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Kurt Weiss will sich seinen letzten Kindheitstraum erfüllen: am Vater der Ströme, dem Amazonas, möchte er sitzen und einen Tucunaré angeln. Weil er Naturforscher ist, reist er eines Tages tatsächlich Richtung Brasilien ab. Doch Amazonien erreicht er erst viele Monate später als geplant. Der Kontakt mit der überwältigenden, vielgestaltigen Kultur und den unfassbar eindrucksvollen Menschen bringt ihn ein ums andere Mal von seinem Weg ab. Schon sehr bald bemerkt er, dass ihn seine umkehrlose Reise in einem Sog weiterzieht, dem er nicht entrinnen kann. Ein Wirbel an Ereignissen und Begegnungen treibt ihn immer weiter - einen Zweifel an seinem Ziel gibt es jedoch nie. Mehr noch: die Umwege erscheinen ihm mehr und mehr schicksalhaft und notwendig, um den Ort seiner Bestimmung und die Liebe seines Lebens zu finden. Längst Teil der Kultur, der Geschichten und Mythen fahren sie, eine Iara, und er, ihr Boto-vermelho, dem Ort entgegen, an dem von Anbeginn der Zeit her unvermeidbar und vorbestimmt die Auseinandersetzung mit dem blauen Jaguar auf sie wartet ...
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Seitenzahl: 676
Veröffentlichungsjahr: 2018
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Unvorhergesehene Umwege
auf der umkehrlosen Reise
des Naturforschers Kurt Weiss
nach Amazonien (1987-1990)
„Alle Ereignisse und Geschehnisse auf meiner Reise schreibe ich vor allem für mich auf, um mir damit mein eigenes Universum zu erhalten. Ich möchte die Erlebnisse aber Dritten erfahrbar machen, damit die großartigen Menschen, die ich traf, weiterleben können.
Ich werde deshalb eines Tages alle Notizen in eine Kiste packen und sie weitergeben. So wird diese Geschichte erneut erzählt werden – jedes Mal etwas anders, als es geschah.“
Kurt Weiss (1987, Tagebucheintragung)
Prolog im Dschungel
Kapitel, in dem es – eigentlich wie immer - um eine schöne Biribá geht
Kapitel, in dem sich einer so richtig frei fühlt und wie zuhause aufführt
Kapitel, in dem ein Reisender über das Erfordernis kultureller Wandlung informiert wird
Kapitel, in dem überraschende Erfahrungen zu Miteinander führen
Kapitel, in dem sich innere Einstellungen grundlegend ändern
Kapitel, in dem köstliche Erlebnisse in Erinnerungen verwandelt werden
Kapitel, in dem eine starke Frau Gefühle als Selbstliebe entlarvt
Kapitel, in dem Katastrophen durch gegenseitige Zuwendung verhindert werden
Kapitel, in dem zwischenmenschliche Wärme aufs Schönste anschaulich gemacht wird
Kapitel, in dem ein schwarzes und weißes Kätzchen starke Zuneigung entwickeln
Kapitel, in dem über ewige Liebe philosophiert wird
Kapitel, in dem Schicksalskarten alles und nichts zu belegen scheinen
Kapitel, in dem sich zwei magnetisch anziehen und tiefes Vertrauen entsteht
Kapitel, in dem eine strahlende Sonne von einer Jagunça angemessen bewaffnet wird
Kapitel, in dem eine den Ort ihrer Bestimmung findet, der andere aber nicht
Kapitel, in dem alles neu geordnet wird
Kapitel, in dem sich ein Naturforscher einer Verlockung ergibt
Kapitel, in dem sich allerhand Schicksal zusammenbraut
Kapitel, in dem man sich über interesseloses Wohlgefallen austauscht
Kapitel, in dem ein Häuptling Stärke und Toleranz zu Zukunft zu addieren versucht
Kapitel, in dem sich Iara und ihr Boto-vermelho finden
Kapitel, in dem Iara ihrem Schicksal folgt und eine alte Truhe geschlossen wird
„An einem wunderbaren, sonnigen Morgen vollführte der rote Delfini Boto-vermelho akrobatische Kunststücke im Fluss. Er sprang hoch in die Luft, überschlug sich, sang voller Freude mit seinem unnachahmlichen Schnattern und verstand es, nur auf seiner Schwanzflosse stehend, hoch aufrecht und rückwärts über das Wasser zu rudern. So ging es eine Weile, als er plötzlich Iaras ansichtig wurde, der Mutter der Wasser, die am Gestade des Flusses saß und sich kämmte. Ein Blick genügte, um sein Herz in Liebe zu dieser über alle Maßen schönen Frau zu entfachen.
Auch Iara hatte Gefallen gefunden an seinen Aufführungen, die ihr wie ein Tanz erschienen waren. So lud sie ihn zu einem Tanzabend am Ende des Monats ein, wo sich viele, die tanzen konnten, treffen würden.
