Rückwärtswalzer - Vea Kaiser - E-Book
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Vea Kaiser

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Beschreibung

»Ein warmherziges Loblied auf die Familie als Halt und Hort« Hessischer Rundfunk Als Onkel Willi in Wien stirbt, stehen der Drittel-Life-Crisis-geplagte Lorenz und seine drei Tanten vor einer besonderen Herausforderung. Willi wollte immer in seinem Geburtsland Montenegro begraben werden. Da für eine regelkonforme Überführung der Leiche das Geld fehlt, begibt man sich kurzerhand auf eine illegale Fahrt im Panda von Wien Liesing bis zum Balkan. Auf der 1029 Kilometer langen Reise finden die abenteuerlichen Geschichten der Familie Prischinger auf kunstvolle Weise zueinander. Voller Witz, Verve und Herzenswärme erzählt Vea Kaiser von einer Familie aus dem niederösterreichischen Waldviertel. Von drei ungleichen Schwestern, die ein Geheimnis wahren, von Bärenforschern, die die Zeit anhalten möchten, von glücklichen und tragischen Zufällen und davon, wie die Seelen der Verstorbenen die Lebenden auf Trab halten. In ihrer unnachahmlichen Art verwebt sie die Wahrheiten alter Mythen mit der Gegenwart und erschafft ein mitreißendes und unvergessliches Familienepos.

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Seitenzahl: 537

Veröffentlichungsjahr: 2019

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Vea Kaiser

Rückwärtswalzer oder Die Manen der Familie Prischinger

Roman

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Titelseite

Über Vea Kaiser

Über dieses Buch

Inhaltsverzeichnis

Impressum

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Über Vea Kaiser

wurde 1988 geboren und lebt in Wien, wo sie Altgriechisch, Latein und Germanistik studierte. Mit 23 Jahren veröffentlichte sie ihren Debütroman »Blasmusikpop oder Wie die Wissenschaft in die Berge kam«, der ebenso wie ihr Zweitling »Makarionissi oder Die Insel der Seligen« zum Bestseller avancierte und in mehrere Sprachen übersetzt wurde. 2015 erhielt »Makarionissi« die Auszeichnung »Bester Familienroman« von der Stiftung Ravensburger Verlag. »Rückwärtswalzer« ist Vea Kaisers dritter Roman.

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Über dieses Buch

Als Onkel Willi stirbt, stehen der Drittel- Life-Crisis-geplagte Lorenz und seine drei Tanten vor einer besonderen Herausforderung. Willi wollte immer in seinem Geburtsland Montenegro begraben werden. Doch da für eine regelkonforme Überführung der Leiche das Geld fehlt, begibt man sich kurzerhand auf eine illegale Fahrt im Panda von Wien Liesing bis zum Balkan. Auf der 1029 Kilometer langen Reise finden die abenteuerlichen Geschichten der Familie Prischinger auf kunstvolle Weise zueinander. Mirl, die älteste der Schwestern, muss nach dem Krieg schon früh Verantwortung übernehmen und will nur weg aus dem elterlichen Gasthof, weg vom Land. Doch weder die Stadt noch ihre Ehe entwickeln sich so, wie sie es sich erträumte. Wetti interessiert sich bereits als Kind mehr für Tiere als für Menschen. Als Putzfrau im Naturhistorischen Museum kennt sie die Präparate der Sammlungen bald besser als jeder Kurator, und als alleinerziehende Mutter einer dunkelhäutigen Tochter schockiert sie die Wiener Gesellschaft. Und Hedi, die Jüngste im Bunde, lernt Willi zu einem Zeitpunkt in ihrem Leben kennen, als sie mit selbigem fast schon abgeschlossen hat. Denn die drei Schwestern haben in jungen Jahren einen schweren Verlust erlitten. Und sie alle geben sich die Schuld daran.

Inhaltsverzeichnis

Hinweis

Motti

1. Unerwünschte Besuche (Wien)

2. Flohzirkus Prischinger (1953)

3. Was man glaubt,was man hofftund wie es wirklich wird (Wien)

4. Titos Meisterspion (1958)

5. Das lahme Rennpferdund sein Espresso(Wien)

6. Männer, Frauen,Bären und andere Tiere (1968)

7. Wirklich viel zu plötzlich(Wien)

8. Der schweigende Patient(1969)

9. Das Fassungsvermögeneines Panda (Wien)

10. Mirl verliert (1972)

11. Österreichischeund ausländische Pässe(Kilometer 1 bis 10)

12. Das Fortpflanzungsverhaltenvon Enten und Marienkäfern(1973)

13. Die richtige Pflegelebendiger und toter Menschen(Kilometer 11 bis 213)

14. Hauptsachenicht rothaarig (1978)

15. Das unausländische Ausland(Kilometer 214 bis 292)

16. Die Wirbellosen(1986)

17. Die Endlosigkeitder kroatischen Autobahn(Kilometer 293 bis 790)

18. Hedi sieht rot(1994)

19. Alle Heiligkeit der Erde(Kilometer 791 bis 898)

20. Andere knackige Popscherl(2001)

21. Die Schwarzen Berge(Kilometer 899 bis 1029)

22. Wer zurückgelassen wurde(1977)

23. Was man wem erzählt(Wien)

Danksagung

 

 

 

 

Dies ist ein Roman und seine Geschichte frei erfunden. Alle Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind zufällig. Die Handlung wird keinesfalls zur Nachahmung empfohlen.

Sunt aliquid manes:

letum non omnia finit,

luridaque […] effugit umbra

Es gibt also doch jene Manen!

Nicht alles beendet der Tod,

sondern ein blasser Schatten entflieht …

(Properz, 4.1.1–2)

Bedenkt: Den eigenen Tod, den stirbt man nur; doch mit dem Tod der anderen muss man leben.

(Mascha Kaléko)

1.Unerwünschte Besuche (Wien)

In Lorenz Prischingers Leben gab es seit einigen Wochen zwei Arten von Klopfen. Das gute und das böse.

Das gute Klopfen kündigte Erwartetes an, wie eine heiß ersehnte Post-Lieferung oder die Ankunft seiner Freundin Stephi. Das böse Klopfen war unangemeldet und konnte bedeuten, dass das Finanzamt, die Krankenversicherung oder schlimmstenfalls sogar die Bank mit ihren Drohungen Ernst machte und ihm den Zwangsvollstrecker schickte.

Als es an jenem Freitag im März um 10:23 Uhr an Lorenz’ Wohnungstür klopfte, war die Post bereits da gewesen und Stephi in Heidelberg, wo sie seit einem Jahr an der Universität unterrichtete. Lorenz ließ seinen Joghurt-Becher mitsamt dem Löffel fallen und erstarrte.

Es klopfte nachdrücklicher.

Lorenz biss sich in die Fingerknöchel der linken Hand. Schon vor sechs Wochen wären die Nachzahlungen bei Finanzamt und Krankenkasse fällig gewesen, doch sein Erspartes war verbraucht und er hatte das ganze Jahr hindurch noch keinen Cent verdient. Lange hatte er sorglos die Briefe, Mahnungen und Einschreiben gesammelt und darauf gewartet, dass die Krimi-Serie weitergedreht wurde, in deren vor einer Woche ausgestrahlten Pilotfolge er eine Hauptrolle spielte.

Aus dem Klopfen wurde ein Hämmern.

Lorenz löschte reflexartig das Küchenlicht, obwohl man es vom Hausflur aus gar nicht sehen konnte, und schlich ins Ankleidezimmer. Er tauschte seinen Pyjama gegen Jeans und T-Shirt und überlegte, was er tun sollte. Er könnte abwarten, ob der Zwangsvollstrecker aufgäbe, wenn er sich ruhig verhielte, oder an die Tür treten und sich dem Schlamassel stellen. Das Hämmern wurde aggressiver. Lorenz’ dritte Möglichkeit bestand darin, über den Balkon auf die Terrasse der Nachbarn zu klettern, von dort auf die Hofmauer zu springen und so über den Innenhof des Nachbarhauses zu entwischen.

»Herr Prischinger, der Postler hat mir gesagt, dass Sie zuhause sind!«, schallte es durch die Wohnungstür. »Machen Sie auf!«

Der Unbekannte hatte eine unangenehme, drängende Stimme mit einem transdanubischen Akzent. Lorenz begab sich auf den Balkon. Die viele freie Zeit der letzten Monate hatte er sich mit Lesen, Serien-Schauen und Fitnessstudiobesuchen vertrieben. Er war so gut in Form wie noch nie. Wenn er sich konzentrierte, sollte es ein Leichtes sein, sich an den Streben seines Balkongeländers hinunterzuhangeln und über die Nachbarterrasse in den Hof zu gelangen. Andererseits war das Wetter trüb und feucht. Was, wenn er ausrutschte?

»Herr Prischinger! Irgendwann müssen Sie mich reinlassen!«

Lorenz spuckte über das Geländer. Der Weg nach unten war weit.

Also ging er zurück in die Wohnung.

Über seine Lage wimmernd huschte er ins Bad, putzte sich die Zähne, sprühte sich mit dem teuersten Parfüm ein, das er besaß, und kämmte sein Haar. In einer Dokumentation hatte er unlängst gelernt, dass sich die meisten Titanic-Passagiere vor ihrem Untergang in edlen Zwirn geworfen hatten.

Der Fremde vor der Tür hämmerte mittlerweile ohne Unterbrechung.

Lorenz nahm Haltung an, Bauch rein, Brust raus, er war ein einunddreißigjähriger Mann und erfolgreicher Schauspieler, er würde schon einen Ausweg finden.

Gefasst öffnete er die Tür.

»Na endlich«, sagte ein überraschend kleiner Mann mit olivgrüner runder Hornbrille und dunkler Bomber-Jacke, die mit dem Logo eines Hundesportvereins bedruckt war. Ein Herz für Bellos stand auf der Brusttasche, über die Schultern verliefen Hundepfoten. Zwangsvollstrecker hatte sich Lorenz anders vorgestellt. Und wahrscheinlich sahen Zwangsvollstrecker tatsächlich anders aus, denn der Mann, der ihm nun seinen Ausweis unter die Nase hielt, war keiner.

