Palais Heiligendamm - Ein neuer Anfang - Michaela Grünig - E-Book
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Palais Heiligendamm - Ein neuer Anfang E-Book

Michaela Grünig

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Beschreibung

Heiligendamm, 1912: Die Berliner Hotelierfamilie Kuhlmann hat große Pläne, man will dem berühmten Grand Hotel Konkurrenz machen. Doch die High Society steigt lieber weiter bei dem etablierten Rivalen ab. In dieser schweren Zeit zeigt ausgerechnet die junge Tochter Elisabeth kaufmännisches Geschick, während sich der sensible Sohn Paul für Musik begeistert. Vater Kuhlmann sieht sich gezwungen, den Emporkömmling Julius Falkenhayn um Hilfe zu bitten. Und der hegt recht unkonventionelle Ansichten ...

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Seitenzahl: 786

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Inhalt

CoverÜber dieses BuchÜber die AutorinTitelImpressumPersonenverzeichnis1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. Kapitel25. Kapitel26. Kapitel27. Kapitel28. Kapitel

Über dieses Buch

Heiligendamm, 1912: Die Berliner Hotelierfamilie Kuhlmann hat große Pläne, man will dem berühmten Grand Hotel Konkurrenz machen. Doch die High Society steigt lieber weiter bei dem etablierten Rivalen ab. In dieser schweren Zeit zeigt ausgerechnet die junge Tochter Elisabeth kaufmännisches Geschick, während sich der sensible Sohn Paul für Musik begeistert. Vater Kuhlmann sieht sich gezwungen, den Emporkömmling Julius Falkenhayn um Hilfe zu bitten. Und der hegt recht unkonventionelle Ansichten …

Über die Autorin

Michaela Grünig, geboren und seelisch beheimatet in Köln, war lange Jahre im Ausland tätig. Dort kam sie nicht nur mit interessanten Menschen und ihren Geschichten zusammen, sie entdeckte auch ihre große Liebe zum Reisen. Seit 2010 hat sie ihr Hobby, das Schreiben, zum Beruf gemacht. Zusammen mit ihrer Familie und vielen Tieren lebt sie in der Westschweiz.

MICHAELA GRÜNIG

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Originalausgabe

Copyright © 2020/2024 by Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6 – 20, 51063 Köln

Vervielfältigungen dieses Werkes für das Text- und Data-Mining bleiben vorbehalten.

Textredaktion: Claudia Schlottmann, Berlin

Umschlaggestaltung: Johannes Wiebel | punchdesign, München

Unter Verwendung von Motiven von© shutterstock: Inga Dudkina | Digiselector |SCOTTCHAN | vata | Sina Ettmer Photography | Randy Pr

eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7325-9450-4

luebbe.de

lesejury.de

Personenverzeichnis

Heinrich Kuhlmann, Familienoberhaupt und Besitzer des Palais Heiligendamm

Ottilie Kuhlmann, geb. von Wenzel, Heinrichs Frau

Friedrich Kuhlmann, erster Sohn und Arzt in Berlin

Johanna Kuhlmann, erste Tochter

Paul Kuhlmann, jüngerer Sohn

Elisabeth Kuhlmann, zweite Tochter

Luise Kuhlmann, dritte Tochter

Graf von Seitz, Industrieller und Mitglied der Deutschen Kolonialgesellschaft

Julius Falkenhayn, Sekretär des Grafen von Seitz

Dr. Samuel Hirsch, Kinderarzt

Franz Brandmüller, Chefkoch des Palais Heiligendamm

Robert Breitschneider, Oberkellner

Liese Kolbert, Zofe

Bertha, 1. Stubenmädchen

Minna, 2. Stubenmädchen

1. Kapitel

Doberan, Sommer 1912

Es war noch früh am Morgen, als Elisabeth die Augen aufschlug. Die ersten Sonnenstrahlen schienen durch einen Spalt in dem schweren Brokatvorhang und malten hell tanzende Punkte auf die gegenüberliegende Wand. Durch das geöffnete Fenster hörte sie das melodische Läuten des Münsters, das ihr immer noch ein wenig fremd vorkam. Eigentlich war sie von Kindesbeinen an die Geräusche der Großstadt gewohnt. Erst vor kurzem war sie mit ihrer Mutter und ihren Schwestern aus der hektischen Reichshauptstadt Berlin in das von hellen Buchenwäldern und Moor umgebene Doberan gezogen, wo ihr Vater bereits vor einem Jahr das luxuriöse Hotel Palais Heiligendamm eröffnet hatte. In dem idyllischen Ort gab es weder hupende Automobile noch laute Straßenhändler. Hier wehte ihr keine benzingeschwängerte Luft um die Nase, sondern eine salzig-frische Brise, die erahnen ließ, dass der Ostseestrand mit dem tiefblauen Meer und den bunten Strandkörben nur knapp sechs Kilometer entfernt lag.

Plötzlich hielt es Elisabeth nicht länger in ihrem Bett. Mit einem vorsichtigen Blick auf ihre jüngere Schwester Luise, die, das Gesicht umrahmt von blonden Locken, auf der anderen Seite des Zimmers schlief, stand sie auf und zog sich an. Ihr bodenlanges Kleid raschelte verräterisch, als sie auf Zehenspitzen zur Tür schlich. Die Klinke knarrte beim Herunterdrücken. Für einen Moment hielt Elisabeth inne. Doch ihre Schwester rührte sich nicht. Erleichtert stahl sich Elisabeth auf den Korridor der Privatwohnung ihrer Eltern, die im ersten Stock des Hotels lag. Dort schluckten die weichen Teppiche ihre Schritte, und nur der auf seinem Pferd sitzende Großherzog Friedrich Franz I., in dunkler Ölfarbe gemalt, blickte missbilligend auf sie herab. Ihrer Mutter gefielen diese morgendlichen Streifzüge nicht, und so war es Elisabeth eigentlich verboten, sich um diese Uhrzeit im Hotel herumzutreiben.

Warum nur, dachte sie. Was soll verkehrt daran sein, dass ich etwas über das Gewerbe meines Vaters lernen will? Weshalb muss ich mit neunzehn Jahren meine Zeit mit langweiligen Stickarbeiten und Musikstunden verschwenden? Kann sich meine Mutter nicht darüber freuen, dass ich etwas Sinnvolles tun möchte?

Allein bei dem Gedanken an das geschäftige Treiben im Hotel verspürte Elisabeth ein verheißungsvolles Kribbeln im Bauch. Sie hatte diese Atmosphäre schon im Berliner Fürstenhofgeliebt, den ihr Vater früher gemeinsam mit seinem Bruder betrieben hatte und der jetzt von ihrem Onkel Hans allein weitergeführt wurde. Aber wie viel aufregender war es, wenn der emsige Bienenkorb der eigenen Familie gehörte? Erst neulich hatte ihr Vater mit viel Pathos am Mittagstisch verkündet, dass das zukünftige Schicksal der Familie Kuhlmann aufs Engste mit dem des Palais verknüpft sei. Wie hätte ihr da das Hotelgeschehen egal sein können?

Als sie an der Tür des privaten Speisezimmers der Familie vorbeiging, hörte sie das sachte Klappern von Porzellan. Himmel, die Stubenmädchen deckten bereits den Frühstückstisch. Elisabeth eilte noch ein wenig rascher den Korridor entlang. Wenn sie auf den letzten Metern doch noch Mutters Zofe in die Arme lief, würde sie dem von ihr so bewunderten Chefkoch nicht bei der Arbeit zusehen können. Dabei standen heute ganz besonders erlesene Speisen auf der Karte.

Wenig später hatte sie die Privaträume ihrer Familie verlassen und schritt voller Vorfreude die Stufen der Haupttreppe hinunter, die in einem großen Bogen ins Foyer führte. Die lichtdurchflutete Eingangshalle war ein magischer Ort. Elegant und aufregend. Noch hatten keine königlichen Häupter auf den blütenweißen Kissen der Suiten geruht, so wie im nahe gelegenen Grand Hotel in Heiligendamm. Aber niemand konnte den nach Doberan reisenden Adeligen, Industriellen und Großgrundbesitzern ihre Zugehörigkeit zur oberen Gesellschaftsschicht absprechen. Die Damen, alt wie jung, führten hier ihre feinsten Kleider vor, die sie mehrmals am Tag wechselten. Delikate Parfümwolken vermischten sich mit dem herben Cologne der männlichen Gäste. Die Herren standen ihren Begleiterinnen in Bezug auf Geschmack in nichts nach. Im Foyer trafen sie alle aufeinander. Auf den samtigen Sofas wurden verstohlene Blicke und intime Geschichten ausgetauscht. Man stellte sich vor oder rauschte auf dem Weg zum Empfangstresen grußlos aneinander vorbei. Je nach Temperament und Standesdünkel. Es war ein Kommen und Gehen, ein sorgfältig orchestriertes Schauspiel wie auf einer Bühne, an dem sich Elisabeth niemals sattsehen würde.

Um diese frühe Uhrzeit war die Eingangshalle allerdings verwaist. Statt nach Parfüm duftete es nach frischem Bohnerwachs. Die Gäste schliefen noch, nur das Personal wuselte bereits herum. Dienstmädchen in weißen Hauben und mit buschig-fedrigen Wedeln bewaffnet, staubten die Lampen, Bronzeskulpturen und sonstigen Kostbarkeiten ab. Andere polierten die silbernen Kerzenhalter und Aschenbecher.

Der Empfangschef, Herr Walter, hatte wie jeden Morgen die fünf livrierten Pagen antreten lassen und kontrollierte – die Reihe wie ein Feldmarschall abschreitend – das makellose Weiß ihrer Handschuhe.

»Guten Morgen, gnädiges Fräulein«, grüßte er, als er Elisabeth erblickte.