‚Wie könnten wir miteinander tanzen, Iara,‘ rief der Delfin, ‚da wir doch keine Beine haben?‘
‚Wir wollen die gütige Gottmutter des Waldes befragen,‘ antwortete Iara. ‚Sie weiß immer, was zu tun ist.‘
So begannen sie, die Gottmutter des Waldes zu rufen, und tatsächlich erschien sie ihnen. Nachdem sie ihr das gemeinsame Anliegen geschildert hatten, überlegte die Gottmutter ein Weilchen und sprach: ‚Gut. Ich komme zum nächsten Vollmond zurück und verhelfe euch zu einem gemeinsamen Tanz.‘
Als der Mond groß und majestätisch am Himmel stand, erschien sie dem Delfin ganz in Weiß und sagte: ‚Ich werde dich jetzt in einen ansehnlichen jungen Mann verwandeln, sodass du zu dem Fest gehen kannst. Aber: wenn die Caburéii, die Nachteule, das letzte Mal in der Nacht schreit und die Stunde des Jaguars beginnt, musst du sofort in den Fluss zurück.‘
Der Delfin nickte und wurde verwandelt. Er stieg aus dem Wasser.
Auch Iara stieg aus dem Wasser, und die wunderschöne junge Frau verbarg ihren Fischschwanz unter einem Baum am Fluss. Doch auf dem Weg zum Tanzplatz bekam sie Zweifel an der Liebe des Delfins und beschloss, ihn in Versuchung zu führen. Sie verwandelte sich in die Cobra Grandeiii, denn ihr Metier ist die Verführung. Die Cobra Grande nahm die Gestalt einer zauberhaften Caboclaiv an und trat auf dem Tanzplatz an den Delfin heran, machte ihm schöne Augen und forderte ihn mit weichen Bewegungen auf, mit ihr zu tanzen.
Der Delfin hatte aber keinen einzigen Blick für sie und schaute sich nur nach Iara um. Doch fand er sie nicht. Traurig wartete er, bis Caburé ein erstes Mal rief und eilte dann enttäuscht zum Fluss zurück. Die Cobra Grande verwandelte sich indes in Iara zurück und empfing ihn am Ufer des Flusses. Dort liebten sie sich, bis Caburé ein letztes Mal ihren Ruf ertönen ließ und er wieder in den Fluss zurück musste.
Man weiß, dass Iara und Boto-vermelho seither eng verbunden sind und miteinander schwimmen, wann immer sie Gelegenheit dazu haben. Beide gehören unzertrennlich zusammen, und der Delfin verteidigt Iara gegen jedwedes Übel. Im Vollmond lieben sie sich am Ufer des Flusses.
Die Mutter der Wasser kehrt immer wieder zurück in Gestalt einer schönen Frau. Und nur diese Frau selbst weiß, dass sie eine der Wiedergeburten Iaras ist. Eine Iara - und mit ihr die Cobra Grande - wird aber erst wiedergeboren, wenn es gilt, gemeinsam mit ihrem Geliebten die Seele eines blauen Jaguars zu überwinden und in die Schranken zu weisen - oder dabei zu sterben. Das ist ihre Bestimmung.
So erzählte man früher an den Feuern und so habe ich es vor vielen Jahren gehört. Ich erinnere mich ganz sicher richtig.“
iInia geoffrensis
iiGlaucidium hardyi
iii Mythische Riesenschlange Amazoniens
iv Bauernmädchen
Angesichts der bereits weit geöffneten Pforte zu meinem letzten Lebensabschnitt gewahre ich eine junge Frau, die lässig an einen der Pfeiler ihrer eigenen Pforte gelehnt steht und aufmerksam beobachtet, wie ich immer langsamer werde und den Kopf unverhohlen zu ihr wende. Hoffnung glimmt in mir auf, einen Schritt zu ihr hinüber machen zu dürfen, mein Tor noch nicht nicht so bald passieren zu müssen, scheint sie doch unaufgeregt ihr eigenes Voranschreiten verzögern zu dürfen.
„Na“, sagt sie. „Nach dir.“
Ich bin fassungslos. Ist es nicht die, die ich durch lange Jahreszeiten immer wieder gesucht und viel zu selten gefunden habe?
Ihre jugendliche, unvergleichliche Schönheit: eine aufrechte, sehr schlanke und doch frauliche Gestalt, diesmal blondes Haar mit dunklen Strähnen, hinten zwanglos hochgesteckt, sodass so manche bis hinunter auf ihre Schulter fällt und ihren wohlgeformten Hals mit wilder Eleganz umrahmt. Schwarze Augenbrauen über blauen Augen, tief rot gefärbte, geschwungene Lippen vor einer makellosen weißen Perlenkette ihrer Zähne. Als sie spricht, sehe ich ihre flinke Zunge ein klein wenig von unten vorn an Gaumen und Zahnreihe tupfen, was mich nach wie vor in Verzückung geraten lässt.
„Ist kussecht“, lächelt sie, weil sie meinen faszinierten Blick auf ihrem Mund ruhen fühlt.
Ist meine Antwort mir noch angemessen?
„Tatsächlich? Glaube ich nicht. Zeig mal.“
Sie lacht hell auf und wirft dabei den Kopf leicht nach hinten, sodass ich zubeißen könnte, würde ich nur meinen Zähnen noch vertrauen.
Als sie mich wieder ansieht, bemerke ich in ihren Augen mit größter Erschütterung die unglaubliche Entfernung zwischen der Pforte, an der sie noch immer lehnt, und meiner, die zu durchschreiten mir unmittelbar bevorsteht. Meine Augen sind zwar jung geblieben, der Spiegel zu Hause aber von meinem Anblick nach und nach erblindet.