»Gebühreninformationsservice, kurz GIS, Herr Prischinger, haben Sie einen Fernseher?«

»Wie bitte?«, fragte Lorenz verblüfft. Sein ganzes Studentenleben lang hatte er gefürchtet, die GIS stünde irgendwann vor der Tür und würde ihn bestrafen, weil er seinen Fernseher nicht angemeldet hatte. Und nun, als die GIS tsächlich bei ihm vorstellig wurde, konnte er sich kaum schöneren Besuch vorstellen, denn seinen Fernseher hatte er vor drei Tagen an einen Bekannten verkauft, um an Bargeld zu kommen, und weil ihm der Fernsehanbieter sowieso den Anschluss gekappt hatte.

»Gebühreninformationsservice, Herr Prischinger, haben Sie einen Fernseher? Einen Fernseher zu besitzen, ohne ihn anzumelden, ist in der Republik Österreich eine Straftat.«

»Ich hab keinen Fernseher.« Lorenz lächelte, als hätte man ihm einen vierzig Kilogramm schweren Lastenkorb von den Schultern genommen.

»Wieso grinsen Sie?«, fragte der GIS-Mann.

»Ich freu mich, Sie zu sehen«, sagte Lorenz.

»Niemand freut sich, mich zu sehen«, antwortete der GIS-Mann. »Herr Prischinger, darf ich mich vergewissern, dass Sie keinen Fernseher besitzen?«

Lorenz hatte nichts zu verbergen, und so ließ er den GIS-Mann eine Runde durch seine wunderschöne Vier-Zimmer-Wohnung drehen, zeigte ihm stolz, wie liebevoll er letztes Jahr renoviert hatte, bot ihm einen Kaffee an und geleitete ihn auch wieder hinaus.

»Schönen Tag noch!«, rief Lorenz ihm hinterher und beobachtete, wie die Hundepfoten auf dem Jackenrücken die Treppe hinauf zum Nachbarn tapsten. Dann schloss er die Tür und ging ins Bad.

Als er die neuen und sehr teuren Badematten sah, die der Postbote kurz vor dem GIS-Mann gebracht hatte, kam die Scham über Lorenz wie eine monströse Welle über am Strand eingeschlafene, goldgelb gebackene Sonnenanbeter.

Die Badematten waren wunderschön, streichelweich und sogar ökologisch, obwohl das keine Kategorie war, der Lorenz normalerweise Bedeutung beimaß. Das gelb-weiß-graue geometrische Design passte hervorragend zu den weißen Wandfliesen und dem schwarzen italienischen Marmor-Fußboden, den er im Zuge der Wohnungssanierung hatte verlegen lassen. Doch notwendig waren sie nicht gewesen – immerhin hatte er erst vor einem Jahr ein Set neuer Bambus-Vorleger gekauft. Er hatte auch gar nicht vorgehabt, weitere Badezimmerteppiche anzuschaffen, sondern auf dieser verfluchten Design-Plattform im Internet lediglich nach einer eleganten Lösung gesucht, um seine Kuscheldecke aufzubewahren. Im Zuge der Internetrecherche hatte er jedoch diese entzückenden Teelichthalter gefunden. Dazu waren ihm Platzsets empfohlen worden, die er, ungeachtet der Tatsache, dass er gar nicht kochen konnte, ab dem Zeitpunkt, als er sie gesehen hatte, unbedingt zu brauchen gemeint hatte, dazu Serviettenringe aus Messing, und für die Serviettenringe benötigte er natürlich auch noch Servietten. Plus neue Wassergläser. Lorenz wusste nicht mehr, wie er letzten Endes bei diesen Badematten gelandet war, in jedem Fall hatte er auch noch einen Servierwagen sowie dekorative Bilderrahmen gekauft, aber natürlich keine praktische Aufbewahrungslösung für die Kuscheldecke, die er eigentlich gesucht hatte.

Lorenz war mit den Tücken des Online-Shoppings bereits schmerzlich vertraut. Ein digitaler Einkaufswagen fühlte sich niemals so voll an wie einer, den man vor sich herschob, und außerdem war im Internet alles vergünstigt. Lorenz wusste, dass er als Mitglied der Familie Prischinger eine quasi genetisch bedingte Schwäche für Sonderangebote hatte, seine Rechenschwäche machte es ihm zudem unmöglich, Steuern und Versandkosten vor Abschluss des Bestellvorgangs miteinzukalkulieren. Natürlich sah man die Endsumme, bevor man die Kreditkartendaten bestätigte, nur wer entrümpelte dann noch den Warenkorb, zu dessen Inhalt man bereits eine emotionale Bindung aufgebaut hatte?

»Ich weiß, ich bin pleite«, gestand Lorenz seinem Badezimmer, ehe er beschämt das Licht löschte und die Tür hinter sich schloss.

Und so plötzlich, wie sie gekommen war, war Lorenz’ gute Laune auch wieder dahin. Er hatte heute Morgen großes Glück gehabt. Aber dieses Glück hatte ein Ablaufdatum.

Lorenz hatte durchaus versucht, sparsam zu leben. Seit er den Bescheid über die Steuer- und Krankenkassen-Nachzahlungen erhalten hatte, hatte er sich felsenfest vorgenommen, nichts zu kaufen, das er nicht wirklich benötigte. Doch mit Lorenz’ Vorsätzen war das so eine Sache. Jedes Jahr zu Silvester nahm er sich vor, fünf Kilo abzunehmen. Jahr für Jahr nahm er zwei Kilo zu. Seit fünfzehn Jahren nahm er sich vor, die Ilias und die Odyssee zu lesen. Bisher hatte er lediglich den Anfang der Ilias und die Hälfte der Odyssee geschafft.

Lorenz hatte viele Stärken. Konsequenz war keine davon.

Bedrückt ließ er sich auf das ungemachte Bett im Schlafzimmer fallen. Er drehte sich zum Nachtkästchen, auf dem Fotos von Stephi und ihm standen, die sie vor ihrem Umzug nach Heidelberg hatte rahmen lassen. Stephi und Lorenz nach der Premiere von Don Carlos, Stephi und Lorenz bei den Wiener Festwochen nach der Dernière von Kabale und Liebe, Stephi und Lorenz in Zürich, in Kassel und in Bochum, wo Lorenz in den vergangenen Jahren Gastspiele gehabt hatte, und weitere Fotos aus der guten alten Zeit, als Lorenz noch am Theater gewesen war und Stephi an der Universität Wien Latein unterrichtet hatte. Auf den meisten Fotos war Lorenz kostümiert oder zumindest nicht abgeschminkt, Stephi hatte die schulterlangen hellbraunen Haare zu einem Zopf gebunden, höchstens ein wenig Lippenstift aufgelegt. Lorenz war Künstler, er schwebte drei Meter über den Dingen, und Stephi war seine im Boden verwurzelte Eiche. Sie entschied, wo und was man zu Abend aß, ob man ins Kino oder ins Theater ging. Sie buchte Reisen und organisierte Aktivitäten mit Freunden. Sie ermahnte ihn, kein Geld auszugeben, das er nicht hatte, kochte Suppe und kaufte Schokolade, wenn Lorenz einen dieser Tage hatte, an denen ihm die Bettdecke so schwer vorkam, dass er nicht aufstehen konnte.

Seit Stephi nach Heidelberg gegangen war, fühlte er sich wie ein losgelassener Heliumballon.

Lorenz umfasste das zusammengedrückte Seitenschläferkissen mit Beinen und Armen. Er spielte wahllos mit seinem Handy und versuchte drei Mal Stephi anzurufen, obwohl er wusste, dass es sinnlos war. Wenn Stephi arbeitete, und das tat sie jeden Tag von acht in der Früh bis sieben Uhr abends, schaltete sie ihr Handy stumm und das Internet aus. Dann war sie irgendwo zwischen 300 vor Christus und 400 nach Christus verschollen. Nicht einmal eine Mailbox hatte sie, auf der er zumindest ihre Stimme hätte hören und ihr Nachrichten hinterlassen können.

Das Wetter war schlecht. Geld hatte er auch keines. Wozu also aufstehen? Lorenz beschloss, Serien zu schauen und zu warten, bis Stephi Zeit hätte, um mit ihm zu skypen. Er schnappte sich seinen Laptop und lud die neue Staffel einer Krankenhausserie. Während der Computer beschäftigt war, ging Lorenz in die Küche und suchte nach Essbarem. Er fand Cornflakes, Suppenwürfel und Stephis Studentenfutter, gegen das er allergisch war.

Zurück im Bett schloss er die Vorhänge. Nach zwei Folgen öffnete er ein zweites Fenster in seinem Browser und nahm die Suche nach einer Aufbewahrungslösung für seine Kuscheldecke wieder auf. Gerade als er auf einem Kunst-Auktions-Portal für den limitierten Druck eines Street-Art-Künstlers bieten wollte, unterbrach der Stream, und Lorenz kam zur Besinnung.

»Ich hab ein Problem«, flüsterte er vor sich hin, klappte den Laptop zu, sprang auf und beschloss, dass es so nicht weitergehen konnte. Er wählte die einzige Nummer, die ihm in einer solchen Situation helfen konnte: Tante Hedi Haustelefon.

Es klingelte drei Mal, ehe Onkel Willi, der Lebensgefährte seiner Tante, abnahm.

»Markovic und Prischinger?«, brüllte Willi ins Telefon.

»Hallo Onkel Willi, Lorenz hier.«

»Wer?«, schrie Willi, der sich für so kerngesund hielt, dass er jegliche Arztbesuche inklusive Hörtest verweigerte.

»LORENZ!«, brüllte Lorenz.

»Ach Lorenz, sag das doch gleich!«

»Onkel Willi, darf ich heut zum Abendessen kommen?«

Lorenz, der sich seit seinem ersten Semester in Hedis Küche durchfüttern ließ, wusste natürlich, dass die Frage eine rhetorische war.

»Ist der Patriarch orthodox? Freilich darfst du, Bub, du warst schon so lange nicht mehr hier. Wir reden jeden Tag von dir. Die Mirl und die Wetti sind auch da«, sagte Willi. »Die Damen werden aus dem Häuschen sein!«

Und tatsächlich redeten seine Tanten im Hintergrund wild durcheinander. Lorenz verstand kein Wort, und das beruhigte ihn augenblicklich. Wie gut, dass sich manche Dinge nie änderten und dass er in diesem stürmisch-tosenden Meer von Leben einen sicheren Hafen hatte.