Doch bevor sie »Wohin des Weges?« gefragt werden konnte, war sie schon mit einem höflichen Nicken an ihm vorbeigehuscht und in den mit schlanken Säulen gesäumten Gang zum Speisesaal eingebogen. Eigentlich unterhielt sie sich gern mit dem Empfangschef, der einen schmalen, mit viel Pomade in Form gebrachten Oberlippenbart trug. Der gute Mann war ein wandelndes Lexikon. Egal, was Elisabeth ihn fragte, er kannte die Antwort. Das lag an seiner jahrzehntelangen Erfahrung im Hotelgewerbe. Herr Walter war der einzige Angestellte, den Vater aus dem Fürstenhofmitgebracht hatte, da er ein »Ausbund an Diskretion« sei. Und tatsächlich hatte sie schon öfter mitbekommen, wie der Empfangschef dem Maître d’hôtel, der für das Restaurant zuständig war, sehr präzise Anweisungen gegeben hatte: welche zerstrittenen Parteien auf keinen Fall zu nah nebeneinandersitzen durften oder wem an einem bestimmten Tisch die Ehre zuteilwerden musste, als Erster bedient zu werden. Außerdem kümmerte er sich um die ausgefallensten Wünsche der Hotelgäste, sorgte dafür, dass ein Abendkleid kunstvoll geflickt oder ein zahmer Papagei untergebracht wurde.

Doch heute würde Herr Walter sie ganz gewiss wieder nach oben schicken, denn ihre Mutter hatte auch mit ihm ein ernstes Wort gesprochen. Ach, warum war sie nur als Mädchen geboren worden? Für ihre älteren Brüder war alles einfacher. Wenn einer von ihnen auch nur das geringste Interesse am Hotelwesen gehabt hätte, er wäre schon längst nach Lausanne geschickt worden. Dort, in der Schweiz, wurden die Besten der Branche ausgebildet. Doch weder Friedrich, der in Berlin Medizin studiert hatte, noch Paul, der von Vater gegen seinen Willen zum Juniorchef des Palais erkoren worden war, drängte es in die Hotelfachschule. Paul weigerte sich sogar regelrecht, obwohl Vater ihn immer wieder zu überreden versuchte.

Mit Schwung drückte Elisabeth die gläserne Flügeltür zum Speisesaal auf, in dem ab sieben Uhr dreißig das Frühstück serviert wurde. In dem großen Raum mit den hohen Sprossenfenstern deckte gerade ein ganzes Heer von Pinguin-Kellnern die Tische ein. Das Wort »Pinguin-Kellner« stammte von ihrer Schwester Luise, die als kleines Kind die drollig watschelnden Vögel im Berliner Zoo gesehen und sofort mit den Frack tragenden Obern in Verbindung gebracht hatte. Im Palais Heiligendamm wurde beim Eindecken mit einem Holzlineal gearbeitet, damit die silbernen Gabeln, Messer und Löffel im richtigen Abstand zueinander und zum Meissener Porzellan lagen.

Mit kritischem Blick beäugte Elisabeth die Tische. Hatten die Pinguine auch wirklich an alles gedacht? Stand jede der mit drei Rosen bestückten Vasen genau mittig? Neigte sich keine der zu Lilien gefalteten Servietten traurig zur Seite? Ihrem Vater hatte sie schon früh abgeschaut, dass man als Hotelier ein unbestechliches Auge haben musste, dem keine Kleinigkeit entging. Und prompt entdeckte sie zwei Fehler.

»Robert?«, rief sie.

»Ja, bitte, gnädiges Fräulein?« Der hochgewachsene, hellblonde Oberkellner, der gerade die Tische auf der Fensterseite kontrollierte, drehte sich dienstbeflissen um. Seine markanten Züge wurden von einem hinreißenden Lächeln erhellt. Kein Wunder, dass Luise heimlich in ihn verliebt war und jedes Mal rot wurde, wenn sie ihn erblickte. Sie selbst ließ sich allerdings nicht von solchen Äußerlichkeiten blenden.

»Auf Tisch einunddreißig fehlt die Zuckerdose.«

Roberts Blick flog zu dem Zweiertisch direkt neben dem Eingang. »Herzlichen Dank, gnädiges Fräulein. Das werde ich sofort beheben.«

»Und auf Tisch vierzehn müssen die Blumen erneuert werden. Sie sind schon fast verblüht.«

»Selbstverständlich.« Er nickte ihr freundlich zu und wies einen der Unterkellner an, die gefundenen Mängel zu beseitigen.

Von einer stolzen Zufriedenheit erfüllt, wandte Elisabeth sich um und marschierte in Richtung des eigentlichen Ziels ihrer morgendlichen Tour: die Küche.

Hinter dem Speisesaal lag ebenerdig lediglich ein Vorraum, in dem die dampfenden Speisen vom Servierpersonal in Empfang genommen wurden. Sie gelangten mithilfe eines von Hand betriebenen Aufzugs dorthin und wurden so rasch wie möglich von den Pinguinen zu den Tischen gebracht. Die eigentliche Hotelküche lag eine Etage tiefer. Dort unten begann der verborgene Kosmos des Hotels. Der Teil, den die Gäste nicht zu Gesicht bekamen und der doch irgendwie das Herzstück desPalais bildete. Hier befanden sich die hoteleigene Wäscherei mit dem angrenzenden Bügelzimmer, die Nähstube, der Weinkeller, die Vorratsräume und die Backstube, in der neben Brot auch diverse Torten und andere köstlich-zuckrige Nachtische hergestellt wurden. Eine Gesindetreppe erlaubte den Stubenmädchen, von dort ungesehen zu den Zimmern und Suiten zu gelangen, die sie rein zuhalten hatten. Außerdem führte die Treppe zum Dachboden, wo die Bediensteten in kleinen Kammern schliefen, selbstverständlich streng nach Geschlechtern getrennt.

In den dunklen Kellergängen herrschte reger Betrieb. Wie in einem Ameisenhaufen lief das Personal auf und ab, jeder und jede mit einer speziellen Aufgabe betraut. Weiß beschürzte Küchenhilfen schleppten säckeweise Kartoffeln, Zwiebeln und andere Zutaten heran, Hilfsköche trugen bereits fertiggestellte Speisen zur Lagerung in den Kühlraum.

Im Vorbeigehen wichen sie Elisabeth geschickt aus. »Guten Morgen, gnädiges Fräulein« schallte es ihr vielstimmig entgegen. Der Durchgang zur Küche war offen. Dahinter regierte Herr Brandmüller. Mit seiner hohen weißen Mütze und der blütenweißen Kochjacke, die über seinem Bauch ziemlich spannte, wirkte er wie ein ganz normaler Koch. Doch der bullige Mann, dessen rote Wangen von bläulichen Äderchen durchzogen waren und der nie zu lächeln schien, war ein Genie. Ihr Vater hatte tief in die Tasche greifen müssen, um ihn seiner früheren Dienststelle, dem Hotel Adlon in Berlin, abspenstig zu machen. Herr Brandmüller war es wert. Niemand bereitete Austern, Hummer und Trüffel so gekonnt zu wie er. Seine Fleischgerichte und Soßen waren ein Gedicht, und sogar die einheimischen Gäste liebten seinen mit Äpfeln und Rosinen gefüllten Mecklenburger Rippenbraten. Aber natürlich wusste er auch mit so exotischen Gerichten wie Antilopenkopf und Elefantenfuß umzugehen.

Elisabeth, die sich nach dem Eintreten ehrfurchtsvoll an die gekachelte Wand gedrückt hatte, beobachtete fasziniert, wie der Koch inmitten seiner Souschefs agierte. Obwohl es noch früh am Morgen war, wurden unter seinen knappen Anweisungen bereits Braten mit Speck und Gewürzen gespickt, Tauben gefüllt und Lammrücken mit einer dicken Schicht Kräuterpaste bestrichen. An einem langen Holztisch im hinteren Teil des Raums schälten die Küchenhilfen Berge von Kartoffeln, putzten Rüben, entschuppten Fische und rupften Geflügel. In absoluter Stille. Herr Brandmüller duldete kein unnützes Geschwätz in seiner Küche. Auch nicht bei den Spülfrauen, die den ganzen Tag lang gebrauchtes Geschirr und Küchengerät in großen Becken mit viel heißem Wasser reinschrubbten. Wer sich nicht an seine Anordnungen hielt, bekam schon mal eins mit dem Kochlöffel auf die Finger. Überhaupt konnte Herr Brandmüller sehr ungehalten werden, wenn Arbeiten nicht zu seiner Zufriedenheit ausgeführt wurden. Seit seiner Ankunft hatten deshalb schon einige Mitarbeiter das Handtuch geworfen. Doch Elisabeths Vater machte sich deswegen keine Sorgen. Wo gehobelt wird, fallen Späne, hatte er zu ihr gesagt. Bis auf den Chefkoch sei schließlich jeder in der Küche ersetzbar.

Inzwischen hatten zwei weitere Köche begonnen, verschiedene Eierspeisen zuzubereiten und in großen gusseisernen Pfannen Speck zu braten. Das musste bedeuten, dass die ersten Gäste schon im Speisesaal auf ihr Frühstück warteten und es höchste Zeit für Elisabeth war, zu ihrer Familie zurückzukehren.

Sie wollte sich gerade schweren Herzens vom Anblick des blitzschnell herabsausenden Messers losreißen, mit dem einer der Souschefs Zwiebeln in hauchdünne Scheiben schnitt, als sie ein verdächtiges Getrappel im Kellergang hörte.

»Der Herr Generaldirektor ist im Anmarsch«, zischte ein Küchenjunge im Vorbeilaufen durch die offene Tür.

Wie bitte? Hatte Mutter ihr Fehlen bemerkt und war dermaßen zornig, dass sie sogar ihren Vater schickte, um die widerspenstige Tochter zur Ordnung zu rufen?

Elisabeth zögerte keine Sekunde. Wenn Herr Brandmüller mitbekäme, dass ihre Besuche in seinem Reich von ihren Eltern nicht gutgeheißen wurden, dürfte sie nie wieder als stille Zuschauerin an seinem meisterhaften Kochspektakel teilnehmen. Mit schnellen Schritten strebte sie dem hinteren Ausgang zu, der auf direktem Weg zur Gesindetreppe führte. Außer Sichtweite rannte Elisabeth hastig einige der Stufen nach oben und lauschte angestrengt.