Ihr Blick durchdringt meine Gedanken. Ich denke: ‚Verschwende nicht deine Zeit, Schönheit, sei nicht zu wählerisch, sondern lerne durch Erprobung!‘
Sie antwortet mit köstlich gespitzten Lippen: ‚Komm, Alter, willst mich noch immer in deine Höhle locken, aus der es womöglich kein Entrinnen gibt? Ich freue mich über deine Verehrung; aber siehst du nicht, dass unsere Lebenswege parallel verlaufen und keine Schnittpunkte möglich sind?‘
‚Was soll ich also tun, jetzt, wo du mein ganzes Denken ausfüllst? Soll ich mich entleiben?‘
‚Warum schaust du mir nicht weiter zu, bewunderst mich, machst mich dadurch schöner, als ich ohne dich sein könnte - und träumst von mir. Sind es nicht die Träume, die uns das Leben erst in die rechten Bahnen lenken?‘
„Ersetzt alles Träumen auch nur einen Kuss?“ frage ich verzweifelnd laut.
Sie wird plötzlich sehr ernst, ich löse mich von ihrer Zungenspitze und schaue wieder in den Himmel ihrer Augen. Langsam schüttelt sie den Kopf.
„Aber neben Träumen und Wünschen ist dir vielleicht etwas gegeben, was ich noch erwerben muss, bis ich an deiner Pforte stehe: Erinnerungen. Vielleicht kommst du damit auch ohne mich klar?“
Meine Augen füllen sich mit endlosem Schmerz, als ich durch die Pforte schreite und in letzter Sekunde, bevor sie sich schließt, ihre Fingerspitzen zum Abschied mit meinen Lippen vergeblich zu berühren versuche.
Schweißgebadet erwache ich vermutlich aus diesem vornächtlichen Albdruck, dessen Traumglut mir die höchste Freude und tiefste Verzweiflung bereitet hat.
Nur mühsam zwinge ich meinen Atem und mit ihm meinen Puls, sich zu beruhigen. Mein Blick irrt in Hoffnungslosigkeit durch dieses Zimmer, das mit seinem breiten Bett vor schmucklosen weißen Wänden und einer winzigen Kochnische aussieht wie so viele, in denen ich im Laufe meines Lebens gewohnt habe.
In denen ich mir stets vormachte, die Gefährtinnen, die neben mir lagen, zu lieben und dennoch nicht ablassen konnte, sie im nächsten Augenblick zu verlassen.
In denen ich doch immer nur mich liebte?
In dem ich auch heute wieder allein bin.
Schließlich bleibt mein Blick am Wecker neben dem Bett hängen, auf dem ich offenbar nur kurz eingenickt war. Ich fahre mir mit den Händen durchs Gesicht, spüre die grauen Stoppeln der beginnenden Verwahrlosung, strubbele das restliche Kopfhaar zu doppeltem Volumen auf und beschließe nach einem abgrundtiefem Seufzen, noch hinüber in die Bassgeige zu gehen.
Die Bassgeige zeichnet sich dadurch aus, dass alles mit dem Gast altert. So verhält es sich mit dem Mobiliar, so verhält es sich mit den Gästen und auch mit dem Gastwirt. Sogar dessen Name hat sich über die Jahre den Verhältnissen angepasst: hieß er früher ‚ein Bier, ein Alt‘, hört er heute auf ‚ein Bier‘. Mit großem Entgegenkommen und unter Verachtung dessen Metamorphose hält er seinerseits am Namen des Gastes unverändert fest: ‚Ok‘.
Manche Gäste sitzen bereits so lange auf ihren Holzstühlen, dass sie wie verwachsen mit ihnen scheinen und die Farbe auch von ihnen längst abgesprungen ist. Ihr Blick ist nicht auf das vor ihnen stehende Bier gerichtet, sondern auf das Herz, das sie vor längst verflossener Zeit in die Tische geritzt haben und das Initialen enthält, denen nachzuspüren ihnen immer aufs Neue gefällt.
Selten ist viel los, noch seltener verirren sich Fremde in diese stumme Familie.
Mein Rundblick liefert zu meinem Erschrecken heute aber keinen freien Tisch. Mehr noch: eine Studentengruppe ist nach dem abendlichen Livekonzert eines unbekannten Jazzpianisten sitzen geblieben und lärmt lautstark herum.
An meinem Stammtisch, auf meinem Stuhl, mit Aussicht auf mein Lieblingsbild an der Wand neben der Theke, sitzt ein junger Mann von wahrscheinlich gerade dreißig Jahren. Er betrachtet das Bild versonnen und scheint alles um sich herum vergessen zu haben. So geht es natürlich auch mir, wenn ich seinen Platz einnehme und meine Gedanken auf ihre Reise zu den Erinnerungen schicke.