»Ich freu mich«, sagte er und legte auf. Der erste Schritt aus der Misere war getan, dachte Lorenz zufrieden.

 

Als er am späten Nachmittag Richtung Süd-Wien aufbrechen wollte, goss es wie aus Kübeln. Lorenz schnappte sich seinen wärmsten Alpaka-Pullover, wickelte sich einen weichen Schal, der eigentlich Stephi gehörte, um den Hals und wählte nach kurzem Zögern den Taxi-Funk. Er hatte den neuen Badematten eigentlich versprochen, mit dem Rest seines Bargeldes bescheiden zu haushalten, doch Willis und Hedis Wohnung lag im Dreiundzwanzigsten Bezirk, einer Mischung aus Wohnghetto und Industriezone, an der Demarkationslinie zu Niederösterreich, während Lorenz in bester Innenstadtlage nahe der Mariahilfer Straße wohnte, Wiens berühmter Einkaufsmeile, im hippen und kulturellen Zentrum des Siebten Bezirks.

»In den Dreiundzwanzigsten, bitte«, sagte er, als er auf dem Rücksitz eines schwarzen Mercedes Platz nahm. »Dionys-Schönecker-Gasse acht.«

»Bis in den Dreiundzwanzigsten von hier?«, fragte der Taxifahrer, ein mittelalter Tschetschene oder Bosnier mit rotblondem krausem Bart. »Ist wirklich teuer! Ganze Stadt! U-Bahn ist schneller!«

»Sie verdienen doch daran! Freuen Sie sich.«

Der Taxifahrer zuckte mit den Schultern und setzte den Blinker.

»Aber nix Bankomatkarte«, sagte er.

»Natürlich«, antwortete Lorenz. Seine Bankomatkarten waren ohnehin bereits eingezogen.

Hedi, Wetti und Mirl waren die jüngeren Schwestern seines Vaters Sepp. Während sein Vater in Niederösterreich geblieben war, unweit des Ortes, an dem sie aufgewachsen waren, waren die drei Schwestern in den Siebzigern nach Wien gezogen und seither unzertrennlich. Ihr Hauptquartier befand sich in Hedis Küche, obwohl Wetti und Mirl jeweils eigene Wohnungen hatten. Der Dreiundzwanzigste deprimierte Lorenz. Die hinter Spitzengardinen hervorschauenden Augenpaare erinnerten ihn an die permanente nachbarschaftliche Überwachung in seinem Heimatdorf auf dem Land. Die dem Verfall preisgegebenen niedrigen alten Bauernhäuser aus jener Zeit, als Liesing noch Vorstadt und kein Wiener Bezirk gewesen war, erregten sein Mitleid. Die kahlen Industrieanlagen und Shopping-Komplexe drückten die Stimmung. Am allermeisten schmerzte ihn die Diskrepanz zwischen dem, was Liesing war, und dem, was Liesing hätte sein können. In Liesing hatten sich vor dem Krieg die Rosenhügel-Studios befunden, die einstmals wichtigsten Filmstudios der Welt. Hätten sich die Österreicher nicht Nazi-Deutschland angeschlossen, kämen die großen Blockbuster heutzutage vielleicht nicht aus Hollywood, sondern aus dem Dreiundzwanzigsten. Vielleicht würden dann die Oscars nicht Oscars, sondern Gerhards oder Herberts heißen, überlegte Lorenz, doch sie wären zumindest geografisch in seiner Reichweite.

»Siebenunddreißig Euro«, sagte der Taxifahrer, als er vor dem lila gestrichenen Wohnblock in der Dionys-Schönecker-Gasse hielt.

»Vierzig.«

»Rechnung?«

»Nein danke.«

»Kann man von Steuer absetzen!«

»Sie sind aber auch ein besonders kluger Taxler, oder?«

»Ich war in Bosnien Bilanzbuchhalter«, sagte der Mann.

»Und ich bin am Ziel«, entgegnete Lorenz verärgert und schlug die Autotür hinter sich zu.

Er eilte über den geschwungenen Weg zur Eingangstür des Genossenschaftsbaus und stieß unter der Pergola beinah mit einem älteren, breitschultrigen Herrn zusammen, der einen Plastikbeutel mit beiden Händen umklammert hielt, in Zellophan verpackte Rosen unter den linken Arm geklemmt hatte und unschlüssig auf das Klingelschild starrte.

»Zu wem wollen Sie denn?«, fragte Lorenz hilfsbereit.

»Ach, Sie sind doch der Lorenz Prischinger?«, sagte der Herr, und gerade als ihm Lorenz eine der Autogrammkarten geben wollte, die er für solche Fälle immer in der Jackeninnentasche trug, bemerkte er das Logo auf dem Beutel: Fleischerei Ferdinand. Nicht er wurde erkannt, sondern er hatte Herrn Ferdinand nicht erkannt, der auf der anderen Straßenseite eine Fleischerei betrieb. Unzählige Male war Lorenz schon von seinen Tanten dorthin geschickt worden, um eine Bestellung abzuholen. So wie heute hatte er Herrn Ferdinand jedoch noch nie gesehen: Anstelle der üblichen weißen Kleidung mit Plastikschürze darüber trug er einen altmodischen Anzug und roch nach einem umgestürzten Fass Kölnischwasser.

»Schick sind Sie heute! Wie geht es Ihnen?«

Herr Ferdinand blickte sich um.

»Ich wollte gerade zu Ihrer Tante«, sagte er.

»Ich auch«, sagte Lorenz verwundert.

»Nicht zur Frau Heidemarie, sondern zur Frau Maria Josefa«, flüsterte Herr Ferdinand nervös. Lorenz war verwirrt, was wollte Herr Ferdinand denn von Mirl? »Ich wollte Frau Maria Josefa Kalbskoteletts bringen, die mag sie so gern«, sagte Herr Ferdinand und hob den Beutel hoch, in dem sicherlich zwei Kilogramm Fleisch waren. Das verschmierte Blut, das sich am Boden gesammelt hatte, schimmerte durch das weiße Plastik.

»Na, dann kommen Sie mit«, sagte Lorenz und betätigte die Klingel. Herr Ferdinand stieg mit zwei Meter Sicherheitsabstand hinter ihm in den ersten Stock, wo Hedis Wohnungstür bereits weit offen stand. Lorenz trat über die Schwelle und inhalierte den köstlichen Duft aus der Küche: eine Mischung aus Kümmel, Knoblauch und jener Note, nach der in Lorenz’ Vorstellung Maisstärke riechen würde, hätte Maisstärke einen Geruch.

»Jössas, Lorenz!« Hedi klatschte in die Hände und eilte auf ihn zu. »Wieso stehst du denn still wie ein Schwammerl? Komm herein!«

»Ich hab Besuch mitgebracht«, sagte Lorenz, während Hedi ihn zu sich herabzog, um ihn zu umarmen. Da sie mit ihren eins neunundfünfzig deutlich kleiner war als Lorenz, musste sie rechts an seinem Oberarm vorbeischauen, um den zweiten Gast zu erblicken.

»Mirl, der Herr Ferdinand!«, schrie sie, ehe sie die Umarmung löste und den unerwarteten Gast begrüßte. »Grüß Gott, Herr Ferdinand!«

Lorenz beobachtete, wie der Fleischer einen Handkuss andeutete. So perfekt hatte Lorenz den angetäuschten Handkuss erst vor wenigen Jahren dank der Anleitung eines ehrwürdigen Kammerschauspielers zu meistern gelernt. In der Sekunde, in der Mirl um die Ecke kam, ließ Herr Ferdinand von Hedi ab und strahlte über das ganze Gesicht. Wie eine der vom Deckenfluter beleuchteten Knackwürste, die über seiner Verkaufstheke am Haken baumeln, dachte Lorenz und hätte die Szene zu gern weiter beobachtet, doch Hedi zerrte ihn in die Küche, während Mirl ihm im Vorbeigehen in die Wange kniff, ehe sie mit Herrn Ferdinand vor die Tür trat und selbige hinter sich schloss.

»So lange warst du schon nicht mehr bei uns, Bub«, sagte Hedi.

»Was macht denn der Herr Ferdinand hier?«, fragte Lorenz.

»Servus, Lorenz, regnet es in der Stadt auch so schlimm?«, fragte Wetti, als sie in die Küche traten, und gab ihm rechts und links ein Bussi. Ihre karottoiden Haare trug sie heute noch wirrer als üblich.

»Ja«, antwortete Lorenz, »allerdings war der Wind nicht so stark.«

»Das ist auch kein Wunder«, sagte Wetti und tat, was sie am allerbesten konnte: Sie starrte in die Luft, als ob sich dort eine Wien-Karte entfaltete. »Wir hier im südlichen Teil Liesings befinden uns dort, wo die Tiefebene des Wiener Beckens und die pannonische Steppe aufeinandertreffen. Da man im Zuge der Industrialisierung des Wiener Südens alle Bäume gerodet hat, kann der Wind ungeschützt von Osten einfallen.«

Laut den Erzählungen seines Vaters hatte sich Wetti, die früher als Putzfrau im Naturhistorischen Museum gearbeitet hatte, schon als kleines Mädchen mehr für natürliche denn für menschliche Phänomene interessiert. Lorenz hingegen interessierte viel brennender, was da draußen vor der Tür geschah.

»Kommt der Herr Ferdinand die Mirl öfter besuchen?«, fragte er und quetschte sich auf seinen Stammplatz, die dem Fenster zugewandte Seite der Küchentisch- Eckbank.

