Makarionissi oder Die Insel der Seligen - Vea Kaiser - E-Book

Makarionissi oder Die Insel der Seligen E-Book

Vea Kaiser

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Beschreibung

Ist es leichter glücklich oder unglücklich zu sein? Von Griechenland bis Niedersachsen, von den Fünfzigerjahren bis in die Gegenwart: In ihrem neuen Roman erzählt Vea Kaiser in ihrem einzigartigen Ton von der Glückssuche einer Familie und deren folgenreichen Katastrophen, von Möchtegern-Helden und Herzensbrechern. Und von der großen Liebe, die man mehrmals trifft. In einer niedersächsischen Kleinstadt wird die Erotik der deutschen Sprache entdeckt. In der österreichischen Provinz sehnt sich ein skurriler Schlagerstar nach einer Frau, die er vor 40 Jahren verlor. In einer Schweizer Metropole macht ein liebeskranker Koch dank pürierter Ameisen Karriere. Und auf einer griechischen Insel sucht ein arbeitsloser Gewerkschafter verzweifelt seinen Ehering, um dem Tod ein Schnippchen zu schlagen. Doch alles beginnt in einem vom Krieg entzweiten Dorf an der albanisch-griechischen Grenze. Mit einer Großmutter und Kupplerin par excellence, die keine Intrige scheut, um den Fortbestand ihrer Familie zu sichern. Und mit der klugen, sturen, streitbaren Eleni und ihrem Cousin Lefti, der sich nichts sehnlicher wünscht als Frieden. Als Kinder unzertrennlich, entzweien sich die beiden umso stärker als Erwachsene. Und kommen doch nie voneinander los. Mit hinreißender Tragikomik, einem liebevollen Blick für Details und furioser Fabulierlust folgt Vea Kaiser der Geschichte einer unvergesslichen Familie, die auseinandergerissen werden musste, um zusammenzufinden. Ein Roman über das Aushalten von Sehnsucht und Einsamkeit, über Neuanfänge, Sandburgen für die Ewigkeit und die Schönheit des Lebens als Postkartenmotiv.

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EPUB
MOBI

Seitenzahl: 563

Veröffentlichungsjahr: 2015

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Vea Kaiser

Makarionissi oder Die Insel der Seligen

Roman

Kurzübersicht

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Titelseite

Über Vea Kaiser

Über dieses Buch

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

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Über Vea Kaiser

Vea Kaiser, geboren 1988, studiert Altgriechisch in Wien. Ihr Debütroman "Blasmusikpop" wurde 2013 als bestes deutschsprachiges Debüt auf dem internationalen Festival du Premier Roman in Chambéry vorgestellt und für den aspekte-Preis nominiert. 2014 war sie Writer-in-Residence an der Bowling Green State University und wurde zur österreichischen Autorin des Jahres gewählt. Ihr zweiter Roman "Makarionissi" wurde in Deutschland und Österreich zum Bestseller und erhielt von der Stiftung Ravensburger Verlag die Auszeichnung "Bester Familienroman".

 

Weitere Titel bei Kiepenheuer & Witsch

"Blasmusikpop oder Wie die Wissenschaft in die Berge kam", 2012.

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Über dieses Buch

Von Griechenland bis in die österreichische Provinz. Von den Fünfzigerjahren bis in die Gegenwart. In ihrem neuen Roman erzählt Vea Kaiser in ihrem einzigartigen Ton von einer unvergesslichen Familie, die auseinandergerissen wird, um zusammenzufinden.

Alles beginnt mit einem vom Krieg entzweiten Dorf an der griechisch-albanischen Grenze. Mit Yiayia Maria, einer Großmutter und Kupplerin par excellence, die keine Intrige scheut, um den Fortbestand ihrer Familie zu sichern. Und mit der klugen, sturen und streitbaren Eleni und ihrem Cousin Lefti, der sich nichts sehnlicher wünscht als Frieden. Doch dann deutet Yiayia Maria die Zeichen falsch und stürzt damit gleich mehrere Generationen ihrer Familie ins Unglück …

Mit hinreißender Tragikomik und großer Fabulierkunst entfaltet Vea Kaiser die turbulente Geschichte einer griechischen Familie über vier Generationen, die ihre Spuren an vielen Orten hinterlässt: In einer niedersächsischen Kleinstadt wird die Erotik der deutschen Sprache entdeckt. In der österreichischen Provinz sehnt sich ein skurriler Schlagerstar nach der Frau, die er vor vierzig Jahren verlor. In einer Schweizer Weltstadt macht ein liebeskranker Koch dank pürierter Insekten Karriere. Und auf einer Insel namens Makarionissi sucht ein arbeitsloser Gewerkschaftsführer verzweifelt seinen Ehering, um dem Tod ein Schnippchen zu schlagen.

Inhaltsverzeichnis

Hinweis zum Werk

Widmung

Motto

Der Geschichte Helden

I. Gesang

Prolog

Immer, wenn einer zurückkommt

Die Bestie mit nur einem Auge

Namenstag

II. Gesang

Des Tanzes Wahrheit

Lefti wäre gern nicht Lefti

Die Ausrottung von Mehltau

Mehr als ein schlechtes Vorzeichen

III. Gesang

Das deutsche Nein

Die Schönheit und Erotik der deutschen Sprache

Demosthenes gegen Antigone

IV. Gesang

Ein Tag mit dem Effekt von vielen

Dieses verdammte Glück

Als die Panzer kamen

Was Schnee nicht verstecken kann

Heutige Zeiten

V. Gesang

Die Glückshaube

Alleine, aber zumindest zu zweit

Der Brautmodenladen in Greektown

Eleni entdeckt Eleni wieder

Alle sagen Ja

Das obszöne Automobil

VI. Gesang

Der Hirschkäfer

Eine Sandburg für die Ewigkeit

Unterleibchen und Tshirtzaki

Das Königreich der Amazonen

VII. Gesang

Wer ist König Otto?

Vom Sinn und Zweck eines Loches im Boden

Ein ganzes Leben in einem Koffer

Zwei plus eins macht eins zu viel

Als Glück und Unglück Hand in Hand gingen

VIII. Gesang

Der Kampf um die Fußgängerzone

Die Schönheit des Lebens als Postkartenmotiv

Die Invasion des Buchsbaumzünslers

IX. Gesang

Die Ironie eines Baukrans

Warum Meeresnymphen nach ruhiger See trachten

Epilog

Widmung

Dank

Dies ist ein Roman und somit ein Werk der Fiktion. Alle Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt. Ebenso gilt bei gewissen Abweichungen zwischen historischen Ereignissen und der Geschichte dieses Buches, dass der Roman der Fiktion verpflichtet ist. Nicht der Realität. Geben Sie, geschätzte Leser, dem Fabulieren eine Chance! Denn bereits Herodot meinte: Oftmals erzählt ein G’schichterl die Geschichte besser, als es die Ereignisse in ihrem echten Ablauf je könnten.

Für meine Helden und Herzensbrecher

Aber nachdem die Erde auch dieses Geschlecht unten in der Tiefe verborgen hat,

erschuf Zeus, Sohn des Kronos, noch ein weiteres, viertes auf dem vielnährenden Boden, und zwar ein gerechteres und besseres Geschlecht,

die fabelhafte Generation der Helden,

die Halbgötter genannt werden, unsere Vorgänger auf der unendlichen Erde.

Doch auch diese vernichteten schlimmer Krieg und schrecklicher Streit,

die einen beim siebentorigen Theben, auf kadmeischer Erde,

als sie um die Herden des Ödipus kämpften,

die anderen, als sie auf Schiffen über den gewaltigen Meeresschlund

nach Troja fuhren, wegen der schönhaarigen Helena.

Dort, fürwahr, umfing die einen das tödliche Ende,

den anderen hingegen verlieh Vater Zeus, der Kronide, fern von den Menschen

Leben und Wohnsitz und siedelte sie am äußersten Rand der Erde an.

Dort nun haben sie keine Sorgen im Herzen und wohnen

auf den Inseln der Seligen am tiefwirbelnden Okeanos,

die glückseligen Helden, denen honigsüße Frucht

drei Mal im Jahr die blühende, Getreide spendende Erde trägt.

Hesiod, Werke & Tage

Whether I shall turn out to be the hero of my own life, or whether that station will be held by anybody else, these pages must show.

Charles Dickens, David Copperfield

Der Geschichte Helden

I. Gesang

Der von einem kleinen Bergdorf an der griechisch-albanischen Grenze erzählt, wo zwei, die sich eigentlich mögen, auseinandergerissen werden, weil die Familie große Pläne mit ihnen hat.

Prolog

In Varitsi, einem kleinen Bergdorf nahe der albanisch-griechischen Grenze, gab es das Sprichwort, dass die dunkelste Stunde immer jene vor Sonnenaufgang sei. Als Maria Kouzis jedoch im Frühling neunzehnhundertsechsundfünfzig aufschreckte und sich an der Wand ihrer Schlafkammer abstützte, auf dass die jahrhundertealten Steine ihr wild pochendes Herz etwas beruhigten, war sie sicher, noch nie eine solch finstere Nacht erlebt zu haben, obwohl es erst kurz nach Mitternacht war. Maria Kouzis fragte sich: War sie in ihren Gedanken verloren gegangen, hatte sie sich in Wachträumen verirrt oder war sie einfach eingenickt? Die alte Frau traute dem Schlaf nicht, denn wer zu tief schläft, verpasst, was um ihn herum geschieht. In jedem Falle war sie jedoch überzeugt, soeben ein Zeichen erhalten zu haben. Denn Zeichen in all ihren Gestalten hatte Maria Kouzis im Laufe ihres Lebens zu trauen gelernt.

