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Ein großer Roman über ein kleines Dorf – Vea Kaisers furioses Debüt In ihrem Debütroman entfaltet Vea Kaiser mit großer Verve und unwiderstehlichem Witz die Welt des abgeschiedenen alpenländischen Bergdorfes St. Peter am Anger und erzählt die Geschichte einer Familie, die über drei Generationen hinweg auf kuriose Weise der Wissenschaft verfallen ist. Gegen die Engstirnigkeit und den unreflektierten Traditionssinn der St. Petrianer hegt Johannes A. Irrwein – geschult an seinem Großvater, dem Bandwurmforscher Johannes Gerlitzen – seit frühester Kindheit eine starke Abneigung. Bildungshungrig und aufgeweckt wie er ist, sehnt er sich nach jener aufgeklärten Welt, die er hinter den Alpenmassiven vermutet. Als der Musterschüler jedoch unerwartet durch die Matura fällt, beginnt er, sich mit seinem Dorf auseinanderzusetzen. Seinem Lieblingsautor Herodot, dem Vater der Geschichtsschreibung, nacheifernd, macht er sich daran, die Chroniken seines Dorfes zu verfassen – und verursacht dabei ungewollt das größte Ereignis in der Geschichte St. Peters, das das Bergdorf auf immer verändern wird. Ein 14,8 Meter langer Fischbandwurm, eine Seifenkiste mit Kurs auf den Mond, ein ungeahnt attraktiver Mönch im Jaguar, eine schwangere Dorfprinzessin, eine altphilologische Geheimgesellschaft, eine nordicwalkende Mütterrunde, ein Jungfußballer mit dem Herz am rechten Fleck, eine sinistre Verschwörung der Dorfältesten sowie jede Menge poppige Blasmusik gehören zum einzigartigen Mikrokosmos dieses Romans, der durch seine Liebe für leuchtende Details und skurrile Begebenheiten, durch seinen erzählerischen Furor und seine Vielstimmigkeit besticht. Vea Kaiser gelingt mit dreiundzwanzig Jahren ein wagemutiges, herausragendes Debüt. Dieser Roman wird Sie verzaubern.
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Seitenzahl: 653
Veröffentlichungsjahr: 2012
Vea Kaiser
oder Wie die Wissenschaft in die Berge kam Roman
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Titelseite
Über Vea Kaiser
Über dieses Buch
Inhaltsverzeichnis
Impressum
Hinweise zur Darstellung dieses E-Books
zur Kurzübersicht
Vea Kaiser wurde 1988 geboren und lebt in Wien, wo sie Altgriechisch und Latein studierte. Mit 23 Jahren veröffentlichte sie ihren Debütroman »Blasmusikpop oder Wie die Wissenschaft in die Berge kam«, der ebenso wie ihr Zweitling »Makarionissi oder Die Insel der Seligen« zum Bestseller avancierte und in mehrere Sprachen übersetzt wurde. Ihr dritter Roman »Rückwärtswalzer« erschien 2019.
zur Kurzübersicht
Gegen die Engstirnigkeit und den unreflektierten Traditionssinn der Bewohner des abgeschiedenen alpenländischen Bergdorfes St. Peter am Anger hegt Johannes A. Irrwein – geschult an seinem Großvater, dem Bandwurmforscher Johannes Gerlitzen – seit frühester Kindheit eine starke Abneigung. Bildungshungrig und aufgeweckt wie er ist, sehnt er sich nach jener aufgeklärten, zivilisierten Welt, die er hinter den Alpenmassiven vermutet. Als der Musterschüler jedoch unerwartet durch die Matura fällt, beginnt er, sich mit seinem Dorf auseinanderzusetzen. Seinem Lieblingsautor Herodot nacheifernd macht er sich daran, die Chroniken seines Dorfes zu verfassen – und verursacht dabei ungewollt das größte Ereignis in der Geschichte St. Peters, das das Bergdorf auf immer verändern wird.
Ein 14,8 Meter langer Fischbandwurm, eine Seifenkiste mit Kurs auf den Mond, ein ungeahnt attraktiver Mönch im Jaguar, ein fallender Engel, eine schwangere Dorfprinzessin, eine altphilologische Geheimgesellschaft, eine nordic-walkende Mütterrunde, ein Jungfußballer mit dem Herz am rechten Fleck, eine sinistre Verschwörung der Dorfältesten sowie jede Menge poppige Blasmusik gehören zum unvergesslichen Kosmos dieses Romans, der durch seine Hingabe an leuchtende Details und skurrile Begebenheiten, durch seinen erzählerischen Furor und seine Vielstimmigkeit besticht. Ein wagemutiges, herausragendes Debüt, das Kritik und Leser gleichermaßen verzaubert hat.
Widmung
Motto
Karte
[Prolog, Notizbuch I]
Der Wurm und das Schneehuhn
[Die Völkerwanderung, Notizbuch I]
Etwas passiert, ohne dass was passiert
[Die Ordensbrüder, Notizbuch I]
Alois’ Weltraummission
[Der Frauenraub, Notizbuch I]
Im Mai
[Das Kolomaniwunder, Notizbuch I]
Blanker Wahnsinn in Weiß
[Ordnung eines Dorfes, Notizbuch I]
Ein neuer Bürger für St. Peter
[Pilger und Reliquien, Notizbuch I]
Der Geschmack des Kugelschreibers
[Die Entdeckung der Heiratspolitik, Notizbuch I]
Die Schlammzeit
[Der Wallfahrts-Kampf, Notizbuch II]
Die große Schlacht
[Die Mischung von Tag und Nacht, Notizbuch II]
Der schöne Mönch im Jaguar
[Der Händlerzug aus fernen Ländern, Notizbuch II]
Lauter wundersame Orte
[Die andere Art, zu glauben, Notizbuch II]
Eine Box voller Krankheiten
[Ein Krieg, der dreißig Jahre dauert, Notizbuch II]
Der Digamma-Klub
[Vom Vergessensein, Notizbuch II]
Kriegsvorbereitungen
[Die Lossagung vom Kloster, Notizbuch II]
Der fallende Engel
[Eine Frau als Kaiser, Notizbuch II]
Solon! Solon! Solon!
[Der sparsame Kaiser, Notizbuch II]
Auf Glühwürmchen reiten
[Der kleine Mann mit dem großen Trieb, Notizbuch III]
Fährten und Fronleichnam
[Die Exploration der Adlitzbeere, Notizbuch III]
Mit Herodot im Wald
[Das sympathische Herrscherpaar, Notizbuch III]
Das Sonnwendfeuer
[Die Besteigung des Großen Sporzer Gletschers I, Notizbuch III]
Der Schriftführer
[Doktor linguistikus, Notizbuch III]
Peppi versteht die Welt
[Ein Krieg erschüttert die Welt, Notizbuch III]
Als Sterne und Kleider fielen
[Rundfunk in St. Peter, Notizbuch III]
Stille Post
[Die Besteigung des Großen Sporzer Gletschers II, Notizbuch IV]
Blasmusikpop
[Ein Dorf versteckt sich vor einem Krieg, Notizbuch IV]
Von der andren Fakultät
[Die Besteigung des Großen Sporzer Gletschers III, Notizbuch IV]
Bahöl
[Auszug aus der Volkszählung der Bewohner von St. Peter am Anger]
Dank
Für meinen Opa Hermann, danke für all die Unterstützung.
Und für Porcospino
It is not down in any map; true places never are.
(Herman Melville, Moby-Dick)
[1.1.] Am Anfang war ein Berg, und viele stritten darüber, ob diese 1221 Meter überhaupt ein Berg seien oder nur ein Ausläufer des Großen Sporzer Gletschers. Wie ich, der Historiograph Johannes A. Irrwein, Nachfolger des Herodot von Halikarnassos, Enkel von Doktor Johannes Gerlitzen, mit eigenen Augen festgestellt habe, sind der grimmige Gletscher und der sanfte Angerberg, wie er von seinen Besiedlern genannt wurde, eng verbunden. Fast scheint, als beschützte der Große Sporzer seinen kleinen Bruder, indem er und die anderen Viertausender der Sporzer Alpen ihn derart einkreisen, daß man von nirgendwo seine Existenz erahnen kann. [1.2.] Weiters muß man feststellen, daß der Angerberg kein Berg im klassischen Sinne ist; er ist keineswegs beständig ansteigend oder in ein Gipfelkreuz mündend. Zwar steigt der Angerberg vom Lenker Tal aus steil an, doch ab dem tausendsten Meter flacht er ab, ehe er auf 1221 m in ein waagerechtes Plateau mündet, so, als wäre der letzte Schliff des Schöpfers am Angerberg ein Hieb mit einer dorfplatzgroßen Bratpfanne gewesen. [1.3.] Auf diesem Plateau nun befindet sich ein Dorf mit dem Namen St. Peter am Anger, bewohnt von einer eigentümlichen Menschenspezies, die der Gegenstand meiner wissenschaftlichen Untersuchungen ist. Meinem Vorbild Herodot folgend, nenne ich dieses Volk Bergbarbaren – doch soll bedacht werden, daß das Wort Barbare aus dem Altgriechischen stammt (βάρβαρος) und nicht abwertend gemeint ist wie im modernen Sprachgebrauch, sondern bloß eine Sammelbezeichnung für jene Völker darstellt, die fremd, eigentümlich und des Griechischen (sowie der aus Hellas übernommenen Zivilisation) unkundig sind. Dies trifft auch auf die Bergbarbaren zu, die in einem höchst einzigartigen Idiom zu sprechen pflegen, wie ich selbst gehört habe. [1.4.] Jene Bergbarbaren aus St. Peter haben im Laufe der Jahrhunderte Sitten und Gebräuche entwickelt, die der zivilisierte Leser erfahren soll, und vor allem möchte ich skizzieren, wieso sie so sind, wie sie sind, woher sie stammen und wie es kam, daß sie gegen die Zivilisierten Krieg führten.
