Blauäugig - Atze Schröder - E-Book + Hörbuch

Blauäugig E-Book und Hörbuch

Atze Schröder

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Beschreibung

Eine Biografie. Ausgerechnet von Atze Schröder! Ja, nee, is´klar. Die Comedy-Legende mit dem losen Mundwerk und dem großen Herzen. Keiner haut die Sprüche schneller raus als der Lockenträger aus Essen-Kray. Kein Klischee ist ihm fremd: "Liebling der Frauen", "der Kumpel im 911er", der "prollige Kioskbesitzer aus dem Ruhrgebiet"! Seit über 20 Jahren steht Atze Schröder auf dem Matterhorn der Comedy. Und alle wollen wissen, wie die Welt hinter den Gläsern der blaugetönten Alpina-Pilotenbrille aussieht. Atze Schröder liefert die Antworten nur allzu gerne und beschreibt seinen unterhaltsamen, aber höchst skurrilen Weg vom pubertierenden Top 40-Musiker über Vertreter für Elektronik bis in den Comedy-Olymp! Über Enttäuschungen. Seine größten Erfolge. Seine schönsten Erinnerungen. Sein Leben. Seine Biografie: Tränen hinter blauen Augen. 100% Atze. Authentisch. Emotional. Empathisch. Aber immer humorvoll.

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Seitenzahl: 277

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Zeit:6 Std. 3 min

Sprecher:Atze Schröder

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Beliebtheit




Für Johanna

Alles wird irgendwann, wenn es nur häufig genug erzählt wird, zur Fiktion.

INHALT

Vorwort

 

Prolog – Die Entschuldigung

Zeugung und Geburt

Mein Papa

Die Grundschule

Meine Mama

Erste eigene Bude

Raus aus der Sackgasse

The Proll

Endlich Komiker

Alles Atze: Die Geburt

Alles Atze: Die erste Staffel

Der Comedy-Bastard

Das Sommermärchen

Alles hat seine Zeit

Richtig Fremdgehen

Ghana

Zurück in die Zukunft

Deutsche Stars

Das Beste kommt noch

 

Dank

VORWORT

Alles Unterdrückte steht eines Tages vor der Tür und haut dir zur Begrüßung in die Fresse. Man kann unmöglich wissen, warum das eine passiert und das andere nicht. Was wozu führt, was etwas zerstört oder einen bestimmten Weg nimmt. Was ist ein geglücktes Leben? Wohl nur die eigene Zufriedenheit damit. Hier einen Brief an mein sechzehnjähriges Ich zu schreiben, wäre sicherlich unterhaltsam, aber es würde nichts ändern.

Wenn man mit einem seiner besten Freunde ein Buch schreibt, hat man eine tolle Zeit. Till und ich teilen Gedanken, lachen gemeinsam und streiten zickig über Passagen, Sätze, Worte. Und wenn man die eigene Biografie erarbeitet, geht alles noch viel tiefer. Es kommen Erlebnisse und Geschichten an die Oberfläche, von denen ich zum Teil gar nicht mehr wusste, dass sie zu meinem Leben gehören. Dass ich ein gnadenloser Optimist bin, wurde mir mal wieder klar, als wir die dunkle Seite meiner Familie beschrieben haben. Auch in meiner Bühnenkarriere ist nicht immer alles so rosig gelaufen, wie ich es ständig empfinde. Klar, der Ball ist letztlich immer wieder auf die richtige Seite gefallen. Aber manchmal schlitterte ich haarscharf an der Katastrophe vorbei. O Gott, wenn ich dran denke, wie viel Glück ich oft hatte, krieg ich eine Gänsehaut! Gleichzeitig muss ich aber grinsen, weil ich das Gefühl habe, dem Schicksal ein Schnippchen geschlagen zu haben.

Viele meiner Entscheidungen im Leben waren intuitiv und keinesfalls Produkte reiflicher Überlegung. Zufällig, naiv, eben blauäugig. Wäre ich auch als Schreiner oder Verkäufer glücklich geworden? Keine Ahnung, vermutlich ja! So, wie es gekommen ist, ist es mehr, als ich erwartet habe. Ein wilder Ritt durch das, was das Schicksal so zu bieten hat.

Ich wünsche euch viel Spaß mit diesem Buch, denn spannend ist mein Leben auf jeden Fall.

Atze Schröder

Hamburg, im Februar 2022

PROLOG – DIE ENTSCHULDIGUNG

6. Februar 2020. Es klingelte an der Haustür, und ich schaute auf meine original afrikanische Rolex: 15 Uhr und 26 Minuten. Pünktlich wie die Maurer. Carlo, mein Tourmanager, war eben nicht nur ein kluger und besonnener, sondern auch äußerst zuverlässiger Mensch. Ich öffnete die Tür und sagte: „Carlo, ich dachte schon, du kommst nicht mehr!“

Er verzog keine Miene und schnappte sich meinen verbeulten Alukoffer. Völlig emotionslos entgegnete er: „Wir haben 15.30 Uhr gesagt, es ist 15.28 Uhr.“

Ich antwortete leicht schnippisch. „Ja, eben! Was ist denn da los? Du bist doch sonst so pünktlich!“

Natürlich kannte Carlo meine kleinen Provokationen und Sticheleien. Statt mir zu antworten, hängte er sich meinen Rucksack um, und wir gingen gemeinsam zum Auto. Ich stieg ein und sah mit einem Blick, dass Carlo alles im Griff hatte. In den Türfächern waren überall Wasserflaschen und Jägermeister-Fläschchen platziert, das Ladekabel fürs Handy steckte im USB-Schlitz. Ich hatte es kaum eingestöpselt, da klingelte es.