Als sie eine junge Frau gewesen war, hatten plötzlich die Tiere in ihrer kleinasiatischen Heimatstadt Chimären geworfen. Ein Kalb mit zwei Köpfen, ein Zicklein, dessen weiß schimmernde Haut sich wie die eines Menschenbabys anfühlte. Sogar die wilden Hunde nahmen von diesen Kreaturen Abstand, und nachdem ein Vögelchen aus dem Nest gefallen war, das keine Flügel besaß, beschlossen Maria Kouzis und ihre Mutter neunzehnhundertachtzehn, Kleinasien zu verlassen. Der Vater, ein gebildeter Kaufmann, der in Paris studiert hatte, belächelte die Zeichenkunde und blieb. Die Türken, die wenige Wochen später in die Stadt einfielen, in ihrem verheerenden Bestreben, die ganze Küste von Griechen zu säubern, erstachen ihn, plünderten das Haus und zündeten es an.

In den von Flüchtlingen bevölkerten Straßen von Piräus, wohin es Maria Kouzis mit ihrer Mutter verschlagen hatte, schenkte ihr eines Tages eine Straßenhändlerin eine Tasse Kaffee, ein Luxus, den sie schmerzlich vermisst hatte. Doch Maria stürzte das schwarze Gold nicht runter, sondern achtete einzig auf den Kaffeesatz: Er hatte sich langsam am Grund gesammelt, während sich am oberen Rand ein Ring gebildet hatte. Und wie es das Omen des Ringes versprochen hatte, begegnete ihr wenige Tage später der Mann ihres Lebens: ein reicher Salzhändler aus den Bergen im Nordwesten. Er war beeindruckt von ihrer Klugheit, ihrer Bildung, ihrer Anmut – und heiratete sie, obwohl sie weder kochen konnte noch eine Mitgift mitbrachte. Und dank dieser Tasse Kaffee war Maria in das Bett gelangt, in dem sie auch heute, viele Jahre nach dem Tod ihres Mannes, noch lag, in einem herrschaftlichen, aus festen Steinmauern gebauten Haus, dem größten Haus in ganz Varitsi, dem Bergdorf nahe der Grenze zu Albanien, durch das seit Jahrhunderten die wichtigste Handelsroute für Salz führte.

Maria Kouzis glaubte fest daran, dass die Vorfahren im Himmel Zeichen schickten, um ihren Nachgeborenen den Weg zu weisen. Die Zeichen konnten immer und überall erscheinen, nur Kristallkugeln glaubte sie nicht, die hielt sie für Humbug der Zigeunerweiber.

Als sie in dieser Nacht im Jahre neunzehnhundertsechs-undfünfzig in ihrem Bett hochfuhr, war ihr ein Zeichen in Form eines Traumbilds erschienen. Und sobald sie festgestellt hatte, dass sie tatsächlich wach war, lief Maria Kouzis, die man im Dorf nur Yiayia Maria, Großmutter Maria, nannte, mit einem Lächeln auf ihrem faltigen Gesicht in den Hof und fiel vor dem gemauerten Ikonenschreinchen auf die Knie. Ihr weißes Haar glänzte im Mondlicht bis zu den Fußsohlen, auf denen sie saß, während sie ein Gebet nach dem anderen aufsagte und das Glas des Schreins küsste, bis es von ihrem Atem ganz beschlagen war.

In dieser Nacht war Yiayia Maria die heilige Paraskevi erschienen, prächtig pompös, und hatte ihr versichert, dass die Heiratspläne, die sie für ihre Enkelkinder hegte, rechtens seien.

 

Die alte Frau hatte schon viele Ehen gestiftet. Selbst Knaben und Mädchen, die sich nicht hatten ausstehen können, hatte Yiayia Maria verkuppelt, wenn die Zeichen einen günstigen Ausgang verhießen, und auf diese Weise vielen Familien den Fortbestand gesichert. Sie selbst war immer bemitleidet worden, Zwillingstöchter, aber keinen Sohn geboren zu haben, doch auch diesen Mangel hatte Yiayia Maria wettgemacht, indem sie die beiden gut verheiratet hatte. Die einundzwanzig Minuten ältere Despina, die feinfühlig, liebevoll und nachdenklich war, hatte sie einem klugen Lehrer aus dem Oberdorf zur Frau gegeben, und Pagona, die zwei starke Arme und viel Willen zur Arbeit hatte, hatte sie mit einem tüchtigen Handwerker verheiratet – zwei gute Partien, obwohl die Mädchen die zur Fäulnis neigenden Zähne von Yiayia Marias verstorbenem Mann geerbt hatten, wie Maria selbst überdurchschnittlich klein und zudem mit wenig besonderen Reizen gesegnet waren.

Doch dann hatten die Hennen gekräht wie Hähne, Scheren waren nur noch spitz zu Boden gefallen, im Frühling bereits war das Gras verwelkt, und der Krieg war gekommen. Neunzehnhundertvierzig die Italiener, neunzehnhunderteinundvierzig die Deutschen, und als man die ausländischen Feinde überstanden hatte, zerstritt sich das Land darüber, von wem es künftig regiert werden solle. Despinas Mann zeugte einen Sohn, zog mit den Kommunisten davon und ward nie wieder gesehen. Pagonas Mann kämpfte für die kronloyalen Truppen und blieb im Dorf, Pagona schenkte ihm sechs Töchter, von denen allerdings nur Tochter eins und drei überlebten, die zweite in der Hungersnot des Bürgerkriegs verendete, die vierte und fünfte als aneinandergewachsene Zwillinge nach drei Tagen verstarben und die letzte tot zur Welt kam.

Die Zeiten des Kriegs hatten das Dorf so ausgehungert, dass sogar der Sauerampfer zwischen den Pflastersteinen zu einer Wassersuppe verkocht wurde, die Brieftauben sich ihr eigenes Galgenlied sangen – und kaum jemand mehr Kinder bekommen wollte. Yiayia Maria hatte die Zeichen gelesen. Ihre größte Sorge war jedoch nicht der Hunger, sondern dass ihr einziger Enkelsohn keine Frau zum Heiraten finden würde, wenn, wie es die Zeichen versprachen, der Frieden zurückkäme. Die paar Mädchen, die es gab, waren schon seit ihrer Geburt anderen Knaben versprochen. Niemand kannte die ungeschriebenen Gesetze der Varitsi’schen Heiratsarrangements besser als Yiayia Maria. Und niemand wusste besser als sie, dass ihr geliebter Enkel namens Lefti vermutlich leer ausgehen würde.

Wenn ihre Tochter Despina mit dem Knaben an der Brust am Spinnrad saß, klagte Yiayia Maria lautstark, wie schrecklich es sei, dass Lefti schon früh das Dorf verlassen müsse, um eine Frau zu finden. Und wenn Pagona Äpfel schälte, bedauerte Yiayia Maria, dass Pagonas Familie niemals Anspruch auf das Familienerbe haben würde – ihre Mädchen waren bereits zu alt für Lefti, sodass sich eine Heirat nicht schicken würde. Yiayia Maria umgarnte ihre Töchter, impfte ihnen Sorgen und Ängste ein, und bald begannen die Zwillingsschwestern untereinander zu wispern, wie schön es wäre, wenn ihre Kinder heiraten könnten – erst leiser, dann lauter –, bis sich Pagona auf Anraten ihrer Mutter im Frühjahr neunzehnhundertachtundvierzig in die alte Hochzeitsunterwäsche zwängte und ihren Mann Spiros betrunken machte. Und dies noch zwei Mal wiederholte, bis sich ihr Bauch wölbte und sie ein Mädchen gebar, dem man den Namen Eleni gab. Spiros war darüber sehr erzürnt, Pagona hatte ihm versprochen, in diesen schwierigen Zeiten keine Kinder mehr zur Welt zu bringen, doch Pagona flüsterte ihm ins Ohr, wie sehr dieses Kind ein weiterer Beweis seiner Manneskraft sei. Überhaupt wurde dieses Mädchen besonders umsorgt: Despina pflegte sie, weil sie nicht nur ihre Nichte, sondern auch ihre künftige Schwiegertochter war, Pagona hegte sie, weil die Kleine dem Zweig ihrer Familie das Erbe sichern würde, und Yiayia Maria hatte in Eleni ihren neuen Augenstern. Dies geschah zum großen Ärger der älteren Enkeltöchter Foti und Christina, die es überaus ungerecht fanden, dass die Großmutter ihnen nie Märchen erzählt hatte, Eleni hingegen schon Geschichten schenkte, als diese noch zu klein war, sie überhaupt zu verstehen.

Eleni und Lefti wuchsen prächtig heran, sie waren gesund und kräftig. Yiayia Maria achtete gut darauf, dass sie nie der Zugluft ausgesetzt waren – und nichts stand einer späteren Hochzeit der beiden im Weg. Nichts, bis auf Yiayia Marias schlechtes Gewissen. Wann immer sie dem Mädchen in die Augen blickte, fragte sie sich, ob es rechtens war, dass Eleni nur geboren worden war, damit ein Knabe eine gute Partie machte. Und wenn sie vertraut miteinander spielten, dachte die Großmutter daran, dass die beiden auch Cousin und Cousine waren – was, wenn ihre Urenkel mit Schweineschwänzchen auf die Welt kämen?

Doch in dieser unglückseligen Frühlingsnacht neunzehnhundertsechsundfünfzig, nachdem die alte Frau sieben Jahre lang auf ein Zeichen gewartet hatte, hatte die heilige Paraskevi im Traum die Hand der siebenjährigen Eleni genommen und sie in die Hand des elfjährigen Lefti gelegt, während rundherum Sonnenblumen aus dem Boden wuchsen, sich endlos vermehrten und ihre Köpfe in Richtung der Heiligen wandten, als richteten sie sich nach der Sonne. Und während Maria Kouzis mitten in der Nacht Blumen aus dem Garten rupfte, um die Ikone zu schmücken, liefen ihr Glückstränen über die faltige Haut, weil sie die Zukunft der Familie und den Fortbestand des Erbes gesichert sah. Die Enkelkinder würden heiraten, sie würden die Familie in Varitsi zu erneutem Erstarken führen. Nun konnte die Zeit des Friedens beginnen, von der sie träumte, seit sie als junge Frau vom Meer aus die Rauchschwaden über ihrer Heimat gesehen hatte.