Alle Holzfäller schworen, sie hätten jenen Stammrutsch, der Johannes Gerlitzen zu Sommerbeginn 1959 die Schulter ausrenkte und den rechten Arm brach, nicht kommen sehen. Zu Johannes’ Glück waren es nur fünf gefällte Fichten – Äste und Zweige waren bereits abgeschlagen –, die so schwer auf dem feuchten Waldweg lasteten, dass dieser abrutschte. Es war später Vormittag, die Holzfäller tranken ihr zweites Bier, aßen Äpfel und reichten die Schnapsflasche im Kreis. Eine Stunde wollten sie noch arbeiten, bevor die Mittagshitze in den Fichtenwald am Nordhang des Sporzer Alpenhauptkamms kroch. Johannes hatte sich abgesondert, er kletterte etwas weiter südlich durch das Unterholz, suchte nach dem richtigen Material, um eine Marienstatue zu schnitzen, die bei ihm bestellt worden war. Erst als die Vögel aufflogen und die Erschütterung Hasen aus ihren Sassen schreckte, bemerkten die Männer das Unglück. Einen Wimpernschlag später polterten die Stämme mit markerschütterndem Donnern abwärts, rissen Jungbäume um wie Kartenhäuser und kamen mit ungebremster Wucht auf Johannes zu. Dieser reagierte schnell, versuchte zu flüchten, doch als der letzte Stamm direkt auf ihn zuhielt, konnte er nur noch zur Seite springen – und sprang nicht weit genug. Die anderen Holzfäller dachten, jetzt sei er hin, und ihre Herzen machten vor Erleichterung einen Satz, als Johannes Gerlitzen aus dem Unterholz auftauchte und in einem Atemzug Teufel und Dreifaltigkeit verfluchte.
Elisabeth Gerlitzen fluchte gleichermaßen, als Franz Patscherkofel und Leopold Kaunergrat ihren Ehemann in die Küche brachten, der ein Taschentuch zwischen den Zähnen stecken hatte und auf zwanzig Meter nach Schnaps stank – drei Viertel der Flasche hatten ihm die Holzfäller zur Schmerzbetäubung eingeflößt.
»Kruzifixn sacra, es depperten Mannsbülder könnts a nia aufpassn, und immer de Sauferei! Hiazn schleichts enk owi ins Tal und holts ma den Doktor auffi!«, polterte sie, doch Johannes spuckte das Taschentuch aus und keuchte unter Schmerzen:
»Wegn so aner Klanigkeit brauchts do net den Hochg’schissenen holn, bluatet jo net amoi, hol liaba nu a Flaschn Schnaps.«
In St. Peter am Anger gab es oft Verletzte, wenn die Männer in den Wald gingen. 1959 konnte jeder mit einer Axt umgehen, aber niemand war professioneller Holzfäller. Alle fällten, was sie an Holz brauchten, Franz Patscherkofel hatte Stützbalken benötigt, Leopold Kaunergrat Brennholz für den Winter, und Johannes Gerlitzen war als Berufsschnitzer immer auf der Suche nach gutem Holz. Unfälle waren sie gewohnt, und den Doktor aus dem Tal konnte niemand leiden, da er sich für den Geschmack der Dorfbewohner viel zu unverständlich ausdrückte und unangemessen herablassend verhielt. Nur wenn es sich um lebensbedrohliche Notfälle handelte, wurde der Doktor gerufen, aber da der Weg ins Tal weit und beschwerlich war, kam er im Ernstfall meist zu spät. Dass Johannes’ Schulter ausgekugelt war, konnten sogar die Holzfäller diagnostizieren, und so hielt Franz Patscherkofel Johannes fest, damit sich dieser nicht bewegen konnte, während Leopold Kaunergrat ihm die Schulter einrenkte. Kurz darauf war die Schnapsflasche leer. Schließlich riefen die Männer noch Johannes’ Nachbarn herbei, den Tischler Karl Ötsch, um den gebrochenen Arm mit einer Holzmanschette ruhig zu stellen.
»G’hupft wia g’hatscht, ob da Ötsch oder da Doktor«, sagte Johannes und biss auf Elisabeths zusammengefaltetes Kopftuch, während der Nachbar den oberen Teil der Schiene mit Kurznägeln zusammenklopfte.
»G’hupft wia g’sprunga hoaßt des«, antwortete dieser und grinste, dass man seine halbverfaulten Zähne sah, auf denen der Raucherbelag wie Schimmel wucherte. Daraufhin brachen sie in Streit über diese Redewendung aus, und kaum dass die Schiene fixiert war, riss Johannes mit seiner gesunden Hand an den verfilzten Haaren des Nachbarn, während dieser versuchte, Johannes’ Ohr abzudrehen. Erst als Elisabeth einen Kübel Brunnenwasser über ihnen ausgoss, ließen sie voneinander ab. Seit sie Kinder waren, ging das so, und Elisabeth hatte, da sie unmittelbar neben den Ötschs wohnten, immer einen Kübel kaltes Wasser parat. Am Gartenzaun standen fünf davon.
Das ganze Dorf hatte Schlimmes befürchtet, als Johannes und Elisabeth ein Haus neben Karl Ötsch bauten, aber Johannes hatte diesen Grund von seinem Großvater vererbt bekommen, und sich zu prügeln war 1959 nichts Verbotenes. Soweit sich die älteren Frauen des Dorfes erinnern konnten, hatten sich Johannes Gerlitzen und Karl Ötsch bereits das Holzspielzeug über die Köpfe gezogen, als sie noch in Windeln steckten. Die meisten Dorfbewohner glaubten, der Grund ihrer ständigen Auseinandersetzungen sei, dass sie so verschieden waren. Johannes war ein ruhiger und nachdenklicher Mensch, der lieber zuerst überlegte, bevor er vorschnell etwas sagte, während Karl Ötsch seine Meinung herausposaunte, ohne dass ihn jemand gefragt hätte – gern so laut, dass er bis ins Angertal gehört wurde. Neben dem hellhäutigen, groß gewachsenen Johannes sah Karl Ötsch aus wie ein Gegenentwurf, klein, rundlich, pausbäckig und mit dunkler Haut und rabenschwarzem Haar. Egal worum es ging, Karl und Johannes waren sich uneinig, und keiner von beiden war je bereit, dem anderen ohne Schmerzen recht zu geben.
Anfangs störten sich weder Johannes noch Elisabeth daran, dass er wegen der Verletzung seinem Beruf als Schnitzer nicht nachgehen konnte, und auch Johannes’ Kunden hatten Verständnis, dass sich ihre bestellten Statuen, Ornamente oder Weihnachtskrippen etwas verzögern würden. Johannes und Elisabeth hatten erst im April geheiratet, alle 420 Bewohner hatten drei Tage lang gefeiert. Die Blasmusik hatte gespielt, im alten Feuerwehrwagen hatte man das Brautpaar von der Kirche ins Wirtshaus gebracht, ein Aufmarsch wie bei den Prozessionen zu Hochfesten. Dreizehn Jahre hatten die Dorfbewohner auf diese Hochzeit gewartet, da die beiden seit der Volksschule so gut wie verlobt waren. Schon lange bevor Johannes bei Elisabeth fensterln gewesen war, hatten die alten Frauen auf der Kirchenstiege überlegt, wie schön die Kinder der beiden sein würden. Johannes war etwas größer als die meisten Männer im Dorf und athletisch gebaut. Man konnte ahnen, dass er niemals den St.-Petri-Bierbauch ansetzen würde, der ab dreißig bei fast allen über der Hose hing. Er war feingliedrig, hatte starke Wangenknochen, doch das Beeindruckendste an ihm waren die Haare, die so blond waren, dass sie in der Dunkelheit leuchteten. Elisabeths Haare wiederum leuchteten im Sonnenlicht. Auch sie war blond, aber mit einem rötlichen Einschlag, der ihren locker gebundenen Zopf zum Funkeln brachte. Sie hatte eine gesunde Gesichtsfarbe, und was Johannes am meisten an ihr liebte, war, wie schnell sich ihre Wangen tiefrot färbten, wenn sie lachte. Elisabeth war das manchmal unangenehm, da sie meinte, wie ein Schulmädchen auszusehen. Johannes küsste dann eilig ihre Nasenspitze oder ihr Ohrläppchen, woraufhin sie noch roter wurde und verschmitzt kicherte.
In den 50ern waren Flitterwochen in St. Peter am Anger noch nicht erfunden, aber dank Johannes’ Verletzung kam das junge Liebespaar nun zum Feiern seiner Ehe. Die beiden genossen mehrmals täglich die Freiheit, sich nicht wie in ihrer Jugend in Heustadeln, Holzschupfen und Selchkammern verrenken zu müssen. Bis ihnen übel wurde. Mit Johannes fing es an, er hatte ständig Bauchschmerzen, die zu schweren Verdauungsbeschwerden führten. Bald darauf hustete Elisabeth morgens alle Mahlzeiten des Vortages ins Plumpsklo hinterm Haus. Auf der Kirchenstiege meinten die einen, Elisabeth würde schlecht kochen, während die anderen am Springbrunnen erzählten, Johannes würde Elisabeth und sich zu viel Schnaps genehmigen. Erst als der ziegengesichtige Doktor aus Lenk im Tal seine zweimonatliche Sprechstunde im Versammlungssaal des Gemeinderats abhielt, wurde das Rätsel gelöst. Beiden Eheleuten lag etwas im Bauch: Elisabeth war schwanger, Johannes hatte einen Bandwurm.
Elisabeths Freude war grenzenlos. Zwei Stunden später hatte sie sich bereits den alten Schaukelstuhl vom Dachboden holen lassen, wippte selig darin und strickte Babysocken. Johannes hingegen war mulmig zumute. Er konnte sich kaum freuen, bald Vater zu werden, denn ständig grübelte er, was der Wurm wohl trieb. Schlief er, oder schwamm er herum? Hatte der Wurm überhaupt Augen, und vor allem: Wie war der Wurm in seinen Bauch gekommen? Der Doktor hatte auf Johannes’ Fragen in einem Latein geantwortet, das nicht einmal der Pfarrer verstanden hätte. Der Doktor war nämlich beleidigt, dass Johannes seinen gebrochenen Arm lieber vom Dorftischler hatte behandeln lassen als von einem Spezialisten, und in seinem Ärger hatte er Johannes angekündigt, dass es mindestens ein halbes Jahr dauern würde, bis er ihm ein Anti-Wurm-Medikament aus der Hauptstadt besorgen könne.