Töne Stallmeyer, mein Manager, meldete sich: „Na, Dicker, alles klar gleich für Lanz? Bist du in der ersten oder zweiten Aufzeichnung?“

Ich schaute fragend nach links.

Im Gegensatz zu mir wusste Carlo es natürlich. „Wir sind in der ersten!“

Töne seufzte erleichtert. „Danke, Carlo. Wenn sich der feine Herr Schröder schon nicht für seine Termine interessiert, beruhigt es mich doch sehr, dass wenigstens du Bescheid weißt!“

Ich verschraubte die Augen hinter meiner legendären, blau getönten Alpina-Brille. „Ey, Töne, komm mal runter. Wie oft war ich schon bei Lanz? Das ist doch Routine, das mach ich im Schlaf, das Ding lauf ich auf ’ner halben Arschbacke nach Hause! Du weißt doch, wie das läuft: reinkommen, Heidemanns Guten Tag sagen, bisschen Small Talk mit Markus Lanz, schminken, ab in die Sendung und fertig!“

Töne ließ nicht locker. „Ist Heidemanns denn da? Oder turnt der wieder auf Mallorca rum?“ Markus Heidemanns, der Produzent der Sendung Lanz, besitzt ein schönes Haus auf Mallorca, wo Töne und ich ihn schon oft besucht haben.

„Weiß ich nicht, Töne. Ich bin ja kein Hellseher.“ Ich hätte genauso gut sagen können: „Wer Hühner klaut, der frisst auch Raps“, es hätte nichts genutzt. Er hörte einfach nicht auf zu fragen.

„Weißt du denn wenigstens, wer sonst noch in der Sendung ist?“

„Nee, Töne, ist doch auch egal. Wahrscheinlich irgendeiner, der immer da ist, Lauterbach oder Kubicki. Völlig wumpe, irgendwann bin ich dran, und dann heißt es wie immer: ,Bin da, kann losgehen‘, bisschen Tour-Promo und zum Schluss was von Furzen im Fahrstuhl, die Nummer kommt echt gut an!“

„Furzen im Fahrstuhl?“ Tönes Stimme klang besorgt. „Du weißt, dass da heute auch eine Holocaust-Überlebende sitzt?“

Um ihn noch ein bisschen mehr zu beunruhigen, sagte ich: „Ja, Töne, egal, das macht doch nix. Umso wichtiger, dass ich da ein bisschen Spaß reinbringe, wenn ich dran bin! Wir sind jetzt am Studio, ich melde mich nach der Sendung und sage dir, wie es gelaufen ist!“

Ich steckte das Handy in die Jackentasche und stieg aus. Mein Gott, dieser Töne ließ nie locker. Das war schon beeindruckend. Seit 2002 kümmerte sich das rothaarige Energiebündel um meine Karriere, mit einem Engagement und einer Leidenschaft, die nie nachzulassen schienen. Alles war wichtig, jedes noch so kleine Detail behielt er im Auge. Während ich nach zwanzig Jahren Supercomedy-Stardasein meinen Legendenstatus gerne mal mit ironischer Distanz betrachtete und die Zügel nicht mehr ganz so stramm in den Händen hielt, war er immer auf Sendung und ließ nichts anbrennen. Am liebsten wäre er wahrscheinlich hier vor Ort, um alles selbst zu regeln. Das ist sein Ding, er ist ein absoluter Kümmerer. Wenn Töne in der Garderobe ist, gibt es ein ungeschriebenes Gesetz: Er ist der Letzte, der meine prachtvollen Locken zurechtzupft. Egal ob ich schon von meiner Maskenbildnerin oder sonst wem geschminkt und frisiert wurde, kurz bevor wir die Garderobe verlassen, fuckelt er mir mit einer Gabel in meinen Haaren herum. Das lässt er sich nicht nehmen, und keiner wagt es, ihm in die Parade zu fahren. Ich schon gar nicht, ich bin ja nicht lebensmüde und lege mich mit dem roten Höllenhund an! Ich liebe diesen Kerl.

All das ging mir durch den Kopf, als wir durch die Produktionsfirma Die Fernsehmacher schlenderten, um ein Redaktionsmitglied zu finden. Auf einmal hörte ich Markus Heidemanns über den Flur rufen: „Da ist ja unser neuer Promi-Hamburger! Lass dich mal drücken, mein feiner Freund!“

Wir umarmten uns herzlich und warfen uns die üblichen Floskeln an den Kopf. „Müssen uns unbedingt wieder treffen … habe ein sensationelles neues Bouillabaisse-Rezept … und, schon eingelebt in Hamburg?“ Die letzte Frage ging an mich, weil ich vor ungefähr einem halben Jahr nach Hamburg gezogen war. Ich wollte gerade antworten, da redete Markus schon hektisch weiter. „Du, wir haben heute eine Auschwitz-Überlebende zu Gast, am besten du …“

Ich fiel ihm ins Wort. „Kein Problem, Markus, ich halt mich da komplett raus, ist ja überhaupt nicht meine Baustelle.“

Er nickte zufrieden, haute mir auf die Schulter und verschwand in der Regie.