Nur an eine Sache dachte sie in ihrer Erleichterung nicht: dass Sonnenblumen die Blumen der unglücklichen, hoffnungslosen Liebe waren. Das würde ihr erst ein Jahrzehnt später einfallen, als bereits alles zu spät war.

Immer, wenn einer zurückkommt

In den Bergen, an der Grenze zwischen Griechenland und Albanien, gab es neunzehnhundertsechsundfünfzig viele geheime Orte. Es gab Höhlen, in denen die Partisanen im Bürgerkrieg ihre Waffen so gut verborgen hatten, dass sie sie später nicht wiederfanden. Es gab geländerlose Brücken, die, einst von Menschen gebaut, so gut getarnt über die kleinen Gebirgsbäche führten, dass einzig das Wild sie noch benutzte. Und es gab Wälder, die so dicht waren, dass nur die Märchenerzähler mutmaßen konnten, wer oder was sich dort versteckte.

In Varitsi jedoch, einem Dorf inmitten jener Berge, gab es keine Geheimnisse. Varitsi lag unumgehbar auf der alten Haupthandelsroute durch das Hochgebirge. Hier war jahrhundertelang der Zoll für die Maultierkarawanen eingetrieben worden, die das Salz durchs Gebirge in den Süden brachten. Die Häuser standen entlang der Hauptstraße und schmiegten sich an die Hänge, fast bis hinauf zum Pass. Jedes Haus streckte der Hauptstraße seine massivste Mauer entgegen. Dicke Steine, die für den Vorbeigehenden uneinnehmbar schienen. Und doch hatten all diese Wände Ohren und Augen. Kleine, verborgene Fenster, Lauschschlitze, Türmchen, damit niemand unbemerkt durchs Dorf schleichen konnte. Selbst, wo die Hunde ihre Beute versteckten, war jedem bekannt.

Es dauerte also nicht lange, bis das Dorf an einem Donnerstag im Frühling neunzehnhundertsechsundfünfzig merkte, dass abermals einer zurückgekehrt war, den man nicht mehr gesehen hatte, seit er neunzehnhundertsechsundvierzig in den Bürgerkrieg gezogen war. Seit einigen Jahren schon gingen die Männer eher weg, als dass sie kamen. Bis auf wenige fahrende Händler wurde die Route durch die Berge kaum mehr für den Transport von Waren genutzt. Es gab neue Straßen, Schiffsrouten, und wenn die Männer ihre Familien erhalten wollten, gingen sie ins Tal, um bei den Tabakwerken Anstellung zu finden, oder suchten Gelegenheitsarbeiten im Straßenbau. Manche gaben auf und versuchten ihr Glück im Ausland. Postkarten gelangten öfter nach Varitsi als Menschen, und dass unerhörterweise einer zurückkam, den man bereits für tot gehalten hatte, versetzte das Dorf in helle Aufregung.

Yiayia Maria mochte Aufregung nicht, sie hielt sie für eine dem Herzen schädliche Krankheit. Sie war sich sicher, es war die ständige Aufregung ihres Mannes gewesen, die ihn so früh ins Grab gebracht hatte, und kaum, dass sie frühmorgens den Kopf auf die Straße gestreckt und erfahren hatte, dass in der Nacht einer angekommen war, der besonders viel Aufregung verursachte, holte sie ihre geliebten Enkelkinder aus dem Bett und erlaubte ihnen, heute ausnahmsweise mit den Ziegen hinauf auf die Weiden zu gehen.

Eleni und Lefti strahlten vor Freude.

Der Winter war hart und der Frühling regnerisch gewesen. Sie hatten bis vor wenigen Tagen die Dorfgrenzen nicht verlassen dürfen, da die Flüsse, die das kleine Dorf am Hang des Kipi-Berges zu allen Seiten umflossen, mehr Wasser denn je getragen hatten. Wochenlang waren die sonst so harmlosen Rinnsale, die sich durch tiefe Schluchten, über spitze Steine und Wasserfälle talwärts schlängelten, zu monströsen, unbezwingbaren Naturgewalten angewachsen, die Baumstämme mit sich reißen konnten, als wären sie zartes Schwemmgut. Yiayia Maria hatte Angst gehabt, dass ihre Enkel ausrutschen und in einen der Ströme stürzen könnten. Seit der Krieg zu Ende gegangen und die Tuberkulose Anfang der Fünfziger kontrollierbar geworden war, war das wilde Wasser die häufigste Todesursache in Varitsi – das Wasser war lebensbedrohlicher als Wölfe, Bären, Blitzschlag und Winterkälte.

Zu Hause eingesperrt war Cousin und Cousine in all den Wochen unsterblich langweilig geworden. Sie hatten so oft Murmel-, Stein-, und Brettspiele gespielt, dass sie nachts von Würfeln träumten. Den Hirtenhunden hatten sie beigebracht, beim Kommando Hände hoch! Männchen zu machen und sich bei Peng auf den Rücken fallen zu lassen, und ihre Yiayia Maria hatte ihnen so viele Märchen erzählt, dass deren Stimmbänder entzündet waren und sie nur noch krächzen konnte. Nicht einmal Elenis pubertierende Schwestern Foti und Christina zu ärgern, hatte noch Spaß gebracht, und mit den anderen Kindern im Dorf standen Eleni und Lefti auf Kriegsfuß. Wann diese Feindschaft begonnen hatte, wussten sie nicht mehr. Lefti hatte bereits Narben von Auseinandersetzungen mit ihnen auf dem Kopf gehabt, als Eleni geboren wurde. Und als Eleni noch nicht sprechen konnte, hatte sie nie geweint, wenn sie hungrig oder müde gewesen war. Sie hatte sich jedoch die Seele aus dem Leib gebrüllt, wenn Lefti eine Ohrfeige oder auch nur ein böses Wort kassierte.

 

Varitsi bestand eigentlich aus zwei Dörfern: Kern-Varitsi, auch Unterdorf genannt, bewachte die Handelsstraße. Seit dem Krieg waren nur noch vierzig der sechzig Häuser dauerhaft bewohnt. Das Oberdorf hingegen lag zwei Kilometer nordöstlich, war einst genauso groß gewesen wie das Unterdorf, doch dorthin war fast niemand aus dem Krieg zurückgekehrt, weswegen die Bewohner von Varitsi begannen, das Oberdorf nur mehr Mikro-Varitsi, Klein-Varitsi, zu nennen. Die Weiden der Familie lagen unweit von Mikro-Varitsi, Eleni und Lefti trieben die Ziegen westlich am Dorf vorbei, wo sie einen guten Blick auf beide Teile hatten sowie auf die schmale Serpentinenstraße, die Ober- und Unterdorf verband. Am Vormittag suchten sie bunte Käfer, mittags teilten sie sich das Essenspaket, das ihnen die Großmutter geschnürt hatte, und am Nachmittag hatte Lefti eine Idee für einen Zaubertrick.

»Ich bin Lefti, der Herrscher über Licht und Schatten!«, tönte er mit tief verstellter Stimme und sprang auf einen Fels, der von Quarzadern durchzogen glänzte. Eleni musste sich vor Lachen den Bauch halten.

»Du bist Lefti! Mein Cousin!«

»Der Herrscher über Licht und Schatten befiehlt dir, hinter mich zu klettern, um zu sehen, was der Herrscher sieht!«, was Eleni ohne Widerrede tat. Lefti streckte die Arme aus, und gemeinsam blickten sie talwärts. »Ich befehle nun dem Schatten, Varitsi zu fressen!«, sagte er, öffnete die Hände, und Eleni staunte: Der Schatten, den der Berggipfel warf, bewegte sich tatsächlich entlang von Leftis Handkanten und verschluckte in langsamen Häppchen das Dorf. Eleni hatte schon immer gewusst, dass ihr Cousin magische Fähigkeiten besaß. Sie staunte – doch dann hörte sie erregte Kinderstimmen. Eleni und Lefti entdeckten eine Menschentraube, die sich über die Serpentinenstraße in Richtung Oberdorf schob. Eilig zupfte Eleni ihren Cousin am Hemd:

»Schau, Lefti!«

Cousin und Cousine standen sprachlos auf dem quarzgeaderten Felsen und kniffen die Augen zusammen: Jemand war ins Dorf gekommen und wurde von den Dorfkindern hüpfend und kreischend zu seinem Ziel begleitet.

»Lefti«, schrie Eleni aufgeregt, »du hast in zwei Wochen Geburstag, das muss dein Papa sein!«

Seit vor drei Jahren das erste Mal ein Mann nach Varitsi zurückgekehrt war, der nach dem Krieg als verschollen gegolten hatte, betete Lefti inständig, dass auch sein Vater eines Tages zurückkäme. Weder Lefti noch Eleni wussten viel über die Dinge, die vor ihrer Geburt geschehen waren, außer, dass es zwei Kriege gegeben hatte. Zuerst hatten beide Dörfer gegen die Deutschen gekämpft. Doch nachdem die Deutschen besiegt worden waren, hatte sich das Land geteilt, die einen wollten einen König, die anderen den Kommunismus, und selbst in Varitsi war diese Fehde ausgetragen worden. Das Unterdorf hatte auf der Seite der Königstreuen gekämpft, das Oberdorf hingegen, aus dem Leftis Vater stammte, auf der Seite der Kommunisten. Die Königstreuen hatten gewonnen, weswegen ein Bild des Königs in jedem Haus hing, während fast alle, die für die Kommunisten gekämpft hatten, verschwunden waren – die paar wenigen, die wiedergekommen waren, wurden auf der Straße nicht gegrüßt und im Kafenion nicht bedient. Was mit den Verschollenen geschehen war, wusste niemand so genau. Auf einer Insel eingesperrt, über die Grenze geflüchtet, tot – murmelten die Erwachsenen hinter vorgehaltener Hand. Doch Lefti erinnerte sich jeden Tag daran, dass ihm sein Vater hoch und heilig versprochen hatte wiederzukommen. Leftis Herz raste.