Da ihm auch die Volksschullehrerin nichts über im Menschen lebende Würmer erzählen konnte, schlich Johannes, verunsichert von den kuriosen Ideen der Leute im Wirtshaus, drei Tage lang um das Gemeindeamt. Er war sich sicher, dass die Theorien der St. Petrianer Blödsinn waren – das hätte er ja gemerkt, wenn sich so ein großer Wurm von hinten angeschlichen hätte. Am dritten Tag wagte er schließlich, die Gemeindeamtstür zu öffnen. Er ging durch das Eingangszimmer am Postamt und am Aufenthaltsraum der Gendarmen vorbei bis in die Dorfbibliothek. Seit ihn der Pfarrer zu Schulzeiten zur Strafe fürs Stanniolkugelwerfen hierhergeschickt hatte, um sich einen Katechismus auszuborgen und der Klasse daraus zu referieren, war er nicht mehr hier gewesen. Die Bibliothek war von den Benediktinermönchen aus Lenk angelegt worden, viele Jahre lang hatten sie die Bücher auf Generationen von Mauleseln auf den Angerberg transportiert. Nachdem sich das Dorf jedoch vom Kloster losgesagt und die Mönche, die von ihnen Steuern verlangten, mit Mistgabeln die Talstraße hinuntergejagt hatte, war die Bibliothek von niemandem mehr gepflegt worden, bis vor einigen Jahren gescheckte Nagekäfer eingezogen waren, woraufhin man zwei Drittel aller Bücher verbrannt hatte. In St. Peter am Anger hielt sich hartnäckig der Volksglaube, das Klopfen der Nagekäfer würde Tod und Verderben ankündigen. Dabei rief das Männchen nicht den Teufel, sondern das Weibchen zum Liebesspiel.
Die Gemeindesekretärin, die neben ihrer Hauptbeschäftigung auch das Amt des Postfräuleins, der Gendarmerieaushilfe und der Bibliothekarin bestritt, half Johannes bei der Suche. Bis sie in den verbliebenen, ungeordneten Beständen etwas Brauchbares fanden, dauerte es eine Weile. Oftmals tauchten hinter den Büchern mumifizierte Nagekäfer oder kinderfaustgroße Spinnen auf, und Johannes zuckte bei jedem Kreischer seiner Helferin zusammen, doch kurz bevor er einen Hörsturz bekam, wischte sie den Staub von einem Buch, für das er ihr jahrzehntelang dankbar sein würde. Karl Franz Anton von Schreiber: Nachricht von einer beträchtlichen Sammlung thierischer Eingeweidewürmer und Einladung zu einer literarischen Verbindung. Es war 1811 verfasst worden, aber für den Schnitzer Johannes Gerlitzen genau die richtige Lektüre. Es handelte sich nicht um ein komplexes naturwissenschaftliches Werk, sondern um eine Chronik, einen Bericht über die Entdeckungen der Wurmforscher im k.k. Hof-Naturalienkabinett in der Hauptstadt. Als diese Männer sich an die Arbeit gemacht hatten, war kaum etwas über Würmer bekannt gewesen. Und somit begannen die Aufzeichnungen Schreibers günstigerweise auf der Höhe von Johannes’ Wissensstand. Der Schnitzer verbrachte den Tag in der Bibliothek und wanderte am wackeligen Lesetischchen dem einfallenden Sonnenlicht hinterher. Auf dem Nachhauseweg fühlte er sich bereits ein bisschen weniger abstoßend: In der Hauptstadt hatte vor 150 Jahren fast jeder einen Wurm gehabt, der Kaiser Franz hatte aus Sorge um seine Untertanen sogar befohlen, dass alle Naturforscher, welche an jenem Gegenstand Interesse nehmen, mit dem k.k. Naturaliencabinet in Verbindung treten und durch Mittheilung ihrer schon gemachten und künftigen Beobachtungen und Entdeckungen zur Vervollkommnung und kräftigeren Wirkungsfähigkeit der hiesigen Anstalt, zur Vervollständigung unserer Sammlung und auf diese Weise zur Bereicherung und Vervollkommnung der k.k. Erforschung der im Menschen lebenden Parasiten – zum Wohle aller Völker – beyzutragen.
Sogar Wettstreite um die richtige Behandlung der wurmbefallenen Patienten hatte es unter den Ärzten gegeben. Johannes musste zugeben, dass es ihn bei manchen Schilderungen Schreibers ziemlich geschaudert hatte. Als der Kranke mit einer Art Heroismus die Medikamente zu sich nahm, sprang er plötzlich aus dem Bette, um sich auf den Leibstuhl zu setzen. Er erblaßte, zitterte und bebte, ein kalter Todesschweiß bedeckte den ganzen Körper. Beinahe hätte Doktor Bremser triumphiert, allein seine langsame Behandlungsweise strafte seine Freude durch einen etwa in acht Tagen erfolgten Abortus bei der von ihm behandelten Frau, bei welcher er nichts weniger als eine Schwangerschaft vermutet hätte.
1959 wurde der Herbst von einer wochenlangen Schlechtwetterfront eingeleitet. Der Wind blies ein Tiefdruckgebiet in das Angertal, das sich an den Sporzer Alpen anstaute wie ein zusammengedrückter Wattebausch, bis die Wolken am Großen Sporzer zu kleben schienen. Johannes ging nun öfter in die Bibliothek. Die universelle Gemeindeamtsbedienstete hatte ihm zwar empfohlen, die Bücher auszuleihen, aber täglich von 8:30 bis 18:00 Uhr an seinem Platz zu sitzen und sich durch die Erforschung der Helminthen zu lesen, so als wäre man selbst am Sezieren, Analysieren, Klassifizieren und Präparieren beteiligt, fühlte sich für ihn wie Arbeit an. Schnitzen war mit dem lädierten Arm noch nicht möglich, und überhaupt hatte Johannes den Eindruck, alles, was er zurzeit Nützliches tun könne, sei lesen. Der Nachbar Ötsch von links hatte währenddessen im Lästern über Johannes’ Leselust eine neue Leidenschaft gefunden, doch Johannes hatte Elisabeth versprochen, sich bis zur Geburt des Kindes auf keine Prügelei mehr einzulassen. Nachdem der Regen eingesetzt hatte, machten sich jedoch auch Johannes’ Wirtshausfreunde über seine Präsenz in der Bibliothek lustig.
»Lasst di dei Frau nimmer zuwi und wüllst hiazn a Pfaff werdn?«, grölten der vorlaute Großbauer Anton Rettenstein, der dicke Bürgermeistersohn Friedrich Ebersberger, der Lebensmittelgreißler Wilhelm Hochschwab und der sonst so freundliche Briefträger Gerhard Rossbrand, obwohl der St.-Petri-Pfarrer gar nichts für Bücher übrighatte. Er nutzte Lektüre lediglich als Strafe für Sünder und widmete sich außerhalb der Messzeiten der Renovierung des Kirchturmes. Johannes beachtete all die Häme nicht. Wegen des starken Regens hatten die Männer nichts anderes zu tun, als vom Bett ins Wirtshaus zu stolpern. Sogar die Gendarmen tranken mittags ihr erstes Bier, da zur Regenzeit ohnehin nie etwas passierte, und wenn, dann im Wirtshaus.
St. Peter am Anger war ein kleines Dorf, das vor allem von einer Einnahmequelle lebte – den weltweit einzigartigen Adlitzbeerenbaumbeständen. Nirgendwo auf der Welt gab es derart viele und hohe Adlitzbeerenbäume, deren Ertrag genug einbrachte, um ein ganzes Dorf zu erhalten. Die St. Petrianer hatten gar keine Verwendung für all ihre Beeren, doch im Rest der Welt waren sie ein gefragtes, teures Gut zur Herstellung spezieller Medikamente. Obwohl jeder Bewohner neben der Adlitzbeerenwirtschaft noch einen anderen Beruf ausübte, halfen zur Erntezeit alle zusammen. Und wenn die Ernte wie jetzt wegen Regens unterbrochen war, wurde im Wirtshaus auf besseres Wetter gewartet. Denn es war ein heiliges Gesetz, dass während der Adlitzbeerenernte niemand einer anderen Beschäftigung nachging.
Johannes jedoch hatte eine Aufgabe, die ihm weder sein gebrochener Arm noch der Regen nehmen konnten – er las sich durch die Welt der Würmer. Bald war er von den Wesen fasziniert. Er fand es außerordentlich, wie so ein kleines Staubkorn im Wasser von einem Krebs gefressen wurde, den dann ein Fisch verspeiste, der wiederum von einem Fuchs, einem Hund oder einem Menschen gegessen wurde, bis sich das Staubkorn im Darm des letzten Gliedes zu einem richtigen Lebewesen entwickeln konnte. Er staunte über den Überlebenswillen, den solch ein Tier haben musste, wenn es all diese Stadien in Kauf nahm, genau wissend, dass es nur mit viel Glück dort hinkommen würde, wo es hingehörte.