Die Aufnahmeleiterin erschien. Sie zeigte uns die Garderobe und den Aufenthaltsraum, wo schon ein paar Leute saßen. Carlo und ich nahmen uns einen Kaffee und ein paar von den Süßigkeiten, die auf einem großen Tisch lagen. Kauend schaute ich mich um. Nichts los. In der Ecke saßen eine kleine ältere Frau und eine jüngere Begleiterin. Wahrscheinlich gehörten die beiden zu einem der anderen Talkgäste, von denen aber noch keiner da war. Mir wurde langweilig. Ich nahm meinen Kaffee, ließ mir von Carlo die Garderobe aufschließen und sagte ihm, ich würde jetzt ein Nickerchen machen, bis Patsy, meine Maskenbildnerin, käme. Carlo nickte nur. Fünf Minuten später war ich herrlich eingedöst.

Bumm-bumm-bumm, hämmerte es an der Tür. Verdammt! Da hatte ich wohl richtig tief geschlafen. Ich erhob mich mühsam, torkelte zur Tür und schloss auf. Patsy und Carlo betraten grinsend den Raum. Nach dem üblichen „Küsschen links, Küsschen rechts“ fing Patsy an, mein vom Schlaf zerknautschtes Antlitz zu veredeln. Zehn Minuten später, ich war gerade fertig, klopfte die Aufnahmeleiterin an die Tür: Zeit für die Sendung! Artig trabten Carlo und ich hinter ihr her, direkt ins Studio.

Ich wurde vom Tontechniker verkabelt und zu meinem Sitzplatz geführt. Als ich mich setzte, betrat mein alter Freund Markus Lanz das Studio. Er flüsterte mir im Vorbeigehen zu: „Wir sehen uns nach der Aufnahme in meiner Garderobe!“, und wandte sich dann an die anderen Talkgäste – den Virologen Jonas Schmidt-Chanasit von der Universität Hamburg und … ja, zu meiner Überraschung saßen da die beiden Damen aus dem Catering!

Beide begrüßten mich. Die Ältere, die recht frisch und elegant aussah, hieß Eva Szepesi. Die andere war ihre Tochter Anita und ungefähr mein Alter, vielleicht fünf Jahre jünger. Anita konnte es sich nicht verkneifen, mir augenzwinkernd zu stecken, dass die beiden mich schon für „ganz schön arrogant“ gehalten hatten, weil ich sie im Aufenthaltsraum weder gegrüßt noch sonderlich beachtet hatte. Ich versuchte ihr zu erklären, dass das keine Absicht gewesen war, sondern eher auf meine Müdigkeit zurückzuführen, aber sie winkte lächelnd ab. „Alles okay“, sagte sie nur.

Dann ging die Aufzeichnung los. Und mir wurde schlagartig klar, dass diese aparte ältere Dame – Eva Szepesi –, dass sie die Holocaust-Überlebende war. Ich hatte von einer solchen Person gar keine Vorstellung gehabt. Wann trifft man schon mal eine Frau, die das abscheulichste Verbrechen der Menschheit überlebt hat, das Inferno des Grauens, die millionenfache, fabrikmäßige, bestialische Tötung von über sechs Millionen Menschen …? Eva Szepesi sah überhaupt nicht verhärmt, schwächlich oder von abscheulichen Erlebnissen gezeichnet aus. Das ging mir durch den Kopf, als das Interview mit ihr und ihrer Tochter begann.

Eva Szepesi berichtete eindrucksvoll von ihrer unfassbaren Leidensgeschichte. Als Zwölfjährige kam sie am 2. November 1944 im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau an. Weil ihr eine Aufseherin gesagt hatte, dass sie sich besser als Sechzehnjährige ausgeben sollte, wurde sie vor dem sofortigen Gang in die tödlichen Gaskammern bewahrt. Als sich Ende Januar 1945 der Todesmarsch aus dem Lager in Bewegung setzte, weil die Russen näher rückten, nahm man Eva nicht mit, weil man sie schon für tot hielt. Bei der Befreiung des Lagers am 27. Januar 1945 rettete sie ein russischer Soldat. Da hatte sie schon mehr als eine Woche lang ohne Essen und Trinken in der Kälte zwischen all den Leichen ausgeharrt.

Ich war entsetzt.

Natürlich kannte ich Filme zum Thema, aber die Geschichte dieser kleinen, tapferen und würdigen Frau zu hören, das war eine ganz andere Nummer. Das war kein abstraktes Filmdokument, sondern hier saß eine Frau im deutschen Fernsehen, die allen Grund hätte, nie wieder einen Fuß ins Land der Täter zu setzen. Ich rutschte während der Schilderung der Ereignisse auf meinem Sessel hin und her. Evas Tochter Anita, die vorher erzählt hatte, wie sie ihre Mutter dabei unterstützt, öffentlich über ihre Zeit im Konzentrationslager zu reden, bemerkte meine Unruhe. Sie berührte zwischendurch immer wieder besänftigend meinen Arm. Aber ich kriegte mich überhaupt nicht mehr ein. Evas Schicksal ging mir durch Mark und Bein.

Nur am Rande bekam ich mit, dass Markus Lanz mittlerweile mit Jonas Schmidt-Chanasit über ein neuartiges Virus in China sprach. Der Tenor war damals, zumindest in meiner Erinnerung: Der Chinese mag gerne Fledermaus süß-sauer, da hüpft schon mal ein putziges Virus rüber zum Menschen, das kann schlimm werden – hier bei uns aber wahrscheinlich nicht, und wenn, dann wird’s auch nicht schlimmer als ’ne ordentliche Wintergrippe.

Kam alles ganz anders. Das wissen wir jetzt. Aber am 6. Februar 2020, da war Corona noch in Wuhan.