»Hast du meine Salatschüssel dabei?«, fragte Hedi zurück, und damit war das Thema beendet. Willi, Hedis Lebensgefährte, hatte Hedis Küche den Spitznamen Tupperware-Friedhof verpasst, weil Wetti und Mirl immer, wenn sie zu Besuch kamen, Tupperware mit Essen oder Zutaten mitbrachten, die Schüsseln jedoch niemals wieder mitnahmen. Bei jedem seiner Besuche bekam Lorenz einen Behälter mit Proviant für später mit, und obwohl es in dieser Küche genug Tupperware gab, um Verpflegung für ein nahendes Armageddon zu verpacken, achtete Hedi penibel darauf, dass Lorenz alle Behälter bei seinem nächsten Besuch zurückgab. Letzten Herbst hatte er in einem unbedachten Moment eine verschließbare Salatschüssel weggeworfen. Er hatte sie als Chipsschüssel zweckentfremdet, als nach einer Probe ein paar Kollegen vom Theater mit zu ihm gegangen waren, um Wein zu trinken und zu kiffen, bis der Bühnenbildnerin so übel geworden war, dass sie sich in die Chips übergeben hatte. Lorenz hatte die Schüssel daraufhin in einem schwarzen Müllsack entsorgt – was er seiner Tante nicht gebeichtet hatte, denn in der Welt seiner Tanten warf man nichts weg. Lorenz kannte diese Marotte zur Genüge von seinem Vater, der ebenfalls alles potenziell noch Brauchbare hortete, weswegen in der Garage von Lorenz’ Elternhaus kein Auto mehr parken konnte.

»Tut mir so leid, ich hab die Schüssel schon wieder vergessen. Das nächste Mal, versprochen!«, log Lorenz auch dieses Mal und nahm sich vor, heute Abend das Internet nach einer solchen Schüssel zu durchforsten.

Mirl kam mit dem Beutel Kalbskoteletts in die Küche, den sie in die Abwasch legte, um das Fleisch in eine Tupperwareschüssel umzuschichten.

»Wo sind denn die Blumen?«, fragte Lorenz.

»Welche Blumen?«, sagte Mirl und wandte sich dem Kühlschrank zu. Hedis Kühlschrank war, seit Lorenz denken konnte, stets so üppig befüllt, als müsste sie die gesamte Genossenschaftswohnanlage bekochen.

»Die Blumen, die der Herr Ferdinand unter dem Arm hatte?«

»Was weiß ich.« Mirl schaffte es tatsächlich, die Kalbskoteletts in dem randvoll gefüllten Kühlschrank unterzubringen.

»Tante Mirl, ich bin einsam. Stephi ist in Heidelberg. Lass mich an deinem Glück teilhaben.«

Mirl sah ihn an, als hätte er sie gebeten, ihr mit einer rostigen Gartenschere einen Zeh abtrennen zu dürfen.

»Keine Sorge, Lorenz, du kriegst reichlich von dem Kalb. Niemand isst dir etwas weg.«

Ehe Lorenz etwas erwidern konnte, rief Mirl: »Jössas, die Suppe geht über!«, drehte eilig an den Knöpfen des Elektroherds, schichtete Töpfe um und schnappte sich ein Stück Küchenpapier.

»Um Gottes willen, Tante Mirl, du verbrennst dich«, sagte Lorenz, sprang auf und erwischte gerade noch rechtzeitig Mirls Hand, bevor sie mit ihrem manikürten Gel-Fingernagel das Angebrannte von der heißen Elektroplatte schaben konnte. Anders als die immer zerzauste Wetti und die praktisch veranlagte Hedi legte Mirl viel Wert auf ihr Äußeres. Sie trug zu jedem Anlass exquisite Kleidung, Schmuck und aufwendige Hochsteckfrisuren. Obwohl sie Ende sechzig war, hatte Lorenz noch nie den Hauch eines weißen Haaransatzes bei ihr gesehen. In Wettis orangen Federn tauchten mal hier, mal dort graue Strähnen auf, und Hedi nahm das Blondieren nur ernst, wenn sie viel Zeit hatte und nicht gerade damit ausgelastet war, die Mutter Teresa für ältere, körperlich marode Nachbarn zu spielen – ungeachtet dessen, ob diese ihre Hilfe überhaupt wollten. Mirl hingegen war Stammgast in einem Kosmetikstudio auf der südlichen Wiedner Hauptstraße, wo sie sich Woche für Woche Hände, Füße, Gesicht, Dekolleté und was auch immer man noch behandeln lassen konnte, behandeln ließ. Aber wahrscheinlich war das eine notwendige Gegenmaßnahme, dachte Lorenz, während seine Tante mit einem in einen Topflappen eingewickelten Schaber das Angebrannte von der Herdplatte kratzte, denn Mirl hatte einen Putzfimmel mit besonderer Vorliebe für toxische Reinigungsmittel, vor allem solche, die in der EU verboten waren. Seit er einmal erlebt hatte, wie sie in der Straßenbahn Raumspray, Desinfektionsmittel und ein nicht weiter definierbares Pulver verteilte, fuhr er nicht mehr gemeinsam mit ihr hier heraus in den Dreiundzwanzigsten. Die Keime des öffentlichen Nahverkehrs waren ihm um einiges lieber als der Chemiebaukasten in Mirls krokodillederner Damenhandtasche.

»Ja, der Bub!«, sagte in diesem Moment Onkel Willi, der sich zwischen den drei Tanten vorbei zur Eckbank drängte, um sich neben Lorenz zu setzen und ihn fest zu umarmen. Willi roch frisch geduscht, wahrscheinlich kam er gerade vom Sport.

Hedi reichte ihnen zwei Dosen Bier über den Tisch.

»Na, Lorenz, was gibt es Neues?«, fragte Willi, während die Tanten darüber diskutierten, ob sie noch Schnittlauch in die Suppe geben, ein Glas Rote Rüben öffnen oder eine Gurke klein schneiden sollten.

»Nicht viel«, sagte Lorenz wahrheitsgemäß.

»Spielst du wieder Theater?«

»In absehbarer Zeit nicht.«

»Drehst du einen Film?«

»Zurzeit ist nichts in Planung.«

Willi runzelte die Stirn. Er lebte seit vierzig Jahren in Österreich, hatte bis auf den Hauch eines scharfen R keinerlei Akzent mehr und blieb dennoch ein jugoslawischer Pessimist, der auf nichts vertraute, was Genosse Tito nicht abgesegnet hatte.

Willi nahm einen Schluck Bier.

»Womit bezahlst du dann deine Rechnungen?«, fragte er.

Lorenz nahm ebenfalls einen Schluck Bier und legte die Hände genau so übereinander, wie Willi es tat. Menschen, die etwas von anderen wollten, neigten dazu, diese zu spiegeln, hatte er auf der Schauspielschule gelernt.

»Wenn wir schon davon sprechen«, setzte er an und fuhr nach kurzem Zögern fort: »Kannst du mir aushelfen? Vorübergehend? Mit ein paar Tausendern, die mich über die nächsten Monate bringen?«

»Ein paar Tausender?«, sagte Willi und zog seine Augenbrauenbüsche zusammen. »Hedi und ich haben unser Erspartes in Ninas Online-Shop versenkt. Ich hab nur noch die zehntausend Euro auf meinem Begräbnissparbuch, und die kann ich dir leider nicht geben. Du weißt, ich will eines Tages in Montenegro begraben werden, dort, wo ich geboren bin.«

Hedi schlug mit einem Pfannenwender auf Willis Kopf.

»Sag nicht versenkt!«, empörte sie sich. »Das ist unsere Tochter!«

»Ihr veganer Online-Shop ist trotzdem Blödsinn«, erwiderte Willi.

Ehe Lorenz eine der üblichen Sticheleien gegen Cousine Ninas Veganerwahnsinn hinzufügen konnte, besann er sich seiner eigenen finanziellen Misere und suchte Blickkontakt zu seiner zweiten Tante.

»Tut mir leid«, antwortete Mirl eilig und trank aus ihrer Teetasse, ein gutes Stück Lilien-Porzellan. »Ich kann dir auch nicht helfen.«

Dass er Wetti, die versunken eine keimende Zwiebel musterte, erst gar nicht zu fragen brauchte, wusste Lorenz. Anders als Blüten oder Blättern hatte Wetti Geldscheinen noch nie genug Bedeutung beigemessen, um sie zu sammeln.

»Macht nichts«, sagte Lorenz und brachte all seine schauspielerischen Fähigkeiten auf, um sich seine Enttäuschung nicht anmerken zu lassen.

»Suppe!«, sagte Hedi und wuchtete den Topf in die Mitte des Tisches. Mirl übernahm den Schöpflöffel, Wetti reichte ihr die Teller.

»Die Dreharbeiten zu der Serie werden ohnehin bald beginnen«, sagte Lorenz bemüht munter.

»Als Hauptgang gibt es heute Schweinslendchen im Speckmantel mit einer Dörrzwetschgen-Knoblauchsauce«, sagte Hedi.

»Welche Serie?«, fragte Willi.

»Der Herr Ferdinand hat uns gestern besonders schöne Schweinslendchen gegeben, sogar mit vierzig Prozent Nachbarschafts-Rabatt!«, sagte Mirl.

»Die Serie, von der erst letzte Woche die Pilotfolge ausgestrahlt wurde! Ihr wisst doch, wo ich den genialen, aber von der Gesellschaft verkannten Bruder der Ermittlerin spiele, der ihr heimlich hilft, die Fälle zu lösen, während alle anderen glauben, er sei verrückt.«

»Auf Althochdeutsch heißt Lende Niere, deshalb sagen wir zu der Region rund um die Niere auch Lende. Wie Lendenwirbelsäule«, sagte Wetti und fügte hinzu: »In Deutschland sagt man zu diesem Teil vom Schwein Nierenbraten. Ich finde, Schweinslendchen hört sich viel appetitlicher an als Nierenbraten.«

Willi schob seinen Suppenteller beiseite und nahm einen Stapel Gratiszeitungen vom Fensterbrett. Er trieb fast jeden Tag Sport, probierte alle möglichen Trendsportarten, sei es Bikram-Yoga oder Float-Fitness, schwamm konstant von Mai bis September im Frei- und die übrigen Monate im Hallenbad seine Bahnen und widmete sich danach der Rätselseite der Gratiszeitung, um nicht nur körperlich, sondern auch geistig fit zu bleiben. Willi reichte Lorenz die aufgeschlagene Zeitung und tippte auf einen Artikel.

»Ist das nicht deine Serie?«, fragte er.