Elisabeth fand diese Überlegungen ekelerregend. Wenn Johannes zu erzählen ansetzte, drohte sie, sich zu übergeben, und das wollte er dem Kind nicht antun. Zu gern hätte er ihr, seiner Frau und besten Freundin, mehr von seinem neuen Wissen erzählt. Etwas Besonderes zu können, war in St. Peter normal, aber etwas Außergewöhnliches zu wissen, unterschied ihn vom Rest des Dorfes. Tagtäglich – nicht nur, wenn er ihr von Würmern erzählen wollte – wunderte sich Johannes, wie anders Elisabeth seit ihrer Schwangerschaft geworden war. Häufig klagte sie, wie anstrengend es sei, schwanger zu sein, dass sie so leiden müsse, dass ihr alles wehtue. Johannes verstand sie nicht. Was war nur mit der Elisabeth passiert, die sich beim Aufstauen des Mitternfeldbaches einen Nagel durch die Sohle getreten hatte und vollkommen unbeeindruckt durch den Ostwald und über zwei Äcker nach Hause marschiert war? Johannes wühlte daraufhin wieder in der Bibliothek. Er las, dass eine Schwangerschaft das größte Glück für eine Frau sei, der schönste Zustand in ihrem Leben, woraufhin er sich schwertat, Elisabeth weiterhin ernst zu nehmen, und vor ihren Klagen immer häufiger flüchtete. Was Elisabeth niemals zugegeben hätte: Sie war eifersüchtig auf Johannes, dessen Bauch mit Wurm mehr Aufmerksamkeit erregte als der ihrige mit Kind. Sonntags umzingelten sie die Dorfkinder, sobald sie aus der Kirche kamen, wollten jedoch niemals die Tritte des Babys fühlen, sondern immer nur mit dem Ohr auf Johannes’ Bauch hören, was der Wurm machte. Ständig brachten irgendwelche Tanten der Handelskollegen von Heiligenstatuen und Großmütter von Cousins aus der Blasmusikkapelle diverse Kräutersude oder Wurmöle. Keines davon vermochte den Wurm zu beseitigen, vielmehr bescherten sie Johannes Würgeanfälle und schnellen Gang. Nur Elisabeth wurden keine Hausmittel gebracht.
Als sich die Sturmfront ausgeregnet hatte und ein pittoresker Altweibersommer die Waldhänge golden färbte, kamen Bergsteiger ins Dorf. In den letzten Jahren waren sie ausgeblieben, und die St. Petrianer hatten schon befürchtet, dass sie irgendwann zurückkommen würden, doch hätten sie niemals gedacht, es gäbe Bergsteiger, die verrückt genug seien, im Herbst zu kommen – Altweibersommer hin oder her. Wie immer, wenn die Wahnsinnigen heranrückten, klappten die Fensterläden zu, wurden die Wäscheberge ins Haus geholt und die Kinder heimgerufen, noch bevor der Tross das Ortsschild passiert hatte.
»Wos sand des bloß für Männer, wann de si net amoi rasiern könna«, flüsterten sich die letzten St. Petrianer am Dorfbrunnen zu, bevor sie davonstoben. Einige Anrainer lugten zwischen den Vorhängen hervor, aber bis auf den Wirt, der ihnen dreifache Preise berechnete, ging man den Bergsteigern aus dem Weg. Die Männer verkrochen sich in Wäldern und Werkstätten, der Pfarrer sperrte die Kirche zu. Seit Jahrzehnten fragten sich die St. Petrianer, welche Kopfverletzungen diese Fremden erlitten hatten, dass sie auf Teufel komm raus über die Nordwand, die man im Volksmund auch Mordwand nannte, auf den Großen Sporzer gelangen wollten. Die Dorfbewohner mochten es gar nicht, wenn Fremde aus dem Flachland in ihrer Nähe waren, und so fühlte sich niemand bemüßigt, ihnen Ratschläge oder gar Hilfe für die Besteigung anzubieten. Wenn einer den Weg nicht kannte, hatte er dort, wo er hinwollte, nichts verloren. Die Bergsteiger ließen jedoch nicht locker und versuchten, den Großen Sporzer zu erklimmen. Sechs Tage später aber mussten sie aufgrund des Wintereinbruches aufgeben, und einer der Bergsteiger kam ohne linken Daumen zurück. Er war zwar nicht abgefroren, sondern bei einem Unfall mit Sicherungsseil und Eispickel abgetrennt worden, doch in seiner Trauer um den zehnten Finger gab der Bergsteiger den unhilfsbereiten St. Petrianern die Schuld und stürmte die Volksschule. Damals wurden alle Kinder des Dorfes in einer Klasse unterrichtet, und er stellte sich trotz kreischender Proteste der Volksschullehrerin hinter das Pult, um den Kindern zu erklären, dass es keinen Gott gebe. Und erst recht kein Christkind. Er sprach wirr und schnell, keines der Kinder konnte danach wiedergeben, was er gesagt hatte, aber der Daumenstummel hatte seine Wirkung getan – die Kinder zweifelten. Die Abendmesse war daraufhin voll, die Frauen beteten und klagten, die Männer überlegten beim anschließenden Wirtshausbesuch, welche Knochen sie dem Bergsteiger zuerst brechen sollten, bevor sie ihn am Fahnenmast pfählen würden, denn er hatte den Kindern nicht nur die Chance, in den Himmel zu kommen, genommen, sondern die Eltern der wichtigsten prügelfreien Erziehungsmethode beraubt: Wennst net brav bist, kummts’ Christkinderl net. Johannes Gerlitzen schüttelte den Kopf. Es ging ihm auf die Nerven, dass alle suderten, klagten, fluchten, aber keiner etwas unternahm, also holte er das Hochzeitskleid seiner verstorbenen Mutter vom Dachboden, borgte sich die Perücke des ehemaligen Schullehrers und huschte zur Schlafengehzeit durch die Vor- und Hintergärten der Familien mit schulpflichtigen Kindern. Am nächsten Tag beteten die Kinder das Vaterunser vor Schulbeginn mit der größten Inbrunst in der Geschichte von St. Peter. Sogar der Pfarrer konnte sich bereits in der Morgenmesse über zwei Handvoll Ministranten freuen. Nur der älteste Sohn des Nachbarn von links, Karli Ötsch, war skeptisch geblieben. Da er letztes Jahr schlimm gewesen war, war das Christkind nicht zu ihm gekommen, und er verstand nicht, warum es, ausgerechnet einen Tag nachdem er den Pferdeschwanz seiner kleinen Schwester Irmi angezündet hatte, nun doch kam. Als Johannes also durch den Garten der Ötschs lief, eilte Karli mit Zahnpasta vor dem Mund und Spielzeuggewehr im Anschlag aus dem Haus und schrie:
»I mach des Monster tot!«, woraufhin Johannes das Hochzeitskleid raffte, schneller lief und sich in seiner Meinung bestätigt sah, dass der kleine Karli seinem Vater nachgeriet.
Abgesehen davon avancierte Johannes innerhalb einer Nacht zum Helden des Dorfes. Elisabeth wusste gar nicht, wohin mit all dem Speck, den Marmeladen, gedörrten Früchten, der Butter, der Milch, dem Käse mit und ohne Löcher, die sie an den folgenden Tagen auf der Schwelle fand. Schlagartig verzieh das Dorf Johannes sein komisches Verhalten. Obwohl die Stammtischrunde rund um Gerhard Rossbrand, Friedrich Ebersberger, Wilhelm Hochschwab und Anton Rettenstein Tausende Bemerkungen über Johannes im Brautkleid auf der Zunge hatte, schluckten sie eine jede hinunter. Johannes hatte Großes für die Dorfgemeinschaft geleistet, und unter diesem Umstand sah man ihm gerne nach, dass er sich zuvor verschlossen gezeigt und den anderen den Rücken gekehrt hatte, indem er allein in der Bibliothek herumgesessen war, anstatt sich für das Dorf nützlich zu machen. Und auch Elisabeth wurde nach der Christkindlsache wieder anschmiegsam. Vor allem, als der Doktor bei seinem letzten Besuch vor Weihnachten ankündigte, es würde bald so weit sein. Elisabeth musste sich auf die Geburt vorbereiten, und Johannes würde im neuen Jahr seine Wurmtabletten bekommen. Dieses Mal beschwerte er sich nicht, dass es so lange dauerte, bis er sein Medikament erhielt, denn er dachte nur noch daran, wie es sein würde, endlich sein Kind in den Armen zu halten. Außerdem hatte er schon so viel Zeit mit seinem Wurm verbracht, dass es auf die paar Wochen mehr auch nicht ankam.
Das Weihnachtsfest verbrachten die Gerlitzens zu Hause, hörten sich auf dem Balkon die Turmbläser an, und Johannes spielte das Weihnachtsevangelium mit selbst geschnitzten Krippenfiguren nach – Maria und Josef hatte er die Züge von Elisabeth und sich verpasst. Elisabeth war bereits zu schwanger, um zur Mitternachtsmette bergauf bis in die Kirche zu gehen. Noch vor dem Dreikönigstag war es schließlich so weit. Die Hebamme Trogkofel, deren Wurmtinktur Johannes solch ein Erbrechen beschert hatte, dass er befürchtet hatte, der Wurm käme vorne raus, verbannte ihn nach draußen, ehe er den Wunsch äußern konnte, bei seiner Frau zu bleiben. Vierzehn Stunden lang saß er auf der Holzbank vor dem Haus und spülte sich mit einer Dopplerflasche Adlitzbeerenschnaps die Schreie seiner Frau aus den Ohren. Als seine Haare gefroren waren und seine Haut so von der Kälte ausgetrocknet, dass sie wie von einem weißen Netz überzogen schien, tat das Kind seinen ersten Schrei. Johannes stürzte ins Haus, rannte die Holztreppen empor, klopfte nicht, wartete nicht und hebelte beim stürmischen Öffnen der Tür selbige beinahe aus. Im Türrahmen jedoch erstarrte er. Das kleine Mädchen lag nackt in den Armen der Hebamme, war noch über und über von den Spuren der Geburt bedeckt und hatte dennoch einen unübersehbar schwarzen fülligen Lockenkopf, wie er weder in der Familie der rotblonden Elisabeth noch bei den weißblonden Gerlitzens jemals vorgekommen war. Solch schwarzes wuscheliges Haar hatte nur der Nachbar Ötsch von links.
Johannes Gerlitzen gewöhnte sich schnell daran, in der Bibliothek zu schlafen. Mit einer Matratze im Südeck, wo es am wenigsten feucht wurde, war es sogar einigermaßen gemütlich. Seit ihm die Gemeindesekretärin eine Schreibtischlampe dazugestellt hatte, konnte er bis tief in die Nacht lesen. Das Lesen war hilfreich, um jene Gedanken zu vertreiben, die ihn nachts derart belasteten, als säße ein gewichtiger Alb auf seiner Brust, der ihn zu erdrücken versuchte.
