung des Hotels hatte viel Zeit in Anspruch genommen, weil es nach 1918 kaum Handwerker und Baumaterialien gegeben hatte. Auch in Bad Doberan und Umgebung waren viele Familienväter nicht von der Front zurückgekehrt, und es hatte ewig gedauert, die notwendigen Fachkräfte aufzutreiben. Auch wegen der Schwierigkeiten bei der Beschaffung der kostspieligen Baustoffe – viele ausländische Firmen lieferten nicht mehr an deutsche Kunden – waren die Arbeiten immer wieder kurzfristig zum Erliegen gekommen. Alles in allem eine nervenaufreibende Aufgabe, die in den letzten Jahren ihre ganze Aufmerksamkeit beansprucht hatte. Doch es hatte sich gelohnt. Mit dem erneuerten Stuck, den glitzernden Kristalllüstern und den schlanken Säulen bot der kreisrunde Saal einen Rahmen, in dem auch royale Häupter hätten speisen und tanzen können, selbst wenn es diese nun in Deutschland nicht mehr gab, weil Kaiser und Co. nach der Niederlage abgedankt hatten.

Elisabeth hatte die Banketträume und den Ballsaal absichtlich in barockem Prunk restaurieren lassen. Für sie verkörperte dieser Stil nicht nur eine Rückkehr zur Tradition des Palais, sondern eignete sich auch bestens, um die lang vermisste Lebenslust wiederzuentdecken. In diesen Räumlichkeiten sollten abermals rauschende Feste gefeiert werden. Nach den düsteren, entbehrungsreichen Kriegsjahren und der chaotischen Zeit danach sehnte sie sich nach perlendem Champagner und der spielerischen Leichtigkeit des Seins. Ihre Gäste sollten endlich wieder im Luxus schwelgen dürfen. Ach, wenn ihr Vater, der das Hotel einst gegründet hatte, das noch hätte erleben können … er wäre sicherlich stolz auf sie gewesen. Genauso wie auf seine älteste, nun verheiratete Tochter.

Als Elisabeth an der überschaubar langen Tafel entlangsah, zog sie unwillkürlich die Stirn kraus. Ursprünglich hatte sie sich Johannas Hochzeitsfeier anders vorgestellt. Ausgelassener und vor allem mit einer weitaus größeren Gästeschar. Stattdessen saßen sich – abgesehen von ein paar Freunden – lediglich die Familien der Brautleute fremdelnd bei einem Abendessen gegenüber. Besonders ihrer Mutter schien es schwerzufallen, sich ein Lächeln abzuringen. Sie hatte sich offenbar noch immer nicht damit abgefunden, dass die Wahl ihrer schönen und begehrten Tochter ausgerechnet auf einen jüdischen Kinderarzt gefallen war. Dabei hatte sie weiß Gott genug Zeit gehabt, sich an diesen Gedanken zu gewöhnen. Vor der Hochzeit hatte Johanna drei ganze Jahre lang Hebräisch, die Thora und jüdische Bräuche studiert, um für ihren Samuel zum jüdischen Glauben konvertieren zu können.

Erst letzten Monat war sie nach einem rituellen Tauchbad in die Religionsgemeinschaft aufgenommen worden. Kurz darauf hatten die beiden in einer Berliner Synagoge geheiratet. Und obwohl Elisabeth und der Rest der Familie von Johanna auf die dabei üblichen Riten vorbereitet worden waren, hatte vieles doch recht exotisch angemutet: Zum einen hatte die Vermählung auf Wunsch von Johannas Schwiegereltern an einem Dienstag stattgefunden, weil in der Bibel der dritte Tag der Schöpfungsgeschichte gleich zweimal mit den Worten »Gott sah, dass es gut war« gelobt wird und deshalb an diesem Tag geschlossene Ehen angeblich doppelt so gut hielten. Des Weiteren hatte die Braut ihren zukünftigen Ehemann erst dreimal unter einem Baldachin umrunden müssen, bevor der Rabbiner mit der Zeremonie beginnen konnte. Als Samuel schließlich ein in ein Tuch gewickeltes Weinglas zertreten hatte, waren die Augenbrauen ihrer Mutter pikiert in die Höhe gewandert.

Auch Samuels Eltern behandelten ihre neue Schwiegertochter eher mit kühler Höflichkeit, als sie mit offenen Armen im Kreis ihrer Familie aufzunehmen. Doch weder Samuel noch Johanna schienen sich an diesen unterschwelligen Konflikten zu stören. Ganz im Gegenteil, sie hatten nur Augen füreinander und schienen erfüllt von reinster Glückseligkeit.

In diesem Moment hob Johannas frischgebackener Schwiegervater Jakob Hirsch, ein asketisch wirkender emeritierter Professor für Pharmakologie, sein Glas: »Auf das Brautpaar. Denn ein Mann ohne Frau lebt ohne Freude, ohne Segen, ohne Güte. Masel tov!«

»Masel tov!«, schallte es vielstimmig zurück. Aus den Augenwinkeln bemerkte Elisabeth, wie ihre Mutter unwillig die Lippen aufeinanderpresste. Es war bereits der zehnte Trinkspruch, und selbst daran schien sie Anstoß nehmen zu wollen.

»Alle Achtung, Schwesterherz, bei der Renovierung hast du wirklich ganze Arbeit geleistet«, sagte Friedrich, der zu ihrer Rechten saß, und schaute sich wohlwollend um, während seine Hand weiterhin auf der seiner hübschen Verlobten Margot ruhte.

»Danke, Bruderherz«, erwiderte Elisabeth mit einem leisen Seufzen. »Jetzt brauchen wir nur noch mehr Gäste, um das Palais wieder mit Leben zu füllen.«

Ihr Bruder nickte abwesend. Er hatte sich noch nie für das Hotelgeschäft seiner Familie erwärmen können. Sein Herz schlug seit jeher nur für die Medizin, und so war es kein Wunder, dass es sich bei seiner zukünftigen Ehefrau ebenfalls um eine Medizinerin handelte. Die beiden hatten sich vor etwas über einem Jahr in der Berliner Charité kennengelernt, wo Friedrich als Chirurg arbeitete. Seine Verlobte forschte dort auf einem Gebiet, das sich etwas sperrig »Erbgesundheitslehre« nannte. Elisabeth konnte sich nichts Genaues darunter vorstellen, aber Margot schien – zumindest auf den ersten Blick – eine nette Person zu sein, und wenn sie ihren Bruder glücklich machte, freute Elisabeth sich für die beiden. Außerdem stand ihre Mutter dieser Verbindung überaus wohlwollend gegenüber: Margot war, wie der Rest der Kuhlmanns, protestantisch, zudem leitete ihr Vater die Abteilung für Innere Medizin der Charité, was Friedrichs weiterer Karriere sicher nicht abträglich sein würde.

Ihr eigener Erfolg stand dagegen – trotz all der harten Arbeit – in den Sternen: Obwohl das Hotel seit drei Monaten wieder geöffnet hatte, war derzeit lediglich knapp ein Drittel der Zimmer belegt. Und das ließ sich leider nur teilweise mit der momentanen Nebensaison erklären. Die ausländischen Gäste schienen nach dem Krieg deutsche Reiseziele immer noch zu meiden, und auch ihren eigenen Landsleuten stand der Sinn nicht nach Urlaub. Dabei war Doberan im letzten Jahr anlässlich seiner 750-Jahr-Feier sogar in den Stand eines Kurbads erhoben worden und durfte sich seither »Bad Doberan« nennen. Auch die sommerlichen Musikveranstaltungen auf dem Kamp waren wieder eingeführt und zu Kurkonzerten aufgewertet worden. Der Gemeinderat und sie selbst hatten sich davon einen Ansturm neuer Gäste erwartet. Doch der war bisher leider ausgeblieben. Das schien sogar ihre große Konkurrenz, das luxuriöse Grand Hotel in Heiligendamm, schmerzhaft zu spüren zu bekommen. Seit dem Krieg standen auch dort die Betten leer, dabei war das Haus ohnehin nur in der Hauptsaison geöffnet. Hinter vorgehaltener Hand munkelte man bereits, dass das Traditionshaus unmittelbar auf einen Konkurs zusteuerte. Wenigstens diese Schmach würde ihr in der nahen Zukunft erspart bleiben … Julius hatte ihr wieder und wieder versichert, dass er etwaige finanzielle Defizite mit privaten Mitteln ausgleichen werde. Doch wie lange würde er sich das leisten können? Obwohl er durch das Erbe seines Vaters immens reich geworden sein sollte, hatte sie keine Ahnung, wie es wirklich um seine Finanzen stand. Warum hatte er zum Beispiel darauf bestanden, dass sie für die Renovierungsarbeiten im Palais einen Kredit aufnahm? Und warum arbeitete er inzwischen als Filmproduzent bei der UFA und hatte die Geschäfte des väterlichen Konzerns in die Hände eines Generaldirektors gelegt? Fragen über Fragen. Doch sie hätte sich lieber die Zunge abgebissen, als Julius damit zu löchern. Ihr Verhältnis war nach der für sie so schmerzhaften Trennung und den konfliktreichen Renovierungsarbeiten der letzten Jahre immer noch angespannt, und sie wollte nicht, dass er ihre Wissbegierde im Hinblick auf seine geschäftliche Situation als übermäßiges Interesse an seiner Person interpretierte. Niemand sollte wissen, wie es in ihrem Innersten aussah.