Lorenz spuckte die Suppe zurück auf den Teller, als er die Überschrift las.

»Schmeckt dir die Suppe nicht?«, fragte Hedi, während Mirl und Wetti ostentativ schlürften. »Da sind sogar Hühnerfüße drin, wie du es am liebsten magst!«

Lorenz hörte die Stimme seiner Tante. Was sie sagte, nahm er jedoch erst zur Kenntnis, als Mirl mit ihrer Gabel einen Fuß aus dem Topf geangelt hatte und ihn vor Lorenz’ Gesichtsfeld schwenkte.

»Hier, da kannst du die Haut runterlutschen.«

»Geh, jetzt lasst den armen Bub mit der depperten Suppe in Ruhe!«, sagte Willi so streng und laut wie selten.

»Lorenz, alles in Ordnung?«

Lorenz lehnte sich zurück und schüttelte den Kopf.

»Nein«, murmelte er. »Die drehen die Serie ohne mich.«

»Das stand schon letzte Woche in der Zeitung«, sagte Wetti, und Mirl fischte weitere Hühnerfüße aus dem Topf.

»Auf die Hühnerfüße hat uns der Ferdinand sogar fünfzig Prozent Rabatt gegeben«, sagte sie.

»Wieso habt ihr mir nichts gesagt?«, flüsterte Lorenz ungläubig.

»Wir dachten, das weißt du«, sagte Willi. »Das hat doch sicher der Chef des Senders oder der Produzent oder jemand von denen mit dir besprochen.«

Lorenz schüttelte ungläubig den Kopf. Niemand hatte ihn angerufen. Niemand hatte ihn informiert, dass seine Rolle gestrichen worden war, weil es nach Ausstrahlung der Pilotfolge wütende Zuschauerreaktionen gegeben hatte, wie sexistisch es sei, wenn eine Ermittlerin einen Mann brauche, um ihre Fälle zu lösen. Aus der Gratiszeitung musste er das erfahren! Niemand hatte sich bei ihm entschuldigt, falsche Hoffnungen geweckt und ihn nun inmitten eines Scherbenhaufens sitzen gelassen zu haben. Mit dem Geld hatte er fest gerechnet. Panisch dachte er an den Moment zurück, als er heute Morgen gefürchtet hatte, der Zwangsvollstrecker stünde vor der Tür. Wie sollte er seine Rechnungen bezahlen? Seine Eltern hatten in den letzten Jahren mehrere Zehntausend Euro in seine Karriere investiert, ihm sogar das teure Studium an einer privaten Schauspielschule finanziert, die waren selbst pleite. Und Stephi wollte er auch nicht schon wieder bitten.

»Tante Mirl«, flüsterte er, »bist du sicher, dass du mir kein Geld borgen kannst? Hast du nicht nach der Scheidung von Onkel Gottfried so viel bekommen?« Es ärgerte Lorenz, seine alte Tante bitten zu müssen, aber bald wurde die Miete fällig.

»Nein, Lorenz, ich hab wirklich kein Geld, das ich dir borgen kann«, sagte Mirl und starrte in ihre Teetasse.

»Macht nichts«, sagte Lorenz, mehr um sich selbst zu beruhigen. »Stephi verdient eh genug, die hilft mir sicher noch mal aus.«

Willi schaute ihn an, als hätte er einen Einbruch bei Frau Bruckner vorgeschlagen, der unfreundlichen Nachbarin, die ihre Katze an der Leine Gassi führte. In der Genossenschaftswohnanlage munkelte man, Frau Bruckner habe aus Angst vor ausländischen Bankräubern eine Viertelmillion unter der Matratze versteckt.

»Bub, du kannst doch nicht deine Freundin anbetteln.«

»Wieso nicht? Stephi und ich lieben uns!«

»Besorg dir lieber einen Job. Ich glaube, die suchen im Sommer Aushilfen an der Schwimmbadkasse. Soll ich morgen fragen?«

»Ich soll im Schwimmbad arbeiten?«, fragte Lorenz entrüstet.

»Isst du deine Suppe noch oder soll ich das abräumen?«, fragte Hedi.

»Onkel Willi, ich bin Schauspieler. Ich kann nicht im Freibad arbeiten!«

»Wieso nicht?«, fragte Willi.

»Hauptgang?«, fragte Hedi.

»Was, wenn ich plötzlich ein Angebot bekomme?«, sagte Lorenz. »Auf Casting-Aufrufe muss man oft binnen zwei Stunden reagieren.«

»Ja aber was, wenn du kein Angebot bekommst? Wenn kein Herr Casting anruft?«, entgegnete Willi.

»Jetzt sei nicht immer so ein Jugo-Pessimist!«

»Jetzt sei nicht immer so ein Austro-Traummännchen!«

»Jetzt beruhigt euch beide! An meinem Tisch wird nicht gestritten, sondern gegessen«, sagte Hedi und wuchtete eine Servierplatte mit Fleisch und einen Topf mit Erdäpfelknödeln in die Tischmitte. Es roch verführerisch.

»Hältst du mich für einen schlechten Schauspieler?«, fragte Lorenz.

»Es geht nicht darum, ob du gut oder schlecht bist. Es geht nur darum, dass du damit keinen Erfolg hast. Denn sonst müsstest du deine Familie nicht um Geld anbetteln.«

»Willst du, dass ich gehe?«, fragte Lorenz gekränkt.

»Nein, ich will nur, dass du dir ein Beispiel an Tito nimmst. Der war so erfolgreich, weil er von Unternehmungen, die nicht funktioniert haben, fortan die Finger gelassen hat. Tito hat sich nie verrannt. Die Schauspielerei funktioniert offenbar nicht, also mach es wie Tito: Versuch etwas anderes.«

»Onkel Willi, ich bin Künstler, kein Politiker! Jeder gute Künstler muss manchmal Durststrecken durchstehen. Das macht gute Künstler aus!« Lorenz wollte soeben in ein Stück Knödel beißen, als Onkel Willi mit der Faust auf den Tisch schlug.

»Lorenz, die Welt ist nicht so, wie es dir deine Eltern erklärt haben«, sagte er eine Spur zu laut. »Du bist einunddreißig und pleite. Du solltest dir einen richtigen Beruf suchen und eine Freundin, die in Wien lebt. Nicht in Heidenheim.«

Lorenz war hungrig. Seit Tagen hatte er sich im Wesentlichen von Cornflakes mit Milch ernährt.

»Stephi lebt in Heidelberg, und Fernbeziehungen sind eine tolle Sache! Außerdem meinte der Papa erst vor einigen Tagen am Telefon, dass sicher bald ein Engagement kommen wird. Meine Eltern sind stolz darauf, dass ich Schauspieler bin.«

Hedi seufzte. Wetti pfiff durch die Zähne. Mirl spitzte die Lippen.

»Lorenz, bist du nicht langsam alt genug, um zu verstehen, dass deine Eltern immer stolz auf dich sein werden, egal was du machst?«, sagte Willi.

»Was willst du damit sagen?«, fragte Lorenz.

»Kannst du dich noch erinnern, als ihr euren ersten Drucker bekommen habt?«, fragte Willi und sprach weiter, ehe Lorenz antworten konnte. »Dein Vater hat den Drucker nur gekauft, um dir Urkunden zu drucken. Urkunde für den besten Fahrradfahrer, Urkunde für den besten Turmspringer, Urkunde für den besten Spaghetti-Esser. Glaubst du wirklich, du warst immer der beste Turmspringer, der beste Spaghetti-Esser, der beste Was-weiß-ich-denn-noch?«

»Lass Papa da raus!« Lorenz wurde zornig.

»Bitte hört auf«, unterbrach Hedi. »Das bringt nichts.«

»Wieso? Du sagst doch selbst, dass der Sepp den Bub so schrecklich verwöhnt.«

Hedi strich sich die Haare hinter die Ohren, stand vom Tisch auf, griff nach einem Geschirrtuch und trocknete den abgespülten Schöpflöffel ab.

»Wenigstens rede ich mit meinen Eltern«, sagte Lorenz und stand auf. »Deine eigene Tochter geht dir seit Jahren aus dem Weg. Sie hat dich nicht einmal zu ihrer Hochzeit eingeladen!«

Willi starrte betroffen auf einen undefinierten Punkt an der Wand. Mirl und Wetti sahen ihn erschüttert an, Hedi klimperte absichtlich laut mit dem Geschirr, und Lorenz stürmte auf die Toilette.

Er verriegelte die Tür, klappte den mit plüschigem Frottee überzogenen Klodeckel herab, setzte sich und zückte sein Handy. Stephi ging nicht ran. Lorenz biss sich auf die Lippen. Willis und Hedis Tochter Nina war die einzige Natur-Rothaarige in der Familie und schon als Kind schwierig gewesen. Seit einigen Jahren war sie militante Veganerin und nannte Menschen mit einem normalen, den Richtlinien der WHO folgenden Speiseplan Mörder, wer wiederum wie die Prischingers fast täglich Fleisch aß, zählte in ihren Augen zur Sektion der Serienkiller. Wahrscheinlich hatte sie es deshalb auch so eilig gehabt, ihren bleichen, fast durchsichtigen Veganer-Freund Rainer zu heiraten, um den Namen Prischinger loszuwerden. Nina war Willis wunder Punkt. Lorenz wusste nur zu gut, wie sehr es Willi schmerzte, dass er seine einzige Tochter nicht zum Altar hatte führen dürfen. Und er schämte sich, ausgerechnet den Konflikt mit Nina benutzt zu haben, um Willi etwas entgegenzusetzen.

Wieder und wieder wählte Lorenz Stephis Nummer, und mit jedem vergeblichen Anruf wich seine Scham dem Ärger. Es war Freitagabend. Was um Himmels willen war in Heidelberg wichtiger als ein in Wien sitzender, verzweifelter Lebensgefährte vor den Scherben seiner Existenz?

Beim siebten Anruf erklang Stephis Stimme.