Während Lanz also mit dem Virologen plauderte, kam in mir ein Gedanke hoch: Wie wahnsinnig das eigentlich war, dass da ein Opfer im Sessel saß, das ungefähr so alt war, wie mein Vater gewesen wäre, der allerdings auf der Seite der Täter gestanden hatte. Der als Panzerfahrer im Krieg schreckliche Dinge erlebt und verbrochen hatte.

Der Gedanke war so überwältigend, so unfassbar und beschämend auf einmal. Unglaublich, wie die Zeiten sich änderten! Ich saß auf diesem Stuhl, in diesem Fernsehstudio, neben der Opferfamilie Szepesi als der Sohn meines geliebten Vaters, Vertreter des Tätervolks. Quasi als Täterkind neben dem Opferkind, eine Generation später. Zwei Kinder, aufgewachsen im Frieden, großgezogen von Eltern, die in einem mörderischen Krieg ihre Jugend verloren hatten. Was für ein Wahnsinn, was für eine Geschichte! Es überkam mich richtig bei dem Gedanken, dass wir eigentlich nichts miteinander zu tun haben dürften, weil diese Frau eigentlich nicht nur auf meinen Vater, sondern auch auf seinen Nachwuchs, auf mich, einen abgrundtiefen Hass haben müsste. Dass wir ohne Security gar nicht nebeneinandersitzen dürften. Dass diese Opferfamilie das überhaupt ertrug, in Deutschland zu sein, mit Deutschen zu reden. Ich schämte mich dafür, dass jüdische Synagogen, nach all dem, was wir Deutschen den Juden angetan haben, 82 Jahre nach der Reichspogromnacht, immernoch bewacht werden müssen. Dass Juden auf offener Straße bespuckt und beschimpft werden.

Ja, ich schämte mich fürchterlich und verzweifelte an der Frage, wie jemand, dem so etwas Schreckliches passiert ist, überhaupt die Lust und die Kraft haben konnte, im Fernsehen über das Grauen zu sprechen. Und ich war zutiefst beeindruckt und beschämt von dem Satz, den Eva Szepesi am Ende des Interviews gesagt hatte: „Ich kann nicht hassen!“

Ab da – aber das wurde mir erst später klar – hatte ich die Kontrolle über die Bühnenfigur Atze Schröder verloren.

Im Vorfeld hatte ich Markus Lanz’ Idee zugestimmt, auch ein paar private Fragen über meinen verstorbenen Vater zu beantworten, hatte mir diesbezüglich allerdings vorgenommen, nur ein paar launige Schnurren über meinen geliebten Vater zu erzählen. Die Idee hatte Markus gehabt, weil ich in einem Interview mit Clara Ott in der Welt am Sonntag schon mal einen kleinen Einblick in meine privaten Ansichten abseits der Bühnenfigur Atze Schröder gegeben hatte. Meine Einstellung dazu war: Allzu viele Hoffnungen sollte sich Markus nicht machen. Ich hatte keine Lust, groß über Privates zu reden. Vielmehr hatte ich Bock auf charmante Legendenpflege mit ein paar Lachsalven aus meiner gut geschmierten Pointenorgel.

Aber immer hübsch der Reihe nach.

Markus Lanz hatte die schweren Themen Holocaust und Corona hinter sich gebracht und wollte die Sendung mit mir in Heiterkeit und bester Atze-Manier nach Hause schaukeln. Dachte ich jedenfalls. Am Anfang ging ja auch alles auf. In der Redaktion hatte man alte YouTube-Videos aus den Anfangstagen meiner Comedygruppe The Proll ausgegraben, auf denen ich absurd bescheuert aussah und die Darbietung nicht minder skurril war. Herrlich! Das Publikum lachte sich mit uns kaputt. Es konnte nur noch besser werden.

Irgendwann kamen die ersten Fragen zu meinem Vater. Ich erzählte, dass er einer meiner besten Freunde war und dass ich das große Glück hatte, ihm die Hand zu halten, als er friedlich starb. Was mir allerdings nicht half, meine Trauer über den immensen Verlust richtig zu verarbeiten. Jahre später hat mich das ganz schön gebeutelt. So ist das eben: „Alles Unterdrückte und Verdrängte steht eines Tages vor der Tür und haut dir zur Begrüßung in die Fresse!“ Mit diesem etwas rüden Spruch wollte ich zurück ins rustikale Fahrwasser, denn ich spürte, wie in meiner eh schon wenig stabilen Verfassung und bei der Erinnerung an meinen geliebten Vater der Kloß in meinem Hals immer größer wurde. Aber da hatte ich die Kontrolle, wie gesagt, schon verloren. Es sprach nur noch der Privatmensch Atze. Über die vielen Selbstmorde in der Familie meines Vaters, seine Brüder, meine Großmutter – ich konnte einfach nicht aufhören, die verdammte traurige Wahrheit zu erzählen.

Markus war feinfühlig genug, nur minimal einzugreifen. Er spürte, dass ich nicht anders konnte: Ich musste reden. Darüber, dass mein Alter als Jugendlicher in diesem beschissenen Krieg mit seinem Panzer andere Menschen tötete, weil es im Krieg nun mal um nichts anderes geht als ums Töten. Dass er später in russischer Gefangenschaft überlebte. Und dass er, endlich heimgekehrt, beschloss, ein guter Mensch zu werden und die schrecklichen Gräueltaten zu vergessen. Er trichterte mir ein, niemals eine Waffe in die Hand zu nehmen. Sagte mir die Wahrheit über seine schrecklichen Taten, beschönigte nichts.