Am anderen Ende der Tafel erklang ein glockenhelles Lachen, in das sich umgehend ein kindliches Kichern und das belustigte Brummen einer männlichen Stimme mischten. Ohne hinzusehen, wusste Elisabeth, wer sich dort so köstlich amüsierte, und es versetzte ihr einen Stich: Sogar Luise konnte offenbar besser mit der fünfjährigen Julia umgehen als sie selbst. Dabei war die blondgelockte Kleine Julius’ und ihre Tochter und nicht das Kind ihrer Schwester. Doch zwischen Julia und ihr fehlte die natürliche Verbundenheit, die normalerweise zwischen einer Mutter und ihrem Kind herrschte. Kein Wunder … Julius hatte sie ihr entfremdet!

Noch während ihr dieser boshafte Vorwurf durch den Kopf schwirrte, wurde ihr bewusst, dass er ungerecht war. Das Gegenteil stimmte. Obwohl Julia die meiste Zeit bei Julius in Berlin wohnte, war er stets darauf bedacht gewesen, dass der Kontakt zu Elisabeth nicht abriss. Immer wieder war er an den Wochenenden mit Julia nach Doberan gereist und hatte sie sogar bei den Renovierungsarbeiten unterstützt. Nur dass dabei meistens die Fetzen geflogen waren und die gereizte Atmosphäre wohl auch auf ihre Tochter abgefärbt hatte. Leider schien sie überhaupt keine mütterliche Ader zu haben. Alle Spiele oder Ausflüge, die sie mit Julia machen wollte, stießen bei der Kleinen auf Ablehnung. Elisabeth fand einfach nicht den richtigen Ton, um sich ungezwungen mit ihr zu unterhalten. Dabei war ihre Tochter ansonsten ein aufgewecktes und unproblematisches Kind. Aber selbst heute beim Hochzeitsmahl hatte sie unbedingt zwischen ihrem Vater und Luise sitzen wollen anstatt neben ihr. Das schmerzte mehr, als sie sich eingestehen wollte. Doch sie würde nicht aufgeben und auch zukünftig um die Zuneigung ihrer Tochter kämpfen.

Manchmal träumte sie davon, dass Julia, Julius und sie gemeinsam – wie eine richtige Familie – einen Ausflug an den Strand von Heiligendamm unternahmen. Dann spürte sie förmlich die steife Brise im Haar, den Sand unter den nackten Füßen und die wärmenden Sonnenstrahlen auf ihrem Gesicht. In dieser Traumwelt fühlte sich alles so real und richtig an. Zu dritt bauten sie Sandburgen, die von ausgeklügelten Salzwassergräben umgeben waren. Lachend liefen sie um die Wette ins Meer und spritzten sich gegenseitig nass. Später schmiegte sich Julias vom Spiel an der frischen Luft ausgekühlter kleiner Körper wärmesuchend an sie, und Elisabeth drückte ihr sanft einen Kuss aufs wirre blonde Haar. Über den Kopf ihrer Tochter hinweg lächelte Julius ihr zu, und in seinen Augen stand die gleiche liebevolle Zärtlichkeit, die sie auch früher darin hatte lesen können … Jedes Mal, wenn sie aus dieser schönen Illusion erwachte, waren ihre Wangen tränennass. Warum waren sie beide nur solche Sturköpfe? Immer wieder gab ein Wort das andere, jede Unterhaltung endete im Zwist. Und die räumliche Trennung machte alles nur noch schlimmer.

Energisch griff Elisabeth nach ihrem Weinglas und nahm einen tiefen Schluck. Das Leben war nun mal kein Wunschkonzert, sondern harte Realität. Und mit der galt es sich abzufinden. Während ihr Dessertteller von einem livrierten Kellner abgeräumt wurde, blickte sie auf die Uhr. Himmel, es war bereits nach neun Uhr. Höchste Zeit für Julia, ins Bett zu gehen, in einer knappen halben Stunde würde eine Kapelle aufspielen und die Hochzeitsgäste zum Tanz auffordern.

»Mutter, ich bringe schnell Julia zu Bett«, sagte sie und erhob sich.

»Mach das, mein Kind«, erwiderte ihre Mutter, ohne das gerade begonnene Gespräch mit Samuels Mutter über ihre Lieblingsrosen zu unterbrechen.

Als Elisabeth an der Tischgesellschaft entlangschritt, lächelte sie Johanna zu, die ihrem Bräutigam gerade verschämt einen Kuss auf die Wange drückte. Wenn ihr Bruder Paul und seine Helene, hinter denen sie als Nächstes vorbeiging, nur ebenfalls so glücklich gewirkt hätten. Doch die beiden, die inzwischen drei kleine Kinder in die Welt gesetzt hatten, sahen alles andere als zufrieden aus. Paul blickte starr vor sich hin, und Helene hatte schon wieder diesen verkniffenen Zug um den Mund. Bestimmt hatten sie sich gestritten. Das kam leider fast täglich vor. Manchmal zeterte Helene so laut, dass Elisabeth es bis in ihre eigenen vier Wände hören konnte. Dann war sie jedes Mal froh, dass sie – in weiser Voraussicht – die alte, weitläufige Familienwohnung im ersten Stock des Palais bei den Renovierungsarbeiten halbiert und in zwei eigenständige Wohnungen umgewandelt hatte, sodass Luise, Mutter und sie nicht mit Pauls chaotischer Familie zusammenwohnen mussten. Es war verrückt, wie ungleich das Glück auf die Kuhlmann-Geschwister verteilt war: Johanna und Friedrich schienen es für sich gepachtet zu haben, während Paul, Luise und sie selbst unverschuldet im Schatten standen.

Als sie Julias Stuhl erreichte, blieb sie für einen Moment dahinter stehen und legte den Finger an die Lippen, damit Julius und Luise ihre Anwesenheit nicht verrieten. Ihre kleine Tochter schwenkte mit vom Hochzeitskuchen verschmierten Händen hingebungsvoll eine Papierblume, die vermutlich Julius gebastelt hatte, und summte ein Kinderlied dazu. Ein entzückender Anblick.

»Hallo, mein kleiner Schatz«, sagte Elisabeth liebevoll.

Julia fuhr herum und riss die blauen Kulleraugen auf. »Ich will aber noch nicht schlafen gehen!«

Elisabeths Herz krampfte sich zusammen. Sollte sie Julias Wunsch nachgeben? Oder wäre das ein Fehler? Brauchten Kinder nicht klare Regeln? Ihre Stimme klang unsicher, als sie antwortete: »Es ist leider Zeit, mein Engel. Sonst kannst du den morgigen Tag gar nicht richtig genießen.«

Ihre Tochter zog einen Flunsch. »Bei Papa darf ich immer länger aufbleiben.«

Julius schüttelte amüsiert den Kopf. »Ganz sicher nicht, du kleine Schwindlerin. Außerdem hat deine Mutter recht, wenn du jetzt nicht ins Bett gehst, bist du morgen müde und schlecht gelaunt.«

»Bin ich nicht!«, sagte Julia empört.

»Bist du doch«, widersprach Julius und kitzelte sie so lange am Rücken, bis sie ausgelassen kicherte. »Also los! Sei brav und geh mit deiner Mutter in die Wohnung.«

Julia blickte sichtlich enttäuscht auf ihre Schuhspitzen. »Kann Tante Lulu auch mitkommen?«

»Natürlich. Das mache ich gerne«, erwiderte ihre Schwester und erhob sich von ihrem Stuhl. Elisabeth war Luise dankbar, auch wenn sie die wenigen Momente, bevor Julia ins Bett ging, lieber mit ihrer Tochter allein verbracht hätte.

Kurz darauf durchquerten sie das Foyer, das ebenfalls mit viel Liebe zum Detail renoviert worden war. Im Gegensatz zu den Festräumen hatte Elisabeth hier allerdings auf hochmodernes Design gesetzt. Alle Möbel und Accessoires strahlten eine strenge Eleganz aus. Die niedrigen Tische der Sitzgruppen waren mit exotischer Schlangenhaut bespannt und die Lampen aus silbrigem Chrom gefertigt, was sich besonders gut von den saphirblauen und smaragdgrünen Teppichen abhob. Manche der älteren Gäste hatten sich über die neue, »ungemütliche« Einrichtung beschwert, aber Elisabeth war sich sicher, dass die wahrhaft feine Gesellschaft – wenn sie sich nächsten Sommer hoffentlich endlich wieder ein Stelldichein in Bad Doberan geben würde – davon begeistert wäre.

Als sie die Treppe erreichten, legte Julia ihre kleine Hand vertrauensvoll in Luises. »Liest du mir noch eine Geschichte vor, Tante Lulu?«

Bevor Luise antworten konnte, sagte Elisabeth: »Nein, mein Schatz, das geht leider nicht. Tante Lulu und Mama müssen zurück zu den anderen Gästen. Aber Minna erzählt dir bestimmt noch eine schöne Gutenachtgeschichte.«

Luise warf ihr einen prüfenden Blick zu. Ob ihre Schwester ahnte, wie eifersüchtig sie war? Dass sie Julia noch stundenlang vorgelesen hätte, wenn ihre Tochter diese Bitte an sie statt an ihre Tante gerichtet hätte?