Kaum hatte das Gerücht von der Geburt die Kirchenstiege erreicht, empfanden die Dorfbewohner Mitleid, meinten, man müsse ihm seine Ruh’ lassen, doch als Johannes Gerlitzen der Sonntagsmesse zweimal hintereinander ferngeblieben war, wurden die St. Petrianer unruhig. All jene, die von ihren Häusern Ausblick auf das Gemeindeamt hatten, beobachteten den Bibliotheksraum, um den Nachbarn in den Hangsiedlungen am nächsten Tag zu erzählen, wann Johannes das Licht ausgemacht hatte und zu welchen unchristlichen Zeiten es wieder angegangen war.
»Hiazn is a verruckt wordn«, murmelte die Stammtischrunde, wenn sie zur Sperrstunde vom Wirt nach Hause geschickt wurde und nebenan im Gemeindeamt der Gerlitzen unverändert seine Nase in ein Buch steckte, aber keiner von ihnen ging hinein, um mit Johannes zu sprechen. Anton, Friedrich, Wilhelm, Gerhard, Johannes und Karl waren seit der Volksschule eine Burschengruppe gewesen und hatten viele Abende zusammen im Wirtshaus verbracht, seit sie alt genug dafür waren – auch wenn Johannes Gerlitzen und Karl Ötsch meist prügelnd unter dem Tisch geendet waren. Nun durfte Karl das Haus nur noch unter Aufsicht seiner Frau verlassen, und Johannes verließ das Gemeindeamt überhaupt nicht mehr. In St. Peter am Anger sprachen Männer nicht über Gefühle, Enttäuschung ertrug man stoisch, also ließen sie Johannes, wo er war, und tranken abends zu viert.
Als sich Johannes Gerlitzen jedoch am Aschermittwoch nicht einmal das Aschenkreuz abholte, redeten die Dorfbewohner so lange auf den Altbürgermeister ein, bis dieser seine Hosenträger stramm zog, den Ältestenrat zusammentrommelte und ins Gemeindeamt marschierte. In St. Peter am Anger gab es kein gewichtigeres Wort als das der Versammlung der vier bis sechs mächtigsten Pensionisten. Wenn diese etwas befahlen, gehorchte man – nur Johannes Gerlitzen ignorierte ihre Autorität. Die fünf Ältesten fanden ihn in der Teeküche des Gemeindeamts, wo sich Johannes Butter auf ein halbes Weckerl schmierte, der Käse war bereits aufgeschnitten.
»Geh Hannes, woaßt eh, wia des so is«, sagte der Altbürgermeister, der als guter Freund von Johannes’ verstorbenem Vater die Rede führte. Er rieb sich währenddessen die Hände gegen den Innenstoff seines Festtagsjankers, als müsste er sie säubern.
»De anen ham s’Glück im Leben, de andern ziehn d’Oarschkartn. Owa da herin wirst jo nu deppert.«
Der Bürgermeister ging im schmalen Raum auf und ab, war sich mit seinem Wanst selbst im Weg, seine vier Begleiter blieben im Halbkreis vor dem Eingang stehen und warfen dem Schnitzer zornige Blicke zu. Johannes beachtete sie nicht. Er belegte sein Brot und schnitt einen Paradeiser auf.
»Jessasmaria, Hannes, i versteh scho, dass’d grad g’nug hast vo da Wölt, owa woaßt eh, an Guckguck gibt’s in de bestn Gärtn. Denk do a bisserl anan Friedn im Dorf! Du lebst jo net allanig da!«
Johannes zeigte keine Reaktion und salzte seine Jause. Die fünf Alten sahen einander ratlos an, bis der Altbauer Rettenstein seinen Kopf schüttelte und damit bedeutete, dass es wohl sinnlos sei, die wertvolle Zeit des Ältestenrates an Johannes Gerlitzen zu verschwenden. Daraufhin stampfte der Bürgermeister auf den Fußboden und schrie:
»Jessasmariaundjosefna, du bist owa a a sturer Hund, du depperter!«, bevor sie geschlossen hinauspolterten und die Tür hinter sich ins Schloss knallten.
Während sich Elisabeth von der Geburt erholte, erwartete sie jedes Mal, wenn sich die Tür öffnete, Johannes würde zurückkommen – aber es waren stets nur ihre Freundinnen oder ältere Frauen aus dem Dorf, die ihr Essen und Hausmittel brachten. Alle standen ihr bei, doch auf Johannes wartete sie vergeblich. Nach einigen Wochen bat Elisabeth schließlich die Hebamme Trogkofel, ein paar Stunden auf ihr kleines Mädchen zu schauen. Sie zog sich ihr Sonntagskleid an, holte das Amulett ihrer Großmutter aus der Kommode, kämmte ihr langes Haar mit etwas Wachs, bis es glänzte, und ging bei Einbruch der Dämmerung Richtung Dorfplatz. Vor dem Gemeindeamt blieb sie stehen und blickte durch das Fenster in die erleuchtete Bibliothek. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass es ihr solch einen Stich versetzen würde, Johannes zu sehen. Kurz blieb ihr die Luft weg, und sie musste sich abstützen. Elisabeth schaute zu Boden, schloss die Augen, dachte daran, wie sehr sie Johannes liebte, und richtete ihren Blick schließlich wieder auf den Mann, der hinter dem Fenster im Licht einer Schreibtischlampe saß und las. In St. Peter am Anger gab es zur damaligen Zeit vier Straßenlaternen, und unter einer stand Elisabeth. Sie wartete, dass Johannes seinen Kopf hob und sie vor dem Fenster stehen sah. Doch wie lange sie auch wartete, ihr Mann schaute nicht aus seinem Buch auf. Schließlich war Elisabeth so durchgefroren, dass sie es nicht mehr aushielt und nach Hause ging. Auf dem Weg weinte sie, bis die Hunde in den Höfen entlang der Straße zu jaulen begannen.
Die kleine Ilse schlummerte fest, als die Hebamme sie in die Arme ihrer Mutter legte, um sich den Mantel anzuziehen. Bevor die Hebamme das Haus verließ, sagte sie zu Elisabeth:
»I find, de Klane hat de hochn Wangenknochn vom Johannes.«
Daraufhin sah Elisabeth ihrer Tochter ins Gesicht und nickte eifrig.
Der Tag, an dem der Doktor die lang erwarteten Medikamente brachte, begann damit, dass Johannes auf seinem Morgenspaziergang ein Schneehuhn entdeckte, dessen weißes Kleid mit braunen Federn durchsetzt war. Am Kopf hatte die Verfärbung begonnen, und zum ersten Mal seit Langem lächelte Johannes: Der Frühling stand bevor. Wenn Johannes früher Schneehühner entdeckt hatte, hatte er versucht, sie zu fangen, denn Schneehuhnfleisch galt in St. Peter am Anger als besondere Delikatesse. Doch in diesem Moment war Johannes nicht nach Jagen zumute, obwohl das Schneehuhn nur einen halben Meter vor ihm stand und durch die Futtersuche abgelenkt war. Und plötzlich wurde Johannes klar, dass ihm nicht nur die Schneehuhnjagd egal war, sondern sein ganzes bisheriges Leben. Er wollte nicht länger in St. Peter bleiben, Bäume fällen, Statuen schnitzen, im Wirtshaus sitzen oder Schneehühner braten, er wollte erforschen, ob Schneehühner Würmer hatten.
Kurz vor Einsetzen der Schneeschmelze kamen die Krämpfe. Sechzehn Stunden lang wand sich sein Darm, zwei Stunden länger als Elisabeth in den Wehen gelegen hat, dachte Johannes und schämte sich noch im selben Moment für diesen Gedanken. Als tags darauf der gewaschene Bandwurm vor ihm lag, ganze 14,8 Meter lang und in etwa so breit wie Elisabeths Ringfinger, glühte Johannes vor Stolz, als hätte er die Erstbesteigung des Großen Sporzer vollbracht.
Mit weit offenen Mündern beobachtete die Stammtischrunde – Anton Rettenstein verkutzte sich an seinem Bier –, als Johannes Gerlitzen im Wirtshaus erschien, um den Wirt um ein leeres Marmeladenglas und etwas Spiritus zu bitten. Sobald die Schneeschmelze die Wege ins Tal befreit hatte, suchte Johannes drei Paar frische Unterwäsche zusammen und schlug Schreibers Berichte sowie den präparierten Bandwurm in jeweils eines seiner Hemden ein.
An einem Dienstagmorgen bog Johannes Gerlitzen auf die Angertalstraße und machte sich auf den vierstündigen Fußweg hinaus in die Welt. Als Erster kam ihm der Briefträger Gerhard Rossbrand entgegen, danach die Volksschullehrerin, schließlich einige Bauern, und alle fragten sie ihn, wohin er so zielstrebig ginge. Ohne stehenzubleiben, antwortete er jedes Mal:
»I geh in d’ Hauptstadt und werd Doktor.«
Dem Briefträger fielen ein paar Briefe zu Boden, die Volksschullehrerin lachte lauthals auf, die Bauern schüttelten die Köpfe und waren sich einig, dass er nun endgültig verrückt geworden war. Noch nie war jemand aus St. Peter am Anger weggegangen, schon gar nicht in die Hauptstadt, schon gar nicht, um Doktor zu werden. Sogar die Murmeltierfamilie, die sich am Schutthang kurz nach der Dorfgrenze angesiedelt hatte, stellte sich mit emporragenden Schwänzen auf die Hinterläufe und blickte ihm nach, bis er außer Sichtweite war.
Elisabeth erfuhr von seinem Abschied durch einen Brief, den er auf der Schwelle des gemeinsam gebauten Hauses zurückgelassen hatte:
Elisabeth, ich geh fort. Vielleicht komm ich zurück, wenn ich ein Doktor bin. Erzähl dem Kind, daß ich der Vater bin. Du weißt eh, der Nachbar is ein Sautrottel. Und bleib im Haus wohnen, ich brauchs nimmer, und falls ich zurückkomm, weiß ich wenigstens, wo ich dich finden kann. Machs gut, ich bin dir nicht bös. Mal schaun, was sich der Herrgott für uns überlegt hat.