Markus Lanz ist ein Profi, der weiß, wann er seine Gäste „laufen“ lassen muss. Als ich etwas zur Ruhe kam, fragte er: „Was würde dein Vater sagen, wenn er jetzt hier wäre?“

Die Frage traf mich wie eine mächtige Abrissbirne. Ich schluckte. Sanft sah Markus mich an und fragte noch mal, ruhig und bestimmt. „Was würde dein Vater machen, wenn er jetzt hier wäre?“

Ich war kaputt, ich konnte nicht mehr. Ich wollte weinen, unterdrückte die Tränen. Der beschissene Kloß im Hals wurde noch größer. Ich verlor die Fassung.

„Er würde sich entschuldigen, vermute ich mal …“, hörte ich mich sagen. Dann stand ich auf, ging zu Eva Szepesi hin, gab ihr die Hand und entschuldigte mich.

Eva sah mich an, ergriff meine Hand und sagte: „Danke. Das bedeutet mir sehr viel!“

Auch bei Anita, ihrer Tochter, entschuldigte ich mich. Sie nahm meine Hand mit den Worten: „Alles ist gut!“

Ich setzte mich wieder hin und ließ ein paar Tränen raus.

Mein Name ist Atze Schröder. Ich habe bei Markus Lanz in der Talkshow gesessen und geweint, weil ich traurig und glücklich war. Traurig, weil mein Vater schon lange tot ist. Traurig, weil von einigen widerlichen Menschen versucht wird, Judenhass und Rassismus in unserem Land wieder salonfähig zu machen. Glücklich, weil Eva Szepesi mich nicht hassen kann. Weil ihr meine Entschuldigung etwas bedeutet.

Ich war 55 Jahre alt, und jeder, der genauer hingeschaut hat, konnte Tränen hinter meinen blauen Augen sehen. Ich bin ein sogenannter Star, ein „A-Promi“, eine „Comedy-Legende“, ein „Humor-Titan“. Doch am Ende jener Sendung hat die Kunstfigur Atze Schröder die Bühne verlassen. Geweint hat Atze Schröder, der Mensch hinter der Figur. Wie konnte das passieren? Und wieso hatte ich zum ersten Mal das Gefühl, etwas wirklich Wichtiges, Anständiges und Bedeutendes getan zu haben, nach all den Jahren? Was ist überhaupt passiert, seit ich in Essen-Kray das Licht der Welt erblickte? An einem Montag, dem 27. September 1965 …

ZEUGUNG UND GEBURT

„Clara, ich bin alles, was du dir je erträumt hast, nur mit Bauch.“

Prustend vor Lachen verschluckte sie sich an ihrem Pausenbrot und spannte vorsichtshalber ein neues Blatt in die Schreibmaschine, Modell „Gabriele“. Immer wenn mein Vater im Büro der Essener Malerfirma Brockmann auftauchte, um seine Lohnabrechnung in Empfang zu nehmen, strahlte meine Mutter übers ganze Gesicht. Da konnten die beiden natürlich noch nicht wissen, dass sie mal meine Eltern werden würden. Wahrscheinlich ahnten die lebenshungrigen Nachkriegsjugendlichen auch nicht, dass sie schon bald heiraten würden. Mein zukünftiger Vater hatte allerdings eine konkrete, wenn auch etwas lüsterne Vorstellung, was er mit der Schönheit hinter dem Schreibtisch gern anstellen würde. Clara wiederum war aufgefallen, dass Hubert Schröder, der junge Malergeselle, seit geraumer Zeit öfter als nötig bei ihr am Schreibtisch stand und heftig mit ihr schäkerte.

„Clara, was soll ich noch alles machen, damit du mit mir tanzen gehst?“

„Lass dir was einfallen, du bist doch sonst nicht so auf den Kopf gefallen. Kannst du denn überhaupt tanzen, Hubert?“

„Nee, aber ich wollte nicht mit der Tür ins Haus fallen. Dann geh wenigstens mal mit mir auf die Cranger Kirmes, zusammen Geisterbahn fahren!“

Sie lachte kokett und schaute ihn neckisch an. „Da musst du mich aber beschützen, Hubert. Sonst bekomme ich am Ende noch Angst …!“

Er griente und balzte unverhohlen zurück: „In meinen Armen bist du so sicher wie in Abrahams Schoß!“

Ich habe nie herausbekommen, ob meine Eltern sich erst einmal vorsichtig und sittsam angenähert haben oder ob nach dem ersten Ankuscheln in der Geisterbahn schon von der Schusswaffe Gebrauch gemacht wurde. So richtig rückten sie mit der Sprache nicht heraus. Meine Mutter erzählte lieber ausführlich von einem Picknick im Grugapark, bei dem mein Vater ihr Herz endgültig erobert haben soll. Davon an dieser Stelle nur so viel, dass meine Schwester schon in jungen Jahren – nicht nur wegen ihrer Vorliebe für das gleichnamige Kinderbuch – liebevoll „das kleine Gespenst“ genannt wurde …

Wenn wir schon mal bei legendären Zeugungsakten sind, möchte ich die Gelegenheit natürlich nutzen und meine Entstehungsgeschichte schildern.