»Lorenz?«

»Ach Stephi, da bist du ja endlich.«

»Was ist passiert? Ist alles in Ordnung? Geht es dir gut?«

»Nein, es ist alles furchtbar.«

»Was ist los?«

»Stephi, die drehen die Serie ohne mich, und ich hab mich mit Onkel Willi gestritten!«

Lorenz wartete, dass Stephi ihm versicherte, dass alles gut würde, dass sie sofort in den Nachtzug oder den ersten Flieger steigen würde, um das Wochenende mit ihm zu verbringen.

»Deshalb rufst du mich an?«

»Ich weiß nicht, wie ich meine nächste Miete zahlen soll, und Onkel Willi hat gesagt, ich soll mir einen Job suchen. Er hat angedeutet, ich wäre ein schlechter Schauspieler!«

Stephi schwieg. Sicherlich überlegte sie, wie sie ihn beruhigen konnte, dann sagte sie:

»Lorenz, manchmal bist du der selbstsüchtigste Mensch auf der Welt! Du weißt, wir hatten heute den Gastvortrag von Glenn W. Most, den ich seit Monaten vorbereitet habe. Ich hab mich gerade mit ihm unterhalten, er wollte mir soeben das Du anbieten, als mein Handy sturmgeläutet hat. Most ist der Gott der Klassischen Philologie! Weißt du eigentlich, wie wichtig so ein Kontakt für mich ist?«

Lorenz zuckte zusammen. Er hatte völlig vergessen, dass dieser seltsame Vortrag heute gewesen war. Seit sie den Job angenommen hatte, hatte sie ihm davon vorgeschwärmt, in Heidelberg endlich Glenn W. Most einladen zu können, was die Universität Wien nie unterstützt hatte. Lorenz wollte sich bei Stephi entschuldigen, doch dann biss er sich auf die Zunge.

»Stephi, mir geht’s einfach nicht gut. Du wirst wohl fünf Minuten für deinen Lebensgefährten haben?«

»Ja genau, es geht DIR nicht gut, es geht immer nur um DICH!«

»Wer von uns beiden ist so selbstsüchtig, dass er für den anderen keine fünf Minuten Zeit hat?«

Und dann tat Stephi etwas, mit dem Lorenz nicht gerechnet hatte: Sie legte einfach auf. Lorenz warf das Handy auf den Badezimmerboden. Es gelang ihm nicht einmal, sein Telefon anständig zu zerstören, denn analog zum Toilettendeckel bedeckte auch den Fliesenboden weicher, lindgrüner, plüschiger Frottee. Das Leben war gemein und ungerecht.

2.Flohzirkus Prischinger (1953)

Anfang der Fünfziger war Sepp Prischinger zwölf Jahre alt und sich bereits vollends darüber im Klaren, dass das Leben gemein und ungerecht war. Das wussten sowohl seine Schwestern Mirl und Wetti als auch die Zwillinge Hedi und Nenerl. Anders als seine Geschwister hegte Sepp jedoch keinerlei Hoffnung, dass es jemals besser werden würde.

Sepp kniete auf der Eckbank und blinzelte durch das schmale Küchenfenster über die Kornfelder. Er hatte bereits alle Winkel des Schweinestalls, des Hühnergeheges, des Mostpresshauses und der Gemüsegärten abgesucht, war den Hügel hoch bis in den Wald gelaufen, hatte mit einem Feldstecher die Straße beobachtet, doch egal, wo er suchte, die Zwillinge blieben unauffindbar.

Hinter ihm schürte seine Mutter das Herdfeuer. Gleich würde sie Brunnenwasser aufsetzen, einen Topf mit Erdäpfeln füllen und Sepp auftragen, seine Geschwister zum Essen zu holen. Und dann würde er ein großes Problem haben. Denn er hatte die Zwillinge verloren.

Nach der Morgenmesse hatte ihm die Mutter befohlen, auf seine Geschwister zu achten, weil sie Wäsche waschen und Mirl ihr dabei helfen musste. Sepp hatte Hausübungen zu erledigen. Das tat er zwar nicht gerne, vor allem nicht am ersten warmen Frühsommer-Sonntag, doch er war ein gewissenhafter Knabe. Der Herr Lehrer, der mit einem Bein und einem Auge zu wenig aus dem Krieg zurückgekehrt war, gab ihm als einzigem Schüler aller Sechs- bis Vierzehnjährigen der Klasse täglich Zusatzaufgaben. Wenn Sepp all diese Aufgaben löste, könnte er bald aufs Gymnasium wechseln, und wer eine Matura hatte, würde einst genug Geld verdienen, um eine Familie sorgenfrei zu ernähren. Sepp war das älteste Prischinger-Kind. Er konnte sich am besten an die entbehrungsreichen Zeiten erinnern. Das Jahr ’46 war extrem trocken gewesen, der Winter unmenschlich kalt, und nachdem man nach Kriegsende alle Vorräte, die die Mutter vorausschauend angelegt hatte, entwendet und in die Stadt gebracht hatte, hatten sie sogar hier auf dem Land nichts mehr zu essen gehabt. Stundenlang hatte die Mutter ihm und seinen Geschwistern von den Gerichten erzählt, die im Kochbuch der Familie standen, das in jener Zeit geschrieben worden war, als hier im Gasthof noch die große Welt zum Essen eingekehrt war. Sepp hatte Rinden gekaut und sich vorgestellt, die Köstlichkeiten zu verspeisen, die ihnen die Mutter zuzubereiten versprach, wenn alles wieder besser wäre.

So richtig besser war es nicht geworden. Sepp hatte von der Hungersnot ein chronisches Magenleiden davongetragen. Wann immer er zu wenig oder das Falsche aß, stach es so sehr in seinem Magen, als wollte dieser ihn gemahnen, bloß schnell die Matura zu machen, um ausreichend Geld für ausreichend Nahrung zu verdienen.

Am Nachmittag hatte sich Sepp im Wirtschaftshof einen Schreibtisch aus alten Zaunbrettern und Ziegelsteinen mit einem Schneidebrett als Schreibunterlage gebaut, um Hausübungen zu machen, während die siebenjährigen Zwillinge spielten. Mirl war ein Jahr jünger als er und dachte an nichts anderes, als eines Tages einen wichtigen Mann aus der Stadt zu heiraten. Sie erledigte Hausarbeit fleißig und ohne Widerrede, weil sie hoffte, dadurch würde sich ein reicher Prinz in sie verlieben und sie in ein Schloss voller Bediensteter führen. Sepp hielt das zwar für überaus unwahrscheinlich und unlogisch, hütetete sich aber davor, sie darauf aufmerksam zu machen. Die drei anderen Geschwister waren ohnehin anstregend genug.

Während Sepp über seinen Aufgaben brütete, bearbeitete Mirl die hartnäckigen Flecken auf ihren Kleidern mit Kernseife, und die neunjährige Wetti kroch in der Wiese herum, um Weiß-der-Herrgott-was zu beobachten. Wenn Wetti irgendein Tier beobachtete, rührte sie sich stundenlang nicht vom Fleck. Sie galt als schwachsinnig, wobei sich Sepp über dieses Urteil unschlüssig war. Der Herr Lehrer meinte, ihr Gehirn sei unterentwickelt, sie habe zu viel Luft in ihrem Kopf, weil sie im Krieg auf die Welt gekommen sei und die Mutter nicht genug Milch gehabt habe. Sepp hingegen hegte die Vermutung, Wettis schlechte Noten rührten daher, dass sie jene Vögel, die in der großen Zierkirsche neben dem Schulfenster brüteten, interessanter fand als Buchstaben und Zahlen. Wetti wusste, wo welche Hasen und Marder ihre Baue hatten, wo welcher Pilz, welcher Strauch, welches Kraut wuchs. Wenn ihr Hirn zu klein war, wie konnte es dann Platz haben für all dieses Wissen?

Sepp verfasste an seinem Hofschreibtisch einen Aufsatz über Jesus und die Tempelhändler, und die Zwillinge spielten artig mit Murmeln. Immer wieder rief Sepp Hedi zu, sie solle aufpassen, dass sich Nenerl keine in die Nase steckte. Als er sich jedoch den Bruchrechnungen widmete, waren sie verdächtig still, und als er die letzte Gleichung gelöst hatte und aufblickte, waren sie verschwunden. Sofort ließ er alles stehen und liegen, um sie zu suchen, doch nirgendwo fand er sie.

Seine letzte Hoffnung hatte darin bestanden, sie im Kornfeld zu entdecken, wo Nenerl, der davon träumte, eines Tages einen Zirkus zu leiten, oftmals Mäuse jagte, die er im Kuhstall in einen Käfig sperrte und zu dressieren versuchte. Keine Spur von den Zwillingen. Sepp hegte den Verdacht, dass sie dort waren, wo die Kinder auf keinen Fall hindurften: in jenem Teil des Vierkanters, der bis zum Kriegsende ein Gasthof gewesen war und den nun der Iwan besetzte.

Was sollte er der Mutter sagen?

Vielleicht sollte er einfach beichten, dass die Zwillinge entfleucht waren. Es war schließlich nicht seine Schuld. Bösartig hatten sie sich davongestohlen! Die Zwillinge waren groß genug, um auf sich selbst aufzupassen. Zumindest Hedi. Nenerl würde es niemals können.

Ja, das Leben war ungerecht.

Andere Kinder wurden dafür belohnt, dass sie ihre Hausübungen machten. Während der letzten Kriegsjahre hatte Familie Oberhuber aus Wien drüben im Gasthof gelebt, weil man auf dem Land vor den Bomben sicher gewesen war. Die Familie hatte drei Söhne: Gottfried, Bertram und den kleinen Adolf, den man seit Kriegsende nur noch Dolfi nannte. Während Sepp seiner Mutter rund um die Uhr zur Hand hatte gehen müssen, hatten die Wiener Buben keinen Finger rühren müssen, sondern tagein, tagaus im Hof gespielt. Sie waren nicht einmal geprügelt worden, wenn sie sich dreckig gemacht oder eine Hose zerrissen hatten. Und wenn sie ihre Hausübungen erledigten, hatte die Oberhuberin ihnen nicht nur geholfen, sondern sie sogar dafür belohnt. Und als es nichts mehr gegeben hatte, mit dem sie die Kinder hätte belohnen können, da hatte sie ein kleines Heft gezückt und die Belohnungen aufgeschrieben, die sie ihren Söhnen geben würde, sobald die Zeiten besser wären.