»O fein«, antwortete Julia fröhlich. Minna liebte sie selbstverständlich noch viel mehr als Luise. Die frühere Köchin des Palais hatte sich aufgrund der speziellen Umstände bei Julias Geburt in den ersten Lebensjahren ganz allein um die Kleine gekümmert. Inzwischen gehörte sie Julius’ Berliner Haushalt als Kinderfrau an und begleitete Vater und Tochter auf allen ihren Reisen. Sie hatte zwar ebenfalls eine Einladung für die heutige Hochzeitsfeier erhalten, hatte jedoch abgelehnt, dabei zu sein. Minna wusste, dass Julias Großmutter, Elisabeths standesbewusste Mutter, solche Vertraulichkeiten mit dem Personal nicht schätzte. Sie war in einer anderen, strengeren Zeit erzogen worden.

»Minna«, rief Julia begeistert, als die Kinderfrau die Wohnungstür öffnete, und sprang wie ein Kletteräffchen in deren geöffnete Arme.

Wenigstens sagt sie nicht mehr ›Mama‹ zu ihr, dachte Elisabeth erleichtert. »Guten Abend, Minna. Bist du so lieb und bringst Julia ins Bett?«

»Sehr gern«, erwiderte die Kinderfrau mit einem Lächeln. »Julia, gibst du deiner Mutter noch ein Gutenachtküsschen?«

Mit geschlossenen Augen spitzte ihre Tochter die Lippen und machte einen schmatzenden Kusslaut. Dann befreite sie sich aus Minnas Armen und rannte, so schnell die kurzen Beinchen sie trugen, den Korridor entlang zu ihrem Zimmer.

Elisabeth zuckte enttäuscht mit den Schultern. »Wahrscheinlich besser als nichts.«

»Sie müssen ihr das nachsehen«, sagte Minna mit einem Seufzen. »Es ist ein schwieriges Alter.«

»Von wegen … den schlechten Charakter hat sie eindeutig von ihrer Mutter geerbt«, meinte Luise grinsend.

Elisabeth gab ihrer Schwester spielerisch einen Klaps auf den Arm. »Gut, Minna. Wir sind dann wieder unten. Du brauchst nicht auf uns zu warten. Geh ruhig schon zu Bett.«

»Danke.« Minna hob zum Abschied die Hand.

»Warum lässt du dich überhaupt so von der Kleinen vorführen? Beachte sie doch einfach eine Weile nicht. Dann kommt sie bestimmt von ganz allein auf dich zu«, sagte Luise, als sie nebeneinander die Treppe hinabschritten.

Sie hatte ihren Finger in die offene Wunde gelegt. Elisabeth winkte ab. »Bitte nicht, Luise. Lass uns lieber über etwas anderes reden.«

»Ganz, wie du willst. Es war nur ein gut gemeinter Ratschlag.«

»Das weiß ich. Danke.« Angespannt suchte Elisabeth nach einem anderen Thema. »Was ziehst du eigentlich auf Charlottes Verlobungsfeier am Samstag an?«

Luises Gesicht verfinsterte sich. »Nichts.«

»Nichts?«, wiederholte Elisabeth überrascht. »Aber du kannst doch schlecht nackt zur Verlobung deiner besten Freundin gehen?«

»Das tue ich auch nicht.«

»Also dann? Was wirst du tragen?« Elisabeth verstand die Welt nicht mehr. Warum wollte ihre Schwester nicht mit der Sprache herausrücken? Über schöne Kleider zu fachsimpeln war doch sonst eine ihrer Lieblingsbeschäftigungen.

»Nichts … weil ich gar nicht eingeladen bin.« Es klang patzig, wie immer, wenn sich ihre Schwester angegriffen fühlte.

Elisabeth blieb stehen. »Charlotte feiert ihre Verlobung bei uns im Hotel, und du … bist nicht eingeladen? Habt ihr euch gestritten?«

Luise schüttelte den Kopf.

»Herrschaftszeiten, jetzt lass dir doch nicht alles aus der Nase ziehen. Warum will sie dich nicht auf ihrer Verlobungsfeier dabeihaben?«

»Weil … ihre Eltern ihr verboten haben, die geschiedene Frau eines Amerikaners einzuladen.«

Da lag also der Hase im Pfeffer. Ihre Schwester war nach ihrer Scheidung nicht mehr gut genug für den verarmten Doberaner Adel. Elisabeth versuchte, sich ihre Wut nicht anmerken zu lassen. »Und warum erzählst du mir erst jetzt von dieser Unverschämtheit? Ich hätte darüber gern ein Wörtchen mit Herrn und Frau von Damnitz geredet. Und vor allem hätte ich dann auch den eingeräumten ›Freundschaftspreis‹ für die Verlobungsfeier angepasst!«

In Luises Augen standen plötzlich Tränen. »Bitte misch dich da nicht ein, Lisbeth.«

»Natürlich mische ich mich da ein. Niemand springt ungestraft so mit meiner kleinen Schwester um. Weiß Mutter davon?«

»Nein, aber sie hat mich schon vor der Scheidung gewarnt, dass so etwas passieren würde«, flüsterte Luise, während ihr eine Träne über die Wange lief.

Elisabeth verdrehte die Augen. »Was hättest du denn machen sollen? Dein restliches Leben in einer unglücklichen Ehe zubringen? Dafür bist du viel zu jung. Außerdem haben wir alle einen schrecklichen Krieg überstanden … da kann man sich doch nicht wegen einer dummen Scheidung aufregen!«

»Die Spielregeln für uns Frauen haben sich leider nicht geändert«, meinte Luise niedergeschlagen.

»Doch, das haben sie. Erst gestern habe ich in der Zeitung gelesen, dass Frauen, die im Krieg für die eingezogenen Männer eingesprungen sind, sich nicht mehr aus der Arbeitswelt verdrängen lassen. Und wer sein eigenes Geld verdient, kann sich auch scheiden lassen.« Elisabeth hatte sich schon öfter darüber gewundert, dass sie selbst als unverheiratete Mutter von der lokalen Gesellschaft nicht geschnitten wurde. Dieser Umstand war im Gegensatz zu Luises Scheidung akzeptiert worden. Vielleicht lag das daran, dass es fast in jeder Familie junge Witwen mit Kindern gab. Oftmals waren solche Kriegsehen kurzfristig und ohne großes Tamtam geschlossen worden, weil der frischgebackene Ehemann zurück an die Front musste. Wahrscheinlich vermutete manch einer, dass ihr Fall ähnlich lag und Julius lediglich anstelle eines toten Ehemanns die Vaterrolle übernommen hatte. Zudem stand sie im Ruf, eine zähe Geschäftsfrau zu sein, mit der man es sich besser nicht verscherzte.

Luise wischte sich die Träne von der Wange. »Aber unsere Kreise hier sind viel konservativer als die im restlichen Land.«

»Vielleicht, aber auch bei uns wird man dazulernen müssen. Und was Charlottes Feier betrifft … soll ich nicht doch mit ihren Eltern reden?«

»Nein, ich würde unter diesen Umständen sowieso nicht hingehen. Eine erzwungene Einladung ist mir zu peinlich.«

»Sicher?«

Luise nickte. »Trotzdem danke.«

»Nicht der Rede wert«, erwiderte Elisabeth und setzte sich erneut in Bewegung. Aus dem Bankettsaal hörte man schon die ersten Klänge der Musikkapelle.

Luises Schritte verlangsamten sich. »Lisbeth? Glaubst du, dass ich jemals wieder heiraten werde?«

Elisabeth schüttelte ungläubig den Kopf. »Darüber machst du dir Gedanken? Schau mal in den Spiegel! Du bist bildschön. Wenn wir im Sommer erstmals wieder Bälle feiern, wirst du an jeder Hand fünf Verehrer haben.« Sie seufzte theatralisch. »Hoffentlich lässt du dir diesmal etwas mehr Zeit, um den Richtigen auszusuchen! Ich erinnere mich noch lebhaft an deine vollkommen überstürzte Verlobung.«

Luise hob die Hand wie zum Schwur. »Versprochen. Diesen Fehler mache ich nie wieder.«

»Besser wär’s«, meinte Elisabeth trocken und drückte die Tür zum Bankettsaal auf. Umgehend wurde die Musik lauter. »Probeweise kannst du dich heute Abend schon mal von allen fremden Männern fernhalten und deine Tanzkenntnisse mit Paul oder Friedrich auffrischen!«

Der Stumpf juckte. Wahrscheinlich war sein Arm geschwollen, und die Prothese saß zu stramm. Paul versuchte, sich so unauffällig wie möglich am Ellbogen zu kratzen. Wenn Helene ihn dabei erwischte, gäbe es gleich den nächsten Streit. Dabei verschaffte ihm das Scheuern durch den festen Stoff des Abendanzugs sowieso kaum Linderung. Unglücklich starrte er zur Tanzfläche hinüber. Friedrich hatte sich erbarmt und seine Schwägerin zum Foxtrott aufgefordert, nachdem er selbst Helene diesen Wunsch abgeschlagen hatte. Offiziell, weil er mit seiner hölzernen Hand ungern tanzte. Doch die bittere Wahrheit war, dass er ihre Berührungen selbst im angezogenen Zustand nicht mehr ertrug. Helene war schon früher keine Schönheit gewesen, aber die drei Schwangerschaften so kurz hintereinander hatten sie noch zusätzlich wie einen Hefekloß aufgehen lassen. Trotz ihres jugendlichen Alters wirkte sie wie eine Matrone. Seine Ehefrau schien mit dieser Veränderung selbst nicht glücklich zu sein, und der anstrengende Alltag mit den Kindern machte sie nur noch unleidlicher. Ständig lag sie ihm in den Ohren, dass er endlich ein Kindermädchen einstellen solle, um sie zu entlasten. Aber von welchem Geld? Schließlich hatte er keinerlei Einkünfte. Das gerade erst wiedereröffnete und noch auf Sparflamme laufende Palais benötigte keinen Kulturdirektor. Und Elisabeth brauchte er mit solchen Sonderwünschen gar nicht erst zu kommen. Sie steckte jede verfügbare Mark in das Hotel. Zudem hatte Helene und nicht er sich so dringend eine Kinderschar gewünscht. Jetzt war sie trotzdem unzufrieden.