Von ihm in diesem Augenblick unbeachtet, sitzt direkt neben ihm, mit dem Arm auf dem Nachbartisch, eine junge Frau, die in eine Zeitschrift blickt, ohne sie aber wirklich wahrzunehmen. Ihre Ohren sind mit einer Reihe von Ringen durchstochen, Piercings befinden sich an den Augenbrauen und in der schwarzgeschminkten Unterlippe. Ihre Haare sind an der Seite kurz rasiert und in der Mitte zu einem Irokesenschnitt hochgegelt. Während sie den Rauch einer Zigarette einatmet, legt sie jetzt den Kopf leicht in den Nacken und schließt die mit Mascara dunkel abgetönten Lider zu einem Spalt. Schwarzes Leder schmiegt sich ihrer Haut so eng an, dass man Wetten abschließen würde, sie habe…
„Ein Bier, ein Alt“, begrüße ich den Gastwirt, der mich in diesem Moment mit seinem Blick flüchtig streift. Er schaut überrascht auf, sieht mich eine lange Sekunde unverwandt an, erkennt meinen Plan, nickt knapp und antwortet: „Ok.“
…darunter nichts an. Sie trägt schwarze Stiefel, hoch geschnürt, und hat ein Bein über das andere geschlagen. Meine Augen können kaum von ihr ablassen; ich spüre die Dichte ihrer Gegenwart bis hierher: ich neige dazu, mich sofort und in einem Augenblick für die Ewigkeit zu verlieben. Früher wie heute.
Anders als sonst warte ich am Tresen ab, bis die Biere bereit stehen, und nutze das Warten, um den jungen Mann genauer zu betrachten; nur um sicher zu sein. Er kommt mir noch immer vertraut vor. In meinem zersplitterten Spiegel sehe ich manchmal Teile von ihm.
Mager, volles Haar, ungepflegter Bart. Brille über blaugrauen Augen; Augen unter strengen Brauen. Insgesamt sonnengebräunte Haut. Auch er trägt Lederstiefel trotz Sommers; Jeanshose, verblichen; dünne Lederweste, abgenutzt; Jeanshemd, verwaschen, hochgekrempelte Ärmel.
„Bier oder Alt?“ lade ich mich mit einer fragenden Geste, die gleichzeitig um die Erlaubnis bittet, sich setzen zu dürfen, an seinen Tisch ein und entscheide mich zunächst scheinbar gegen sie. Lauerjäger.
Als hätte er das schon kommen sehen, schaut er zu mir auf und deutet mit einer flüchtigen Bewegung auf den Stuhl neben sich. Ich setze mich so, dass ich nicht nur ihn, sondern auch sie im Auge behalte. Als ich sitze, greift er nach dem Bier und lässt mir das Alt. Ich bin versucht ‚ok‘ zu sagen, kann es aber unterdrücken. Sie sitzt uns so nah, dass sie jedes Wort, das zwischen uns fallen wird, hören muss. Ich werde alles daran setzen, dass sie bleibt, dass sie lauscht, dass sie vorsichtig herüber lugt, vielleicht. Dass es sie interessiert, was wir miteinander sprechen. Wir, die wir heute noch keinen ganzen Satz gewechselt haben.
„Dir gefällt das Bild dort?“ spreche ich ihn wie einen alten Bekannten an.
Er nickt, prostet mir zu und nippt an seinem Glas. Seine Augen lächeln, ein klein wenig lauernd.
„Weißt du, was dargestellt ist?“
„Weißt du es?“
„Es ist ein Ausschnitt aus Manoel Santiagos ‚Curupira‘ und zeigt Iara, die unvergleichliche Schönheit Amazoniens. Ihr Schicksal ist es, dem blauen Jaguar zu begegnen, und ihr Geliebter versucht, ihr Schicksal zu ändern.“
„Respekt.“
„Aber woher weißt du das?“
„Nun, wir wissen es beide seit unserer Kindheit, nicht wahr? Scheinbar war es stets unser gemeinsames Ziel, an den Vater der Ströme zu gelangen, oder nicht?“
„Hm.“
Jetzt nippen wir beide an unseren Gläsern und unsere Augen vertiefen sich ineinander, wie das nicht üblich ist zwischen Fremden…
Die schwarze Schöne zieht den Rauch ein, ohne die Lider zu schließen, ohne von ihrer Zeitschrift aufzublicken. Sie lauscht. Sie beißt an, vermute ich.
„Erzählst du uns von deiner Reise nach Amazonien?“ frage ich ihn, ohne seinen Blick loszulassen.
„Ich kenne weder dich wirklich, noch jene schwarze Schöne. Obwohl zumindest du mir, wie bereits gesagt, bekannt vorkommst… Und sie vorher zu kennen auf der großen Waage nicht wirklich den Ausschlag gäbe, so recht käme sie mir auch unbekannt…“
Jetzt muss ich aber doch lachen. „Na, dann schau ruhig noch etwas genauer hin, zumindest, was mich angeht. Sicher, um mich kennen zu lernen, bräuchtest du sehr viel mehr Zeit, als du benötigtest, mir die kurze Episode deines Lebens in Erinnerung zu rufen, die dich zum Vater der Ströme brachte und wieder hierher zurück. Du würdest aber sehen, dass ich mir sehr viel Zeit für dich nehmen würde. Bis du glaubtest, mich ganz zu kennen, ja ich zu sein! Doch gerade dann würdest du überrascht sein, dich durch die Begegnung mit dir selbst besser kennen lernen zu wollen. Was für ein Dilemma!