»Komm schon, Lefti!«, rief Eleni, die bereits losgelaufen war. Elenis Eltern hatten ihr streng eingebläut, sie dürfe niemanden nach Leftis Vater und dessen Schicksal fragen – Leftis Vater sei ein schlechter Mensch, ein Vaterlandsverräter, doch Eleni war egal, für wen er gekämpft hatte. Eleni war immer auf Leftis Seite. Lefti schulterte seinen Ranzen, pfiff die Ziegen herbei und lief Eleni hinterher.

 

Ein guter Hirte gibt acht, dass kein schwaches Glied verloren geht, doch Lefti war bald so aufgeregt, dass er nicht hinter, sondern wie Eleni vor den Ziegen herlief.

»Lefti, wieso hast du’s so eilig?«, rief ihm der Lehrer nach, der ihnen im Oberdorf entgegenkam und sich an die Steinwand eines halb verfallenen Hauses drückte, damit die Kinder mit den narrischen Ziegen im Gefolge an ihm vorbeiziehen konnten. »Lefti, das war eine Frage!«, brüllte er ihm hinterher, als keine Antwort kam. Das Schuljahr war bereits zu Ende, damit die Kinder bei den zahlreichen Arbeiten helfen konnten, die die Landwirtschaft im Spätfrühling verlangte, doch der Lehrer war der Meinung, dass er seine Autorität in der schulfreien Zeit nicht untergraben lassen dürfe.

»Keine Zeit!«, rief Lefti, ohne sich umzudrehen, und der Lehrer kramte eilig in seinen Hosentaschen nach einem Stift und etwas Papier. Er wollte sich vermerken, den Knaben gleich am ersten Schultag mit der Haselnussrute für diese Frechheit büßen zu lassen. Wie so viele Männer im Dorf hatte auch der Lehrer die Fähigkeit, sich zu erinnern, im Krieg fast zur Gänze verloren. Vor allem, wenn er wie jetzt auf dem Weg ins Kafenion war, der Quelle des köstlichen Tsipouro, in dem er jeden Abend das letzte bisschen Erinnerungsvermögen ertränkte, bis sich sein Kopf wie eine gut gelöschte Tafel anfühlte. Denn das Einzige, was alle Bewohner von Varitsi, egal ob rot oder blau, einte, war, dass sie sich nicht mehr erinnern wollten.

Lefti rannte indessen die schmale Steinstraße hinab, so schnell er konnte, und achtete zugleich darauf, dass Eleni, deren Beine um einiges kürzer waren als seine, nicht stürzte. Das Oberdorf war anders als Kern-Varitsi auf einem steilen Hang gebaut. Die Häuser zwängten sich eng aneinander, und schlecht gepflasterte Steinstraßen, aus denen das Unkraut spross, führten in einer unübersichtlichen Anordnung zwischen den Häusern hindurch. Eleni, Lefti und die Ziegenherde wechselten zwei Mal die Richtung, ehe sie die Menschentraube erreichten: Der Heimkehrer stand vor dem ehemaligen Haus von Leftis Familie und versuchte, das Schloss aufzubrechen, das die Eingangstür verbarrikadiert hielt, seitdem Lefti und seine Mutter während des Kriegs zu Elenis Familie ins Kerndorf gezogen waren. Anfangs hatte es geheißen, das sei nur vorübergehend, doch die fehlenden Fensterscheiben und das halb eingestürzte Dach sahen nicht vorübergehend, sondern für immer verlassen aus. Wie alle Rückkehrer wurde auch dieser lang verschollene Mann von den Dorfkindern aus Varitsi umringt, weil er noch immer die Tracht anhatte, mit der er einst fortgegangen war. Die Kinder interessierte weniger, wer er war, woher er kam und was er erlebt hatte, als sein merkwürdiger Anzug, der seltsame Hut, die wie lebendig gewordene Illustrationen zu dem Geschichtsbuch aussahen, aus dem der Lehrer im Unterricht mit brüchiger Stimme vorzulesen pflegte. Dieser Rückkehrer hatte einen schmalen, blassen Kopf, dünnes hellbraunes Haar, helle Augen, spärlichen Bartwuchs, Geheimratsecken, und in seiner gesamten Positur sah er aus wie eine dreißig Jahre ältere Version von Lefti. Eleni griff nach Leftis Hand. Dieser starrte den Mann an, der plötzlich zurückstarrte, und als der Mann den Mund öffnete und heiser fragte:

»Lefti?«, da stürzte Lefti auf ihn zu und drückte seine Wange gegen den Bauch des Fremden.

»Papa!« Lefti krallte sich in den dicken Stoff des Männersakkos, entschlossen, nie wieder loszulassen, denn zum ersten Mal in seinem Leben fühlte er sich vollständig.

Der Heimkehrer ergriff ihn an den Schultern und ging in die Knie:

»Himmel, Lefti, du bist deinem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten.« Lefti wich einen Schritt zurück. »Ich bin’s, Onkel Thanos. Erinnerst du dich?«

Lefti erinnerte sich nicht, sondern bemerkte peinlich berührt, wie ihn die umstehenden Kinder musterten. Nur Eleni hatte sich umgedreht und beobachtete die Ziegen, die Unkraut rupften, das aus den verfallenden Hauswänden wucherte.

»Lefti, wo ist dein Vater?« Der Onkel wollte noch etwas sagen, als schwere Stiefelschritte in den engen Straßen des Oberdorfs hallten. Sogleich erschienen Herr Mavrotidis und andere Männer aus Varitsi, die ohne Rücksicht auf all die Kinder auf Leftis Onkel zustürmten. Ohne ein Wort zu sagen, packte Herr Mavrotidis den Zurückgekehrten am Kragen und warf ihn zu Boden.

»Willkommen zurück, Kommunistensau!«

Der Onkel landete im Schotter, und Herr Mavrotidis trat mit seinen schweren Militärstiefeln auf ihn ein. Über Herrn Mavrotidis, dessen Wangen tiefe Löcher eines Schrot-Querschlägers zierten, munkelte man, dass er während seines Militärdienstes Rote gefoltert hätte, indem er ihnen mit glühend heißen Zangen die Nägel zog. In Varitsi gab es keine Polizei, allein Mavrotidis und seine Männer waren so etwas wie die Dorf-Gendarmerie. Ihren Worten wurde gehorcht, ihre Schläge wurden nicht hinterfragt. Lefti stand unter Schock. Eleni packte Leftis Hand, pfiff die Ziegen zusammen, die sich vor dem Rummel in alle Richtungen geflüchtet hatten, und ohne sich nochmals umzudrehen, zerrte sie ihn mit aller Kraft weg.

 

Nachdem sie nicht nur die Schreie des Onkels, sondern auch das Oberdorf weit hinter sich gelassen hatten, verlangsamten sie den Schritt. Eleni lutschte an ihrem kleinen Finger.

»Vorsicht, sonst fällt dir der Nagel aus«, wiederholte Lefti Yiayia Marias Worte, obwohl er selbst nicht daran glaubte. Lefti seufzte und zählte die Ziegen, die den Wegrand nach Kräutern absuchten. »Das Zicklein fehlt«, sagte er und rief nach ihm. Nur dass das Zicklein nicht kam. Als Antwort hörte er stattdessen:

»Papa! Papa! Komm, wisch mir den Hintern ab«, gefolgt von einem lauten Knabenlachen. Lefti nahm Elenis Hand fest in seine, als Mavrotidis’ Sohn Loukas, dessen bester Freund Stavros und drei andere Dorfknaben hinter den Bäumen hervorsprangen. Seit Lefti denken konnte, war Loukas sein Feind, obwohl er ihm nie etwas getan hatte. Loukas ähnelte seinem Vater so sehr, dass Lefti vermutete, Loukas’ Wangen würden, sobald er größer wäre, die gleichen Schrotwunden zieren wie die seines Vaters. Loukas trat mit seinen polierten Schuhspitzen Steine in Leftis Richtung. Stavros, ein grobschlächtiger Bauernsohn, der Loukas überallhin folgte, hielt das fehlende Zicklein an den Läufen wie einen Mehlsack.

»Gebt das Zicklein zurück«, sagte Lefti vorsichtig. Loukas nahm sich, was er wollte. Egal, ob es die Süßigkeiten waren, die Lefti gelegentlich von seinem Nachbarn bekam, oder Murmeln, die er nicht schnell genug verstecken konnte.

»Das Zicklein hat fast so erbärmlich geschrien wie du nach deinem Verbrecher-Vater.« Loukas zog seine Hände aus dem Hosenbund und schubste Lefti. »Du bist ein Feigling wie dein Vater. Bulgarenbastard!« Lefti ließ sich absichtlich zu Boden fallen, in der Hoffnung, Loukas würde ihn dann in Ruhe lassen. Lefti kniff die Augen zusammen, als Loukas einen Schritt nach vorn trat – doch plötzlich schrie Loukas wie ein Schwein beim Schlachter. Lefti riss die Augen auf. Eleni hatte sich wie ein tollwütiger Hund in Loukas’ Unterarm verbissen. Natürlich wollten die Knaben ihrem Freund helfen, doch keiner wusste, wie. Schließlich gab es verbindliche Regeln im Dorf, und eine davon war: Niemals darf man einem kleinen Mädchen wehtun.

Nach einer halben Minute, die Loukas Tränen in die Augen trieb, ließ Eleni von ihm ab, woraufhin Loukas panisch die Bisswunde betrachtete, während seine Begleiter betreten zu Boden starrten. Lefti rappelte sich auf, packte Eleni, die Loukas’ Blut ausspuckte, und so schnell er konnte, lief er mit seiner Cousine davon – dicht gefolgt von den Ziegen, die ohne zu meckern rannten, als hätten sie den Ernst der Lage verstanden.