Ob seine Frau inzwischen ahnte, was mit ihm nicht stimmte? Denn natürlich lag seine Unlust, Helene zu berühren, nicht allein an den zusätzlichen Kilos, die sie auf die Waage brachte. Letztlich hatte er sie ohnehin nur geheiratet, weil er den Menschen, den er tatsächlich liebte, damals tot gewähnt hatte … und um seine eigenen, leider gesetzeswidrigen Neigungen vor Außenstehenden zu verheimlichen. In Wahrheit fühlte er sich zu Männern hingezogen. Genauer gesagt, zu einem Mann: Robert, den ehemaligen Oberkellner des Hotels, von dem er irrtümlich geglaubt hatte, er wäre im Krieg gefallen. Wenn er an die vielen Nachmittage dachte, an denen sie sich heimlich voller Leidenschaft geliebt hatten, schnürte sich ihm der Hals zusammen. Doch Robert wollte nichts mehr von ihm wissen. Als er aus der Kriegsgefangenschaft zurückgekommen war und von Pauls Hochzeit erfahren hatte, hatte er ihm vorgeworfen, ihre Liebe verraten zu haben, war aus der Tür gerauscht und hatte noch nicht einmal eine Adresse hinterlassen. Bei der Erinnerung daran verspürte Paul heute noch denselben Schmerz wie damals. Als ob man ihm das Herz aus dem Leib gerissen hätte. In den Wochen und Monaten nach Roberts Fortgang hatte er keinen klaren Gedanken fassen können und lediglich vor sich hin vegetiert. Erst die Geburt seines ersten Sohnes hatte ihm kurzzeitig aus der Depression herausgeholfen. Doch selbst wenn er dessen Kinderwagen durch den Park schob, hatte er an Robert denken müssen. Immer wieder war er kurz davor gewesen, alles stehen und liegen zu lassen und nach seiner großen Liebe zu suchen. Jede Nacht hatte er mit sich gerungen und an sein eigenes Pflichtgefühl appelliert. Schließlich wollte er seinem Sohn ein guter Vater sein. Dieser Widerstreit zwischen Pflicht und Liebe hatte ihn innerlich zerrissen. Und mit jedem weiteren Kind war die Hemmschwelle, Helene zu verlassen, größer geworden. Trotzdem hatte er ständig Roberts geliebtes Bild vor Augen gehabt. In jener schrecklichen Zeit war Paul so zerstreut gewesen, dass er jeden Auftrag, den Elisabeth ihm übertrug, verbockte. Er bestellte säckeweise den falschen Beton, brachte die Zeitpläne der Arbeiter durcheinander und verrechnete sich bei der neuen Bestuhlung des Speisesaals. Bis seine Schwester ihn schließlich entnervt von allen Aufgaben entbunden hatte und er sich fortan den ganzen Tag mit seiner Ehefrau um die Kinder kümmern musste.

Eine Zeit lang war es ihm gelungen, seine eigenen Bedürfnisse hintanzustellen, doch nun bröckelte sein Pflichtgefühl. Die täglichen Streitigkeiten mit Helene belasteten ihn. Aber noch viel schlimmer quälte ihn die nicht nachlassende Sehnsucht nach Robert. Er hätte sein ganzes Hab und Gut dafür gegeben, ihm noch einmal sagen zu können, wie sehr er ihn liebte. Doch die Situation schien aussichtslos. Er wusste ja nicht einmal, wo er mit der Suche hätte beginnen sollen.

In diesem Moment kam Helene auf ihn zugewatschelt und ließ sich schwerfällig auf ihrem Stuhl nieder. »Friedrich ist übrigens derselben Meinung wie ich.«

»Wie bitte?« Paul hasste es, wenn sie in Rätseln sprach. Aber im Grunde genommen ging ihm alles an ihr auf die Nerven.

»Er meint auch, dass du Julius unbedingt um einen Posten bitten solltest. In einem so großen Konzern wie dem seinen gibt es bestimmt etwas Passendes für dich.«

Paul glaubte, sich verhört zu haben. »Du hast meinen Bruder mit deinen fixen Ideen belästigt?«

Sofort wurde Helene aggressiv. »Und warum bitte nicht? Wenn der eigene Mann zu faul ist, sich eine bezahlte Arbeit zu suchen?«

Er seufzte resigniert. »Helene, wir haben schon hundertmal darüber gesprochen. Ich bin nicht faul. Es gibt nur momentan im Hotel nichts für mich zu tun. Außerdem haben wir doch alles, was wir brauchen: ein Dach über dem Kopf und jeden Tag genug zu essen.«

»Als ob du lediglich im Palais arbeiten könntest! Außerdem mangelt es uns sehr wohl an einigen Sachen. Wir benötigen dringend ein Kindermädchen für Thomas, Sophie und Martin. Und einen neuen Kinderwagen. Zudem habe ich mir schon seit ewigen Zeiten kein neues Kleid mehr geleistet. Dabei hast du mir bei unserer Trauung versprochen, standesgemäß für mich zu sorgen. Alles, was du dafür tun müsstest, ist, Julius nach einer Arbeit zu fragen.«

Paul schwieg. Es war ihm peinlich, mit Julius über seine berufliche Situation zu sprechen. Er unterstützte die gesamte Familie Kuhlmann und das Hotel sowieso schon überaus großzügig. Darüber hinaus hatte Paul auch schlichtweg Angst, in einer neuen Stellung zu versagen. Er war nicht für die harte Geschäftswelt geschaffen, fühlte sich mehr als Künstler.

»Also? Sprichst du jetzt mit Julius?«, drängte Helene.

Er zuckte mit den Schultern. »Na gut, ich werde es versuchen.« Unter ihrem strengen Blick machte er sich auf den Weg.

»Und? Wie gedeihen deine Sprösslinge?«, erkundigte sich Julius lächelnd.

»Gut. Alle sind gesund und munter.«

»Das ist wunderbar. Kann man schon die unterschiedlichen Charaktere ausmachen? Wer ist dir am ähnlichsten?«

»Hm. Ich weiß nicht.« Paul lächelte, um seine Unsicherheit zu überspielen. Über solche Dinge hatte er sich noch gar keine Gedanken gemacht, obwohl er seinen Nachwuchs insgesamt recht putzig fand. Besonders wenn die Kleinen nicht wie am Spieß schrien, sondern friedlich nuckelnd in ihren Kinderbetten schliefen.

Julius nickte zustimmend. »Bei Julia könnte ich auch nicht sagen, ob sie mehr von Elisabeth oder von mir hat. Irgendwie ist sie eine ganz gelungene Mischung. Findest du nicht auch?«

»Gewiss.« Auch dieses Thema machte ihn verlegen. Zwar hatte er sich inzwischen an den Umstand gewöhnt, dass seine Schwester ein uneheliches Kind mit Julius hatte. Aber die Frage, warum die beiden letztlich nicht geheiratet hatten, schwang für ihn immer mit. Vielleicht sollte er die Unterhaltung besser in eine unverfänglichere Richtung steuern, bevor er mit seinem eigentlichen Anliegen herausrückte. »Und, wie beurteilst du die derzeitige Lage im Land?«

Über Julius’ Gesicht flog ein Schatten. »Schwierig.«

»Bist du nicht erleichtert, dass wir zum ersten Mal eine Demokratie haben?«, erkundigte sich Paul überrascht. »Es hätte doch viel schlimmer kommen können. Kurz nach dem Krieg wäre Deutschland um ein Haar kommunistisch geworden! Das hätte dir als … Unternehmer sicherlich nicht gefallen. Oder siehst du dich selbst eher als Filmproduzent?«

»Egal, in welcher Rolle … ich bin natürlich froh, dass unser Volk endlich demokratisch regiert wird. Nur scheint es leider viel zu wenig wahre Demokraten unter uns zu geben. Jeder kocht sein eigenes Süppchen, hört auf seine eigenen Propheten. Da wird es in so unruhigen Zeiten schon schwer.«