Hinzu käme die fatale Beobachtung, an deiner Vergangenheit nichts mehr ändern zu können. Tausend Höllenfeuer und dieses eine. Aber wenn du nicht selbst erzählen willst oder kannst, dann verschwinde eben und überlass die Lady mir.“
„Kann man hier nich´ ma´ in Ruhe ´ne Zeitung lesen, ej? Verteilst du meine Haut, bevor ich auch nur gefragt bin?“ Sie lehnt sich zu mir herüber und blickt mich weniger genervt als herausfordernd an.
„Sachte, sachte, Lady, warte, was ich dir zu berichten habe…“ antworte ich ihr fast ein wenig überstürzt, weil mein junger Freund in mir sie in diesem Moment in sich aufnimmt; ihren Geruch nach Leder, nach warmer Haut unter dem Leder, nach der Frau, die sie ist. Ich selbst habe natürlich auch Witterung aufgenommen und betrachte das aber aber wegen meiner äußeren Erscheinung äußerst kritisch und reagiere viel zögerlicher. Erst nach ewigen Sekunden zuckt der junge Freund mit den Schultern, prostet ihr zu und leert sein Glas in einem Zug.
„Bevor ich hier beginne, Geschichten zu erzählen, muss ich so alt werden wie du!“ Und raunt schon im Aufstehen in mein Ohr: „Sie gehört dir.“
Er lässt die Karten liegen, verschwindet im hinteren Teil der Bassgeige und verlässt sie hoffentlich durch den Hinterausgang.
‚Wäre doch gelacht, wenn ich das hier nicht auch alleine schaffe,‘ grinse ich in mich hinein.
Eiligst setze ich mich auf seinen Platz neben die Lederne.
„Willst du was trinken?“
Die schwarze Lady scheint überrumpelt oder strategisch versiert. Sie wendet sich wieder ihrer Zeitschrift zu, steckt sich eine neue Zigarette an, gibt eine Art ‚Phh‘ von sich und sagt laut:
„Champagner.“
Ich schaue ebenso laut in Richtung Theke.
„Ok!“
Der Wirt hat natürlich ebenfalls mitgehört, nickt und zapft ein Pils. Als er es bringt und auf unseren Tisch stellt, schiebt die schwarze Lady ihren Stuhl mit der Rückenlehne nach vorn neben mich, setzt sich breitbeinig darauf und grunzt:
„Schöner Champagner mit Schaum. Du bist ein Aufschneider wie alle Kerle. Ihr winkt mit eurer Kohle oder sonstwas und serviert einem Pils als Champagner. Warum sollte deine Geschichte nicht ebenso erstunken und erlogen sein, nur um mich rumzukriegen? Glaubst du, ich erkenne nicht deine Absicht? Wie kannst du glauben, das werde einfacher, jetzt, da du das junge Gesicht gegen das alte ausgetauscht hast! Warum sollte ich meine Zeit mit dir verschwenden?“
„Sei getrost, Lady. Nichts wird erstunken und erlogen sein, höchstens unvollständig erinnert oder ein wenig übertrieben. Vor nichts habe ich mehr Angst, als dich zu langweilen. Du hast recht: ich erhoffe mir eine Zeitlang die Aufmerksamkeit einer Schönheit, deren Erscheinung so abschreckend sein will, dass ihr eine Zartheit inne wohnen muss, wie sie allenfalls die köstliche Frucht der Biribá hat.“
„Zartes Inneres der Biri-was?“
„Du wirst davon hören, schöne Schwarze, wenn du magst, und sehen, wenn du kannst. Und fühlen, wenn du zulässt, dass ich dir das eine oder andere der Geschichte hernach unter Beweis zu stellen versuche.“
Sie schüttelt statt einer Antwort nur den Kopf. Wir schweigen eine Weile und schauen uns an.
‚Sie wartet auf die Rückkehr des jungen Mannes‘, denke ich.
Sie blickt über ihre Schulter. Vergeblich. Ich blicke zur ihr hinüber, bleibe an ihrem schönen Hals hängen.
‚Läge die Geschichte doch nur schon wieder hinter mir und sie vor mir‘, denke ich.
Ihr Augenaufschlag in meine Richtung lässt mich erröten: hat sie meine Gedanken gehört?
Die Lady pfeift durch die Zähne zum Wirt hinüber und macht eine kreisende Bewegung mit ihrer rechten Hand über dem Tisch. Dabei klimpern zahllose Armreifen gegeneinander, die ich vorher noch gar nicht bemerkt hatte.
„Ok!“
Er bringt zwei Pils.
Ich setze vorsichtig nach. Versuche zu locken, ohne die Zähne zu fletschen, mit Kreide in der Stimme, sozusagen.
„Alles, was dieser junge Mann zu berichten gehabt hätte, kenne ich durch unsere gemeinsame Geschichte. Sie ist in mir so lebendig, dass ich es wagen würde, sie so zu erzählen, als geschähe sie ihm. Was ist nun, Schöne, Schwarze?“
‚Vielleicht wirst du, geblendet von meinen Worten, den Alten begnadigen und ihn so wie es dem Jungen zukommt behandeln oder zumindest mithelfen, den Jungen in dem Alten wiederzuentdecken?‘ sage ich nicht. Die Jagd ist allemal aufregender als die köstlichste Beute, tausend zarte Früchte und diese eine saftige Biribá. Rede ich mir ein.