Es war Rettung in letzter Minute gewesen, denn aus der Küche konnte sie bereits die sonore Stimme ihres Vaters vernehmen. Ob er sich bei Herrn Brandmüller nach ihrem Verbleib erkundigen würde? Ausgeschlossen. Diese Blöße würde er sich nicht geben.

Elisabeth tippte darauf, dass ihr Vater, wenn er sie nicht finden konnte, unverrichteter Dinge wieder nach oben marschieren würde. Wenn sie also eine unschöne Begegnung im Foyer oder im Speisesaal vermeiden wollte, gab es keine andere Möglichkeit, als die Gesindetreppe weiter hochzugehen und durch eine der geheimen Türen in den ersten Stock zu schlüpfen.

Elisabeths Herz klopfte, als sie nach einiger Zeit entschied, rechts abzubiegen. War das hier schon die richtige Etage? Vor lauter Aufregung hatte sie vergessen, die Absätze zu zählen. Atemlos hielt sie inne. Ohne das hastige Staccato ihrer Stiefeletten auf dem Holzboden der Treppe herrschte eine bedrückende Stille. Doch plötzlich drang ein Schluchzen an ihr Ohr. Es schien aus einer der Nischen zu kommen, in denen die Körbe mit den Putzutensilien lagerten. Langsam ging Elisabeth darauf zu. Im Halbdunkel machte sie eine auf dem Boden zusammengekauerte Gestalt aus. Die glatten blonden Haare unter der weißen Haube kamen ihr bekannt vor.

»Minna?«, fragte Elisabeth überrascht und kniete sich vor das Stubenmädchen. »Was machst du hier? Geht es dir nicht gut?«

»Doch, doch … mir geht es gut«, schluchzte das Mädchen, aber ihre tränenerstickte Stimme strafte ihre Worte Lügen.

»Bist du krank?« Ohne eine Antwort abzuwarten, legte Elisabeth Minna die Hand auf die Stirn, wie es ihre Mutter immer tat, wenn sie überprüfte, ob eines ihrer Kinder Fieber hatte. Aber die glatte Haut des Stubenmädchens fühlte sich kühl an. »Hast du Bauchschmerzen?«

Minna schüttelte den Kopf. Offenbar wollte sie ihr nicht mitteilen, wo der Schuh drückte.

Energisch richtete sich Elisabeth auf und zupfte ihr Kleid zurecht. Wenn Minna ihre Hilfe ablehnte, wollte sie sich ganz sicher nicht aufdrängen. Sie hatte ohnehin schon zu viel Zeit vertrödelt. »In welche Richtung geht es zum Hotelflur?«, fragte sie stattdessen.

Minna hob die Hand und deutete nach rechts.

»Danke«, antwortete Elisabeth und zog die Stirn kraus. »Im Übrigen … wenn dir nichts fehlt, solltest du dich wieder an die Arbeit machen.«

Das ehrerbietige Nicken des Stubenmädchens nahm sie nur noch aus den Augenwinkeln wahr, denn sie steuerte bereits auf den schmucklosen Ausgang zu, auf den Minna gedeutet hatte. Vorsichtig öffnete Elisabeth die Tapetentür und lugte hinaus. Unglücklicherweise standen zwei in ein Gespräch vertiefte Herren in dem Flur, an dessen Ende die Privatwohnung ihrer Familie lag. Wenn Elisabeth ungesehen dorthin gelangen wollte, würde sie warten müssen. Mit einem unterdrückten Seufzen hielt sie inne und behielt das Geschehen durch die einen Spaltbreit geöffnete Tür im Blick.

»Und? Was halten Sie von diesem Hotel? Finden Sie es tatsächlich so erstklassig, wie man uns geschildert hat?«, fragte der ältere der beiden Männer. Das vors Auge geklemmte Monokel und der schmallippige Mund ließen seine Miene kritischer erscheinen, als seine Stimme geklungen hatte.

Unwillkürlich horchte Elisabeth auf. Tauschten sich die beiden etwa über ihr geliebtes Palais Heiligendammaus? Sie nahm den zweiten Mann, an den die Frage gerichtet war, genauer unter die Lupe. Er war hochgewachsen und hatte dichtes dunkelblondes Haar. Elisabeth schätzte ihn auf Mitte bis Ende zwanzig. Sein Gesicht war auffallend gebräunt.

»Also, um es rundheraus zu sagen … mit dem Grand Hotel kann es natürlich nicht mithalten«, erwiderte der jüngere in diesem Augenblick.

Elisabeth glaubte, sich verhört zu haben. Wie konnte der Kerl es wagen, ihr wunderschönes Palais zu kritisieren!

»Worauf gründet Ihre Meinung?«, hakte der ältere Herr nach. »Weil es nicht ganz so grandios ist und über weniger Zimmer verfügt als das Grand Hotel?«

Der Blonde schüttelte den Kopf. »Nein. Klein und fein ist in meinen Augen kein Nachteil. Aber die Lage des Grand Hotels direkt am Meer ist unschlagbar. Die Aussicht raubt einem den Atem. Hier schaut man dagegen auf einen Park, der zwar auch ganz hübsch, aber eben nicht außergewöhnlich ist.«

Ganz hübsch? Innerlich kochte Elisabeth.

Der ältere Mann nickte zustimmend. »Aber für unseren Zweck sollten die Räumlichkeiten ausreichen, oder wollen wir uns nach einer Alternative umsehen?«

»Nein, das wird hoffentlich nicht notwendig sein. Wir sollten allerdings noch den Ballsaal begutachten, bevor wir uns endgültig entscheiden.«

»Das ist eine gute Idee.« Der Monokelträger öffnete die Tür der nächstgelegenen Suite. »Wir treffen uns in fünfzehn Minuten im Foyer.«

»Wie Sie wünschen«, erwiderte der jüngere Mann höflich. Obwohl sein Gesprächspartner kurz darauf in seinem Zimmer verschwand, machte er keine Anstalten, den Gang zu räumen. Stattdessen betrachtete er nachdenklich eines der im Flur aufgehängten Gemälde.

Elisabeths Hände zitterten vor Wut. Nicht nur, dass er mit seiner Anwesenheit ihre Rückkehr in die elterliche Wohnung verhinderte. Sie konnte ihm auch nicht die arrogant-herablassende Kritik am Palais vergeben. Bevor sie sich selbst zur Vernunft rufen konnte, stürmte sie aus der Tapetentür und baute sich neben ihm auf.

»Schade. Sie haben leider nicht die leiseste Ahnung vom Hotelgeschäft«, fuhr sie ihn grußlos an.

Überrascht drehte sich der Mann um. Sein Mund verzog sich zu einem amüsierten Lächeln. »Meinen Sie? Sind Sie selbst denn eine Expertin auf dem Gebiet?«

Elisabeth spürte, wie sie unter seinem Blick errötete, was ihre Wut nur noch steigerte. »Ja, das bin ich. Und Sie haben unrecht. Nicht die Lage ist für ein erstklassiges Hotel entscheidend, sondern der Service und das Ambiente. Im Palais Heiligendamm fühlt sich jeder Gast, egal wie vornehm, wie zu Hause. Weil wir den besten Service haben. Und glauben Sie mir … niemand will lediglich mit einer schönen Aussicht abgespeist werden.«

»Interessante Ansichten.« Er streckte ihr die Hand entgegen. »Ich heiße Julius Falkenhayn. Und Sie sind?«

»Elisabeth Kuhlmann«, knurrte sie und verweigerte ihm den Handschlag.

Doch er schien sich nichts daraus zu machen. Völlig unbekümmert zog er seine Hand zurück. Wenn überhaupt, wurde sein Lächeln noch eine Spur breiter. »Kuhlmann. Aha. Sie sind also die Tochter des Besitzers. Richtig?«

Elisabeth nickte unwirsch.

»Dann müssen meine kritischen Worte Sie verletzt haben. Das tut mir leid. Aber heißt es nicht immer, dass der Lauscher an der Wand …«

Peinlich berührt unterbrach sie ihn. »Ich habe nicht an der Wand gelauscht!«

»Nicht?«, meinte er gedehnt. »Ich kann mich allerdings nicht daran erinnern, dass außer Graf von Seitz und mir noch jemand im Flur gestanden hätte, als wir über Ihr Hotel sprachen. Oder gehört so ein Verhalten auch zur besonderen Gastfreundschaft des Palais?«

»Ich … ich kam gerade aus dem Gesindetrakt«, stotterte Elisabeth, zu gleichen Teilen verlegen und zornig über seinen spottenden Vorwurf. »Und Sie sagen das jetzt nur, weil Sie nicht zugeben wollen, dass ich recht habe.«

»Aber haben Sie tatsächlich recht?« Falkenhayn trat einen Schritt näher, so dass Elisabeth den Kopf in den Nacken legen musste, um ihm auch weiterhin ins Gesicht sehen zu können.

»Natürlich habe ich das.« Ihre Stimme klang nicht ganz so fest, wie sie es sich gewünscht hätte.

»Das würde bedeuten, dass der Service im Grand Hotel schlechter sein muss. Denn wäre der Service in beiden Häusern gleich gut, würde doch der Meerblick den Ausschlag geben. Oder?«

»Sie reden nur so viel, um mich zu verwirren. Doch das wird Ihnen nicht gelingen, denn der Service im Palais ist um Längen besser.«

Falkenhayn lächelte überlegen. »Und wie wollen ausgerechnet Sie das beurteilen? Wenn das Palais Ihr Zuhause ist, waren Sie dann überhaupt schon Gast im Grand Hotel?«

Elisabeths Wangen brannten vor Scham. Er hatte den Finger genau auf die Schwachstelle ihrer Argumentation gelegt, denn sie kannte das Grand Hotel tatsächlich nur aus den Erzählungen ihres Vaters. »Sie … Sie sind gemein. Ein hundsgemeiner Kerl«, stieß sie zwischen zusammengepressten Zähnen hervor. »Sie haben mich absichtlich in die Falle gelockt. Ein anständiger Mann würde niemals so mit einer Dame sprechen.«

Das Lächeln auf seinen Zügen erlosch. »Ich habe nie behauptet, ein Ehrenmann zu sein, Fräulein Kuhlmann. Doch wenn Sie mich so nett beschimpfen, fühle ich mich tatsächlich in das Zuhause meiner Kindheit zurückversetzt. Sie haben vorhin nicht übertrieben. Der Service des Palais ist tatsächlich exzellent.« Mit einer angedeuteten Verbeugung drehte Falkenhayn sich um und marschierte Richtung Treppe.