Johannes Gerlitzen (nach der Schneeschmelze 1960)
[1.5.] Was ich im folgenden über die Urzeit der Ureinwohner berichte, habe ich aus vielen Mythen und Erzählungen recherchiert, und manches erscheint mir nicht ganz glaubhaft, doch bin ich als Geschichtsschreiber verpflichtet zu verkünden, was ich herausfand. Es heißt, wer die Ureinwohner jenes Bergbarbarendorfes namens St. Peter am Anger waren und woher sie kamen, hätten diese im Moment der Dorfgründung bereits vergessen. Ihre Sprache sei aufgrund der langen Wanderschaft zu einem unregelmäßigen Mischmasch aller Alpendialekte geworden, und da sie sich oft verirrt hätten, durch Zeitlöcher gepurzelt seien, den Eingang zur Hölle gefunden hätten, vor Lindwürmern geflüchtet und jahrelang von einer Sintflut in einem Hochtal festgehalten worden seien, wo sie nichts als hellgelbe Beeren und dunkelblaue Blätter gegessen hätten, hätten sie sogar vergessen, wieso sie eigentlich aufgebrochen seien. [1.6.] Nun meinen die Geschichten, daß ihr Gott, zu dem sie ein irischer Missionar bekehrt habe, fünf Engel und sechsundzwanzig Heilige habe abkommandieren müssen, um sie zu ihrem Bestimmungsort zu führen. [1.7.] Auf den Angerberg seien sie letztlich nicht durch das Tal im Süden, sondern über die Gletscherkette im Norden gekommen. Als nach dieser Reise durch Eis und mannshohen Schnee nur noch vier Männer all ihre Zehen gehabt hätten, hätten sie beschlossen, am Angerberg zu bleiben, und dessen Vorzüge erkannt: Aus dem Inneren der den Angerberg beschützenden 4000er Bergkette sprudelten klare Quellen, da diese Gletscher von Steinläusen ausgehöhlt waren, was sich, wie ich bestätigen kann, auch 1500 Jahre später noch so verhält. An diesen Felswänden blieben die meisten Unwetter hängen, es gab genug Holz, und aufgrund der geschützten Hanglange gediehen sogar eßbare Früchte, die sonst nur in tieferen Lagen wuchsen. Und Wildschweine gab es mehr, als man braten konnte!
Oft betrachtete Elisabeth Gerlitzen ihre Hände. Als sie klein war, hatte die Mutter sie wegen ihrer rauen, aufgesprungenen Handflächen gerügt. Fast täglich wurde sie ermahnt, nicht wie ein Bursch auf Bäume zu klettern und Steinschleudern zu schnitzen – Blasen an den Handballen, aufgescheuerte Handrücken und Schnittwunden seien einem Mädchen nicht angemessen. Sieben Jahre nachdem ihr Ehemann Johannes Gerlitzen das Dorf verlassen hatte, sahen ihre Hände wieder aus wie zu ihrer Mädchenzeit. Da, wo Johannes einen Spielplatz für die Kinder hatte bauen wollen, stand nun der Hühnerstall, gezimmert aus Brettern und Leisten, die Johannes vor seinem Fortgehen für eine Schaukel zurechtgeschnitten hatte. Zwei Dutzend Hühner scharrten in der Erde, Gras wuchs an dieser Stelle schon seit Jahren nicht mehr. Im Laufstall nebenan meckerten die Ziegen – Elisabeth hasste die Viecher, sie ertrug den intensiven Gestank nur, indem sie sich das Kopftuch vor die Nase band. Doch ihre Tochter Ilse brauchte Milch und Käse. Elisabeth hatte einen grünen Daumen, sie zog mehr Gemüse und Obst, als die beiden essen konnten. Elisabeth verkochte viele Früchte zu Marmelade, legte Gemüse ein, und im Keller gor sie ein großes Fass Sauerkraut. Der Lebensmittelgreißler nahm ihr ihre Erzeugnisse zu einem mehr als großzügigen Satz ab – Herr Hochschwab senior war der Taufonkel vom Nachbarn links und fühlte sich im Gegensatz zu seinem Neffen, der der eigentliche Urheber des Schlamassels war, immerhin ein bisschen verantwortlich. Der Nachbar Karl Ötsch hatte nie ein Wort zu alldem verloren. Er tat so, als hätte es Johannes Gerlitzen nie gegeben, und manche der Wirtshausbrüder bedauerten, nie wieder Schimpftiraden von Karl Ötsch gegen Johannes Gerlitzen oder von Johannes gegen Karl zu hören. Gerhard Rossbrand, der als Briefträger die meiste Zeit für dumme Scherze hatte, versuchte oft, Karl Ötsch aus der Reserve zu locken:
»Glaubst, dass da Gerlitzen wirkli a Doktor wird? So a hochg’schissener?« Oder: »Na Karl, wenn da Gerlitzen Doktor wird, hast endli wen, der wos da deine schiachen Zähnd reißt!«
Aber Karl reagierte nicht. Höchstens ein Schulterzucken brachte er zustande, doch ansonsten war er verstummt, hielt sich bei den Dorfversammlungen zurück, sagte Ja und Amen zu allem und ward nie wieder am Gartenzaun der Gerlitzens gesehen. Elisabeth und Ilse mied er. Er hatte schon fünf Kinder, und Irmgard Ötsch, seine Ehefrau, war die erste und einzige militante Feministin von St. Peter – lange bevor der Begriff Feminismus im Dorf bekannt wurde. Ihr Anspruch auf Gleichberechtigung ging so weit, dass sie nach Ilses Geburt ihren Nudelwalker nie mehr aus der Hand legte. Sogar ins Bett nahm sie ihn mit, und der Schlüsselbeinbruch sowie das taubeneigroße Hämatom im Gesicht von Karl Ötsch machten allen im Dorf klar, dass man ihn bei seiner nächsten Verfehlung aus dem Dorfbrunnen würde fischen müssen – mit dem Gesicht nach unten.
Bereits einige Wochen, nachdem Johannes Gerlitzen das Dorf verlassen hatte, sprach so gut wie niemand mehr über die Sache. St. Peter am Anger war zu klein, um sich Gedanken darüber zu machen, wer nun tatsächlich der Vater von welchem Kind war. Irgendwie waren ohnehin alle miteinander verwandt, und so gaben die St. Petrianer Johannes die Schuld an Elisabeths Unglück und machten ihm viele Vorwürfe, seine Frau und seine Tochter wegen einer hirnrissigen Spinnerei mit Würmern verlassen zu haben. Das gesamte Dorf fühlte sich nun verantwortlich für Ilse, die älteren Frauen nähten ihr Kleider, Elisabeths Freundinnen holten sie zu sich, wenn die Mutter arbeiten musste oder etwas Ruhe brauchte.
Karl Ötschs einziges Angebot an Elisabeth war, ihr das Haus abzukaufen. Es sei viel zu groß für die beiden Frauen, meinte er, zwei seiner Kinder könnten später darin wohnen, wenn diese Familien gegründet hätten. Elisabeth dachte über das Angebot keine fünf Minuten nach, sondern schlug es aus, wann immer der Nachbar es unterbreitete. Johannes und sie hatten das Haus mit ihren eigenen Händen erbaut: viel Holz und vier Schlafzimmer für ihre drei gewünschten Kinder. Außerdem hatte Johannes nach der Schneeschmelze geschrieben, er wolle wissen, wo sie zu finden sei, und Elisabeth glaubte im Gegensatz zum Rest des Dorfes fest daran, dass er zurückkommen würde. Es war ihr egal, wenn ihr die alten Frauen auf der Kirchenstiege die Schulter tätschelten und meinten, Johannes sei in dieser gefährlichen Welt da draußen sicherlich schon gestorben. Sie ignorierte ihre Freundinnen, die ihr zuflüsterten, dass er wahrscheinlich eine neue Frau habe, sie wisse doch, wie schamlos die Frauen im Rest der Welt seien.
Der junge Gemeinderat Arber forderte sie, obwohl sie ihn um einen Kopf überragte, bei jedem Fest zum Tanz auf, wollte sie ständig auf ein Krügerl einladen, bot ihr auf dem Nachhauseweg einige Mal an, sie zu heiraten, ein Vater für die kleine Ilse zu sein. Elisabeth wies ihn ab, genauso wie den Bürgermeistersohn Friedrich Ebersberger, der sie zwar nicht heiraten wollte, aber der festen Überzeugung war, sie bräuchte mal wieder einen Mann in ihrem Bett – bis sie ihm nach dem Sonnwendfeuer 1964 einen so heftigen linken Haken verpasste, dass er einen Eckzahn verlor.
Elisabeth betete jeden Abend, dass Johannes zurückkäme. Seit er weggegangen war, schlief sie in seiner Betthälfte, während dort, wo sie selbst früher gelegen hatte, nun Ilse schlief. Sie hatte ihrer Tochter nie angewöhnt, in ihrem eigenen Zimmer zu schlafen, ihr nur gesagt, wenn der Vater wiederkäme, müsse sie ins Kinderzimmer, aber Ilse glaubte genauso wenig daran wie der Rest des Dorfes. Sie wusste schließlich, was die anderen Kinder in der Volksschule erzählten. Das Leben in St. Peter am Anger ging weiter, als hätte es Johannes Gerlitzen nie gegeben. Auch seine Freunde aus der Stammtischrunde dachten irgendwann nicht mehr an ihn und hörten nach drei Jahren auf, Witze über Bandwürmer zu machen. Nach und nach gründeten sie Familien, neue Häuser wurden gebaut, weitere Bäume gefällt, und da niemand mehr über die Vergangenheit sprach, hatten bald alle vergessen, warum Johannes weggegangen war. Nur auf der Kirchenstiege machte man ihm weiterhin jeden Sonntag Vorwürfe, dass er seine Frau und seine Tochter alleingelassen hatte.