Der Zweifel in ihrem Gesicht lässt Augenbrauen und Mundwinkel so sehr aufeinander zustreben, dass ich fürchte, sie könne Schmerzen empfinden. Als sie sich wieder entspannt, atme ich auf, stoße mit ihr an und befolge ihre Entscheidung, die sie mir durch ein Rucken ihres Kinns in meine Richtung mitteilt.
Ich konzentriere mich mit einem Augen-Blick auf Biribá und beginne dann mit meiner Geschichte:
„Nur drei Jahre war ich fort von hier und doch kommt es mir vor wie die Dauer eines ganzen Lebens. Ein Leben, vor dem nichts existiert hat, so überwältigend und mächtig überdecken die mannigfaltigen Erinnerungen an jenes Land alles Vorangegangene.
Es ist die Geschichte einer Reise ins Interior – ins Innere des Landes Brasilien, aber auch meiner selbst, eines Narren. Die Begegnung mit Leben und Kultur dieses vielfältigen Universums, vor allem aber mit seinen unfassbaren Menschen, hat jenen jungen Mann grundlegend verändert und damit mich. Trotz allem Schönen, das ich dir in diesem Zusammenhang zu berichten habe, darf ich nicht vermissen, es auch immer wieder mit der Schilderung von Schmerz, Leid und Elend zu verbinden. Tatsächlich beendeten sowohl positive als auch negative Eindrücke mein altes Dasein und ließen ein neues entstehen.“
Ich bin so nah an die schöne Schwarze heran gerückt, dass ich im Grün ihrer Augen meine Geschichte entstehen sehe. Ich spüre die schwüle Luft in der Kabine des Flugzeuges, erlebe erneut die Enge der Menschen, die an mich gepresst, in ihre Sitze geduckt sind oder stumm, schicksalsergeben aus den Fenstern starren. Höre das ängstliche Klagen der Kinder, beschwichtigende Worte der Eltern, Dröhnen der Motoren und Vibrieren der Maschinen. Alles in der Erinnerung an den Landeanflug auf Caracas erfüllt mich, und ich spreche in ihr Ohr, als könne sie mich bei dem Motorenlärm sonst nicht hören.
„Wir drohten abgeschossen zu werden, weißt du, von Rebellen, die den Flughafen umstellt hatten.“
Aber als sie nur spöttisch die Augenbraue hebt und mir den Rauch ins Gesicht bläst, erkenne ich, dass dies nicht ihr Beginn der Geschichte sein kann.
„Biribá?“ Ich sehe sie fragend an. „Ich werde dich Biribá nennen, Schönheit. Mich drängt es, dir einen vollständigen Bericht meines Aufenthaltes in jenem Land zu geben. Aber willst du auch persönlichste Geschehnisse und Gedanken hören?“
„Natürlich nicht! Wie käme ich dazu? Ich weiß nicht, wofür du mich hältst: warum sollte ich etwas hören wollen, was nur dich angeht, Chef?“
Biribá blickt nun ihrerseits zu mir herüber und bemerkt, dass sie mich wohl missverstanden hat.
„Oder brauchst du einen seelischen Beistand?“ Sie grinst und zieht eine Augenbraue weit nach oben. „Sei getrost, ich sichere dir Verschwiegenheit zu, wenn du mir etwas erzählen willst, weil es dir weiterhelfen kann, dich besser zu verstehen. Ich liebe es, mir die Probleme alter Männer anzuhören...!“ Ihr Grinsen wird noch breiter und sie reckt sich plötzlich, streckt die Arme angewinkelt nach hinten und droht fast vom Stuhl zu fallen. Gibt den Blick auf sich in einer Weise frei, dass ich schlucken muss.
Ich rufe meine Blicke zur Ordnung und nicke, ohne auf ihre Äußerung einzugehen, fasse mir ein Herz und fahre fort: „Es ist natürlich auch eine Frage meines Selbstverständnisses… Aber damit eng verbunden treibt mich ein generelles Nachdenken über die Liebe und das Schicksal um, verstehst du?“
„Die Liebe? Und das Schicksal? Davon solltest du mehr verstehen als ich, bin ich doch nur halb so alt wie du! Und ich bin, wie du siehst, allein.“
„Du scheinst mir allerdings eine Frau, die durchaus schon geliebt hat; soweit traue ich meinen Augen“, lächele ich sie an. „Die Erinnerung daran wird in dir noch unversehrt sein und zutage kommen, wenn es nötig ist. Da bin ich sicher. Ich wage es also. Höre weiter und versprich, mir immer deine ehrliche Meinung zum Erzählten zu sagen. So wollen wir uns gemeinsam heranpirschen an die Beantwortung der Frage, ob man überhaupt liebt, wenn man nicht bereit ist zu bleiben.“
Biribá knurrt nur etwas unschlüssig und blickt hinüber zu dem Bild an der Wand. Die Sache mit mir altem Zausel wird ihr möglicherweise etwas zu unüberschaubar, unkalkulierbar, vielleicht auch zu persönlich? Aber da ich ja tatsächlich gut doppelt so alt bin wie sie, und ihre Zähne vermutlich besser sind als meine, beschließt sie, es mal darauf ankommen zu lassen.