Als Hubert und Clara 1964 schon längst ein Ehepaar mit einer kleinen Tochter waren, begab es sich, dass mein Alter bei der Karstadt-Mitarbeiterweihnachtsfeier mit seiner Kapelle Die Blizzard Boys auftrat. Die jungen Musiker heizten der Kaufhausmischpoke mit ihrem Repertoire kräftig ein. Der Saal tobte, die Stimmung war auf dem Siedepunkt. Hormongeschwängerte Schweißwolken machten aus dem leer geräumten ersten Stock (Parfüm und Damenstrümpfe) einen Hexenkessel, der langsam überkochte.

Als die Blizzards dann plötzlich, völlig illegal und ohne Genehmigung der Direktion, I Want to Hold Your Hand von den Beatles spielten – selbstverständlich ohne ein Wort Englisch zu können –, tickte die Meute komplett aus. Ekstase pur! Dabei war vorher noch vereinbart worden, keine Lieder in „Kaugummisprache“ – damit war Englisch gemeint – zu singen. Und jetzt das: ein Lied von diesen langhaarigen Usselköppen. Skandal!

Das Ganze hätte legendär werden können, und der Karstadtkonzern wäre heute vielleicht noch bei bester finanzieller Gesundheit, wenn der Hausmeister Heinrich A. Sabolewski an dem Punkt nicht die Hauptsicherung rausgedreht hätte. „Nazi-Sabo“, wie er von allen genannt wurde, waren diese Hottentottenmusik und artfremde Gliederverrenkung schon seit Langem ein Dorn im Auge. In seinen Augen war das der Untergang Deutschlands. Schon beim Aufbau der Musikanlage war er am Stänkern gewesen, und die stolzen Blizzards mussten sich Sprüche anhören wie: „Mit euch langhaarigem Gesocks kann man doch keinen Krieg gewinnen.“

Da war er bei meinem Alten an der richtigen Adresse: „Wegen Idioten wie dir haben wir immerhin schon zwei verloren, du Spacko!“

Dabei war Sabo während des Krieges einfach nur Schleusenwärter gewesen. Mit einem Arm, der andere war amputiert worden. Das war aber keine heldenhafte Kriegsverletzung. Vielmehr hatte sein Riesenmümmler Adolf ihm beim Kaninchenfüttern in den Finger gebissen, und der Tonto war mit der kleinen Blutvergiftung nicht zum Arzt gegangen. Nach 1945 hatte er sich den Haken dann geradebiegen lassen, um etwaigen Verdächtigungen zuvorzukommen. Ein echtes Genie! Oder, wie mein Alter sagte: Was für ein Arschloch.

Für die Blizzards war der Abend nach dem Sabotageakt jedenfalls zu Ende, und der Abteilungsleiter weigerte sich, die vereinbarte Gage von 75 Mark auszuzahlen. Beim Einladen der Instrumente und der Soundanlage in den Hanomag ließ Papa es sich jedoch nicht nehmen, dem Spirituosenlager im Erdgeschoss noch einen kleinen, heimlichen Besuch abzustatten. Er gelangte von der Laderampe aus ins Depot. Geschickt erbeutete er für seine Bandkollegen mehrere Flaschen Cognac und eine Kiste allerfeinsten Dom-Pérignon-Champagner, die er allerdings für sich behielt.

Champagner war für Otto Normalverbraucher damals ein unerschwinglicher Luxus. So was tranken nur die Reichen und Filmstars wie Nadja Tiller, Anita Ekberg oder Brigitte Bardot. Inge Meysel wurde zumindest nie mit der Edelbrause gesehen. Alles in allem also doch noch ein gutes Geschäft, trotz des erzwungenen Gagenausfalls. Der Diebstahl wurde zur allgemeinen Freude dann auch noch dem verhassten Hausmeister angelastet. Ein toller Abend! Und er wurde noch besser.

Laut meiner Mutter kam Hubert bestens gelaunt nach Hause. Die Kiste mit dem Schampus pfefferte er im Wohnzimmer auf den Kacheltisch und rief: „Buona sera, signorina, buona sera, it is time to say goodnight to Napoli!“

Als Muttern neugierig aus der Küche angelaufen kam, knallte auch schon der erste Champagnerkorken, und sie schaltete begeistert in den Sophia-Loren-Modus um, den sie vorzüglich draufhatte.

Der viel beschworene Champagnerkick und ein sie heftig anschmachtender Hubert machten aus der braven Familienmutter Clara eine hochattraktive Salonlöwin auf Beutezug. Was den Partyfaktor anging, waren meine Eltern auf Augenhöhe mit Aristoteles Onassis. Allerdings ohne die blöden Tanker und das viele Geld. Außerdem war Mama der divenhaften Maria Callas stimmlich haushoch überlegen, allerdings nur, wenn sie ordentlich einen im Schlappen hatte.

Mein Alter köpfte die zweite Flasche Dompi, schnappte sich sein Akkordeon und kurbelte meine tanzende Mutter auf dem Couchtisch hoch und runter. Eine Stunde später war der dritte Korken an die Schleiflackdecke geflogen, und auf dem Sofa wurde James Bond –Liebesgrüße aus Moskau nachgespielt. Mein Vater zog alle Register, schließlich war er im Auftrag seiner Majestät unterwegs. Als die Liebeskugel aus dem Schaft seiner Walther PPK schoss und Claras Augen vor Glückseligkeit brachen, stöhnte er mit letzter Kraft: „Dat wird einer!“

Anschließend rauchte meine Mutter ihre wohlverdiente Zigarette und sagte siegesgewiss: „Dat wird ’n Junge.“

James Hubert Bond kratzte sich am Kinn. „Wieso dat denn?“

„Du hast die Socken noch an. Dat wird unser kleiner Atze!“

Am 27. September 1965 um 6.05 Uhr wurde ich als Beweisstück jener steilen These an die frische Luft gesetzt. Viele Erinnerungen an meine Zeit vor der Geburt habe ich nicht mehr, aber meine Begeisterung für Champagner ist geblieben. Gute Arbeit, Papa, wie mit dem Ohr gemalt!