Eleni und Lefti kamen erst zu Hause an, als die Steinwände bereits in die Farben der hereinbrechenden Nacht getaucht waren. Lefti öffnete das Tor zum Hof und scheuchte die Ziegen hinein, die sich gierig auf die Tränke stürzten.

»Loukas schmeckt nach rohem Schwein«, sagte Eleni, während sich Lefti mit dem Bolzen abmühte, der den zweiten Flügel des Hoftors im Boden fixierte. Lefti wischte die Hand an seiner Hose ab, tätschelte ihre drahtigen, tiefbraunen Locken und sagte:

»Wenn ich der Herrscher über Licht und Schatten bin, dann bist du ab jetzt die Heldin meines Reichs!«

»Keine Prinzessin?«

»Prinzessinnen sind lahm. Die haben immer nur Angst. Heldinnen wehren sich.«

Nachdenklich legte Eleni den Kopf zur Seite, dann hüpfte sie fröhlich ins Haus:

»Ich bin eine Heldin! Eine mutige Heldin und keine feige Prinzessin!«

Lefti seufzte und wünschte, er könnte nur einen Tag lang die Welt durch Elenis Augen sehen. Seine Cousine hatte nicht nur einen starken Vater, der im ganzen Dorf respektiert wurde, sondern auch eine Mutter, die sich nicht jeden Tag in den Schlaf weinte, geschweige denn immer, wenn sie sich unbeobachtet fühlte, die Gardinen beiseiteschob, um aus dem Fenster zu starren. Elenis Schwestern Foti und Christina waren zwar hysterisch und krankhaft eifersüchtig, aber sie waren immerhin ihre Schwestern.

Lefti schloss das Tor sorgfältig hinter sich und legte die Eisenkette um die Griffe, mit der das Tor sonst nur in Winternächten verschlossen wurde, wenn Wölfe oder Bären auf Nahrungssuche ins Dorf kamen. Lefti atmete dreimal tief durch und setzte sich an den Rand des Steintroges, in dem Duftrosen wuchsen, aus deren Blättern die Zwillingsschwestern Rosenextrakt zum Süßen der Mehlspeisen herstellten. Leftis Ohren rauschten, und die Schreie seines Onkels hallten in seinem Kopf.

Einer der zotteligen Hirtenhunde trottete auf ihn zu, stupste ihn mit der feuchten Nase am Knie und grunzte glücklich, als Lefti ihm durch das strubbelige Fell am Hals kraulte. Als vor einigen Jahren der Nachbar Yorgos zurückgekehrt war, einer der wenigen aus Kern-Varitsi, der bei den Kommunisten gekämpft hatte, da waren die Schläger in dessen Haus gestürmt und hatten ihn eine ganze Nacht lang traktiert. Auf Leftis Rücken hatte währenddessen die Gänsehaut Wettrennen mit sich selbst veranstaltet. Als Lefti Yorgos Tage später Ziegenmilch brachte, hing in dessen Stube ein Bild des Königs. Fortan lobte Yorgos den Monarchen, obwohl ihm seit dieser Nacht die meisten Zähne fehlten und der einst starke, schöne Mann nun ein humpelnder Krüppel war.

»Weißt du«, sagte Lefti und kratzte dem Tier das Kinn, woraufhin der Hund selig den Nacken überstreckte, »Politik ist das Schlimmste auf der ganzen Welt. Wegen der Politik haben die Italiener die Berge überfallen. Dann haben die Deutschen das ganze Land besetzt. Und dann, als die Feinde weg waren, haben alle gegeneinander gekämpft. Nur wegen der Politik. Weil sie sich nicht einigen konnten, wer das Land regieren soll. Wegen der Politik ist mein Vater in den Krieg gezogen und nie wieder gekommen. Wahrscheinlich haben sie ihn auf irgendeiner Insel eingesperrt. Und jetzt? Alle sagen, jetzt ist Frieden, aber keiner ist friedlich. Alle hassen sich.«

Der Hund hatte die Augen fest geschlossen, grunzte aus tiefster Kehle, und Lefti redete sich ein, er grunze aus Zustimmung.

Lefti beschloss an diesem Abend zwei Dinge:

Er würde von nun an die Hoffnung aufgeben, dass sein Vater zurückkäme. Und er würde sich sein Leben lang nicht in politische Angelegenheiten einmischen. Politik, Parteien, all das zerriss doch bloß Familien und zog unsichtbare Grenzen durch Dörfer. Nein, dachte Lefti, er würde mit alldem nie etwas zu tun haben. Und daraufhin schlug er fest mit der linken Hand auf den rechten Handrücken. Er hatte vergessen, dass die Hirtenhunde voller Flöhe waren.

 

Das Haus der Familie war groß und hatte viele Zimmer, doch diese waren klein, eng und düster. Es gab mehr Mauern als Luft, da die dicken Steinwände die Kälte, die von Oktober bis März verlässlich in den Bergen herrschte, fernhielten. Einzig die Küche war groß und geräumig. Auf der einen Seite stand ein massiver Holztisch, den bereits Yiayia Marias Schwiegervater hatte anfertigen lassen. Er bot mindestens zwanzig Menschen Platz, doch seit den Hochzeiten der Zwillinge, dem letzten großen Fest vor Kriegsbeginn, war er stets nur zur Hälfte besetzt. Yiayia Marias Mann war gestorben, als er erfahren hatte, dass die Italiener seinen Maultierkonvoi überfallen hatten. Als ob er in die Zukunft gesehen hätte, hatte er sich an den Brustkorb gefasst, verkündet, dass er in dieser Welt nicht leben wolle, und war mit verkrampftem Gesicht umgekippt. Doch zumindest wurde ihm dadurch erspart, mitansehen zu müssen, wie Vermögen und Familie von Jahr zu Jahr schrumpften. Yiayia Marias Schwiegereltern waren in der ersten Hungersnot gestorben. Pagonas Schwägerinnen und Schwager waren zum Teil weggegangen, zum Teil an der Tuberkulose erkrankt. Und Despinas Schwiegerfamilie hatte sich den Kommunisten angeschlossen. Normalerweise redete man nie über diesen Teil der Verwandtschaft, doch am Abend seiner Rückkehr schnatterten die Frauen über den verloren geglaubten Onkel, während sie das Abendessen zubereiteten. Auf der anderen Seite der Küche befand sich ein drei Meter langer Kachelofen. Zwei Töpfe standen auf dem gusseisernen Gitter über der Glut. Elenis Mutter rührte darin und fragte ihre Tochter in einem fort, wie der Onkel ausgesehen habe, was er gesagt, wie er gerochen habe, nur um sie bei jeder Antwort zu schelten, dass sie nicht hätte zu ihm laufen sollen. Eleni ließ derweil über sich ergehen, dass Yiayia Maria ihr Blätter, Kräuter und sonstige Souvenirs des Tages in der Natur aus den Locken pflückte.

»Deine Haare sollte man abschneiden!«, sagte sie, wann immer sie einen Käfer herausholte, auf den Boden warf und eilig mit dem Absatz zertrat. »Und wenn sich jemals ein Hirschkäfer drin verfängt, dann bete nur, dass er dir nicht das Ohr abzwickt!«

»Lefti hat wirklich geglaubt, dass das sein Vater ist?«, fragte Christina und stellte zwei Wasserkrüge in die Tischmitte.

»Der ist so naiv«, feixte Foti.

In der Küche roch es nach frisch gebackenem Brot. Die Einzige, die sich nicht am Gespräch beteiligte, war Leftis Mutter Despina. Sie wickelte Käse aus einem blauen Leintuch und schnitt wie in Zeitlupe dünne Scheiben ab. Despina blickte nicht einmal auf, als Lefti hereinkam und grußlos neben Eleni Platz nahm. Pagona und ihre Töchter schnatterten indes weiter, als wäre Lefti nicht im Raum. Überlegten, wo Onkel Thanos hergekommen sei, dass ihn Mavrotidis wahrscheinlich in der alten Zollstation eingesperrt habe, was dieses Ereignis für die Familie bedeute, als die Tür aufschwang und Spiros die mit Öllampen erleuchtete Stube betrat. Der Eisenkorb voller Brennholz sah in seinen Armen aus, als wöge er nicht mehr als ein Handtuch. Spiros stellte den Korb mit einem Knall auf den Boden, schlagartig verstummte das Gespräch. Spiros Stefanidis gehörte zu jenen Männern, die von ihrer Familie in gleichem Maße geliebt wie gefürchtet wurden. Die Frauen deckten schweigend den Tisch, sogar Eleni ging sich unaufgefordert die Hände waschen.

»Thanos ist nicht mehr Teil dieser Familie. Und ihr Hühner hört sofort auf, über ihn zu gackern«, sagte er in einem Tonfall, der jeden Widerspruch im Keim erstickte.

Foti und Christina deckten den Tisch. Despina schnitt die Käsescheiben in kleine Würfel, Pagona hob mit zwei Geschirrtüchern um die Henkel den Topf mit Ziegensuppe auf die Tischplatte. Erst als alle saßen, unterbrach Yiayia Maria die Stille.

»Spiro, Lefti wird bald zwölf. Du solltest ihn morgen mit ins Tal nehmen, wenn du die Herden holst«, sagte die alte Frau, und Lefti hob zum ersten Mal, seit er an diesem Abend ins Haus gekommen war, den Kopf. Beim Almauftrieb mitzugehen war die größte Ehre, die einem Knaben widerfahren konnte, denn es bedeutete, dass er nun zu den Männern gehörte. Dass er nicht nur einen eigenen Stab in die Hand nehmen, sich den Mund mit Schnaps ausspülen und sich die Zahnzwischenräume mit einem Taschenmesser reinigen durfte, sondern auch die dreckigen Witze und von den Frauen streng geächtete Geschichten hörte, die nur dann erlaubt waren, wenn man die Schafe hinauf auf die Sommerweiden trieb.