„Branquinho. Sie hat mich gleich Branquinho genannt..., “ starte ich den Bericht ein zweites Mal. „...und da ich diesen Namen als Kosenamen interpretierte, verfiel ich Regina auf der Stelle. Wenn ich von jenem Branquinho aber wie von einem Bekannten und nicht wie von mir selbst spreche, so, weil das, was er erlebt hat, mir trotz aller Gegenwärtigkeit und Nähe heute bereits so fern erscheint...“
Biribá ist allerdings noch immer nicht überzeugt, schüttelt erneut den Kopf und sagt, aller guten Dinge seien drei, weshalb ich nach einem dritten Anfang für meine Geschichte suche.
„Alles begann, wie ich es mir erträumt hatte. Ich flog pünktlich von Frankfurt nach Miami, wo mich eine Freundin, die zu jener Zeit in Gainesville studierte, am Flughafen empfing. In dem Labor eines Pilzspezialisten sollte ich einen Crashkurs in der Taxonomie einer kleinen, aber wichtigen Pilzgruppe bekommen, die ich in Amazonien suchen und studieren wollte.
Meine Freundin erfüllte mir gleich an meinem ersten Tag meinen ‚American Dream‘: mit Sonnenbrille und Schirmmütze, mit Riesenschlitten und Supersound auf endlosem Highway geradeaus in die Sümpfe Floridas zu gleiten.
‚Tragen Sie bitte einen Namen ein, der Ihnen angenehm erscheint‘, sagte die Frau an der Rezeption des Motels ‚Minnies´s‘, als ich, über das unübersichtliche Anmeldeformular gebeugt, zögerte. Sie grinste, zwinkerte mir zu, und ihre fettigen Locken umrahmten ihr reichlich faltiges Gesicht wenig engelsgleich. Sie kannte meinesgleichen offenbar ganz genau. Und meine Freundin natürlich auch. Wozu kamen die ins Motel?
Ihre Art, matronenhaft, die Unterarme verschränkt und ihren enormen Vorbau nutzend auf dem Tresen zu liegen, erinnerte mich an jemanden. 44 im Voraus, Apartment 33, gleich hinten links; bis dann, Süßer.
Unsere Luxus-Limousine rollte nach hinten links und blieb vor einem großen Fenster stehen, in dem man zwei Doppelbetten betrachten konnte: ich kannte die Mutter aus Amsterdam; und wenn dort die Gardinen zugezogen wurden, wurde schwer geschafft. Wir zogen sie trotzdem zu.
Die Dusche tat gut und kühlte die zahllosen Beulen, die ein Tag in den Überschwemmungsgebieten auf unserer Haut hinterlassen hatte. Aus Moor und Morast stiegen gegen Abend dichte Wolken von Mücken auf, tanzten, schwärmten in die untergehende Sonne und stürzten sich endlich im Dämmerlicht gierig auf alles, was warm war und Blut hatte.
Umso großartiger offenbarte sich die Landschaft am Tage demjenigen, der mit ruhigem Paddelschlag in Mangrovengewirr, Grasssumpf oder Pinienwälder eindrang, die Teiche und Seen querte oder mit zahlreichen tropischen Gehölzen und Blütenpflanzen bestandene Inseln aufsuchte und sich der aufmerksamen Beobachtung der vielfältigen Lebewelt hingab: Alligatoren, kaum sichtbar im Wasser treibend, rosarote Löffler, die am Ufer den seichten Schlamm durchseiten, Adler und Geier am Himmel, Reiher überall.
Nach der Dusche ein mieses, aber kaltes Bier.
Draußen die Temperaturen waren angenehm warm: 30 Grad tagsüber, 22 in der Nacht, hier am Strand von Miami Beach. Kilometerlang weißer Sand vor der Silhouette der Skyline der Millionenstadt. Der Strand fast für uns allein, keine Ahnung, warum. Brandung und Palmen; Blues aus dem Radio eines vorbeiziehenden Einsamen. Wahrscheinlich träumten wir.
Am nächsten Tag würden wir den Highway Richtung Süd nach Key West fahren, um zu überprüfen, ob Hemingway bei Beschreibung seines Hauses bei der Wahrheit blieb. Er blieb.
Auf den Keys Beobachtungen von merkwürdigem Treiben: ausgehöhlte Kürbisse unterm Arm, Mund und Nase eingeschnitten, zogen spärlich bekleidete Rothaarige durch die mit verschiedensten Buden und Schauständen angefüllten Straßen, wurden ‚Hexen‘ genannt, verhielten sich wahrhaftig unzüchtig und trafen im Menschengewimmel bisweilen auf männliche Pendants, die lüsternen ‚Bores‘.
Beide waren nur eine der Sonderbarkeiten: dickbäuchige Teufel mit roten Gesichtern soffen Bier aus Dosen, Katzen ließen unterm Fell sehr viel mehr vermuten, Schmetterlinge tippten Beträge in Kassen ein und im Polizeiwagen saß ein Sheriff. Wollt ihr euch einen Delfin adoptieren? Oder euer Haus abtransportieren? Oder wollt ihr lieber der Frage nachgehen, warum alle Amerikaner bei Straßenbauarbeiten schwarz werden? Wollt ihr endlich glauben, dass hier nichts unmöglich ist, wenn ich folgendes Erstaunliche berichte: man kann in ein Meterbrot einen Knoten machen, ohne dass daran auch nur ein Riss entsteht oder auch nur ein Krümel fällt!