Während „meiner“ Schwangerschaft wurde meinen Eltern klar, dass die Zweizimmerwohnung an der Wattenscheider Straße für vier Leute auf Dauer zu klein sein würde. Was tun? 1965 war Wohnraum knapp, und längst nicht alle Buden hatten Heizung, Toilette oder gar ein Badezimmer.

Meine Oma hatte die rettende Idee: „Kommt doch alle zu mir ins schöne Münsterland! Seit mein Heinrich tot ist, wohn ich in dem großen Haus ja ganz alleine. Dann kommt wenigstens wieder Leben in die Bude, und die Kinder sehen auch mal Kühe statt Autos.“ Für Oma war das Ruhrgebiet eine einzige große Zechenkolonie, ein Albtraum in Schwarz-Weiß.

Meine Eltern nahmen dankend an. Der Umzug ins Münsterland dauerte allerdings etwas, weil Papa für die Firma noch einen Großauftrag zu erledigen hatte.

Damals waren die meisten Frauen noch unbekümmerter unterwegs, was das Kinderkriegen anging. Heute ist eine Schwangerschaft ja eine Art wissenschaftlich-esoterisches Großprojekt, das umfangreiches Wissen in Ernährungslehre und wenigstens ein Grundstudium der Allgemeinmedizin erfordert. Die junge, moderne Mutter des Jahres 2022 ist mit allen Wassern gewaschen. Resonanztherapie, Beckenatmung, Spitzkopfyoga, Friedensschwimmen, ganzheitliches Gebären, Singen mit Buckelwalen … die Möglichkeiten sind unendlich. Wunderbar! Das einzige Thema, das dies noch überstrahlt, ist das „Wo“: Wo soll das Kind geboren werden? Im Kreißsaal, auf der Rasenplane im Wald, unter Wasser, in der Präsidentensuite des Adlon, im Bällebad bei Ikea, im Wald hockend, im Geburtenkloster, umgeben von Shaolin-Mönchen …?

1965 war die Sache dagegen klar. In Essen wurden Geburten im Elisabethkrankenhaus erledigt, und zwar im erbswurstgrün gekachelten Kreißsaal, mit robustem Gullyschacht in der Mitte der sterilen Hölle.

Geburtsvorbereitung gab’s damals jedoch auch schon. Exakt eine Stunde vor der Geburt erschien die berühmt-berüchtigte Brachialhebamme Mechtild mit ihren Riesenpranken im Kreißsaal. Unhöflich, aber bestimmt, gab sie meiner armen Mutter knappe Anweisungen: „Brüll nicht so rum, immer schön drücken, und für alle Fälle hab ich hier noch ein Beißholz!“

Mit dieser rustikalen pädagogischen Art hatte die eiserne Mechtild schon etwa tausend unschuldigen Babys den Sprung ins Leben gründlich versaut. So auch in meinem Fall. Hatte ich eben noch gemütlich in meiner warmen Höhle bei Kaffee und Mutterkuchen gesessen, so wurde ich nun, wenige Pressattacken später, durch einen viel zu kleinen Geburtstunnel ungefragt in die kalte, raue Welt befördert. Scheiße, war das kalt! Und hell. Und ungemütlich. Zudem schnitt ein mir völlig unbekannter Arzt eigenmächtig meine Nabelschnur durch. Schön ist was anderes. Wie meine Mama immer sagte: Es ist nicht alles Kind, was rauskommt!

Es gab aber auch Schönes zu entdecken. Die zauberhafte Frau, die mich rausgedrückt hatte, war äußerst lieb zu mir. Ihre Riesenbrüste beeindruckten mich sowohl ästhetisch als auch von der Konsistenz her, zudem kam ein herrliches Getränk aus den wunderbaren Dingern. Meine Mutter roch gut, sie war warm und gab mir Nahrung. Ich war schockverliebt. Nie wieder würde ich jemand mehr lieben können! Und so beschloss ich bereits in diesem frühen Stadium meines Lebens, das hinreißende Geschöpf spätestens an meinem achtzehnten Geburtstag zu heiraten. Top-Olle!

Am nächsten Tag lernte ich endlich auch meinen Vater kennen. Die Stimme kannte ich ja schon, das Äußere war ansprechend, wenn auch noch etwas verschwommen. Ein grundsympathischer Kerl. Auch er zeigte sich begeistert von seinem Werk, und ich hatte das untrügliche Gefühl, bei den beiden sehr erwünscht zu sein. Diese liebevolle Verbindung sollte sich für den Rest unseres gemeinsamen Lebens nicht mehr ändern.

Der Name, den Papa dann auf dem Standesamt ins Familienstammbuch eintragen ließ, war Schall und Rauch, denn schon ab der ersten Woche wurde ich von allen nur Atze genannt.

Als ich mit meinen Eltern nach Hause kam, war ein Familienmitglied allerdings weniger angetan. Meine Schwester, in den letzten Tagen von Tante Agnes betreut, hatte nicht auf dem Zettel, dass von nun an auch ein kleiner Prinz Ansprüche stellte. Oder überhaupt Aufmerksamkeit bekam. Sie war not amused! Und ich bin mir hundertprozentig sicher, dass schon da der Plan in ihr reifte, mich bei jeder Gelegenheit vorzuführen und zu demütigen.