Spiros und Yiayia Maria wechselten Blicke. Das taten sie schon immer. Niemand wusste, was für eine eigentümliche Verbindung sie hatten, aber manchmal schien es, als würde die alte Frau den großen, massiven Mann wie eine Marionette an unsichtbaren Fäden lenken.

»Bei Sonnenaufgang geht es los, geh früh ins Bett, Lefti. Ich will nicht warten müssen.«

Noch ehe sich Lefti bedanken, geschweige denn zeigen konnte, wie sehr er sich freute, fuhr Eleni dazwischen:

»Juhu, wir gehen zu den Schafen!«

Lefti wagte nicht, sie anzusehen. Schon immer hatten sie alles zusammen gemacht. Er wusste nicht, wie er ihr das erklären sollte, doch sein Onkel kam ihm zuvor.

»Sei doch nicht albern, Eleni, du bist ein Mädchen. Du bleibst hier.«

Und wie Lefti befürchtet hatte, fing sie sogleich zu protestieren an. Spiros schlug mit der Faust auf den Tisch.

»Sei sofort still, sonst kriegst du kein Abendessen!«

Doch Eleni kroch unter den Tisch und zeterte dort so ausdauernd über diese Ungerechtigkeit, dass Spiros schließlich ein Stück Brot abriss, erfolglos versuchte, Despinas klitzekleine Käsewürfel daraufzuladen, sich schimpfend eine Handvoll Oliven in den Mund stopfte und verkündete:

»Ich geh ins Kafenion.«

Fünf Wochen später vergewisserte sich Eleni, dass ihre Schwestern noch eine Zeit lang in der Küche mit Bohnenputzen beschäftigt wären, bevor sie, rechtes Knie voran, auf die bemalte Holztruhe vor dem Fenster kletterte. Das Schlafzimmer, das sie sich mit Foti und Christina teilte, befand sich im Obergeschoss. Die Fenster waren schmal, um in den kalten, schneereichen Wintern nicht allzu viel Wärme abzugeben, und etwas zu hoch, als dass die Siebenjährige ohne Hilfe den Dorfplatz und die Hauptstraße Richtung Oberdorf hätte überblicken können. Die Holztruhe, in der sich Christinas Aussteuer befand, knarzte. Elenis Schwester hütete den Inhalt der Truhe wie ihr Leben, würde Christina sehen, dass Eleni darauf herumturnte, würde sie ihr die Ohren länger ziehen als dem alten Esel des Nachbarn. Während Eleni hinausspähte, lauschte sie angestrengt nach Geräuschen aus der Küche, doch solange ihre Schwestern dort über die herannahende Hochzeit des Nachbarn Yorgos schimpften, war alles in Ordnung.

»Er hat seine Braut noch nie gesehen! Die ist sicherlich hässlich wie die Nacht«, hörte Eleni Foti sagen.

»Yorgos ist ein Krüppel und ein Vaterlandsverräter, ich würde ihn nicht einmal heiraten, wenn er mir zwei Truhen Silber als Aussteuer anbieten würde«, mokierte sich Christina, doch Eleni interessierte sich nicht für das Gezeter – Eleni hielt Ausschau nach Leftis Onkel.

Die Berge, die hinter dem Oberdorf steil in den Himmel ragten, waren vom Nebel verschluckt, als ob hundert Meter nach dem Haus die Welt aufhörte. Der Nebel war am Vortag rasch und ohne Warnung mit dem Regen aufgezogen, der die letzten Tage über Varitsi niedergegangen war. Eleni verabscheute dieses Wetter. Sie musste bei schlechtem Wetter mit ihren Schwestern und der Großmutter das Haus putzen und beim Kochen helfen, während Lefti tun konnte, was er wollte. Vor drei Wochen war er zwölf Jahre alt geworden, und seither nahm ihn ihr eigener Vater überallhin mit. Lefti durfte in den Wald gehen, ihn ins Tal begleiten, mit Fremden sprechen. Das letzte Mal, als sie ihren Vater gefragt hatte, ob sie mitgehen dürfe, war er so wütend geworden, dass er sie übers Knie gelegt hatte. Eleni hatte zwei Tage lang nicht sitzen können. Leftis Onkel war genauso schnell wieder verschwunden, wie er aufgetaucht war. Sie hatte ihre Schwestern munkeln gehört, dass Herr Mavrotidis ihn in die alte Zollstation gesperrt habe, wo alle, die in Varitsi ein Verbrechen begangen, inhaftiert wurden, bis die Gendarmerie aus dem Tal kam und die Missetäter abholte. Doch es war keine Gendarmerie gekommen, das hätte sie erfahren, schließlich gab es in dem kleinen Bergdorf nichts Aufregenderes als den Besuch uniformierter Männer. Eleni hatte bereits Tante Despina nach Leftis Onkel gefragt, doch die hatte schlagartig keine Luft mehr bekommen und ihre Mutter ihr daraufhin verboten, je wieder danach zu fragen. Doch Eleni war keine feige Prinzessin. Sie hatte sich in den Kopf gesetzt, Leftis Onkel zu finden, damit Lefti einen eigenen Erwachsenen hatte und nicht ständig mit ihrem Vater zusammenhockte.

Die Siebenjährige drückte ihre Stupsnase an die Fensterscheibe, und das Glas beschlug von ihrem Atem. Nach einer knappen Viertelstunde kamen zwei Gestalten aus der Richtung des Oberdorfs. Eleni erkannte die Silhouetten sofort: ein großer, bäriger Mann mit Schultern wie ein Schrank und ein schmaler, schlaksiger Knabe, der zwei Schritte machen musste, um mit einem des Mannes mitzuhalten – kein Zweifel, das waren Lefti und ihr Vater.

Eleni kniff die Augen zusammen und beobachtete, wie Spiros in Mikis’ Kafenion ging und Lefti ihm folgte. Ihr Vater hatte sie noch nie dorthin mitgenommen, sie wusste nicht einmal, wie es drinnen aussah. Die Stühle, die bei besserem Wetter draußen standen, waren alles, was sie aus dieser Welt kannte.

»Du kleine Ratte!«, rief plötzlich Christina hinter ihr, und Eleni fuhr herum. »Ich hab dir hundert Mal gesagt, du darfst meine Hochzeitstruhe nicht mit deinen dreckigen Fingern anfassen! Und draufklettern schon gar nicht!«

Christinas Stimme klang hysterisch, und Eleni hüpfte eilig hinunter, stand nun jedoch wie ein gefangenes Tier im Raum, ohne zu wissen, wie sie an ihrer Schwester, die bereits die Fäuste ballte, vorbeikommen sollte. Christina trat einen Schritt vor – ihre matschblonden Haare lugten unter dem Kopftuch hervor, die Hände glänzten nass vom Bohnenputzen, und die Schürze, die sie umgebunden hatte, war mit grünen Streifen verschmiert.

Drohend ging sie auf Eleni zu, die sich ans Fenster drückte. Ohne nachzudenken, griff Eleni nach dem vollen Nachttopf neben Fotis Bett. Christina kreischte auf, als Eleni den Nachttopf drohend über die Hochzeitstruhe schwenkte. »Wehe, du kleines Miststück!«

»Versprich, dass du mir nicht wehtust!«, keuchte Eleni, der aus Angst vor den ordentlichen Oberarmen ihrer großen Schwester beinah die Stimme wegblieb. Eleni stieß drohend die Truhe auf. Da Christina zwei Mal täglich die Stoffe, Bettbezüge, Tischdecken und Kleider, die sich darin befanden, herausholte, um sie wie Kätzchen zu streicheln, war sie nie verschlossen, und auf einmal ging alles rasend schnell. Christina stürzte sich wie eine Furie auf Eleni, um ihr den Nachttopf zu entreißen. Der Inhalt wankte bedrohlich über dem weißen Stoff. Beide Schwestern zerrten an dem Topf, bis Eleni ihrer Schwester gegen das Schienbein trat. Christina schrie auf, ließ die Schüssel los, Eleni vor Schreck ebenso, beide starrten sie das fliegende Gefäß an, nahmen jede Sekunde wie in Zeitlupe wahr, bis sich der Inhalt großzügig über Christinas Aussteuer ergoss.

Christina schrie, wie sie in ihrem Leben noch nie geschrien hatte und auch nie mehr schreien würde. Ihr Schrei hallte nicht nur durch das gesamte Haus, er erschütterte ganz Varitsi und ließ die Vögel in den Nachbarsgärten aufschrecken. Christina und Foti hatten eine Neigung zur Hysterie, die früher mitunter dazu geführt hatte, dass ihre Mutter sie am Schopf hatte packen müssen, um ihre Köpfe draußen in den kalten Wassertrog zu stecken. Eleni war ihren Schwestern nicht sehr ähnlich – während Foti und Christina raue, helle Haut und matschblondes, robustes Haar sowie einen kräftigen Körperbau hatten, war Eleni zart, hatte die olivfarbene Haut ihrer Großmutter und braune Korkenzieherlocken, die so drahtig und wirr in alle Richtungen standen, dass Fremde oft fragten, ob sie diese Locken berühren dürften. Die hysterischen Anwandlungen ihrer Schwestern hatte Eleni wegen des Altersunterschiedes nur selten erlebt, und so stand sie nun erstarrt in der Ecke, während Christina brüllte, als wäre ihr Leben in Gefahr. Als Erstes kam Despina herbeigelaufen, die Christina an den Oberarmen packte und zu beruhigen versuchte.

Kurz darauf stürzte Pagona herein, die Hände mehlig und das Gesicht von der Ofenhitze gerötet:

»Christina! Was? Sprich! Hat dir jemand etwas getan?«

Doch Christina kreischte und kreischte, bis schließlich Yiayia Maria mit einem Glas Wasser in das Mädchenschlafzimmer schritt und es ihr ganz langsam in den Nacken laufen ließ.