Seine eigene Mutter hatte Sepp noch nie geholfen, geschweige denn ihn belohnt. Wenn er ihr beichtete, dass er wegen der Konzentration auf die Hausübungen die Zwillinge verloren hatte, würde sie ihm stattdessen eine Ohrfeige verpassen. Wenn er Glück hatte. Wenn er Pech hatte, bekam er kein Geselchtes. Wenn er viel Pech hatte, überhaupt kein Abendessen.

Sepp war überzeugt: Wäre sein Vater aus dem Krieg zurückgekehrt, er hätte es heute leichter. Dann würden die Zwillinge dem Vater gehorchen und nicht ihm, dem Bruder, auf der Nase herumtanzen. Der Vater würde ihn beschützen, würde dafür sorgen, dass er ein Gymnasium besuchte und dass er genug Schlaf bekäme, um in der Schule besser aufpassen zu können. Der Vater würde zudem die Russen vom Gasthof jagen, die ihnen all ihr Essen wegfraßen und die Mutter zwangen, hinter ihrem Dreck herzuputzen. Doch Sepp wusste: Das Leben war ungerecht.

Der Vater würde niemals zurückkommen.

Die Russen würden sich weiterhin die Bäuche vollschlagen, während die Kinder Erdäpfel lutschten.

Sepp würde niemals dafür belohnt werden, brav zu lernen. Sepp konnte den Tag nicht erwarten, an dem er endlich von diesem Gasthof wegkam, um Geld mit ehrlicher Arbeit zu verdienen. Er wollte keine Sonderbehandlung, nur etwas Lohn für seine Leistung.

 

Auf dem Ofen brodelte das kochende Wasser, als wollte es die Erdäpfel aus dem Topf vertreiben.

»Geh, Sepp, sei so gut und hol deine Geschwister«, sagte die Mutter liebevoll, und Sepps Vorsatz, die Wahrheit zu sagen, schwand augenblicklich dahin. Vielleicht hatte er ja zur Abwechslung Glück, dachte er und lief durch das Kabinett, in dem früher seine Großeltern gelebt hatten und in dem sie nun alle zusammen schliefen, seit sich die Russen all die Wohnräume des Gasthauses unter den Nagel gerissen hatten, und durch die Waschküche in den Wirtschaftshof.

Dieser erstreckte sich auf einem fest gestampften Erdplatz auf der Nordseite des Vierkanters, hinter dem mit Flachs bepflanzte Hügel hinauf bis in die Wälder führten. Als die Großmutter noch lebte, hatte sie oft erzählt, wie sich früher auf diesem Platz die Knechte und Mägde tummelten, um Wäsche zu waschen, Hühner zu rupfen, säckeweise Erdäpfel zu schälen, Maschinen zu warten und zu erledigen, was sonst alles an Arbeit auf dem großen Gasthof angefallen war. Die Großmutter hatte ihnen anstelle von Gutenachtgeschichten in detaillierten, farbenprächtigen Schilderungen die glorreichen Zeiten des Gasthofes ausgemalt. Wie damals, als noch der Kaiser regierte, die verschiedensten Soldaten auf der Durchreise hier übernachtet hatten. Welche Kaufleute und fahrenden Händler, ja sogar Musiker und Ministerialbeamte auf ihren Wegen zwischen Böhmen und dem Donauraum hier eingekehrt waren. Textilhändler, die in Böhmen, Mähren und dem Waldviertel die weltberühmten kaiserlich-königlichen Spinnereien, Webereien, Färbereien besucht hatten, hatten der Großmutter als Zeichen ihres Respekts die schönsten Stoffreste geschenkt.

Von den guten Zeiten sangen nur noch die Überreste der Maschinen, die wie filetierte Skelette aus dem Boden des Hinterhofes ragten. Einst hatten die Knechte mit ihnen die großen Flächen der Gemischtlandwirtschaft bestellt. Das gute Metall und die wertvollsten Geräte hatten die Kameraden des Vaters schon vor langer Zeit mitgenommen, obwohl der Vater sich bitter dagegen gewehrt hatte, woraufhin ihm einer den Gewehrkolben ins Gesicht schlug. Das Bild eines zusammengekrümmten, blutenden Mannes war eine der letzten Erinnerungen, die Sepp an seinen Vater hatte. Die Kameraden hatten zwar geschworen, alles nach Kriegsende zurückzubringen, aber das war eine Lüge gewesen. Sie hatten es ja nicht einmal geschafft, sich selbst aus dem Krieg zurückzubringen. Was noch hier stand, war verwittert oder kaputt. Der Heuschober war modrig, die Mostpresse vom Rost zerfressen, die Überreste eines Pfluges versanken Monat für Monat tiefer in der Erde, als wollte sich die Erde für all die erlittenen Wunden rächen, indem sie den Pflug am Ende verschlang.

Mitten auf diesem Friedhof besserer Zeiten kauerte Wetti und betrachtete den Boden eines Einmachglases.

»Was machst du da?«, fragte Sepp und ging neben ihr in die Knie. Wettis Zöpfe waren so lang, dass sie bis auf die Erde reichten, weil sie sich als einziges Kind nicht von der Mutter die Haare schneiden ließ.

»Ist er nicht schön?«, fragte Wetti und hielt Sepp das Einmachglas so nahe vor das Gesicht, dass er zurückschreckte.

»Geh, Wetti, lass den Hirschkäfer in Frieden!«

Sepp wusste nie, ob das, was man zu Wetti sagte, auch bei ihr ankam. Verloren starrte sie in das Glas, gegen das der große Käfer mit seinem Geweih wütend schlug.

»Diese Art heißt Hirschkäfer, weil bei manchen Männchen das Geweih größer ist als der Rest des Körpers. Das muss mühsam sein, wenn man so ein großes Geweih hat. Sie können wegen des Geweihs weder beißen noch kauen. Nur Pflanzensäfte saugen und lecken. Die Männchen mit den größten Geweihen überleben nur, wenn sie ein Weibchen haben, das ihnen die Wunden der Eichenrinde vergrößert, damit sie vom Saft lecken können. Ihr Geweih haben sie, damit sie gegeneinander um die Weibchen kämpfen können. Dabei können die Weibchen mit ihren Mundwerkzeugen viel mehr Schaden anrichten als die Männchen mit ihren Geweihen.« Wetti schaute immer noch gebannt ins Einmachglas.

»Wetti, weißt du, wo Nenerl und Hedi sind? Die Mama macht das Essen fertig. Wenn ich sie nicht mitbringe, setzt es was«, sagte Sepp.

Wetti stand auf. Sie bewegte sich oft, als ob sie schlafwandelte, und schien mehr in ihren Träumen und Gedanken zu leben denn im Hier und Jetzt. Eigentlich war es ein Wunder, dachte Sepp, dass Wetti nachts wie ein Stein auf dem Bauch lag. Mirl trat um sich, Nenerl redete, und Hedi lief bei Vollmond Kreise um die zwei am Boden liegenden Matratzen, die sie sich zu fünft teilten, indem sie quer über sie gestreckt ruhten.

»Der liebe Gott hat so viel falsch gemacht«, sagte sie seufzend, schraubte das Einmachglas auf und entließ den Käfer. »Wenn Gott ein bisschen klüger gewesen wäre, dann hätte er das Material, aus dem er die Geweihe der Hirschkäfer geformt hat, dazu verwendet, mehr Weibchen zu bauen. Dann müssten die Hirschkäfer nicht um die Weibchen kämpfen, und jeder könnte für sein eigenes Essen sorgen.«

Sepp wurde ungeduldig.

»Wetti, die Zwillinge!«

»Sepp, die Hirschkäfer!«

Sepp biss die Zähne zusammen.

»Schau, Wetti: Wenn jeder für sein eigenes Essen sorgen kann, dann brauchen die Männchen und die Weibchen einander nicht mehr. Und dann machen sie keine kleinen Hirschkäfer. Also war Gott sehr klug und hat alles richtig gemacht.«

»Nein. Gott hat nicht daran gedacht, dass Männchen und Weibchen auch Kinder bekommen können, ohne voneinander abhängig zu sein. Die Weibchen können ihre Kinder ohne Männchen großziehen. Schau dir Mama an. Die hat auch kein Männchen. Ich glaube, Weibchen können sich sogar besser um ihre Kinder kümmern, wenn kein Männchen stört. Schau dir den Hirschkäfer an: Damit er mit anderen Männchen kämpfen kann, muss ihm sein Weibchen die Nahrung bereitstellen. Bei den Menschen ist das nicht anders. Die Frauen müssen die Männer bekochen, damit sie einander dann umbringen können.«

Sepp wurde zornig.

»Uns würde es viel besser gehen, wenn Vater hier wäre.«

Wetti sah ihn aus großen Augen an.

»Und wieso glaubst du das?«

»Weil er dann den Iwan verjagen würde.«

Wetti schüttelte den Kopf.

»Mirl hat gesagt, die Narbe an deinem Hals kommt vom Vater. Er hat dich mit dem Gürtel geprügelt, weil du dein Essen ausgespuckt hast.«

Sepp legte sich eine Hand an den Hals. Er schwieg.

»Ich glaub, du möchtest, dass die Russen verschwinden. Nicht, dass Papa wiederkommt. Wenn nämlich die Russen weg sind, dann muss Mama nicht den ganzen Tag für die Soldaten kochen, putzen und waschen, sondern kann sich um uns kümmern. Dann kannst du deine Hausübungen machen, während Mama Nenerl im Auge behält. Die Russen sind auch Männer. Und sie sind hier, weil die deutschen Männchen die russischen Männchen zum Krieg aufgefordert haben. Und das beweist: Der liebe Gott hat, was Männchen und Weibchen angeht, einen ziemlichen Schmarrn gemacht.«

»Du bist ja schwachsinnig!«, schrie Sepp.

In diesem Moment trat Mirl aus dem Durchgang zur Waschküche und schleifte die Zwillinge am Kragen hinter sich her.

»Jesusmariaundjosef«, flüsterte Sepp dankbar.