Im Sommer 1966 war es dann so weit: Der Lkw, den uns der Malerbetrieb Brockmann freundlicherweise geliehen hatte, stand vor dem Haus. Stunden später waren die sogenannten Möbel inklusive des legendären Kacheltisches und Papas Schlagzeug verstaut, und mit viel guter Laune fuhr die Familie Schröder ins ach so grüne Münsterland.

Mein Vater lenkte den alten Hanomag. Neben ihm auf der Doppelsitzbank: meine Schwester Anne und meine Mutter mit mir auf dem Schoß. Auf der Ablage vor der Windschutzscheibe: zwei Thermoskannen mit Kaffee, vier Brote mit Ei und zwischendurch auch mal meine ewig plappernde Schwester. Kopfstützen und Sicherheitsgurte waren völlig unbekannt. Man hielt sich fest und versuchte durch beherztes Wegatmen, den stinkigen Zigarettenrauch aus der Fahrerkabine zu verbannen. Idylle pur.

Ich hatte beim Einpacken der tausend Sachen Gott sei Dank nicht mithelfen müssen, wahrscheinlich auch, weil ich noch nicht laufen konnte. Meine Mutter erzählte jedem in Reichweite, dass ich ihr Sonnenschein sei und immer gute Laune hätte. Mir war vor allem wichtig, dass immer genug Muttermilch da war und sich ihre Nippel in Reichweite befanden. Meine Schwester hasste mich deswegen. Sie wollte natürlich auch wieder an diese herrliche Theke des freudigen Genusses, aber das Lokal war eben nur noch für den kleinen Atze geöffnet. Sorry, only for members, kleine Prinzessin!

Doch wenn ich geahnt hätte, was dadurch im Kopf meiner Schwester an Bösem erwachte, hätte ich sie augenblicklich und liebend gerne selbst gestillt.

Nach zwei Stunden Fahrt stand der Möbelkutter qualmend vor Omas Haustür. Oma strahlte wie ein Primelpott, und alle hatten den Eindruck, dass ihr größter Wunsch in Erfüllung gegangen war. Ihre Tochter war wieder zu Hause! Mit meinem Papa verstand sie sich auch bestens, und nach uns Kindern war sie sowieso total verrückt. Ich muss es an dieser Stelle mal sagen: Das war heile Welt in Reinkultur. Von da an war immer jemand zu Hause, und für Kinder ist so ein Haus mit Garten selbstredend großartig.

Die ersten Jahre teilten meine Schwester und ich uns ein Zimmer, was ich ziemlich lustig fand. Anne war nicht so begeistert. Ihr Unmut über meine bloße Existenz wurde langsam, aber sicher befeuert. Die dunkle Seite in ihr wurde stärker – unbemerkt, denn sie war schlau genug, ihren Hass auf mich vor unseren Eltern zu verbergen.

Meine Oma Johanna war ein sehr glücklicher Mensch. Wir Kinder liebten sie über alles und schlossen sie über die nächsten Jahre als Bilderbuchoma in unser Herz.

Johanna war 1895 geboren und hatte somit schon einige Katastrophen erlebt. In der strengen Kaiserzeit von Wilhelm II. wuchs sie mit preußischen Erziehungsidealen auf. Sie war erst achtzehn, als es mit Hurra in den Ersten Weltkrieg ging. Vier Jahre später war der bereits verloren, woraufhin nicht die Trottel aus dem Kaiserhaus oder die Generäle die Suppe auslöffelten, sondern die einfachen Leute. Mühsam versuchte jeder, sich durchzuschlagen. Es ging nicht um das Lebensglück, sondern um das Glück zu überleben. So war die Weimarer Republik: Inflation, Arbeitslosigkeit, Weltwirtschaftskrise! Das machte vielen schwer zu schaffen und öffnete das Tor für die dumpfe Ideologie der Nationalsozialisten.

Ehe Oma sich’s versah, entfachten die braunen Verbrecher nur wenige Jahre nach dem letzten Krieg die größte Katastrophe, die die Welt bis heute erlebt hat: Der Zweite Weltkrieg begann am 1. September 1939 mit Hitlers Überfall auf Polen. Mehr als siebzig Millionen Menschen fielen dem Nazi-Wahnsinn zum Opfer. Nach der Kapitulation der braunen Mordschergen musste Johanna mit ihrem Heinrich und den vier Töchtern mal wieder von vorn anfangen. Ganz Deutschland war ein Trümmerhaufen, der vor allem von tüchtigen Frauen wieder flottgemacht werden musste.

In den Fünfzigern ging es dank der Währungsreform und des beginnenden Wirtschaftswunders erstmals wieder bergauf für die kleine Frau mit dem großen Herzen. Ihre Töchter waren gut verheiratet, und das Leben sah endlich wieder rosig aus. 1964 starb Heinrich dann nach kurzer, schwerer Krankheit. Nun war sie allein mit der Stille in dem leeren Haus – und selig, dass wir mit Sack und Pack dort einzogen.

1966 hatten die wenigsten Einfamilienhäuser eine Zentralheizung. Omas auch nicht. Genauso wenig gab es in unserem neuen Heim eine Dusche, und durch die Einfachverglasung pfiff der Wind schlimmer als Klaus Meine im Intro von Wind of Change. Kalt war uns aber nie, weil Oma Johanna uns alle warmhielt. In jedem Zimmer stand ein Holzofen, gekocht wurde auf dem Küchenherd mit Holzfeuer.