»Was meinst du damit?«

»Diese unsägliche Verdrehung von Tatsachen. Es gibt zum Beispiel immer mehr Menschen, die glauben, wir hätten den Krieg gar nicht im Feld verloren, sondern die Heimatfront wäre uns in den Rücken gefallen. Dabei sind das glatte Lügen. Durch meine Kontakte in der Obersten Heeresleitung weiß ich ganz sicher, dass Deutschland im Herbst 1918 militärisch komplett geschlagen war. Und dass General von Hindenburg höchstpersönlich auf Friedensverhandlungen gedrängt hat. Doch jetzt möchten das Militär und die deutschnationalen Kräfte im Land die Niederlage auf einmal auf die Sozialdemokraten und das angeblich bolschewistische Judentum abwälzen. Eine bodenlose Frechheit, durch die brave Bürger gegen die Regierung, das Parlament und die Juden aufgewiegelt werden sollen.«

»Na ja, aber auf der anderen Seite sind unsere Soldaten doch wirklich geordnet zurückgekehrt und haben nicht überstürzt die Waffen gestreckt. Wenn wir besiegt worden wären, hätte das doch sicher anders ausgesehen.«

Julius fuhr sich mit einer Hand erregt durch die dunkelblonden Haare. »Bitte nicht du auch noch, Paul! Wir sind besiegt worden. Punktum. Die Amerikaner waren uns an technischen und menschlichen Ressourcen haushoch überlegen. Zuletzt fehlte es den Deutschen sogar an Munition.«

»Das wusste ich nicht«, erwiderte Paul unglücklich. Herrje, jetzt hatte er Julius gegen sich aufgebracht! Denkbar schlechte Voraussetzungen, um eine Bitte an ihn zu richten. Irgendwie mussten sie wieder auf einen gemeinsamen Nenner kommen. »Aber über das Schanddiktat von Versailles regst du dich doch sicherlich genauso auf, oder?«

Julius seufzte. »Da ist man im Eifer des Gefechts wohl etwas über das Ziel hinausgeschossen. Die Reparationszahlungen sind definitiv zu hoch. Ich fürchte, das wird Deutschland auf Dauer nicht leisten können.«

»Und was sagst du dazu, dass man uns die alleinige Kriegsschuld in die Schuhe schieben will? Dabei hat uns der Feind mitten im Frieden überfallen!«, redete sich Paul in Rage.

»Ganz so war es ja nun nicht«, meinte Julius abwesend und schaute konzentriert auf einen Punkt hinter Pauls rechter Schulter.

»Nein? Und was ist damit, dass die Siegermächte sogar unsere militärische Stärke beschränkt haben? Ein Berufsheer von hunderttausend Mann reicht doch nicht zu unserer Verteidigung. Luftstreitkräfte und Panzer sind gleich ganz verboten. Das ist schon eine Demütigung sondergleichen, findest du nicht auch?«

Julius antwortete nicht. Paul drehte sich um, um zu sehen, welcher Anblick seinen Gesprächspartner so fesselte, dass er sich nicht mehr auf ihre Unterhaltung konzentrieren konnte. Aber auf der Tanzfläche passierte gar nichts Besonderes, nur wenige Paare drehten sich im Takt der Musik: Friedrich tanzte mit Luise, Mutter mit Professor Hirsch, Elisabeth mit einem von Samuels Freunden und Johanna mit ihrem neuen Ehemann.

»Entschuldige, was hast du gerade gesagt?«, erkundigte sich Julius nach einer kleinen Pause.

»Schon gut«, antwortete Paul. »So wichtig war das nicht.« Zwischenzeitlich hatte er nachgedacht und seine Pläne geändert. Er wollte Julius nicht um Arbeit anbetteln. Das war ihm unangenehm. Stattdessen würde er nach Berlin fahren und sich dort nach einer geeigneten Stellung umsehen. Vielleicht im Hotel Adlon oder einem anderen erstklassigen Hotel, das seine Qualifikationen zu schätzen wissen würde. Und bei dieser Gelegenheit konnte er auch seinen lang gehegten Plan in die Tat umsetzen: Er würde Robert suchen. Würde der sich nicht auch in einem exquisiten Berliner Restaurant am wohlsten fühlen? Einen Versuch war es auf jeden Fall wert.

Minna lag auf dem Rücken und lauschte Julias gleichmäßigen Atemzügen. Wann immer sie in Bad Doberan zu Besuch waren, schliefen sie gemeinsam im Kinderzimmer. Das war praktischer. Fräulein Elisabeth bot ihr zwar jedes Mal eine eigene Unterkunft an, aber wozu sollte das gut sein? Das machte nur unnötig Arbeit. Trotzdem fiel ihr das Einschlafen am heutigen Abend schwer. Und das lag nicht an dem bequemen Bett, das sie sich mit Julia teilte. Ihre Gedanken kreisten um die Zukunft. Nach dem Sommer sollte ihr kleiner Schützling eingeschult werden. Dann brauchte sie zumindest halbtags eine neue Arbeitsstelle, denn sie konnte schließlich nicht den ganzen Vormittag tatenlos herumsitzen und auf Julias Rückkehr warten. Eine gute Köchin hatte Herr Falkenhayns Haushalt bereits. Er konnte Frau Hansen natürlich nicht kündigen, nur damit sie selbst eine Beschäftigung hatte.

Nun hatte ihr Fräulein Elisabeth gestern einen verlockenden Vorschlag unterbreitet: Sie sollte wieder die Leitung der Küche im Palais übernehmen! Die junge Hotelchefin hatte sie geradezu angefleht, zu ihr zurückzukommen, da sie mit der Arbeit des derzeitigen Chefkochs nicht zufrieden sei. Obwohl sie sich über dieses Angebot sehr gefreut hatte, war sie überzeugt, dass sie es nicht annehmen konnte. Denn was sollte aus Julia werden, wenn sie selbst nach Doberan zurückging? Herr Falkenhayn arbeitete manchmal bis spät in die Nacht. Wer würde sich dann um die Kleine kümmern? Fräulein Elisabeth musste ihr diese Gedanken von den Augen abgelesen haben, denn sie hatte heute von sich aus vorgeschlagen, mit Julias Vater zu reden. Vielleicht sei er ja bereit, die gemeinsame Tochter in Bad Doberan zur Schule gehen zu lassen. Das wäre selbstverständlich eine ganz wunderbare Lösung, doch Minna konnte sich nicht vorstellen, dass Herr Falkenhayn freiwillig auf seine Tochter verzichten würde. Dazu liebte er Julia zu sehr.

Trotz allem war sie heute in die Küche gegangen und hatte ihre alte Wirkungsstätte mit neu erwachtem Interesse begutachtet. Auch hier war vieles renoviert worden. Es gab neue Kupfertöpfe und hochmoderne Elektroherde. Das Ganze musste ein Vermögen gekostet haben. Doch die angestellten Köche arbeiteten ihres Erachtens nicht besonders professionell. Es herrschte eine nervöse, angespannte Atmosphäre, die sich sicherlich auf die Qualität der Speisen auswirkte. Herr Brandmüller, der alte, von ihr geliebte Chefkoch, hätte bestimmt die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen. Aber wahrscheinlich hatten diese Jungspunde aufgrund des Krieges eine verkürzte Ausbildung absolviert und waren zu früh ins kalte Wasser geworfen worden. Das, was sie von dem Hochzeitsessen vorab gekostet hatte, hatte tatsächlich nur so lala geschmeckt. Natürlich war es nicht einfach, mit koscheren Zutaten zu arbeiten. Einige der Vorschriften machten die Zubereitung der Nahrungsmittel schwierig: Fleisch durfte zum Beispiel kein Blut mehr enthalten und musste vor dem Verzehr gewässert, gesalzen und nachgespült werden. Diese Arbeitsschritte ließen selbst das saftigste Schulterstück zäh werden, wenn es anschließend nicht anständig gekocht wurde. Leider hatte dies bei dem Eintopf, der als Hauptgang serviert worden war, nicht geklappt. Eine weitere wichtige Regel besagte, dass Fleisch- und Milchprodukte nicht miteinander kombiniert und nur mit ausreichend zeitlichem Abstand voneinander verzehrt werden durften. Sicherlich war es auch nicht leicht, eine mehrstöckige Torte ohne Sahne zuzubereiten. Aber das war keine Entschuldigung für den viel zu süßen und klebrigen Hochzeitskuchen, den die Köche als Nachtisch nach oben geschickt hatten.