Konsterniert schaute Elisabeth seiner entschwindenden Gestalt hinterher, als sie hinter sich ein lautes Räuspern vernahm. Sie fuhr herum. In der weit geöffneten Wohnungstür stand ihr Vater. »Würdest du dich bitte schleunigst an den Frühstückstisch begeben, Elisabeth! Deine Mutter erwartet dich bereits seit geraumer Zeit.« Seine Stimme klang ernst, doch in seinen Augen blitzte ein amüsiertes Lächeln. Zumindest er schien ihr die morgendlichen Ausflüge nicht übel zu nehmen.

»Sicher, Vater.« Erleichtert schlüpfte sie an ihm vorbei in die Wohnung. Mit dem Groll ihrer Mutter würde sie schon fertigwerden.

Es war ein Fehler, mit der Familie Kuhlmann nach Doberan zu ziehen, dachte Minna traurig, während sie mit Bertha den Frühstückstisch abräumte. Verstohlen zog sie die Nase hoch, die vom Weinen immer noch geschwollen war.

»Lass das bloß nicht die gnädige Frau hören«, sagte Bertha streng. »Sie duldet solch unflätiges Verhalten nicht.« Ungerührt stapelte das erste Stubenmädchen die schmutzigen Teller übereinander, stellte sie auf ein Tablett und trug alles zum Hausaufzug im Nebenzimmer. »Und beeil dich gefälligst. Ich fange schon mal mit dem Zimmer der jungen Fräuleins an.«

Am liebsten hätte Minna ihr die Zunge herausgestreckt, doch sie beherrschte sich. Bertha würde es glatt fertigbringen, sie bei Frau Kolbert, der Kammerzofe von Frau Kuhlmann, zu verpetzen. Dabei hatte sie sowieso schon Angst, dass das gnädige Fräulein sie verraten könnte. Das gäbe bestimmt gehörig Schelte. Fräulein Kuhlmann hatte zwar bisher kein Wort über Minnas Heulerei verloren. Aber konnte man sich auf die junge Herrschaft wirklich verlassen? Minna wusste es nicht.

Die jungen Damen der Familie waren ihr ganz allgemein ein Rätsel. Alle drei lebten wie im Paradies, trugen die herrlichsten Kleider, schliefen in den weichsten Betten, brauchten nicht einen Finger krumm zu machen … Und doch schienen sie alle nicht zufrieden mit ihrem Los zu sein. Selbst ohne heimlich an den Türen der Familie zu lauschen, wie Bertha es manchmal tat, hatte Minna mitbekommen, dass die älteste der Schwestern, Fräulein Johanna, zum Kummer ihrer Mutter noch keinen Ehemann erwählt hatte, obwohl es ihr weiß Gott nicht an standesgemäßen Verehrern mangelte. Fräulein Elisabeth, die mittlere, bettelte darum, eine Hotelfachschule besuchen zu dürfen, weil sie sich angeblich langweilte. Und die jüngste, Fräulein Luise, schmollte, weil sie noch nicht alt genug war, um in die Gesellschaft eingeführt zu werden.

Minna raffte die weißen Damastservietten und die Tischdecke zusammen. Offenbar waren die gnädigen Fräuleins von allen guten Geistern verlassen. Besonders Fräulein Elisabeth. Eine Hotelfachschule! Wozu sollte das gut sein? Wollte sie sich am Ende gar eine Arbeit suchen? Wer hatte ihr denn solche Flausen in den Kopf gesetzt? Hatte sie überhaupt eine Vorstellung davon, wie hart es war, sein Geld selbst zu verdienen? Ganz gewiss nicht! Dabei bräuchte auch sie nur zu heiraten, um abgesichert zu sein. Es ließe sich doch bestimmt ein junger Mann finden, der eine gute Partie wie sie haben wollte, auch wenn sie bei weitem nicht so anmutig und lieblich wie Fräulein Johanna war. Als verheiratete Dame könnte sie weiterhin in Saus und Braus leben. Mehr, als ein paar Kinder zu gebären, würde man nicht von ihr verlangen. Und ob sie ihren Ehemann nun aufrichtig liebte oder nicht, spielte doch keine Rolle.

In Minnas Augen wurde der Liebe sowieso zu viel Bedeutung beigemessen. Meistens handelte es sich dabei um ein kurz aufloderndes Strohfeuer. Nicht dass sie in dieser Hinsicht schon eigene Erfahrungen gesammelt hätte. Aber Minna teilte sich die Kammer mit Bertha, deren wechselnde Verehrer sich schon öfter des Nachts hineingeschlichen und mit ihr im Bett vergnügt hatten. Auch wenn Minna sich bei diesen Gelegenheiten ihre Decke fest über beide Ohren gezogen hatte, war sie nicht umhingekommen, die heißen Liebesschwüre der Männer mit anhören zu müssen. Wenige Wochen später, wenn es sich wieder ausgeliebt hatte, würdigten sich Bertha und ihr jeweiliger Schatz keines Blickes mehr. Und nur an der heftigen Art, mit der Bertha in solchen Zeiten die Böden schrubbte, konnte man erkennen, dass es ihr etwas ausmachte. Nein, auf so viel überflüssigen Jammer konnte sie gut verzichten.

Während Minna die letzten Brösel in ihre hohle Hand fegte und den Mahagonitisch anschließend mit ein paar Tropfen Holzpolitur einrieb, dachte sie darüber nach, dass die einzige Liebe, die ihr etwas bedeutete, die zu ihrer Familie war. Besonders ihre Mutter vermisste sie schrecklich. Das Heimweh hielt sie nachts wach und ließ sie immer wieder in Tränen ausbrechen. Schon in Berlin hatte sie ihre Eltern und Geschwister nur einmal in der Woche an ihrem freien Nachmittag besuchen können. Doch jetzt trennte sie eine schier unüberwindliche Distanz. Zwar schrieb sie ihnen jede Woche einen Brief, aber ihre Mutter schien vor lauter Arbeit kaum Zeit zu finden, darauf zu antworten. In den drei Monaten und fünf Tagen, die Minna bereits in Doberan war, hatte sie erst zweimal Nachricht von ihren Lieben erhalten.

Jeder hatte ihr damals zugeraten, Frau Kuhlmanns Angebot anzunehmen. Denk nur an das schöne Meer und die gute Luft, hatten sie gesagt. Daran, dass du dort in einem großen Hotel und nicht mehr in einer auswärtig gelegenen Privatwohnung arbeiten wirst. Dort gibt es viel Personal, und als Stubenmädchen musst du bestimmt nie wieder Kaminholz oder andere schwere Sachen schleppen. Letzteres stimmte. Viele der früheren Arbeiten wurden jetzt von anderen erledigt. Außerdem waren die Privaträume der Familie an das zentrale Heizsystem des Hotels angeschlossen und elektrifiziert. Deshalb musste man weder die Kamine fegen noch Kerzen austauschen oder Petroleumlampen neu befüllen. Frau Kolbert brauchte sich auch nicht mehr um die Flecken in der Garderobe der Damen zu kümmern. Das besorgte die Wäscherei. Und das Essen wurde, ohne dass Minna helfen musste, in der großen Hotelküche zubereitet. Trotzdem vermisste sie ihre frühere Stelle. Es war so gemütlich gewesen, nach getaner Arbeit in der großen Küche zu sitzen und zu plauschen. Die dicke Köchin, Frau Huberti, hatte dann immer Tee gekocht und manchmal sogar ein paar Kekse auf den blank polierten Tisch gestellt. Minna hatte sich dort beschützt und zu Hause gefühlt. Alles war ihr so vertraut gewesen.

Jetzt war es anders. Die Mahlzeiten nahm sie mit täglich wechselnden Menschen im Personalraum hinter der Küche ein. Niemand plauderte dort mit ihr oder fragte, wie es ihr ging. Die meisten löffelten ihr Essen schweigsam in sich hinein. Wahrscheinlich hielten sich die Hotelangestellten für etwas Besseres. Hochnäsig bis dorthinaus. Außerdem grinste einer der Pagen sie immer so anzüglich an. Was für ein frecher Kerl! Neulich hatte er ihr sogar auf der Gesindetreppe aufgelauert und einen Kuss verlangt. Obwohl sie ihm eine Ohrfeige gegeben hatte, war er fröhlich pfeifend davongesprungen. Jetzt traute sie sich abends kaum noch aus ihrer Kammer.

Und das Meer konnte ihr erst recht gestohlen bleiben. Um es zu sehen, musste man zuerst mit dem ruckelnden Molli fahren, der Schmalspurbahn, die die Feriengäste von Doberan nach Heiligendamm beförderte. Und dann verstand sie die Lebensmüden nicht, die sich furchtlos in die Fluten stürzten. Sie selbst konnte nicht schwimmen und hatte Angst vor dem tiefen Wasser. Lediglich mit entblößten Füßen war sie einmal in den kalten Wellen herumgewatet. Kein besonderes Vergnügen. Das Strandleben war da schon mehr nach ihrem Geschmack. Es war ganz lustig, den elegant gekleideten Damen und Herren beim Flanieren auf der Promenade zuzusehen. Oder den jungen Knaben beim »Räuber und Gendarm«-Spielen. Aber die Mädchen, die mit im Wind flatternden Zöpfen die Seemöwen mit Brot fütterten, mochte sie nicht anschauen, die erinnerten Minna zu sehr an ihre kleinen Schwestern.

Tag und Nacht kreisten ihre Gedanken darum, wieder nach Berlin zu ziehen. Aber wie sollte sie das anstellen? Ohne eine neue Stelle würde es nicht gehen. Ihre Eltern waren auf den Anteil ihres Einkommens, den sie ihnen monatlich schickte, angewiesen. Ihr Vater hatte nach einem Arbeitsunfall ein steifes Bein zurückbehalten und bekam nur noch Almosen. Ihre Mutter wurde wie alle Frauen in der Fabrik mit der Hälfte des Gehalts der männlichen Arbeiter abgespeist.