Um das große Haus zu erhalten, reichten Elisabeths Einkünfte nicht aus. Daher half sie im Sommer verschiedenen Bauern bei der Ernte und verrichtete Arbeiten, die sonst nur die Männer machten, bis im Spätsommer 1967 jenes Unglück geschah, bei dem eigentlich nichts passierte. Die Feldarbeiter waren in Eile, das Heu einzubringen, da wie so oft im Spätsommer dichte schwarze Gewitterwolken am Großen Sporzer hingen und es nur eine Frage von Stunden war, bis es losregnete. Wenn ein solcher Regen einsetzte, konnte er Tage dauern, da Wolken über St. Peter nicht weiterziehen konnten – einmal ins Tal gepresst, waren die Sporzer Alpen für sie wie eine Sackgasse. Elisabeth fuhr den Traktor von Leopold Kaunergrat. Sie war eine gute Fahrerin, die einzige Frau, die sich traute, den fünfhunderter Fendt mit Anhänger über die abfallenden Hänge zu steuern, doch als sie ausstieg, um das rostige Scharnier der Anhängerklappe zu fixieren, machte sich der Traktor selbstständig. Er rollte langsam unter Elisabeths Händen davon, woraufhin sie aufschrie und ihm nachhechtete. Auf dem offenen Feld drehten sich alle um und erschraken, doch Elisabeth holte zur Fahrerkabine auf, sprang hinein und brachte den Traktor nach einigen Metern zum Stehen. Grölend jubelten ihr die Männer zu.
»Super Madl!«, schrien sie, beeindruckt von ihrem schnellen Reflex, von der waghalsigen Akrobatik, mit der sie aufsprang, von der Leichtigkeit, mit der sie die Situation entschärfte. Das Feld befand sich nördlich einiger Bauernhöfe und fiel talwärts steil ab – niemand wollte sich ausmalen, was passiert wäre, wenn Elisabeth den Traktor nicht zum Stehen gebracht hätte und er mit hohem Tempo in einen der Höfe gerast wäre.
Am Abend erzählten die Männer im Wirtshaus einem jeden, der nicht dabei gewesen war, von der mutigen Heldentat der Elisabeth Gerlitzen. Sie prosteten sich auf ihr Wohl zu und schwelgten in Kindheitserinnerungen, wie die Lisl immer schon das kühnste Mädl der Volksschule gewesen war. Sie erinnerten sich an die glorreiche Zeit der Bande, als die Burschen in ihrem Rabaukenverein den Bach aufgestaut und Baumhäuser gebaut hatten. Elisabeth war als einziges Mädchen dabei gewesen, denn nur sie hatte sich getraut, als Mitgliedschaftsmutprobe von einer Nacktschnecke abzubeißen. Dieses Aufnahmeritual hatte sie bravouröser bestanden als die Bandenführer, die selbst ausgespuckt oder gespien hatten – nur Elisabeth hatte auf dem glitschig-weichen Hinterteil herumgekaut und völlig unbeeindruckt festgestellt: »Voi salzig!«
Elisabeth saß an jenem Abend nicht am Stammtisch des Wirtshaus Mandling, sie lag im Bett und zitterte, zitterte wie seit dem Moment, als sie den Traktor quergestellt und den Motor abgeschaltet hatte. Ilse, das hübsche siebeneinhalbjährige Mädchen mit Elisabeths großen, grünen Augen und einem nicht zu bändigenden schwarzen Wuschelkopf, lag neben ihr, streichelte den Kopf der Mutter und flüsterte ihr zu:
»Is jo guat Mama, is jo nix passiert.«
Doch das Zittern hörte nicht mehr auf.
Nach einigen Tagen wurde es zwar weniger und war nur zu merken, wenn Elisabeth ihre Hände ganz still auf eine Fläche legte, aber nach einem halben Jahr begann es wieder stärker zu werden, sodass die Teller laut klapperten, wenn Elisabeth abwusch, und sie es bald nicht mal mehr schaffte, ein Marmeladenglas zu öffnen. Ein Jahr später rutschten ihr immer öfter Gegenstände aus der Hand, Geschirrtücher, die Gießkanne, ein fertiger Kuchen, den sie aus dem Backrohr holen wollte. Nach anderthalb Jahren schaffte sie es kaum noch, einen Reißverschluss zu schließen oder sich die Schuhe zuzubinden, und fast zwei Jahre später war das Zittern so schlimm, dass ihr Körper kaum noch zur Ruhe kam und sie bereits morgens einen Muskelkater hatte, als wäre sie die ganze Nacht um ihr Leben gelaufen.
Der ziegengesichtige Arzt aus Lenk wusste auch nicht so recht, was man noch tun könne, und als sie kaum mehr schlucken, essen, trinken konnte, rief er auf ihre Bitten hin Freunde in der Stadt an, Ärzte, Universitätsbeamte, die Sekretärin der medizinischen Fakultät, ob irgendjemand von einem Holzschnitzer gehört habe, der in die Hauptstadt gegangen sei, um Arzt zu werden. Die meisten lachten ihn aus: ein Schnitzer aus den Alpen?
Der Zufall wollte es, dass der ziegengesichtige Arzt auf Johannes Gerlitzens Spur kam. Zu Ostern 1969 kam der Sohn des Arztes, der ebenfalls Medizin studierte, um in die Fußstapfen seines Vaters zu treten, während der Feiertage nach Hause und hatte sein Lehrbuch über Parasitologie dabei, dessen Inhalt demnächst abgeprüft werden würde. Der Vater erzählte beim Abendessen von jenem Schnitzer oben bei den Bergbauern, der seinerzeit einen Bandwurm gehabt habe und von dem Tier so krankhaft besessen gewesen sei, dass er sich in den Kopf gesetzt habe, parasitär im Menschen lebende Würmer zu erforschen. Ohne Schulabschluss! Amüsiert nahm er das Lehrbuch zur Hand, blätterte darin, bis ihm vor Schreck eine Erbse in die Luftröhre rutschte und der Sohn seine Grundkenntnisse in Erster Hilfe anwenden musste. Ein der vierten Auflage angehängtes Zusatzkapitel über die Finnen des Schweinebandwurmes in den Lungen von Kleinkindern war von einem gewissen Doktor Johannes Gerlitzen verfasst worden. Der Arzt wollte gern an einen Zufall glauben, doch er war wissenschaftlich genug gebildet, um solche Zufälle nicht für möglich zu halten.
Es hatte einige Zeit gedauert, die Alpen zu durchqueren. Johannes Gerlitzen hatte sich von Arbeit zu Arbeit gefragt, ein Monat Hilfsarbeiter hier, ein Monat Hilfsarbeiter dort, und Schritt für Schritt hatte er sich von den Sporzer Alpen entfernt. Egal welcher Tätigkeit er nachgegangen war, ob er beim Staudammbau ausgeholfen oder eine kurze Anstellung bei der Bahn gefunden hatte, am meisten interessiert hatte er sich für die Ärzte, die auf jeder Großbaustelle die Arbeiter betreuten. In seiner Freizeit nach Schichtende hatte er die Krankenlager aufgesucht und gefragt, ob er ein bisschen zusehen und sich nützlich machen dürfe. Mit der Zeit hatte er sich angewöhnt, bei keiner Verletzung wegzuschauen, egal, ob sich einer geschnitten oder einem anderen ein Steinschlag das halbe Gesicht zertrümmert hatte. Bevor er sich sein erstes Wachstuchheft kaufte, hatte er, wann immer er ein Buch in die Hand bekommen hatte, die letzten Leerseiten herausgelöst und in kleiner gedrungener Schrift notiert, was er gesehen hatte, um nichts zu vergessen. Er fand Gefallen am Schreiben und begann auch bald, seine eigenen Gedanken festzuhalten. Nur über Elisabeth schrieb er kein einziges Wort. Wenn er abends in den Arbeiterbaracken übernachtete und der Wind durch die notdürftig zusammengenagelten Latten pfiff, dass sogar den Mäusen die Zähne klapperten, kämpfte Johannes mit den Tränen und klammerte sich eisern an seinen Entschluss. Er hatte entschieden, das Dorf zu verlassen, seinen Traum zu verwirklichen und Arzt zu werden. Vorher, so hatte er sich geschworen, würde er keinen Fuß mehr nach St. Peter setzen, egal, wie sehr es ihn dorthin zurückzog. Und während das Schnarchen der anderen Arbeiter das Rauschen der Winde rundherum übertönte, betete Johannes Gerlitzen nicht zum Vater, zum Sohn oder zu den Heiligen, so wie man es in St. Peter am Anger tat, wenn man Hilfe brauchte, sondern er erinnerte sich an die medizinischen Beschreibungen in jenem Wurmbuch, das er aus der Dorfbibliothek mitgenommen hatte. Bis er einschlief, stellte er sich vor, selbst Wurmkrankheiten zu erforschen und anschließend darüber zu schreiben – Nacht für Nacht.
Nach einem Dreivierteljahr der Wanderschaft erreichte Johannes Gerlitzen das Flachland, und nachdem er sich noch etwas Geld auf einer Baustelle verdient hatte, stand er am Neujahrstag des Jahres 1961 zu Sonnenaufgang auf und fuhr per Anhalter die letzten Kilometer bis in die Hauptstadt. Je weiter seine Mitfahrgelegenheit in die Stadt hineinfuhr, desto größer wurden Johannes’ Augen. Schon wenige Meter nach der Stadtgrenze hatte er mehr Häuser und Menschen gesehen als in seinem bisherigen Leben. Erst als der Fahrer des Wagens scherzte, Johannes solle sich nicht die Nase an der Fensterscheibe platt drücken, erwachte er aus seinem Staunen und lächelte.
Bei der Tante eines Kollegen vom Bau, den er auf seiner Reise kennengelernt hatte, bezog er schließlich ein Untermietszimmer, das kaum groß genug war, um eine Matratze darin unterzubringen, und kein fließend Wasser hatte. Man hatte knapp Platz für eine kleine Kommode, einen Stuhl und den Holzofen. Wenigstens gab es auf dem Gang eine Toilette mit Wasserspülung, die ihn zutiefst beeindruckte. In St. Peter am Anger wusste man damals noch nicht, dass es Alternativen zu den Plumpsklos gab, die im Winter für zahlreiche Harnwegsentzündungen sorgten und im Sommer voller schweinsaugengroßer Fleischfliegen waren.