»Die Nachbarn hören dich! Niemand heiratet ein blökendes Weib!«

Heiraten war bei Christina, die in zwei Monaten achtzehn wurde und vor deren Fenster täglich junge Männer auf und ab stolzierten, seit einem halben Jahr der alles beherrschende Gedanke, und so wurde sie augenblicklich ruhig, atmete tief ein und aus, bevor sie auf Eleni zeigte und mit einer Stimme sagte, wie sie sich Eleni bei den Bestien aus Yiayia Marias Märchen vorstellte:

»Die kleine Ratte hat Fotis Nachttopf in meine Hochzeitstruhe geleert!«

Eleni wusste, dass abstreiten oder protestieren nun sinnlos wären, und so tat sie das Einzige, das ihr in diesem Moment einfiel: Sie rannte, so schnell ihre kurzen Beine sie trugen, aus dem Zimmer, die Holztreppen hinab, durch die Stube, durch die Küche, hinaus über den Hof, hinein in den Garten und krabbelte in die Winterhütte der Hirtenhunde. Sie setzte sich in den hintersten Winkel, zog die Beine an, verschränkte die Arme vor den Knien und beschloss, alle zu beißen, die sie aus der Hundehütte holen wollten. Außer die Hunde. Denn, die beißen zurück.

Erst Stunden später, als sich die Dunkelheit über Varitsi legte, suchte die Familie nach ihr. Yiayia Maria im Haus, Pagona und Despina im Hof und im Wald dahinter, nur Spiros saß mit einer Flasche Tsipouro im Kafenion – die Launen seiner Töchter waren ihm schon seit achtzehn Jahren egal. Christina weigerte sich, Eleni zu suchen, und Foti leistete ihr, teils aus Faulheit, teils aus Solidarität, Gesellschaft.

Lefti, hochrot im Gesicht, weil er in dem verrauchten Kaffeehaus kaum hatte atmen können, kam nach Hause, als der Suchtrupp gerade ausgeschwirrt war.

»Wo sind alle?«, fragte er Foti und Christina, die am Küchentisch saßen und wie betrogene Ehefrauen die Holzplatte anschmollten.

»Das Balg ist davongelaufen, nachdem es meine Aussteuer eingesaut hat«, schimpfte Christina und begann sofort wieder zu heulen.

»Wir hoffen, die Wölfe fressen sie«, setzte Foti hinzu.

Lefti hatte Kopfschmerzen vom Zigarettenrauch und Magenschmerzen von all dem übersüßten Kaffee, den ihm sein Onkel vorgesetzt hatte. Ohne eine Erwiderung drehte er sich um und ging hinaus. Als er vor drei Wochen seinen zwölften Geburtstag gefeiert hatte, hatte ihm sein Onkel erklärt, er sei nun fast ein Mann, was Lefti, den vaterlosen Knaben, zunächst sehr stolz gemacht hatte. Doch Lefti war an diesem Abend seltsam erleichtert, als er, nachdem er vier Stunden lang Männer über Politik hatte sprechen hören, an den Lieblingsort seiner Kindheit klettern konnte: in die Hundehütte. Und wie er vermutet hatte, saß seine Cousine im hintersten Winkel.

»Keine Sorge, ich bin’s bloß.«

Lefti tastete nach ihrer Hand.

»Christina war schuld«, flüsterte sie.

In der Dunkelheit der Hundehütte konnte Lefti nicht sehen, ob Eleni weinte, doch als er an sie heranrückte und seinen Körper an ihren drückte, spürte er ihr Zittern.

»Eleni, nicht weinen. Heldinnen weinen nicht.«

»Nein?«

»Nein. Heldinnen weinen nicht. Du bist viel zu stark zum Weinen. Außerdem pass ich auf dich auf. Versprochen.«

Die Bestie mit nur einem Auge

Im Volksmund wurde das Tal, über dem Varitsi thronte, auch Tal der tausend Ohren genannt, weil man in den Steinhaus-Dörfern an den Hängen alles und jeden hören konnte, der sich durch die verschlungenen Serpentinen bewegte. Die Dorfbewohner hatten in den siebenhundert Jahren, seit denen es das Dorf gab, niemals große Aussichtstürme errichten müssen, denn egal, welcher Feind oder Freund nahte, man hörte ihn lange bevor man ihn sah. Zwei Tage vor der anberaumten Hochzeit von Elenis und Leftis Nachbar Yorgos begannen die Dorfbewohner die Ohren zu spitzen, denn sehnsüchtig erwartete man die Ankunft der Braut.

»Ich wette, sie ist blind oder taub«, murmelte Christina, und Foti, die neben ihr am Fenster stand, sagte:

»Sicher blind und taub.«

Eleni und Lefti waren genauso aufgeregt wie der Rest des Dorfes, doch anders als ihre Familie und die übrigen Nachbarn mochten die Kinder Yorgos sehr. Lefti erinnerte sich vage daran, wie groß, schön und beliebt er gewesen war, bevor er mit den Kommunisten in die Berge gegangen war. Yorgos war erst kurz vor Kriegsende losgezogen, als der Krieg eigentlich schon entschieden gewesen war. Niemand hatte gewusst, wieso er plötzlich ausrückte, aber alle hatten sich über ihn lustig gemacht: Der muss ja verrückt sein, wenn er für Verlierer kämpft. Und Yorgos war schon wenige Wochen später gefangen genommen und auf eine karge Insel exiliert worden. Von dort hatte man ihn vergleichsweise schnell entlassen. Man munkelte, er hätte sich freiwillig gemeldet, einen Widerruf zu unterzeichnen, der besagte, dass er kein Kommunist sei, Kommunisten hasse und all sein Wissen über Geheimnisse der kommunistischen Organisation ausplaudere. Seither verachteten ihn die Bewohner von Varitsi und Mikro-Varitsi gleichermaßen. Mit anderen Worten: Yorgos war bis auf seine bettlägrige Mutter, die er rührend pflegte, sehr einsam. Niemand hatte ihn heiraten wollen, und so war man umso erstaunter gewesen, als der Pfarrer eines Tages eine Ankündigung auf das Holzbrett am Glockenturm geschlagen hatte, dass Yorgos in fünf Wochen eine Frau aus den Bergen heiraten werde, von der noch nie jemand gehört hatte. So eine Heirat wie diese hatte es im Dorf noch nie gegeben: Yorgos’ Braut kam weder aus Varitsi noch aus einem der angrenzenden Dörfer, darüber hinaus war sie nicht mit Yorgos verwandt, sie war nicht einmal mit jemandem verwandt, der mit jemandem aus Varitsi verwandt war. Die Ehe war von einer professionellen Kupplerin aus dem Tal arrangiert worden, die dafür eine angemessene Provision erhalten hatte – pikant war allerdings, dass Yorgos lediglich ein Bild seiner Braut kannte. In natura hatte er sie noch nie gesehen.

Eleni und Lefti besuchten Yorgos gerne. Er schenkte ihnen stets Süßigkeiten, und wenn er verreiste, brachte er ihnen Spielzeug mit, das sie jedoch vor ihren Müttern verstecken mussten. Eleni und Lefti waren die Einzigen im Dorf, die einen Blick auf das Foto hatten werfen dürfen. Leider konnte man wenig erkennen: Die Zukünftige stand vor einem Schuppen im Kreis einer großen Familie, deren Mitglieder allesamt streng dreinsahen und altmodisch gekleidet waren, und war in ihrer hochgeschlossenen Tracht kaum erkennbar. Zudem war das Bild nicht gut belichtet, abgegriffen und vergilbt.

So harrte das neugierige Varitsi also auf die Ankunft der Braut, spitzte die Ohren, blickte talwärts und wurde dennoch von deren Erscheinen überrascht. Die Hochzeitsgesellschaft reiste nämlich nicht über die Serpentinenstraße, sondern schlich sich von hinten an und kam über eine Passstraße, die sonst nur die Bauern zum Almabtrieb nutzten – mitten aus dem Hochgebirge. Umso größer war nun also die Aufregung, als ein Zug mit zwanzig Menschen, vier Wagen und acht Mauleseln über die Konitsi-Weiden talwärts auf verschlungenen, jahrhundertealten Forstwegen ins Dorf gelangte.

Foti und Christina liefen sofort nach unten und stellten sich ans Hoftor.

»Ich wette, sie hat faule Zähne«, grinste Foti.

»Wahrscheinlich kann sie keine Kinder bekommen, weil sie steinalt oder krank ist«, ergänzte Christina, und ihre Mutter Pagona resümierte:

»So oder so, mit der stimmt was nicht«, woraufhin Yiayia Maria alle zurück in den Hof scheuchte.

»Gafft doch nicht wie die Ziegen! Wo ist denn euer Anstand?«

Nur Eleni und Lefti standen draußen auf der Straße und tranken Limonade, die Yorgos ihnen zur Feier des Tages spendiert hatte, bevor er seiner Zukünftigen entgegengelaufen war. Lefti belustigte, wie verbissen die Frauen der Familie versuchten, einen Blick auf die Braut zu erhaschen und dabei den Anschein zu erwecken, als würde sie all das gar nicht interessieren.

»Lefti, Eleni, ab in den Hof!«, heischte Pagona sie an.

Doch genau in diesem Moment bog der Zug in die schmale Straße ein. Plötzlich verstummten alle; sogar die Hühner hörten auf zu gackern, und der Hund stellte das Bellen ein.

»Das kann sie doch nicht sein?«, flüsterte Christina und griff nach Fotis Hand.