Minna legte das Tuch zur Seite und hielt für einen Moment inne. Würde die gnädige Frau ihr ein Zeugnis geben, das gut genug war, um sich damit auf eine andere Stelle bewerben zu können? Bertha hatte erzählt, dass es neuerdings eine Agentur in Berlin gab, die Hauspersonal für die feine Gesellschaft vermittelte. Ob es da wirklich seriös zuging?

In diesem Moment öffnete sich die Tür, und Frau Kuhlmann trat ein. Sie war trotz ihres fortgeschrittenen Alters eine elegante Erscheinung. Doch der Blick aus ihren blauen Augen war ungehalten. Mit der Andeutung eines Knickses hob Minna die Servietten und die Tischdecke auf, die sie vorhin achtlos auf den Boden geworfen hatte.

»Was trödelst du hier herum?«, fragte die gnädige Frau mit schneidender Stimme. »Mein Mann erwartet den Kommerzienrat Schneider und zwei weitere Gäste zu einem privaten Mittagessen, bis dahin müssen alle Zimmer gemacht sein. Anschließend wirst du Bertha beim Servieren helfen.«

»Sehr gern, gnädige Frau«, antwortete Minna leise und stahl sich so schnell wie möglich aus dem Zimmer. Wie hatte sie sich nur Hoffnungen auf ein gutes Zeugnis machen können? Frau Kuhlmann würde sie undankbar und nutzlos schimpfen, wenn sie ihr damit käme, zurück nach Berlin zu wollen. Ihr Schicksal war besiegelt. Sie würde hier für viele Jahre festsitzen. Ohne ihre Familie. Minna spürte, wie ihr bei dem Gedanken erneut die Tränen in die Augen schossen.

»Und die Herren kommen geradewegs aus Hamburg?«, erkundigte sich sein Vater und führte die kleine Gesellschaft gemessenen Schrittes durch das belebte Hotelfoyer. Mit ein paar Metern Abstand, um nicht in eine Unterhaltung verwickelt zu werden, folgte Paul als Schlusslicht.

»Nein, wo denken Sie hin, mein lieber Kuhlmann«, antwortete Graf von Seitz, ein asketisch aussehender Mittfünfziger mit Monokel und schütterem Haar. »Die Deutsche Kolonialausstellung hat bereits im Juni stattgefunden. Seitdem haben Schneider und ich uns um unsere Geschäfte in Berlin gekümmert. Wenn man wie wir so viele Monate im Jahr in Deutsch-Südwestafrika verbringt, muss man von Zeit zu Zeit zu Hause nach dem Rechten sehen.«

Sein Vater hatte darauf bestanden, dass Paul als Juniorchef des Hotels an dem Mittagessen mit den Vertretern der Deutschen Kolonialgesellschaft teilnahm. Das war die Quittung für seine erneute Weigerung, die Hotelfachschule zu besuchen. Dabei wusste Vater ganz genau, wie unwohl sich Paul bei solchen Anlässen fühlte. Die eingeladenen Geschäftspartner erwarteten jedes Mal, dass er große Reden schwang, sich mit Bilanzen und Belegungsraten auskannte oder zumindest ein charmanter Gastgeber war. Doch nichts lag ihm ferner. Stattdessen fühlte sich sein Hemdkragen plötzlich zu eng an, und er spürte, wie ein kleines Rinnsal Angstschweiß zwischen seinen Schulterblättern versickerte. Das heutige Mittagessen hatte da keine Ausnahme gebildet, obwohl sich die zwei anwesenden Wirtschaftskapitäne, Graf von Seitz und Kommerzienrat Schneider, ebenso wie ihre Sekretäre als ganz sympathisch herausgestellt hatten. Glücklicherweise war die Mahlzeit ohne Zwischenfälle verlaufen, und jetzt mussten Vater und er nur noch die im hinteren Teil des Hotels gelegenen Ball- und Bankettsäle mit den Gästen besichtigen. Danach wäre er von allen lästigen Pflichten erlöst.

Im Gegensatz zu ihm selbst war sein Vater nie um ein Gesprächsthema verlegen. Während er schwungvoll die Tür zum kleinen Bankettsaal öffnete, fragte er: »Ich nehme an, die Ausstellung war ein voller Erfolg?«

Der graue Backenbart von Kommerzienrat Schneider zuckte nervös, als er die Schwelle überschritt. »Leider nein. Wir konnten nicht genügend Interesse wecken und haben nur ein knappes Dutzend neue deutsche Siedler angeworben.«

»Dazu nur junge Männer. Dabei müssen sich erst einige Tausend Familien dort draußen eine zweite Heimat schaffen, bevor die Kolonie zu dem wird, was sie werden soll und kann … ein herrliches Neudeutschland«, ergänzte der Graf und betrachtete interessiert die festlich eingedeckten Tische. »Für wie viele Leute ist der Raum gedacht?«

»Für einhundertfünfzig«, antwortete Paul mechanisch. »Im großen Saal können wir bis zu dreihundert Gäste bewirten.«

Sein Vater nickte zustimmend, bevor er sich erkundigte: »Es fehlt den Siedlern an Frauen?«

»Leider ja«, erwiderte Kommerzienrat Schneider und folgte ihm in den großen Bankettsaal, der über eine wunderschöne, mit Rosetten und Zierleisten reich geschmückte Stuckdecke verfügte. »Freifrau von Liliencron, eine gute Freundin meiner Gattin, die den Frauenbund der Deutschen Kolonialgesellschaft gegründet hat, versucht deshalb schon seit Jahren, unverheiratete und sittlich einwandfreie Frauen zum Auswandern zu überreden. Doch das Angebot wird leider nicht ausreichend genutzt, und die Freifrau macht sich große Sorgen, dass die auf sich allein gestellten Männer verrohen könnten. Es gibt Berichte, nach denen der Alkoholgenuss auf den Farmen überhandnimmt und …«, er senkte die Stimme, »… die Mischlingsbevölkerung bedeutsam anwächst.«

»Sie meinen …?« Offenbar scheute sich sein Vater, die Frage auszuformulieren.

»Ja, genau. Dabei sind solche Ehen strengstens verboten.« Auch Schneider schien das Thema äußerst unangenehm zu sein.

Von Seitz schüttelte angewidert den Kopf und meinte abschließend: »Es gibt tatsächlich Männer ohne jedes Standesbewusstsein.«

Während die Herren seinem Vater noch einige Fragen zu den möglichen Tischkonfigurationen stellten, wunderte sich Paul insgeheim. War es nicht völlig utopisch, mit mehr Interesse zu rechnen? Allein bei der Vorstellung, nach Afrika auszuwandern, wurde ihm mulmig zumute. Wie furchtlos oder verzweifelt mussten Männer und Frauen sein, die sich in dieser ungastlichen Wildnis ein neues Leben aufbauten? Zwar hatte die deutsche Schutztruppe wohl inzwischen alle Aufständischen unter Kontrolle gebracht, aber die Hitze, der Dreck und das Fehlen jeglicher Kultur mussten ein Leben auf diesem fremden Kontinent zu einer furchtbaren Strapaze machen.

»Tatsache ist, die Deutsche Kolonialgesellschaft benötigt unbedingt mehr Farmer, Männer und Frauen, für den wenig erschlossenen Süden. Und deshalb kam uns die Idee, durch Kolonialbälle zusätzliches Interesse zu wecken. Mein Sekretär Julius Falkenhayn …«, von Seitz blickte auf den dunkelblonden jungen Mann zu seiner Rechten, »… hatte die Idee, auch in einem der beliebten Seebäder ein solches Fest zu organisieren. Vielleicht sogar unter der Schirmherrschaft des Großherzogs. Doch der Ballsaal des Grand Hotels in Heiligendamm ist bereits für den Rest der Saison ausgebucht und …«

Sein Vater verzog das Gesicht. »Dann sind wir also nur zweite Wahl für Sie?«

Von Seitz, dem aufzugehen schien, dass er bei seinem Vater einen wunden Punkt getroffen hatte, schwieg betreten. Doch der Sekretär des Grafen rettete die Situation: »Mit Verlaub … aber Sie verstehen das falsch, Herr Kuhlmann«, sagte er. »Da Graf von Seitz die meiste Zeit im Ausland lebt, war er nicht umgehend über die Eröffnung des Palais Heiligendamm informiert. Aber der Aufenthalt in Ihrem exklusiven Hotel hat ihn überzeugt, dass Ihr Haus von vornherein die bessere Wahl gewesen wäre.«

Paul konnte sich ein kleines Lächeln nicht verkneifen. Das waren genau die richtigen Worte, um seinen Vater umzustimmen. Er hatte schon immer eine Schwäche für Schmeicheleien gehabt. Und waren sie noch so dick aufgetragen. Deshalb konnte Vater auch seiner aufmüpfigen Schwester Lisbeth nie lange böse sein. Sie wickelte ihn mit ihren schamlosen Komplimenten genauso um den kleinen Finger, wie es dieser Falkenhayn gerade getan hatte.

Und richtig. Die Züge seines Vaters hellten sich auf. »Da kann ich Ihnen nur beipflichten«, sagte er mit merklich geschwellter Brust. »Wir wissen, wie man einen solchen Ball anständig organisiert.«

»Schön, schön«, erwiderte Kommerzienrat Schneider knapp. »Nur eins müssen Sie mir erklären. Warum nennt sich Ihr Hotel Palais Heiligendamm, wenn es gar nicht wie das Grand Hotel in Heiligendamm liegt?«

Sein Vater konterte die Frage, indem er erklärte, besonders die internationalen Gäste verstünden auf diese Weise gleich, dass man in seinem Hotel in unmittelbarer Nähe zum weltberühmten Seebad logieren könne. Aber Paul wusste, dass er den Namen in Wahrheit aus reinen Prestigegründen gewählt hatte. Palais Heiligendamm klang einfach nobler als Palais Doberan.