Es stand außer Frage, dass Minna große Lust hatte, diese Herausforderung anzunehmen und wieder nach Bad Doberan zu ziehen. Sie traute es sich ohne Weiteres zu, die Küche des Palais umzukrempeln und ihr wieder zu altem Glanz zu verhelfen. Aber sie wollte auf keinen Fall in die Streitigkeiten zwischen Julias Eltern hineingezogen werden oder gar Anlass zu neuem Ungemach geben. Die beiden hatten es ohnehin schon schwer genug, miteinander auszukommen. Andauernd gab es Krach. Dabei sah ein Blinder, dass sie sich noch mochten. Warum konnten sie nicht endlich einen Schritt aufeinander zu machen? Und wenn sie es nur Julia zuliebe taten. Doch der Graben, der sie trennte, war tief: In der Vergangenheit hatten die beiden heiraten wollen, doch die Krankheit von Fräulein Elisabeths Vater und der Krieg hatten ihnen einen Strich durch die Rechnung gemacht. Während eines Heimaturlaubs ihres Liebsten war Fräulein Elisabeth dann schwanger geworden. Allerdings hatte sie Herrn Falkenhayn ihre anderen Umstände verheimlicht, damit er sich an der Front nicht unnötig sorgte. Schließlich hatte das Schicksal zugeschlagen: Fräulein Elisabeth wäre bei der Geburt von Julia fast gestorben, und ihre Mutter hatte kurzerhand entschieden, das uneheliche Neugeborene wegzugeben. Auf Frau Kuhlmanns Drängen und ohne die Einwilligung von Julias Mutter, die zu diesem Zeitpunkt noch im Fieberwahn lag, war Minna mit der Kleinen nach Berlin gefahren und hatte dort die letzten Kriegsjahre mit ihr verbracht. Nur durch eine zufällige Begegnung mit Julias Vater waren auch Mutter und Tochter wieder vereint worden. Das Ganze schien inzwischen eine halbe Ewigkeit her zu sein, und letztlich war auch alles gut ausgegangen. Doch Herr Falkenhayn hatte Fräulein Elisabeth nicht verzeihen können, dass sie ihm Julias Existenz verheimlicht hatte. Und anstatt ihm Zeit zu geben, um das alles zu verarbeiten, hatte ihre starrköpfige frühere Chefin ihm die Pistole auf die Brust gesetzt und ihn zu einer Entscheidung für oder gegen sie gezwungen. Kein Wunder, dass Herr Falkenhayn da erst einmal auf Abstand gegangen war.

Noch immer schien die Situation vollkommen verfahren zu sein. Ob es da sinnvoll war, dass Fräulein Elisabeth Herrn Falkenhayn um die Erlaubnis bat, Julia in Bad Doberan einschulen zu dürfen? Wahrscheinlich würde das den Konflikt nur erneut hochkochen lassen. Bestimmt war es besser, wenn sie Fräulein Elisabeth mitteilte, dass sie ihr Angebot nicht annehmen konnte. Aber dann blieb immer noch die Frage nach ihrer zukünftigen Halbtagsbeschäftigung. Sie war einfach nicht der Typ, der sich lange auf der faulen Haut ausruhen konnte. Minna seufzte. Irgendwie schien sie sich im Kreis zu drehen. Hoffentlich kam bald der Schlaf und hielt sie von diesen nutzlosen Grübeleien ab.

Es war kurz nach Mitternacht. Johanna und Samuel hatten sich bereits in ihre Hochzeitssuite zurückgezogen. Auch die älteren Gäste waren schon zu Bett gegangen. Doch die Kapelle spielte noch, und Elisabeth genoss es, sich mit Max, einem Freund von Samuel, unter die anderen Paare zu mischen. Es war so lange her, dass ihr dieses Vergnügen vergönnt gewesen war. Zuletzt hatte sie vor dem Krieg auf einem Ball getanzt. Mit Julius. Aber daran mochte sie jetzt nicht denken. Sie wollte sich lediglich von Max im Foxtrott führen lassen. Keine sentimentalen Gedanken, nur Bewegung. Max war der perfekte Partner dafür. Er war schweigsam, aber ein guter Tänzer, und das war alles, was sie sich momentan wünschte. Sie hätte endlos so weitertanzen können.

Hinter ihrem Rücken sagte plötzlich eine dunkle Stimme: »Macht es Ihnen etwas aus, wenn ich übernehme?«

Max gab sie mit einer kleinen Verbeugung frei. Und plötzlich schwebte sie in Julius’ Armen. Ausgerechnet. Mit der friedlichen Gelassenheit und dem unschuldigen Genießen war es vorbei.

»Und mich fragst du nicht? Vielleicht will ich ja gar nicht mit dir tanzen«, sagte sie schnippisch und rückte ein wenig von ihm ab.

»Es gab mal eine Zeit, da hast du das sehr gern getan«, murmelte Julius.

Seine Bewegungen waren noch wesentlich harmonischer als die von Max, was ihr in diesem Moment alles andere als recht war. »Das ist lange her.«

»Na ja, so lange nun auch wieder nicht. Unsere Tochter ist erst fünf Jahre alt.« Er zog sie näher an sich heran.

Elisabeth blickte auf und sah in seine bernsteinfarbenen Augen, die nachdenklich auf ihr ruhten. »Was soll das, Julius? Ich will mich jetzt nicht mit dir streiten.«

»Ich auch nicht mit dir.«

»Dann fordere besser jemand anderen zum Tanzen auf.« Ihr Herz schmerzte bei diesen Worten, aber sie wollte nicht schon wieder verletzt werden. Immerhin hatte er sich von ihr abgewandt und nicht sie sich von ihm.

»Ich will aber mit niemandem außer dir tanzen.«

Es tat so gut, diese Worte zu hören. Wenn sie nur ernst gemeint gewesen wären. Aber sie wusste, dass er als Filmproduzent bei der UFA in Berlin täglich von den schönsten Filmschauspielerinnen umgeben war. Selbstverständlich würde er ihnen nicht widerstehen. Warum auch? Er war ein freier Mann. Verwunderlich war nur, dass Julia noch nie von einer anderen Frau erzählt hatte. Aber vielleicht brachte Julius seine Liebschaften nicht mit zu sich nach Hause, sondern traf sie stattdessen in einem Hotel?

»Glaubst du mir nicht?«, fragte Julius, als sie still blieb.

»Dein Privatleben geht mich nichts an.«

Julius zog sie wieder ein wenig enger an sich heran. »Warum bist du so kalt zu mir, Elisabeth? Immerhin haben wir uns einmal sehr geliebt. Glaubst du nicht, dass wir – jetzt, wo das Hotel renoviert ist – versuchen sollten, wieder besser miteinander auszukommen?«

Der vertraute Duft seiner Haut stieg ihr in die Nase und machte es noch schwerer, sich auf seine Worte zu konzentrieren. »Ich weiß nicht«, antwortete sie wahrheitsgemäß und schaffte energisch mehr Distanz zu seinem Körper.

Julius lachte leise. »Du warst schon immer sehr direkt, mein Schatz. Aber früher war es dir nicht unangenehm, dich an mich zu schmiegen.«

»Daran möchte ich mich jetzt nicht erinnern.«

»Ich aber schon. Auch wenn es wehtut. Das ist es mir wert.«

Seine Stimme klang ernst, und sie wollte ihm so gern glauben, aber der Schmerz über die Trennung saß zu tief. »Julius, bitte! Lass es gut sein. Was bezweckst du mit diesen Worten?«

»Willst du mich nicht wieder zurück in dein Leben lassen?«

Unwillkürlich blieb sie stehen. »Aber du hast damals gesagt, dass du mir nie mehr wirst vertrauen können.«

»Ich weiß, aber ich würde es trotzdem noch einmal versuchen wollen.«

»Was willst du versuchen?«

»Einen Neustart.«

Ihr Herz schlug schneller. Genau davon hatte sie geträumt. Doch auf einmal wurde sie misstrauisch. »Warum gerade jetzt, Julius? Hat Minna dir erzählt, dass ich Julia in Bad Doberan einschulen möchte?«

Über sein Gesicht flog ein Schatten. »Wie bitte?«

»Ich habe Minna gebeten, wieder als Köchin für mich zu arbeiten. Aber sie kommt nur, wenn Julia hier eingeschult wird.«

Julius’ Hände ließen sie los. »Und du hast nicht einen Augenblick daran gedacht, erst mit mir zu sprechen, bevor du einer meiner Angestellten ein solches Angebot unterbreitest?«

»Sie ist mehr als nur eine Angestellte, Julius.«

»Eben.«

»Außerdem hätte ich dich natürlich gefragt, bevor ich Julia in Bad Doberan eingeschult hätte.«

»Zu großzügig.« Seine Stimme klang kalt.

»Du brauchst gar nicht ironisch zu werden. Schließlich hat Julia bislang hauptsächlich bei dir gelebt«, verteidigte sie sich.

»Weil sie dich bei den Renovierungsarbeiten sowieso nur gestört hätte.«

»Das stimmt nicht. Du hast sie mir als Strafe vorenthalten, weil ich dir damals nichts von meiner Schwangerschaft erzählt habe!«

Sein Gesicht wurde blass. »So etwas Schäbiges würde ich nie tun.«

»Aber du denkst immer noch, dass ich dir aus niedrigen Beweggründen nicht von ihr erzählt habe?«, fragte sie aufgebracht. »Dass ich dir absichtlich wehtun wollte?«

»Nein, aber du hättest mich trotzdem informieren müssen«, beharrte Julius störrisch. »Dann wäre vieles anders gelaufen.«

»Damit du an der Front abgelenkt gewesen und totgeschossen worden wärst?«

»Blödsinn.«

Sie stampfte vor Wut mit dem Fuß auf. »Im Nachhinein ist man immer schlauer.«

»Es ist und bleibt eine Frage des Vertrauens«, meinte Julius erregt.

»So sähe also ein Neustart mit dir aus? Wunderbar! Ich verzichte dankend!« Elisabeth drehte sich um und stapfte mit blutendem Herzen davon.