Yorgos’ Braut schritt am Arm ihres Vaters, dessen sonnenverbranntes, geschundenes Gesicht vor Stolz strahlte, voran. Und nein, sie war nicht schön. Yorgos’ Braut war wunderschön, und im Dorf munkelten alle, die sie gesehen hatten, dass Varitsi nun eine neue schönste Frau habe. Ihre Haut war zwar dunkel, als hätte sie den ganzen Sommer über auf dem Feld gearbeitet, dennoch störte keine Falte, kein Altersmakel ihre reinen Konturen, vielmehr strahlte sie voller Frische und Jugend. Sie war schlank und zart, trug einen opulenten Busen unter ihrer Tracht, und ein Festtagsschleier ließ verstohlene Blicke auf ihr goldenes, in der Sonne glänzendes Haar zu. Ihre Lippen waren rosa und voll, der Hals lang und anmutig. Lefti und Eleni winkten ihr, woraufhin sie schüchtern lächelte. Foti und Christina erschraken: Ihre Zähne waren vollständig, weiß und kräftig.

»Yorgo, wie heißt deine Braut?«, rief ihm Lefti zu, während der stolze Bräutigam die zukünftige Verwandtschaft zu seinem Haus führte.

»Spiroula!«, verkündete er strahlend, und Eleni flüsterte:

»Ich glaube, sie ist eine Prinzessin.«

So schön Spiroula auch war, so merkwürdig waren hingegen die Menschen, die sie begleiteten. Weder Lefti noch Eleni noch die anderen Familienmitglieder hatten jemals so eine Tracht gesehen: Die Männer trugen faltige Röcke über ihren Kniebundhosen, bestickte Westen und seltsame Hüte auf dem Kopf, während die Frauen rot-schwarz-grüne Kleider mit zwei bis drei Schürzen darüber anhatten, und, was am meisten verwunderte, ihre Gesichter waren in der altmodischen Art bis auf die Augen vollständig verhüllt.

»Das hab ich nicht mehr gesehen, seit ich ein kleines Mädchen war«, murmelte Yiayia Maria und erinnerte sich an ihre Jugend, als die Frauen ihre Gesichter verhüllten, wenn sie eine Reise in die Türkengebiete Kleinasiens unternahmen. »Merkwürdig«, sagte sie gedankenverloren und bekam plötzlich Schüttelfrost. Für die alte Frau war es, als zöge hier eine dunkle Vergangenheit an ihr vorbei.

Die Hochzeit von Yorgos und Spiroula sollte zu einer der schönsten Hochzeiten in der Geschichte des Dorfes werden. In ihrem weißen Brautkleid sah Spiroula aus wie ein Maiglöckchen, und Yorgos lächelte den ganzen Tag über so freudig, dass sogar den hartnäckigsten Spöttern, die sich noch kurz zuvor über ihn lustig gemacht hatten, unfreiwillig das Herz aufging. Die vierstündige Zeremonie verging schnell, da niemand genug davon bekommen konnte, die schöne Spiroula, den glücklichen Yorgos und die seltsam aussehenden Hirten zu mustern. Die größte Überraschung des Tages war indessen die Feier nach der Zeremonie. Auf dem Dorfplatz, wo Brot, Käse, Lamm und Schnaps gereicht wurden, packten einige Männer aus Spiroulas Familie Instrumente aus, die man im Dorf noch nie gesehen hatte. Klänge voller Trauer und Freude, Sehnsucht und Melancholie ertönten, von denen ein eigentümlicher Zauber ausging. Sogar die alten Witwen, die sich geschworen hatten, nie wieder Freude und Fröhlichkeit zu empfinden, wippten mit den Füßen im Takt und wisperten einander zu:

»Da ist der Teufel drin, der Teufel ganz allein.«

Als die Nacht hereinbrach, tanzten Familien auf demselben Tanzboden, die einander noch vor zehn Jahren bekämpft und bis zum Vorabend übereinander geschimpft hatten. Kommunisten wie Royalisten, Bauern und Handwerker, Frauen und Männer. Sogar die unverheirateten Mädchen durften sich trotz Dunkelheit außerhalb des Hauses zeigen, was ihnen jedoch wenig Spaß bereitete, da sämtliche unverheirateten Männer nur Augen für die Braut hatten. Lefti und Eleni hatten in ihrem Leben noch nie so viele Süßigkeiten bekommen, Eleni sollten drei Tage lang Bauchschmerzen plagen, und Yorgos war so voller Glück, dass er Runde um Runde spendierte und, wie es schien, bereit war, all sein Geld auszugeben, nur um Menschen, die ihm jahrelang das Leben schwer gemacht hatten, das schönste Fest aller Zeiten zu schenken.

Eleni und Lefti sprangen abseits der Tanzfläche im Kreis, bis Yiayia Maria beide kurz vor Mitternacht an den Händen packte, um sie nach Hause zu ziehen. Die alte Frau war der Meinung, dass zur Nachtmitte allerhand böser Geister erwachten, die für die Seelen unschuldiger Kinder nicht gesund seien.

Zu Hause angekommen, waren die beiden allerdings so aufgekratzt von all dem Zucker, dass Yiayia Maria sich bereit erklärte, ihnen noch eine Geschichte zu erzählen. Zuvor schloss sie die Fensterläden, zündete drei weiße Kerzen an und legte ihr Armband gegen den bösen Blick gut sichtbar auf den Tisch, damit die Geister draußen blieben.

»Mir ist eine Geschichte von den Alten eingefallen, die mir meine Großtante erzählt hat, als ich so alt war wie ihr. Damals, auf der anderen Seite des Meers«, sagte sie, räusperte sich und setzte sich auf den Schaukelstuhl neben dem Küchentisch, in dem bereits Yiayia Marias Ehemann gestillt worden war. Die alte Frau rückte sich das Kissen in ihrem Kreuz zurecht, Lefti streckte die Beine auf der Holzbank aus und Eleni legte den Kopf auf seinen Bauch, als die Großmutter schließlich in ihrer sanften Stimme zu erzählen begann:

Unter all den Nereiden – das sind die Töchter des Flussgottes Nereus – hieß die allerschönste Thetis. Sie war so schön, dass sogar die Götter im Olymp staunten, wenn sie vorbeiging, und ihr jeden Wunsch erfüllten, nur um sie anschauen zu dürfen. Natürlich hätte jeder Gott sie gerne geheiratet, doch es gab eine alte Prophezeiung, die besagte, dass der Sohn der Thetis einmal viel viel viel stärker werden würde als sein Vater. Und davor hatten die eitlen Götter Angst.

Eines Tages schlief Thetis in einer versteckten Grotte ein, weil sie müde vom Baden war. Zufällig kam ein junger Königssohn namens Peleus vorbei – er sah die schlafende Schönheit, entbrannte vor Liebe und konnte nicht anders, als sie zu umarmen. Thetis erschrak und war angewidert von dem Sterblichen.

»Geh weg von mir, stinkender Mensch!«, rief sie, doch Peleus antwortete:

»Niemals werde ich dich loslassen, denn ich liebe dich.«

Weil sie eine Göttin war, verfügte Thetis über die Gabe der Verwandlung. Sie verwandelte sich in Feuer und verbrannte des Königssohns Haut. Sie wurde zu Wasser und nahm ihm die Luft zum Atmen. Sie verwandelte sich in eine Löwin und zerfetzte sein Gesicht. Sie wurde zu einer Schlange und biss ihn an jeder Körperstelle. Doch egal, wie sehr sie ihn verletzte, egal, wie viele Schmerzen sie ihm zufügte, Peleus ließ nicht los.

Als sich Thetis beruhigt hatte, sah sie, dass Peleus kaum noch am Leben war. Sie war gerührt von seiner Liebe, davon, dass er sterben würde, nur um sie nicht loszulassen, und so verwandelte sie sich zurück in ihre eigene Gestalt und heilte Peleus’ Wunden. Obwohl sie eine Göttin war und Peleus nur ein Mensch, heiratete sie ihn. Peleus und Thetis bekamen einen Sohn, sie nannten ihn Achilleus. Achilleus wurde zum stärksten Krieger aller Zeiten, viel stärker als sein Vater, doch was Achilleus erlebte, ist eine andere Geschichte. Peleus und Thetis jedenfalls lebten gut, und wir leben noch besser!

 

Eleni erwachte mitten in der Nacht von einem Schrei. Der Schrei war schrill und spitz, einer von der Art, wie er schmerzhaft ins Mark schneidet und alle Härchen zu Berge schießen lässt. Einige Minuten saß sie aufrecht im Bett, ihr Herz schlug wild, und angestrengt lauschte sie in die Stille. Draußen knallte etwas, als ob das Hoftor nicht gut verschlossen wäre und vom Wind gerüttelt würde, doch vor dem Fenster waren die Zweige der Weide unbewegt. Wenig später gackerten die Hühner, die Hunde bellten, ihre Ketten rasselten, und Eleni wurde bang. Christina zuckte unruhig im Schlaf, Foti lag auf dem Bauch und hatte den Kopf im Kissen vergraben. Eleni nahm all ihren Mut zusammen und tapste vorsichtig durch die Dunkelheit, hinüber in das Zimmer ihrer Großmutter.

»Yiayia«, flüsterte sie, als sie die dünne Brettertür vorsichtig aufdrückte, um die alten Scharniere nicht zum Quietschen zu bringen. Eleni war nicht verwundert, dass ihre Großmutter die Augen geöffnet hatte. Eleni hatte ihre Yiayia noch nie schlafen gesehen.

»Yiayia, da ist eine Bestie im Hof.«

Ihre Großmutter sah sie liebevoll an und nickte, als hätte auch sie die Bestie gehört. Die alte Frau rückte zur Seite und klopfte auf den freien Platz. Eleni schloss vorsichtig die Tür hinter sich, schlüpfte zu ihrer Großmutter ins Bett und atmete beruhigt aus, als diese sie sanft in die Arme schloss. Eleni lag mit dem Rücken an ihre Yiayia gedrückt und presste ihren Körper fest an deren weiche Haut. Bald schlief sie ein.

Yiayia Maria war immer die Erste, die aufstand, und so weckte sie ihre Enkelin deutlich vor Sonnenaufgang.