Während man unter Begeisterungsbekundungen den kreisrunden Ballsaal besichtigte, schweiften Pauls Gedanken ab. Noch ein Ball! Wie schrecklich. Erneut würde er unter den Argusaugen seiner Mutter mit allen anwesenden Damen tanzen müssen und sich dabei verflixt ungeschickt anstellen, obwohl er vor einigen Jahren zur besten Tanzschule in Berlin – zu Frau Oberleutnant Weßling – geschickt worden war. Als er damals versucht hatte, sich vor dem Unterricht zu drücken, war seine Mutter zum ersten Mal hart geblieben. »Eine Tanzschule ist eine Lebensschule, mein lieber Paul«, hatte sie gesagt. »Auf dem Parkett werden bleibende Verbindungen geknüpft, und die Schwellen der Ballsäle führen in den sicheren Hafen der Ehe. Wenn du Walzer, Menuett und Polka nicht beherrschst, wirst du dich schwertun, eine standesgemäße Ehefrau zu finden.«

Man hatte es an den konzentrierten Gesichtern der weiß gekleideten jungen Damen und dem strengen Blick der Frau Oberleutnant ablesen können, dass sie allesamt genauso dachten. Tanzen war kein Vergnügen, sondern eine ernste Pflicht. Schüchtern hatte er versucht, die in ihn gesetzten Erwartungen zu erfüllen, doch die ungewohnte Nähe zum anderen Geschlecht hatte ihn dermaßen verwirrt, dass er permanent über die grazil ausgestellten Füße seiner Partnerinnen gestolpert war. Eine kräftig gebaute junge Dame hatte sich schließlich seiner erbarmt und ihn mehr oder weniger elegant über das Parkett gelotst. Doch leider war auch dies der Frau Oberleutnant nicht entgangen. »Herr Kuhlmann, ich muss doch sehr bitten«, hatte sie ihn angeherrscht. »Im Deutschen Reich führt der Herr, so hat es Gott bestimmt, so will es der Kaiser.«

»Paul?«, hörte er in diesem Augenblick seinen Vater sagen, und die heraufbeschworenen Bilder des peinlichen Tanzschulbesuchs verflogen im Nu.

»Ja, Vater?«, beeilte er sich zu erwidern. Warum fiel es ihm nur so schwer, sich auf das Geschäftliche zu konzentrieren?

»Was meinst du, Paul, schaffen wir es, diesen Ball innerhalb von vier Wochen auf die Beine zu stellen?«, erkundigte sich sein Vater, während er sich jovial über die Weste strich.

Es war eine rhetorische Frage. »Selbstverständlich«, bekräftigte Paul, wie es von ihm erwartet wurde.

»Da hören Sie es, meine Herren. Ich hoffe nur, dass Ihre Gäste so kurzfristig zusagen werden. Außerdem müssen wir uns um zusätzliche Übernachtungsmöglichkeiten kümmern, denn die Suiten des Palais sind für die nächsten Wochen komplett ausgebucht.«

Von Seitz winkte ab. »Letzteres ist kein Problem. Wir dachten sowieso in erster Linie an das Publikum vor Ort. Falkenhayn wird sich um alles kümmern.«

Sein Vater nickte. »Bedeutet das, dass Herr Falkenhayn die Zeit bis zum Ball hier verbringen wird? Als Gast meines Hotels?«

Alle Blicke wanderten zu dem Sekretär des Grafen, der ungezwungen mit den Schultern zuckte. »Wenn es Ihnen keine Umstände bereitet und Graf von Seitz mich entbehren kann … Warum nicht?«

2. Kapitel

»Himmel«, murmelte Elisabeth aufgebracht, als sie sich mit der stumpfen Nadel in die Fingerkuppe stach. Schon an grauen Tagen empfand sie das nachmittägliche Handarbeiten mit ihren Schwestern als lästige Pflicht. Aber heute, wo der Sonnenschein und das lustige Vogelgezwitscher durch das geöffnete Fenster hereindrangen, war es eine ausgesprochene Qual. Wie viel lieber wäre sie jetzt draußen auf dem Kamp spaziert, einem von Linden gesäumten Park im Zentrum von Doberan, und hätte an dem weißen Pavillon Rast gemacht, vor dem jeden Nachmittag fröhliche Musik gespielt wurde. Der von ihr gestickte Kranz aus Rosen war sowieso ganz krumm und schief geraten. Bestimmt würde ihre Mutter schimpfen und sie zwingen, alles wieder aufzutrennen. Unwillkürlich entfuhr ihr ein tiefer Seufzer.

Johanna, die ihr gegenübersaß, blickte von ihrer eigenen Stickerei auf. »Was hast du, Lisbeth?«

Bevor Elisabeth antworten konnte, mischte sich Luise ein: »Sie ärgert sich, weil sie kein Talent zur Hausfrau hat.«

»Du hast ja selber keins.« Elisabeth streckte ihrer kleinen Schwester die Zunge heraus.

»Bitte hört auf, euch zu streiten«, sagte Johanna. In ihrem Engelsgesicht lag ein strenger Ausdruck, der die Ähnlichkeit mit ihrer Mutter unterstrich. Nur dass bei ihrer älteren Schwester dieser Anflug von Autorität nie lange anhielt. Auch jetzt lächelte sie schon wieder.

»Lisbeth ist gemein. Sie weiß ganz genau, dass meine Stickerei viel schöner ist als ihre«, grollte Luise. »Außerdem werde ich bestimmt einmal eine viel bessere Hausfrau sein als sie.«

»Und wenn schon.« Achtlos warf Elisabeth ihre Stickarbeit auf den Tisch und trat ans Fenster. Wenn man die Gardine etwas zur Seite zog, hatte man von hier aus einen wunderbaren Ausblick auf den weitläufigen Park, der hinter dem Palaisangelegt worden war. Die mit weißem Kies bedeckten Pfade wurden von Blumenbeeten gesäumt, in denen Bartnelken, Levkojen und Bechermalven bunt durcheinanderblühten. In der Mitte sprudelte ein Springbrunnen aus Marmor. Jetzt im Sommer hatte ihr Vater auf der Terrasse Tische aufstellen lassen, an denen weiß livrierte Kellner Kaffee und Kuchen servierten. Einige Gäste ließen sich bereits im Halbschatten der Sonnenschirme auf diese Weise verwöhnen.

Neugierig trat Luise an ihre Seite und blickte suchend nach unten.

»Robert steht da drüben«, sagte Elisabeth und freute sich, wie die Wangen ihrer Schwester die Farbe wechselten.

»Lisbeth!«, ermahnte Johanna, die als Einzige weiterstickte. »Du solltest Lulu nicht in dieser unmöglichen Schwärmerei für unseren Oberkellner ermutigen. Wenn sie nächstes Jahr in die Gesellschaft eingeführt wird, werden sich ihre Gefühle sicherlich einem angemesseneren Objekt zuwenden.«

Luise schwieg. Sie war eine unverbesserliche Romantikerin.

»Schaut mal«, sagte Elisabeth, um von dem leidigen Thema abzulenken. »Da unten sitzt die alte Baronin von Werdenfels. Papa hat erzählt, dass sie im April ihre ganze Familie beim Untergang der Titanic verloren hat.«

»Wie schrecklich«, meinte Johanna mitfühlend und ließ die Nadel für einen kurzen Moment ruhen. »Hoffentlich findet sie in Doberan etwas Ablenkung von dieser Tragödie.«

»Papa sagt, dass sie eigentlich in einer großen Villa in Berlin lebt. Doch jetzt hält sie es dort nicht mehr aus. Zu viele Erinnerungen. Deshalb hat sie für die ganze Saison unsere Johann-Albrecht-Suite gebucht, für sich und ihre zwei Zofen.«

Johanna strich eine blonde Strähne zurück, die sich aus ihrer Frisur gelöst hatte. »Die Arme. Geld allein macht eben auch nicht glücklich.«

Luise betrachtete die ganz in Schwarz gekleidete Baronin nachdenklich. »Ja, jetzt kann sie ihre schöne Garderobe und die Juwelen gar nicht mehr herzeigen. Kein Wunder, dass sie so traurig aussieht.« Bekümmert verzog sie ihr rundes Kindergesicht und wandte sich ab.

Offenbar bezieht sich die romantische Ader meiner kleinen Schwester nur auf ihre eigenen Gefühle, dachte Elisabeth amüsiert, während Johanna tadelte: »Lulu, das ist keine sehr feine Bemerkung, findest du nicht?«

In diesem Moment erschien die schlanke Gestalt ihres Bruders Paul auf der Terrasse. Elisabeth wollte gerade ihren Schwestern Bericht erstatten, als hinter ihm ein weiterer Mann in den Sonnenschein trat. Ungläubig kniff sie die Augen zusammen. Das konnte doch nicht wahr sein. Es war niemand anderes als der ungezogene Kerl von heute früh! Elisabeth beugte sich noch ein wenig weiter aus dem Fenster, um den Fremden genauer unter die Lupe zu nehmen. Der junge Mann schien ihren Blick zu spüren und schaute zu ihr herauf. Mit einem freundlichen Nicken grüßte er in ihre Richtung und sagte dann etwas zu Paul. Lachend schauten beide nach oben. Himmel, jetzt war es geschehen. Jetzt hatte dieser Falkenhayn ihrem Bruder die Episode von heute früh erzählt! Dass sie ihn, einen ehrenwerten Hotelgast, belauscht, beschimpft und in die Flucht geschlagen hatte, nur weil er es gewagt hatte, das Palais in einem privaten Gespräch zu kritisieren. Ein ungehöriges Verhalten schon für eine normale junge Frau, doch für die Tochter eines Hoteliers eine Todsünde. Selbst wenn dieser Mistkerl sie provoziert hatte. Elisabeth trat einen Schritt zurück und zog mit festem Ruck den Vorhang zu. Hoffentlich würde sie diesem Falkenhayn nie wieder begegnen. Missmutig griff sie nach ihrem Stickrahmen.