2. Kapitel

»Danke, Herr Adlon, dass Sie einem Treffen zugestimmt haben«, sagte Paul und schüttelte die offerierte Hand des Generaldirektors. Auch in diesem berühmten Haus hatte es einen Generationswechsel gegeben: Lorenz Adlon, der das Hotel 1907 eröffnet und in den folgenden Jahren zu wahrhafter Größe aufgebaut hatte, war im letzten Jahr an den Folgen eines schrecklichen Unfalls gestorben. Jetzt leitete sein skandalumwitterter Sohn Louis die Geschäfte, der vor Kurzem seine Frau und die gemeinsamen fünf Kinder verlassen hatte, um eine reiche Deutschamerikanerin namens Hedda zu ehelichen.

»Aber gern, Herr Kuhlmann. Wir Hoteliers müssen in diesen schwierigen Zeiten zusammenhalten. Und obwohl Ihr Vater uns damals mit Herrn Brandmüller einen ganz hervorragenden Koch abgeluchst hat, habe ich ihn immer sehr geschätzt. Also, womit kann ich dienen?«

»Nun, ich …«, begann Paul. Es fiel ihm schwer, sein Anliegen auszusprechen, denn eigentlich hätte er ja genau wie Louis Adlon der Nachfolger seines verstorbenen Vaters sein sollen. Nur dass in seinem Fall das Hotel aus verschiedenen Gründen von seiner jüngeren Schwester Elisabeth geleitet wurde: Anfänglich hatte er sich vor der ihm durch das Geburtsrecht aufgebürdeten Verantwortung gedrückt, und jetzt musste er leider zugeben, dass sie für diese Aufgabe schlichtweg besser geeignet war.

»Ja?«, hakte Herr Adlon nach. Es war offensichtlich, dass dringliche Geschäfte auf ihn warteten.

»Es geht um Folgendes … Vor dem Krieg habe ich mich hauptsächlich um die Kulturveranstaltungen bei uns im Palais und im Grand Hotel Heiligendamm gekümmert. Konzerte, Modenschauen und sogar Theateraufführungen. Die bekanntesten Künstler der Welt sind bei uns aufgetreten. Doch leider haben wir uns noch nicht von den Kriegsjahren erholt. Uns bleiben momentan die Gäste aus. Deshalb suche ich eine vergleichbare Aufgabe in Berlin. Und da dachte ich …«

Herr Adlon hob die Hand. »… dass bei uns ein solcher Posten zu besetzen wäre?«

»Genau«, erwiderte Paul erleichtert.

»Nun, wir sitzen leider alle im selben Boot, mein Lieber. Auch bei uns hat sich die Gästezusammensetzung dramatisch verändert. Früher haben uns der Kaiser, seine Hofgesellschaft und das Großbürgertum beehrt und hier rauschende Feste gefeiert. Doch diese Zeiten sind vorbei. Jetzt quartieren sich vor allem wohlhabende amerikanische Touristen bei uns ein, die Berlin und Umgebung besichtigen wollen.«

»Amerikaner?«

Louis Adlon nickte. »Ja, 1919 hatte das amerikanische Militär sein Hauptquartier bei uns aufgeschlagen. Als die Soldaten in die Heimat zurückgekehrt sind, müssen sie ihren Liebsten vom Adlon vorgeschwärmt haben. Und nun verzeichnen wir einen regelrechten Ansturm von Buchungen aus den Vereinigten Staaten.«

Paul schöpfte neue Hoffnung. »Aber das ist doch fantastisch. Bestimmt sind Ihre Gäste auch an deutscher Kunst interessiert. Ich könnte zum Beispiel einen Brahms-Abend organisieren und …«

Sein Gegenüber seufzte. »Es tut mir so leid, aber bei uns liegt die Kultur ja unmittelbar vor der Tür. Die Amerikaner gehen lieber in die Staatsoper oder hören sich die Berliner Philharmoniker an, als dass sie unseren Bankettsaal bevölkern.«

»Sie haben also keine Verwendung für einen Kulturdirektor?«

»Leider nein. Aber ich kann mich gern einmal bei einigen Kollegen umhören. Obwohl ich Ihnen keine falschen Hoffnungen machen möchte. Die meisten leiden noch unter den Folgen des Krieges und können sich den Luxus eines Kulturdirektors wahrscheinlich auch nicht leisten. Allerdings habe ich gehört, dass einige Hoteliers, deren Söhne gefallen sind, nach jungem, engagiertem Nachwuchs Ausschau halten.«

»Vielen Dank. Warum nicht? Das wäre sehr großzügig von Ihnen«, stammelte Paul verlegen. Allein bei der Vorstellung, ein ihm vollkommen unbekanntes Hotel leiten zu müssen, womöglich noch unter der strengen Aufsicht des Besitzers, wurde ihm mulmig zumute. Aber das wollte er dem sehr selbstsicher wirkenden Herrn Adlon lieber nicht auf die Nase binden.

Nach einer freundlichen Verabschiedung stand Paul unschlüssig vor dem imposanten Hotelgebäude am Pariser Platz. Was nun? Sollte er unmittelbar zum Hotel Kaiserhof gehen und sich möglicherweise eine weitere Abfuhr einhandeln? Oder sollte er sich zunächst mit einem guten Mittagessen stärken? Da der Fürstenhof, das Hotel seines Onkels, inzwischen pleitegegangen war, hatte er bei Johanna und Samuel unterschlüpfen müssen, die in einer schönen, hellen Wohnung ganz in der Nähe logierten. Sicherlich würde ihm Johanna etwas Gutes auftischen, aber er wollte sich lieber nach Robert umsehen. Kurz entschlossen machte er auf dem Absatz kehrt und betrat das vornehme Restaurant des Adlons. Der Maître d’, ein hochgewachsener, eleganter Mann, führte ihn zu einem Tisch am Fenster und winkte beflissen einen Kellner herbei. Nach einem kurzen Blick in die Karte bestellte Paul eine der Spezialitäten, Kalbssteak Adlon, und ein Viertel Riesling. Während er unter dem Tisch nervös mit den Füßen wippte, blickte er sich um. Jedes Mal, wenn der Hinterkopf eines blonden Kellners in sein Sichtfeld kam, beschleunigte sich sein Puls. Und dann immer wieder die Enttäuschung, wenn dieser sich umdrehte und nicht Robert war. Bis das Essen serviert wurde, war Paul bereits tausend Tode gestorben, und selbst die exzellente Zubereitung des Kalbssteaks, das mit Rührei sowie gebratenen Kalbsnierenscheiben bedeckt war und in einer leichten Madeirasauce serviert wurde, konnte ihn nicht über diese Tiefschläge hinwegtrösten.

Schließlich fand sich Paul erneut auf dem Prachtboulevard Unter den Linden wieder und blinzelte traurig in die Sonne. Es war inzwischen Anfang März, und wenigstens der Frühling zeigte sich von seiner schönsten Seite. Die Schneeglöckchen, Haselnussbäume und Weidenkätzchen blühten, und die Tage wurden wieder länger. Am besten, er legte die kurze Strecke bis zum Kaiserhof zu Fuß zurück. Leider hatte er zum dortigen Generaldirektor keinen persönlichen Kontakt. Paul musste es also darauf ankommen lassen, dass auch diesem das Palais Heiligendamm und der Name Kuhlmann geläufig waren. Als er fünfzehn Minuten später das Hotel betrat, das unmittelbar gegenüber der Reichskanzlei lag, war er enttäuscht. Die Einrichtung wirkte eher behäbig als glanzvoll, und es war offensichtlich, dass das Adlon dem Kaiserhof den Rang als erstes Haus am Platz abgelaufen hatte.

Paul durchquerte die große, düstere Eingangshalle und wandte sich an den korpulenten Empfangschef, dessen Namensschild ihn als Herrn Burger auswies. »Entschuldigung, mein Name ist Paul Kuhlmann vom Hotel Palais Heiligendamm in Bad Doberan, und ich hätte gern Ihren Hoteldirektor gesprochen.«

»In welcher Angelegenheit?«, erkundigte sich Herr Burger kühl.

»Es geht um eine Stellung in Ihrem Hotel.«

Der Empfangschef musterte ihn eingehend. Natürlich blieb sein Blick an Pauls künstlicher Hand hängen. Vielen Menschen erging es ähnlich, allerdings versuchten die meisten, ihr morbides Interesse zu vertuschen. Herr Burger unternahm keinerlei Anstrengungen in dieser Hinsicht. Stattdessen fragte er: »Haben Sie einen Termin?«

Paul schüttelte den Kopf. Er hasste es, als Bittsteller aufzutreten. Was hätte Vater nur dazu gesagt, dass er sich inzwischen unbekannten Menschen anbiedern musste? Und alles nur wegen Helene.

»Der Generaldirektor ist momentan außer Haus. Aber wenn Sie mir Ihre Karte dalassen, wird er sich bei Ihnen melden.«

Wie ein gewöhnlicher Vertreter war er gezwungen, seine Karte hervorzukramen und sie dem Empfangschef in die Hand zu drücken. »Danke schön.«

Herr Burger nickte knapp. Dann wandte er sich einem wartenden Gast zu und überließ Paul sich selbst. Wie erniedrigend. Im Palais behandelten ihn selbst Angehörige der besten Gesellschaft respektvoller. Doch wenn er schon einmal da war, würde er sich auch im Restaurant des Kaiserhofs nach Robert umsehen. Da er unmöglich noch einmal zu Mittag essen konnte – nicht nur wegen seines vollen Magens, sondern auch wegen seines leeren Portemonnaies –, fragte er diesmal lediglich den Maître d’, ob ein Kellner namens Robert Breitschneider für ihn arbeite. Mit einem verwunderten Blick wurde seine Frage verneint, woraufhin er enttäuscht das Feld räumte.