Bald entschied sich Johannes, einen Teil seiner Ersparnisse in ein ordentliches Hemd zu investieren, und an seinem zwanzigsten Geburtstag, am Dienstag in der vierten Februarwoche 1961, marschierte er so früh ins Tröpferlbad, dass noch alle Straßenlampen schienen. Im Anschluss suchte er frisch gestriegelt das k.k. Hof-Naturalienkabinett auf. Nach zwei Weltkriegen und einer untergegangenen Monarchie war es zwar in Naturhistorisches Museum umbenannt worden, doch das Fehlen des Adelstitels tat der Bewunderung des Johannes Gerlitzen keinen Abbruch. Kaum dass er den ausgestopften Hund des Museumsgründers Franz Stephan von Lothringen an der majestätischen Eingangstreppe betrachtet hatte, war er froh, so früh aufgestanden zu sein. Er blieb, bis ihn der Saalwächter nach Hause schickte, und hatte dennoch das Gefühl, nicht lange genug dort gewesen zu sein. Endlich sah Johannes Gerlitzen all die anderen Würmer, die nicht in seinem Darm gewesen waren und von denen er nur gelesen hatte: Bandwürmer, Fadenwürmer, Saugwürmer der Lunge, Saugwürmer der Leber, Schweinelungen gespickt mit Finnen und unzählige mehr. Es gab sogar Mikroskope, an die sich der Besucher unter den Argusaugen des Saalwächters setzen konnte, um die Körper von Würmern vergrößert zu bestaunen. Wie fein die Glieder waren! Wie stark ausgeprägt die Fangzähne! Johannes lief es kalt den Rücken herunter bei dem Gedanken, dass sich solche Zähne einst in der Innenwand seines Dünndarms verkeilt hatten. Die meiste Zeit verbrachte er im Saal der wirbellosen Weichtiere, aber er spazierte auch durch die anderen Säle des Obergeschosses. Die Steine und Mineralien im Parterre sparte er aus – inmitten der Vielfalt der Welt hatte er das Gefühl, in St. Peter sein Leben lang genug Steine gesehen zu haben. Manchmal bekam er Atemnot und musste sich setzen. All die Eindrücke überwältigten ihn, und er war überfordert von der Frage, wie er den Rest der Welt bisher hatte ignorieren können. Wie war es möglich, auf diesem gewaltigen Erdball zu leben und nichts anderes zu kennen als den Ort, in dem man geboren und aufgewachsen war? Johannes Gerlitzen setzte sich auf einen Schemel und atmete tief ein. Im Naturhistorischen Museum roch es intensiv nach Alaun, Aluminiumgerbstoff und Borsäure. Die Saalwächter mussten aus diesem Grund nach einem Arbeitstag zwanzig Minuten mit sehr viel Seife duschen, doch für Johannes Gerlitzen war dies der Duft der Freiheit.
Einige Wochen später hatte sich seine Euphorie jedoch wieder gelegt, denn er hatte es sich etwas einfacher vorgestellt, ein Medizinstudium zu beginnen. Auf der Universität hatte sich Johannes erklären lassen, dass er eine Studienzulassungsprüfung benötige, aber der Blick in die Anforderungsliste dieser Prüfung ließ ihn verzweifeln. Es war ihm schier unbegreiflich, warum er, wenn er Arzt werden wollte, seitenlange mathematische Aufgaben lösen oder lateinische Texte übersetzen können musste. Aus seiner monatelangen Lektüre im Gemeindeamt von St. Peter wusste er zwar, dass in der Medizin alles mit lateinischen Wörtern ausgedrückt wurde, doch er war zugleich davon überzeugt, dass es reichen müsse, diese einzelnen Wörter zu kennen, ohne lesen zu können, was irgendwelche Kaiser geschrieben hatten, die lange vor Jesu Geburt gestorben waren. Und so verfluchte Johannes Gerlitzen jene Menschen, die sich die Studienzulassungsprüfung ausgedacht hatten und begann, wie früher Statuen zu schnitzen. Sein einziger Lichtblick war, dass die Menschen in der Stadt das Fünffache für seine Statuen bezahlten, als er in den Alpen erhalten hatte.
An Sonntagen ging er ab und zu ins Wirtshaus, gönnte sich ein Stück Fleisch und trank eine Limonade – dem Alkohol hatte er seit der Geburt der kleinen Ilse abgeschworen. An jenem Sonntag im Juli 1961, an dem sich sein Leben schließlich für immer verändern sollte, hatte Johannes gerade ein Surschnitzel mit Erdäpfelsalat gegessen und war überaus niedergeschlagen, weil er mittlerweile seit einem halben Jahr in der Stadt lebte, ohne seinem Traum von der Medizin auch nur einen Schritt näher gekommen zu sein. Johannes erkannte den Mann wieder, der plötzlich hinter ihm stand und ihn fragte, ob er nicht derjenige sei, dem er die kniehohe Marienstatue abgekauft habe, und ob er Karten spielen könne? Man spiele im Hinterzimmer und benötige noch einen Mitspieler. Zuerst zögerte Johannes, denn Karten spielen erinnerte ihn an die vielen Abende im St.-Petri-Wirtshaus, doch er hatte an jenem Sonntag nach der Messe sieben Statuen verkauft, und so meinte er, sich etwas Unterhaltung gönnen zu dürfen. Johannes gewann haushoch, und die Männer waren so beeindruckt von all seinen Kniffen und Tricks, dass sie ihn von nun an jeden Sonntag einluden, mit ihnen zu spielen. In St. Peter am Anger spielten die Männer seit Generationen jeden Abend Karten, und Johannes war bis zu jenem Moment, als ihn einer seiner Mitspieler fragte, was er dafür haben wolle, ihm seine Tricks beizubringen, nicht bewusst, dass die St.-Petri-Männer dadurch über ganz besonderes Wissen verfügten. Eigentlich antwortete Johannes nur zum Spaß, er benötige eine bestandene Studienberechtigungsprüfung, allerdings nahm ihn der Mitspieler ernst und antwortete, dass er jemanden kenne, der jemanden kenne, der ihm noch einen Gefallen schulde, und der wiederum kenne jemanden, der beim Studienberechtigungsamt arbeite. Drei Wochen später hatte Johannes ein Zeugnis in der Hand, das ihm die allgemeine Hochschulreife der Alpenrepublik attestierte. In St. Peter am Anger kannte jeder jeden, was in der Stadt unmöglich war, und Johannes verstand, um hier zu überleben, musste man nicht alle kennen, sondern es ging bloß darum, jemanden zu kennen, der jemanden kannte, der jemand anderen kannte, der wiederum das Gesuchte konnte.
Als sich Johannes schließlich in der langen Schlange einreihte, die vor der jungen Universitätsbeamtin auf die Immatrikulation wartete, pochte sein Herz, und der Schweiß rann ihm unter dem guten Hemd den Rücken hinab. Während er sich Zentimeter um Zentimeter auf dem polierten Marmorboden unter den großen Gewölben des ehrwürdigen Gebäudes fortbewegte, fürchtete er, die Beamtin würde sofort bemerken, dass er keineswegs zum Studium berechtigt war, doch die junge Frau, deren Frisur ihn an ein Schlagoberstürmchen erinnerte, lächelte ihn kurz an, notierte seine Daten in einem Formular, ließ ihn selbiges unterschreiben, füllte einen orangefarbenen Ausweis aus, klebte sein mitgebrachtes schwarzweißes Bild auf die freie Fläche, drückte einen Stempel darauf, und als sich Johannes Gerlitzen höflich von ihr verabschiedete, war er Medizinstudent.
Anfangs studierte Johannes sehr langsam. Er musste etliches nachlernen, doch sitzen und lesen hatte er bereits in St. Peter geübt. Er war nie faul gewesen, und in der Medizin brauchte man kaum Vorwissen, wie er erfreut feststellte, sondern nur das Talent, verbissen auswendig zu lernen. Und sobald es um das Praktische ging, bemerkte niemand mehr, dass er als einer der wenigen nicht aus der Stadt kam. Im Gegensatz zu den meisten seiner Kollegen konnte Johannes das Skalpell von Beginn an halten, ohne zu zittern. Mehr als einmal wurde er von den Professoren für seine ruhige Hand und seine präzisen Schnitte gelobt. Johannes staunte, um wie viel einfacher das Sezieren einer Lunge war, als die feinen Gesichtszüge einer Statue zu schnitzen. Und wie sanft glitt eine Knochensäge durch ein Bein, im Vergleich zu einer Zackensäge durch einen Baumstamm. Viel hatte Johannes Gerlitzen nicht mit den anderen Studenten zu tun. Eisern verbrachte er die meiste Zeit in der Nationalbibliothek. Alle Leseplätze waren mit Leselampen ausgestattet, und es gab nichts, was man nicht nachschlagen konnte. Wenn er heimkam, schnitzte er bis spät in die Nacht Statuen, um Geld zu verdienen, und für sich selbst schnitzte er eine Nachbildung der Mundhöhle mit Zähnen, da dieser Teil des Körpers ihm beim Lernen die meisten Schwierigkeiten bescherte. Wann immer es nämlich um Zahnkrankheiten ging, musste er an seinen Nachbarn in St. Peter denken, Karl Ötsch, der die schlechtesten Zähne des Dorfes hatte. Manchmal verfiel er über dem Lehrbuch in Trance, dachte darüber nach, wie Elisabeth diesen Mundgeruch hatte ignorieren können, und dann erschienen vor seinen Augen jene grausamen Bilder, wegen derer er aus St. Peter geflüchtet war.
Nach einigen Semestern legte sich die Anfangseuphorie. Was ihn begeistert hatte, langweilte ihn, und nachdem er den theoretischen Teil seines Studiums abgeschlossen hatte, hatte er viel Zeit nachzudenken.