Eine knappe Stunde später erlöste ihre Mutter sie von der langweiligen Handarbeit und sagte, dass ein gewisser Julius Falkenhayn für die nächsten vier Wochen mit ihnen zu Abend essen werde, weil er gemeinsam mit Paul einen Kolonialball organisiere. Johanna und Luise jubelten über das anstehende Fest, doch Elisabeth konnte ihr Pech kaum fassen. Warum musste ausgerechnet jemand, der das Grand Hotel dem Palais vorzog, hier einen Ball abhalten? Vier Wochen waren eine lange Zeit. Was, wenn Falkenhayn ihren Eltern irgendwann von ihrem Benehmen erzählte? Ob sie eine Ausrede erfinden konnte, um diese Abendessen zu schwänzen? Doch so sehr sie auch grübelte, ihr wollte nichts Überzeugendes einfallen. Erst als ihre Mutter sie misstrauisch von der Seite musterte, setzte sie wieder ein Lächeln auf.

Auch wenn die Beziehung zu ihrer Mutter nicht immer leicht war, bewunderte Elisabeth deren Schönheit. Ihre Mutter war groß gewachsen und trotz der ersten Fältchen mit einem klassischen Profil und glänzenden blonden Haaren gesegnet. Elisabeth, die kleiner und zarter war als ihre beiden Schwestern, hatte dagegen leider die dunklen Haare ihres Vaters geerbt. Auch ihre Gesichtszüge waren nicht so lieblich wie die von Johanna und Luise, die zumindest äußerlich nach der mütterlichen Linie schlugen. Zudem schätzte sie den starken Charakter ihrer Mutter. Sie hatte ein scharfes, kritisches Auge und eine noch viel spitzere Zunge, die sie allerdings im Zaum zu halten wusste. Schließlich hatte sie eine tadellose Erziehung genossen.

Als eine Geborene von Wenzel entstammte ihre Mutter einer alteingesessenen, aber besitzlosen preußischen Adelsfamilie und war damit reich an Ehre, jedoch arm an Geld gewesen, als sie den jungen Hotelier Heinrich Kuhlmann auf einem Berliner Ball kennengelernt hatte. Es musste Liebe auf den ersten Blick gewesen sein, denn Elisabeths Großmutter hatte einmal angedeutet, dass ihre Tochter seinetwegen eine exzellente adelige Partie ausgeschlagen hatte. Früher hatte sich Elisabeth gefragt, ob ihre Mutter diese nicht ganz standesgemäße Verbindung bereute. Aber inzwischen glaubte sie zu wissen, was ihren Vater für ihre Mutter so anziehend gemacht hatte. Sicherlich war es nicht nur das Geld ihrer Schwiegermutter gewesen, die in zweiter Ehe einen äußerst vermögenden Likörfabrikanten geheiratet hatte. Nein, sie hatte sich vermutlich in sein charmantes, aber auch leider etwas labiles Wesen verliebt. Besonders letztere Eigenschaft musste ihr vielversprechend erschienen sein. Denn ihre Mutter war bei Weitem nicht so mild und unterwürfig, wie sie vorgab. Hinter den Kulissen übte sie einen ganz beachtlichen Einfluss auf ihren Mann aus. Und das nicht nur in familiären Belangen.

Als ihr Vater der versammelten Familie verkündet hatte, dass er beabsichtige, ein höchsten Ansprüchen genügendes Hotel an der Ostsee zu eröffnen, hatte Elisabeth dies zunächst für einen Scherz gehalten. Sie hatte sich nicht vorstellen können, dass er ernsthaft Berlin und den gemeinsam mit ihrem Onkel Hans geführtenFürstenhof verlassen würde. Zu sehr schien er mit dem lebendigen Großstadtleben und der Berliner Gesellschaft verwachsen zu sein. Doch wie sich herausstellte, war dieser hochfliegende Plan den Ambitionen ihrer Mutter geschuldet, die ihren Vater überredet hatte, sich etwas Eigenes aufzubauen und sich damit aus dem Schatten seines älteren Bruders zu lösen. Sie spielte nicht gern die zweite Geige. Jedenfalls hatten sich kurz darauf tatsächlich Architekten, Bankräte und Bauleiter bei ihnen die Klinke in die Hand gegeben, und knapp drei Jahre später war das repräsentative, mit einer weißen, neoklassizistischen Fassade geschmückte Gebäude fertiggestellt worden. Der längliche, fünf Stockwerke hohe Bau machte einen erhabenen Eindruck. Über dem Eingang prangte ein ausladender Giebel. Das darunterliegende Portal war zurückgesetzt und wurde von vier ionischen Kolossalsäulen umrahmt, die mit den beiden niedrigeren Flanken des Hotels eine einheitliche Linie bildeten. Die durchgehenden Fensterreihen der Frontseite verliehen dem Hotel ein freundliches Aussehen. Elisabeth war beim ersten Anblick ganz verzückt gewesen.

Die letzten Monate vor der feierlichen Eröffnung waren für das Einrichten, die Suche nach geeignetem Personal und für einen groß angelegten Werbefeldzug verwendet worden. Und zumindest bislang schien das Vorhaben von Erfolg gekrönt zu sein: Die exklusiven Suiten und Zimmer des Palais Heiligendammwaren in der ersten vollständigen Sommersaison seit der Eröffnung vor einem Jahr so gut wie ausgebucht. Auch wenn die Gästeschar nicht ganz so nobel und international war wie die des Grand Hotels.

Voller Stolz beobachtete Elisabeth, wie ihre Mutter, deren Rücken selbst im familiären Kreis niemals die Stuhllehne berührte, den tränenreichen Ansturm Luises abwehrte, die unbedingt ebenfalls auf den Kolonialball gehen wollte. Es war doch schön, sich gegen jemanden wie ihre Mutter auflehnen zu können. Bei ihrem Vater, der in ihren Händen weich war wie geschmolzenes Wachs, hatte sie immer ein schlechtes Gewissen, wenn sie ihn durch Schmeicheleien manipulierte. Trotzdem würde sie bei ihm vorsprechen, um zumindest heute dem heiklen Abendessen zu entgehen. Hoffentlich fragte er in dieser Angelegenheit dann nicht erst ihre Mutter um Rat. Das würde nur weiteres Misstrauen erregen. Aber das Risiko musste Elisabeth eingehen. Sie wollte keinesfalls stundenlang den Spott von diesem Falkenhayn über sich ergehen lassen.

»Bitte treten Sie ein, Herr von Schaper. Das ist die einzig verbliebene Suite mit Parkblick«, sagte Paul mit einer einladenden Handbewegung, während der vorauseilende Page die Vorhänge öffnete.

Das hereinflutende Sonnenlicht verlieh den weitläufigen, hellen Räumen einen sanften Glanz.

Der korpulente Berliner Richter, dessen intelligente Augen von seinen buschig wuchernden Augenbrauen fast zur Gänze verdeckt wurden, folgte Pauls Aufforderung und blickte sich bei jedem Schritt mit sichtlichem Wohlbehagen um. »Sehr schön, Herr Kuhlmann. Das gefällt mir! In einer solch edlen Atmosphäre wird der Urlaub zum Vergnügen.«

Paul nickte. Bei der Einrichtung der Hotelzimmer war nicht gespart worden. Die senffarbenen Seidentapeten, die geschmackvoll gemusterten Teppiche und die auf Hochglanz polierten Jugendstilmöbel hätten auch in jeder Berliner Stadtvilla Eindruck gemacht. Das Kopfteil des Bettes war mit exquisiten Holzintarsien verziert, die Farbe der Tagesdecke haargenau auf den Ton der Wände abgestimmt und das Bettzeug von feinstem Leinen umhüllt. Mehr Luxus konnte selbst das Grand Hotel nicht aufweisen.

»Und dort geht es zum Balkon?« Herr von Schaper deutete auf die bodentiefen Flügeltüren.

»Genau. Herrlich, nicht wahr?«, sagte er gepresst. Er hasste es, sich den Gästen auf diese Weise anzubiedern.

»Ganz wunderbar«, bestätigte der Richter. »Was ist das da hinten?« Er zeigte auf eine Gruppe flacher Backsteingebäude rechts vom Hotelpark.

»Das sind die Stallungen für unsere Pferde. Sie können sich gern auch mit der hoteleigenen Kutsche nach Heiligendamm fahren lassen, wenn Ihnen die Fahrt mit dem Molli nicht angenehm ist.«

Herr von Schaper nickte. Sein Blick wanderte zurück zur Inneneinrichtung und blieb an dem Kamin hängen, der hinter einer kleinen Sitzgruppe in die Wand eingelassen war. »Braucht man den im Sommer überhaupt?«

»Zurzeit nur an den kälteren Abenden. Da wir aber ganzjährig geöffnet haben, wird er im Herbst und Winter wohl öfter zum Einsatz kommen. Zusätzlich sind die Zimmer auch an die Zentralheizung angeschlossen.«

»Ist Doberan denn auch im Winter eine Reise wert?«

»Aber selbstverständlich. Alle Ärzte bestätigen, dass die Seeluft zu jeder Jahreszeit einen positiven Einfluss auf die Gesundheit hat. Und weil im Winter die Tage kürzer sind, verfügt jedes der Zimmer auch über elektrisches Licht.« Paul betätigte den Schalter, und die in Messing gefasste Hängelampe strahlte mit dem Sonnenlicht um die Wette. »Die Badezimmer haben alle fließend warmes Wasser. Außerdem gibt es in jedem der Räume elektrische Klingeln, um das Personal herbeizurufen. Der Zimmerservice ist rund um die Uhr für unsere Gäste da. Die Bettwäsche wird täglich, der Blumenschmuck in den Vasen an jedem zweiten Tag gewechselt.«

»Sehr schön«, nickte der Gast.