Es war ein Tag voller Niederlagen gewesen, und das Letzte, worauf er jetzt Lust hatte, war, am häuslichen Glück seiner frischverheirateten Schwester teilzunehmen. Das wäre mehr gewesen, als er ertragen konnte. Doch was sollte er sonst unternehmen? Er konnte schließlich nicht bis zur Schlafenszeit allein durch Berlin irren. Plötzlich kam ihm eine Idee. Das Einzige, das halbwegs an seine Liebe zu Robert heranreichte, war seine Liebe zur Musik. Früher hatte er sich dieses Vergnügen selbst verschaffen können: In seinen eigenen Augen war er ein leidlich guter Pianist gewesen. Aber seitdem sein linker Unterarm amputiert worden war, war an Klavierspielen nicht mehr zu denken. Doch warum sollte er sich an diesem schrecklichen Tag nicht von der Musik trösten lassen? Eine Karte für die Philharmonie konnte er sich gerade noch leisten, und bis zur Einlasszeit könnte er noch weitere Restaurants nach Robert abklappern. Er musste nur Johanna vorher Bescheid geben. Suchend blickte er sich nach einem Münzfernsprecher um.

Heute war nicht sein Tag. Nachdem er extra nach Kreuzberg gefahren war, um sich eine Karte für die Philharmonie zu kaufen, hatte er dort in Erfahrung gebracht, dass das Orchester mit seinem neuen Chefdirigenten, dem erst sechsunddreißigjährigen Wilhelm Furtwängler, noch probte und sie erst im Herbst Konzerte geben würden. Dabei hatte er so gehofft, sich endlich mit eigenen Ohren von Furtwänglers Talent überzeugen zu können. Dessen Vorgänger, der von Paul hochverehrte Arthur Nikisch, war im Januar an einer Grippe verstorben, und er konnte sich nicht vorstellen, dass Furtwängler nahtlos an dessen international anerkannte Leistungen würde anknüpfen können. Nie zuvor hatte Paul eine solch romantische und sinnliche Interpretation von Bruckners sechster Sinfonie gehört wie bei Nikisch. Damals, als er, noch vor dem Krieg, mit seinen Eltern die Philharmonie besucht hatte, waren ihm vor Glück Tränen über die Wangen gelaufen. Musikgenuss in reinster Form, von Nikisch in seiner ruhigen, sparsamen Gestik dirigiert. Doch seine Neugierde musste er sich für ein anderes Mal aufsparen.

Stattdessen beschloss er, in die Staatsoper zu gehen, in der heute Die Zauberflöte aufgeführt wurde. Etwas langweilig, aber besser als gar keine Musik. Nachdem er sich einen Logenplatz gesichert hatte und nach Charlottenburg gefahren war, schlenderte er den Kurfürstendamm entlang und suchte in jedem der dortigen Restaurants nach Robert. Dabei tat er jedes Mal so, als würde er nach einem speziellen Gast Ausschau halten, während er verschämt das Heer der Kellner betrachtete und abzuschätzen versuchte, wie viele von ihnen sich noch in der Küche aufhalten mochten. Selbstverständlich verliefen alle diese Anstrengungen im Sande. Irgendwann würde er sich eingestehen müssen, dass Robert nicht in Berlin weilte. Vielleicht war er tatsächlich nach Amerika ausgewandert, wie sie es früher gemeinsam vorgehabt hatten. Dann würde er ihn niemals wiedersehen. Eine traurige Vorstellung.

Abgekämpft und staubig fand er sich um Punkt sieben Uhr in der Preußischen Staatsoper ein. Es war das erste Mal, dass er in einem Straßenanzug und nicht im Frack in die Oper ging, doch in seiner jetzigen Verfassung hatte er nicht vorher noch Johannas Wohnung aufsuchen wollen, um sich umzuziehen. Bestimmt hätte seine Schwester ihm die Hoffnungslosigkeit angesehen und ihn nach allen Regeln der Kunst ausgefragt. Vielleicht hätte sie aus Sorge um ihn sogar seinen Opernbesuch verhindert. Nein, da blieb er lieber so, wie er war, obwohl er sich für seinen unangemessenen Aufzug schämte. Hoffentlich traf er niemanden, den er kannte.

Nachdem er seinen Mantel in der Garderobe abgegeben hatte, stieg er mit gesenktem Kopf die Treppe hoch und ging zu seinem Platz. Normalerweise war er vor einer Aufführung voller Vorfreude. Aber diesmal erwartete er nichts Spektakuläres. Die Zauberflöte war eine der weltweit am meisten gespielten Opern, und jedes Kind konnte Mozarts bekannte Melodien pfeifen. Für seinen Geschmack spulten viele Musiker und Sänger die in- und auswendig beherrschten Partituren zu routiniert ab. Doch das elegante, vertraute Ambiente der Staatsoper umfing ihn wie die Umarmung eines alten Freundes, und die Sicht von seinem Logenplatz auf die Bühne war gut. Er empfand es als glückliche Fügung, dass die Staatsoper an diesem Abend nicht ausverkauft war und die Plätze neben ihm nur spärlich besetzt waren. Nichts war schlimmer, als wenn irgendwelche Kulturbanausen während der Vorstellung mit ihren Programmheften raschelten. Lediglich auf den billigeren Rängen herrschte eine drangvolle Enge.

Kurz darauf gingen die Lichter aus, und die Ouvertüre begann. Entspannt lehnte sich Paul in seinem gepolsterten Sitz zurück und genoss die orchestrale Fülle der Musik. Es war so lange her, dass er eine öffentliche Veranstaltung besucht hatte. Seit seiner Hochzeit bestimmte Helene über sein Leben, und leider hielt sie Konzerte und Opern für überflüssigen Luxus. Auch das Malen gestattete sie ihm nicht mehr, dabei hatte sie ihn früher selbst dazu ermutigt. Er litt unter diesen Einschränkungen. Irgendwie würde er ihr klarmachen müssen, dass er ohne ein Ventil für seine kreativen Fähigkeiten nicht leben konnte. Nach seiner Rückkehr ins Palais würde er versuchen, mit ihr darüber zu reden … obwohl er sich vor solchen Auseinandersetzungen scheute, da meistens seine Ehefrau die Oberhand behielt.

Der rote Samtvorhang hob sich und gab den Blick auf den ersten Akt mit Tamino und den drei Damen frei. Die farbenfrohen Kostüme und das opulente Bühnenbild waren eine Augenweide. Obwohl Paul jede Passage kannte, verlor er sich in der Musik. Als Papageno seine Arie ›Der Vogelfänger bin ich ja‹ sang, dirigierte er die Harmonien mit. Bei der folgenden Arie ›Dies Bildnis ist bezaubernd schön‹, die von Sehnsucht und Liebe handelte, musste er unwillkürlich an Robert denken und hätte am liebsten mit dem Sänger mitgeseufzt. Schließlich sang die Königin der Nacht ›Zum Leiden bin ich auserkoren‹, und Pauls Augen wurden feucht, obwohl die Koloraturen ihrer Sopranstimme seiner Meinung nach etwas flach waren.

Es geschah, als die Bühne nach der simulierten Nacht wieder erhellt wurde. Ein Lichtschimmer fiel auf einen hellblonden Schopf in den hinteren Rängen und zog Pauls Blick magnetisch an. War das nicht genau die gleiche Haarfarbe? Dieselbe edle Kopfform? Unwillkürlich hielt er den Atem an. Die Oper wurde zur Nebensache. Stattdessen starrte er wie hypnotisiert auf den blonden Herrn, der ihm leider den Rücken zugewandt hatte, und betete, dass dieser den Kopf zur Seite drehen möge. Nur ein paar Minuten später wurde sein Flehen erhört! Der Anblick des bekannten Profils durchfuhr Paul wie ein Stromstoß: Dort unten saß Robert!

Vom Rest der Aufführung bekam Paul nichts mehr mit. Mit klopfendem Herzen verfolgte er stattdessen jede noch so winzige Bewegung seines Angebeteten. Innerlich ging er seine Möglichkeiten durch: Sollte er ihn gleich in der Pause im Foyer ansprechen und auf ein Glas Champagner einladen? Oder war es besser, bis zum Ende der Vorstellung zu warten? Und wie sollte er sich geben? Kühl und distanziert, oder sollte er ihm umgehend seine wahren Gefühle offenbaren? Zumindest die erste Frage erübrigte sich. Robert blieb während der gesamten Pause auf seinem Platz sitzen und unterhielt sich mit seinem Sitznachbarn, einem jüngeren dunkelhaarigen Herrn. Eifersüchtig registrierte Paul jede Geste, jedes Lachen der beiden. Dann rief er sich selbst zur Vernunft. Warum sollte Robert nicht mit ihm plaudern? Es war lächerlich, etwas Bedeutungsvolleres in diese wohl eher zufällige Unterhaltung hineinzuinterpretieren.