»Sepp, das ist alles deine Schuld!«, schimpfte Mirl aufgeregt. »Die Kleinen waren bei den Russen, und schau dir das an!«

Mirl war ein ernstes Mädchen mit klaren Zukunftsplänen, das einen schnelleren und akkurateren Stechschritt praktizierte als die Soldaten nebenan. Die Zwillinge, einen Kopf kleiner als die große Schwester, hatten Mühe, ihr zu folgen. Hedi blickte schuldbewusst zu Boden. Nenerl trug den Kopf erhoben und grinste wie ein frisch lackiertes Hutschpferd. Sein Ohr blutete.

Sepp kniete sich vor ihn und untersuchte Kopf, Hals und Gesicht.

»Nenerl, um Himmels willen! Du bist so deppert. Die Mama wird mich erschlagen«, sagte er und rieb mit dem Schnäuztuch das Blut, das schon leicht getrocknet war, ab. In Nenerls Ohrläppchen klaffte eine Wunde, klein, aber unübersehbar.

Sepp holte aus und gab Hedi mit der flachen Hand eine Ohrfeige.

»Ich hab euch gesagt, dass ihr bei mir bleiben müsst!«

Hedi begann zu weinen, und plötzlich zog Nenerl den Kopf ein und rammte ihn wie ein Ziegenbock in Sepps Bauch. Dem älteren Bruder blieb die Luft weg, er stürzte zu Boden.

»Lass sie in Ruhe!«, rief Nenerl und trat mit den Füßen auf Sepp ein, bis Mirl und Wetti ihn zu fassen bekamen und wegzerrten. Sogar Hedi ging dazwischen.

»Nenerl, beruhig dich«, bat sie, »das tut gar nicht weh.«

Sepp wusste, dass sie log, und ließ all seine Wut auf Hedi fahren, so dankbar war er ihr für diese Lüge. Nenerl war fünf Jahre jünger als Sepp und konnte dennoch viel fester zuschlagen. Nenerl kannte keinen Schmerz. Und wer keinen Schmerz kennt, hat auch keine Scheu, ihn anderen zuzufügen.

Langsam beruhigte sich der kleine Bruder, starrte Sepp lediglich an, bis dieser zu Boden schaute. Nenerls Gesicht war seit den Feuchtblattern vor zwei Jahren völlig entstellt. Für normale Kinder waren die Blattern eine harmlose Krankheit, bei der die Haut Blasen schlug. Nenerl hingegen wäre fast an ihnen gestorben, weil er sich nachts alle Blasen wegkratzte und nicht spürte, wenn er dabei den Knochen freilegte. Überall hatte sich die Haut entzündet, woraufhin Nenerl vom Medizin-Iwan, der zwar kein echter Doktor war, jedoch lange im Feldlazarett gearbeitet hatte, mit Seilen ans Bett der Mutter gefesselt worden war, damit die Infektionen heilen konnten. Sogar den Kopf hatte man ihm mit einem Gürtel festgeschnallt, damit er ihn nicht vor Zorn gegen das Bett werfen konnte. Hedi war keine Sekunde von seiner Seite gewichen. Nicht einmal aufs Klo war sie gegangen, sondern hatte eine Bettpfanne benutzt. Sie hatte sich neben ihn gelegt und keinen Millimeter bewegt, als wäre auch sie gefesselt.

Alle Ärzte, die Nenerl jemals gesehen hatten, betonten, welch Glück es sei, dass er eine Zwillingsschwester habe.Denn Nenerl konnte zwar keinen Schmerz empfinden, doch er merkte zumindest, wenn Hedi litt. Und das hielt ihn von den größten Dummheiten ab.

Dass er nun dieses Loch im Ohr hatte, hatte jedoch auch sie nicht verhindern können.

Mirl war zwar erst elf Jahre alt, hatte aber die Zornesfalte einer reifen Frau auf der Stirn, die in ihrem Leben schon zu viel Ärger hatte erdulden müssen, als sie sagte:

»Nenerl hat sich einen Nagel ins Ohr geschlagen! Hedi ist dabeigestanden und hat einfach zugeschaut!«

»Stimmt gar nicht!«, rief Hedi. »Ich hab den Medizin-Iwan gefragt und der hat gesagt, das ist ungefährlich. Nenerl hat den Nagel sogar vorher über eine Kerze gehalten, bis er rot geleuchtet hat, und dann mit Schnaps abgelöscht. Wegen den Keimen.«

»Alle haben zugeschaut, es war grandioski!«, sagte Nenerl und streckte stolz den Rücken durch. »Wenn wir groß sind, werden wir um die Welt reisen und mit unseren Vorführungen so viel Geld verdienen, dass wir jeden Tag fünf Gänge essen können.«

Jetzt erst bemerkte Sepp den Erdäpfelsack, den Nenerl bei sich trug. Nenerl leerte ihn mit großer Geste vor seinen Geschwistern aus. Ein Berg funkelnder, in bunte Papiere eingewickelter Süßigkeiten türmte sich vor ihnen auf – Karamelle, Staniole, Schokolade.

»Hast du Süßigkeiten vom Feind genommen?«, fragte Sepp.

»Maschko und Maschka werden die Welt erobern«, sagte Nenerl und verbeugte sich wie der Zirkusdirektor, der er einmal werden wollte.

Maschko und Maschka waren die Namen, die die Russen den Zwillingen gegeben hatten, seit Nenerl begonnen hatte, mit Hedis Hilfe kleine Kunststücke vorzuführen, bei denen er zeigte, dass er weder Furcht noch Schmerzen kannte. Maschko war Russisch für kleiner Bär.

Viele Russen hatten vor dem Krieg Jagd auf Bären gemacht. Unter den Soldaten kursierten Geschichten, zum Beispiel diejenige, wie ein Jäger einmal fünf Schuss auf einen Bären im Winterlager abgefeuert hatte, der daraufhin aufgefahren war und sie angefallen hatte, als hätte man ihn lediglich mit einer Nadel unsanft aus dem Schlaf gepikst. Sie erzählten von alten Bären, in deren Körpern man bis zu zwanzig Kugeln entdeckt hatte, als man ihnen das Fell abzog. Oder von einem Bär, der trotz eines Dolches in der Flanke weit über hundert Jahre alt geworden war. Bären kannten keinen Schmerz. Wie Nenerl. Und weil Hedi seine Zwillingsschwester war, wurde sie Maschka genannt. Die kleine Bärin.

Für Wetti hatten die Russen keinen Spitznamen, weil sie für die Russen genauso wenig existierte wie die Russen für Wetti. Darauf war Sepp neidisch, denn er vermied tunlichst jeden Kontakt mit dem Feind, und ausgerechnet dafür nannten sie ihn Fritz. Dennoch war das besser als Mirls Spitzname: Kapnuk, kleiner Gnom. Weil sie immer so ernst war und in diese sagenhaften Wutausbrüche verfallen konnte, wenn ihr irgendetwas nicht so gelang, wie sie es wollte. Als Mirl in der Großküche des Gasthofes Rindsrouladen für die Russen hatte füllen und rollen müssen, waren Nenerl und Hedi in die Küche geschlichen und hatten das vorbereitete Garn zum Verknoten der Rouladen in einem unbeobachteten Moment mit der Schere so gekürzt, dass es Mirl fortan nicht gelungen war, auch nur eine einzige Roulade zu binden. Daraufhin hatte sie sich so gegrämt, dass sie steif vor Wut geworden war. Wie ein geschlossener Topf, in dem das Wasser kochte, hatte sie Druck ablassen müssen und so laut zu schreien begonnen, dass einige der Russen ihre Gewehre gepackt hatten und herbeigelaufen waren.

Anfangs war Nenerl mit Hedi im Schlepptau nur gelegentlich zu den Russen geschlichen, um seine Kunststücke gegen Süßigkeiten feilzubieten, doch seit einem halben Jahr trieb er sich häufig dort herum. Vor einem halben Jahr hatten die Männer einen bunt bemalten Lastkraftwagen herangekarrt. Er hatte einem Zirkus gehört, und in ihm hatte sich ein Bär befunden. Das Vieh war dressiert und konnte laut Nenerl Einrad fahren und Purzelbäume schlagen. Sepp glaubte das nicht und erachtete diese Bestie, die der Iwan in der Scheune hielt, als den Teufel. Auf Nenerl jedoch übte der Bär eine magische Anziehungskraft aus.

»Nenerl, du musst mit diesen Zirkusvorführungen aufhören«, sagte Sepp. »Du wirst dir eines Tages so wehtun, dass dich kein Arzt der Welt mehr zusammenflicken kann.«

Nenerl zuckte mit den Schultern.

»Möchtest du nichts Süßes?«

Sepp schüttelte den Kopf.

»Ich nehme keine Zuckerl vom Feind! Die haben unseren Vater verschleppt und den Herrn Lehrer verstümmelt!«

»Der Herr Lehrer ist ein böser Mensch«, sagte Wetti. »Er hat fünf Kätzchen in der Regenwassertonne ertränkt.«

»Wir stimmen ab. Wer ist dafür, dass ich mit meinen Vorführungen aufhöre?«, sagte Nenerl. Sepp und Mirl hoben die Hand.

»Wer ist dafür, dass ich weitermache?«

Nenerls Hand schoss in die Höhe, Hedi tat es ihm nach, und zögerlich zeigte auch Wetti auf.

»Im heißesten Höllenfeuer ist ein Platz für dich reserviert«, zischte Sepp ihr zu.

»Ich hab meine Zweifel, ob es diese Hölle überhaupt gibt«, sagte Wetti gleichgültig und hielt die Hand auf, während Nenerl die Süßigkeiten zwischen Wetti, Hedi und sich selbst aufteilte.

»Du magst ja keine«, sagte Nenerl zu Sepp.

»Ich hab es mir anders überlegt«, sagte Mirl. »Mach deine Vorführungen weiter, aber sag der Mama nicht, dass ich das gesagt hab.«

Woraufhin Nenerl auch ihr Süßigkeiten zusteckte.

Sepp ging leer aus und redete sich ein, das mache nichts, immerhin gebe es gleich Abendessen. Als die Geschwister jedoch in die Küche gingen und die Mutter Nenerls Ohr sah, wurde sie so wütend, dass sie alle Kinder ohne Essen ins Bett schickte.

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