Paul kannte den Ausdruck, der sich gerade auf Herrn von Schapers Zügen breitmachte: Der Gast fragte sich, ob er sich diesen extravaganten Luxus überhaupt leisten konnte. Doch Herr Walter, der Empfangschef, hatte ihm auch den Umgang mit der weniger gut betuchten Kundschaft beigebracht. Und so sagte er mit Bedauern in der Stimme: »Leider haben wir nur noch diese kleinere Suite frei, die dafür aber auch etwas günstiger ist.«

Der Richter räusperte sich. »Um auf das Finanzielle zu sprechen zu kommen …«

»… für eine Buchung würde ich Sie an unseren Empfangschef verweisen«, unterbrach ihn Paul. »Darf ich Sie nach unten begleiten?«

Während Herr von Schaper am Empfangstresen einen dreiwöchigen Aufenthalt buchte, blieb Paul im Foyer und überlegte, wie er mit den dort in Grüppchen sitzenden Gästen ins Gespräch kommen könnte. Aber er war einfach zu schüchtern. Wenn es um handfeste Aufgaben ging, wie einem Gast ein Zimmer zu zeigen oder eine Bestellung bei einem Lieferanten aufzugeben, stellte er sich inzwischen einigermaßen geschickt an. Aber dieses weitgehend inhaltslose Gesäusel, das seinen Vater als Hotelier so beliebt machte, lag ihm einfach nicht. Sehnsüchtig blickte Paul auf seine Taschenuhr. Bald war es so weit, dann fing seine Freizeit an. Doch nachdem Herr Walter den Berliner Richter verabschiedet hatte, winkte er ihn zu sich.

»Wir haben ein Problem«, meinte er düster.

»Worum geht es?« Insgeheim wünschte Paul, dass er sich getraut hätte, das Winken zu übersehen.

»Frau Schöller möchte heute Abend im Restaurant speisen.«

Paul musterte den Empfangschef überrascht. »Ja. Und?«

»Sie wissen offensichtlich nicht mehr, wer Frau Schöller ist?«

»Nein. Wer ist die Dame?«

Herr Walter kontrollierte, dass kein anderer Gast in Hörweite war, bevor er sich vertraulich über den Tresen beugte und flüsterte: »Frau Schöller ist die Dame mit dem entsetzlich unappetitlichen Hautausschlag. Sie ist in Heiligendamm bei Professor Lambert in Behandlung.«

Plötzlich erinnerte sich Paul. Sein Vater hatte der Dame extra ein Zimmer in der Nähe des rückwärtigen Ausgangs gegeben, damit sie nicht täglich das Foyer durchqueren musste. Bislang hatte sie auch alle Mahlzeiten dort eingenommen. »Ist der Ausschlag noch immer sichtbar?«, erkundigte er sich. »Oder hat die Seewasserbehandlung angeschlagen?«

»Leider nicht so, wie man es ihr wünschen würde.«

Paul seufzte. Sein Vater wäre entsetzt, wenn die Dame den anderen Gästen im Speisesaal den Appetit verderben würde. »Was schlagen Sie vor, Herr Walter?«

»Ich dachte, Sie könnten versuchen, mit ihr zu reden, und an ihren guten Willen appellieren. Wir können ihr ein solch geschäftsschädigendes Gebaren nicht durchgehen lassen.«

Allein bei dem Gedanken, der armen Frau aus ästhetischen Gründen den Besuch im Restaurant zu verweigern, wurde Paul ganz übel. Er war einfach nicht hartgesotten genug, um so etwas Herzloses zu tun.

»Und? Kann ich auf Sie zählen?«, bedrängte ihn der Empfangschef.

»Haben Sie nicht noch eine andere Idee?«, versuchte Paul, Zeit zu gewinnen.

Herr Walter lächelte sarkastisch. »Wir könnten ihr natürlich auch einen Tisch im Restaurant des Grand Hotels reservieren.«

»Ginge das?«, fragte Paul erleichtert und versuchte, sich nicht auszumalen, was sein Vater zu dieser unorthodoxen Lösung des Problems sagen würde. Kritik oder Glückwünsche, beides erschien ihm gleichermaßen möglich.

Der Empfangschef zuckte mit den Schultern. »Wenn Sie für die zusätzlichen Kosten aufkommen … schließlich hat Frau Schöller bei uns Vollpension gebucht.«

»Daran soll es nicht scheitern«, antwortete er hastig. »Die Dame wird selbstverständlich auf unsere Kosten speisen.«

Herr Walter hob skeptisch eine Augenbraue. »Wenn Sie meinen … Dann werde ich das so veranlassen.«

Endlich Feierabend! Die Strahlen der Spätnachmittagssonne tauchten den leeren Ballsaal in ein warmes Licht. Die am Fenster stehenden Tische und Stühle warfen lange Schatten in das Innere des Raums. Pauls beschwingte Schritte hallten, als er das Parkett der Tanzfläche überquerte, um zur leicht erhöhten Orchesterbühne zu gelangen. Nachdem er diese erklommen hatte, setzte er sich mit einem Seufzer der Erleichterung auf den Schemel hinter dem schwarz lackierten Flügel. Mit geschlossenen Augen strichen seine Finger liebkosend über die Tasten des Instruments. Er atmete tief ein. Den ganzen Tag schon freute er sich auf diese eine Stunde, in der seine Eltern ihm erlaubten, seine Liebe zur Musik auszuleben.

Eigentlich hätte er zu Ehren von Großherzog Friedrich Franz IV., dessen Hofmarschall bereits die adelige Schirmherrschaft für den Kolonialball in Aussicht gestellt hatte, die Stücke der ehemaligen Hofkapelle einstudieren sollen. Doch ihm war nicht danach, unbekannte Noten von einem Blatt abzulesen. Heute, nach dem nervenaufreibenden Mittagessen mit den Herren von der Kolonialgesellschaft und dem nicht minder anstrengenden Nachmittag, den er größtenteils in Begleitung von Falkenhayn verbracht hatte, wollte er sich in der Musik verlieren, sich zwischen den einzelnen Tönen von Mozarts Klavierkonzert Nr. 23 auflösen.

Paul setzte an. Er kannte jede Note auswendig. Trotzdem überrollten ihn die ersten Klänge der sehnsuchtsvoll klagenden Melodie wie eine Welle, erfüllten sein Herz mit einem sprudelnden Glücksgefühl. Er war wie im Rausch. Imaginäre Laute von Violinen und Querflöten vermischten sich mit den Tönen, die er dem Klavier entlockte. Die orchestrale Fülle ließ sein Innerstes erbeben. Gänsehaut überzog seine Arme. Die Musik hielt ihn in ihrem Bann und übte einen solch unwiderstehlichen Sog aus, dass er darüber jedes Zeitgefühl verlor. Selbst die Stille, nachdem er geendet hatte, fühlte sich noch wie von Mozart geschaffen an. Selig senkte er den Kopf auf die Brust. Erst ein leises Händeklatschen ließ Pauls geschlossene Augen auffliegen.

Unmittelbar vor der Bühne stand Robert, der Oberkellner des Hotelrestaurants. »Hoffentlich sind Sie mir nicht böse, dass ich gelauscht habe. Aber Sie spielen so virtuos, dass ich gar keine andere Wahl hatte.«

Eigentlich hasste er es, vor Publikum zu spielen. »Wie lange stehen Sie schon da?«

Über Roberts Gesicht flog ein entschuldigendes Lächeln. »Erst seit einigen Minuten. Ihre Musik hat mich angelockt.«

»Sie lieben Mozart?«

»Leider kenne ich mich nicht besonders mit solchen Sachen aus. Aber wenn Sie gerade etwas von Mozart gespielt haben, dann kann ich guten Gewissens behaupten, dass mir seine Musik gefällt.«

»Man muss kein Experte sein, um klassische Musik zu lieben, Robert. Das scheint mir etwas ganz Natürliches, Angeborenes zu sein«, erwiderte Paul, schon etwas versöhnlicher.

»Aber nicht jeder kann auf diesem Instrument so herrlich spielen wie Sie«, sagte der Oberkellner und trat einen Schritt näher. »Darf ich zusehen?«

Roberts Augen blickten ihn so erwartungsvoll an, dass Paul ihm diesen Wunsch nicht abschlagen wollte. »Wenn Sie unbedingt möchten.«

»Sehr gern.« Mit einem Sprung stand Robert neben ihm auf der Bühne.

»Und was wollen Sie hören?«, fragte Paul, von der plötzlichen Nähe seltsam überrumpelt.

»Ich weiß nicht … vielleicht etwas Fröhliches? Die Melodie eben war sehr gefühlvoll, aber auch ein bisschen traurig.«

Paul nickte und beschloss, eine der schwierigeren Mozartsonaten zum Besten zu geben. Konzentriert legte er die Finger auf die Tasten, und wenig später perlten die Töne im virtuosen Auf und Ab durch den Raum, voller Energie und Lebensfreude.

»Das war ganz wunderbar. Sie sind ein großer Künstler«, schwärmte Robert, als der letzte Ton verklang.

»Aber nicht doch«, sagte Paul, obwohl er sich über das Lob freute.

»Ich kann mir jedenfalls nicht vorstellen, dass das jemand schöner spielt als Sie.«

Paul lächelte. »Da müssen Sie nur einmal in Berlin ins Konzert gehen, da werden Sie sehen, wie viel besser die richtigen Pianisten sind.«

Robert seufzte. »Schade, dass Berlin so weit weg ist.«

»Ja, das stimmt, aber man könnte ja trotzdem …« Paul sprach den Satz nicht zu Ende. Hatte er dem Chefkellner tatsächlich eine Reise nach Berlin vorschlagen wollen? Das wäre seiner standesbewussten Mutter sicherlich nicht recht. Doch plötzlich regte sich Widerstand in ihm. Was sollte daran verkehrt sein? Er fühlte sich eben mit anderen Musikliebhabern viel verbundener als mit den Kulturbanausen der höheren Gesellschaft, die nur in die Oper gingen, um ihre neue Garderobe auszuführen. Erst letztes Jahr war ein Freund seiner Eltern bei Don Giovanni laut schnarchend eingeschlafen!

Robert schien das unausgesprochene Angebot gar nicht bemerkt zu haben. »Wer hat eigentlich die Musik erfunden?«, erkundigte er sich. »Oder gab es das schon immer?«

Was für eine Frage! Paul zuckte mit den Schultern. »Ehrlich gesagt, weiß ich es nicht. Aber ich vermute, dass schon die ersten Menschen ihren Kindern zum Einschlafen kleine Melodien vorgesummt haben.«