Wie anders war doch so ein Amerikanerleben: der Amerikaner dreht, wo wir drücken; er dreht nach links, wo wir nach rechts drehen; er klappt, wo wir knipsen; wo wir schlafen, sieht er fern; wo wir spülen, lauert hier Charybdis.
Zum Frühstück gibt es Yummy Dummies, Crispies, Crushies, Muffins oder Donuts. Danach Staus an den Kreuzungen. Die Zeit dafür spart der Amerikaner jedoch tagsüber und abends ein. ‚Wenn Sie in unserem Restaurant nach zehn Minuten nicht bedient werden, nehmen Sie eine Gratisflasche Wein mit heim; wenn Sie nach zwanzig Minuten nicht Ihr Essen haben, zahlt das Haus! Respekt! In 35 Minuten kann man hier durchziehen, was bei uns drei Stunden dauert...
Wir besuchten ein Museum in St. Petersburg, Florida. Nirgendwo sonst sind so viele Werke desjenigen Malers angesammelt, der Vorlesungen im Tauchanzug hielt, Fliegen-übersäte Anzüge trug, sich selbst im Alter von zehn Jahren darstellte, als er noch ein Heuschreckenkind war, die Zucker-Sphinx malte, die Entwöhnung von der Möbelernährung und – besonders eindrucksvoll für mich – den halluzinogenen Torero.
In unserem Motel waren alle Fernseher an. Es fiel schwer, sich bei 39 Programmen auf eines zu einigen. Wir entschlossen uns für das vierzigste. Das Spannendste. Als das Licht ausging, setzte ich sogar meine Sonnenbrille ab, und ließ erneut alles Gesehene an mir vorbeiziehen.
Wie unterschiedlich sich die Kultur der Menschen hier darbot und wie verschieden die Sichtweisen von unseren waren, die wir für die richtigen halten! Wie anders würde sich die Welt erst dort unten zeigen, jenseits des Äquators? Erstmals wurde mir der umfassende Begriff der Kultur bewusst. Wie würde die andere Welt auf mich wirken? Und ich auf sie?
Ich beschloss, mich einfach wie zuhause zu verhalten und alles in Ruhe auf mich zukommen zu lassen. Zufrieden sank ich in den Schlaf und träumte von all dem, was mich auf meiner Fahrt erwarten sollte.“
*
Biribá verzieht das Gesicht, hebt zweifelnd die Augenbrauen, stülpt die Lippen vor und zieht die Oberlippe so hoch, dass sie ihren Nasenring einzwängt.
„Hm“, brummt sie und bläst Rauch aus der Nase.
„Ok, ok“, beschwichtige ich die Ungeduldige.
*
„Drei Wochen später flog ich also von Miami über Kuba nach Caracas, um dort einen Verbindungsflug nach Brasilien zu bekommen. Doch im Anflug auf Venezuela meldete sich der Kapitän und verlautbarte, dass es eventuell Komplikationen gäbe. Nichts Ernstes. Aber wir könnten leider nicht ausweichen. Flöge eben mit Sprit, so ein Vogel. Er lachte herzhaft. Also: nur zur Vorsicht solle man sich anschnallen und den Kopf auf die Knie legen, die Hände hinter dem Kopf verschränken. Reine Routinemaßnahme bei Notlandungen.
Ein Höllenlärm brach los: Notlandung?
Minutenlang kein Ton von vorn. Alles schnatterte durcheinander, beschimpfte den Piloten, die Airline und den verdammten Tag, an dem man das Ticket gekauft hatte. Das sei doch ein Komplott der USA. Mit uns könnten die es ja machen.
‚Hej, Leute, Entwarnung!‘ Der Kapitän wirkte erleichtert. ‚Das Militär hat die Rebellen zurückgedrängt und die Hälfte der Panzerfäuste ausgeschaltet.‘ Alles werde gut. Man werde schon sehen. ‚Also dann, Leute. Lassen wir es angehen.‘
Spürbar senkte sich die Nase des Flugzeugs hinein in den Sinkflug, der steiler als gewöhnlich verlief. ‚Dafür kürzer, Leute.‘
Kaum waren wir auf dem Flughafen in Caracas gelandet und stiegen aus dem Flugzeug auf das Rollfeld, peitschten Schüsse über unsere Köpfe Richtung Hangar. Doch die Militärpolizei war längst zur Stelle und erwiderte das Feuer. Aufgeregt gestikulierende Arme, blinkende Stahlhelme und schwarze Waffen trieben uns in das Flughafengebäude. Wir mussten uns hinlegen auf den kalten Granit und spürten, wie die Wärme aus unseren Körpern entwich. Die Klimaanlage und die kalten Steine empfanden wir als unsere wahren Feinde. Die Schüsse gingen uns nichts an, das wussten wir. Schüsse waren nicht selten in jener Zeit in Venezuela; wir erlebten die letzten Monate der Hungerrevolten, die heftig niedergeschlagen wurden. Ich hatte Glück und fand eine ‚Zeit‘, eine Zeitung mit großen Seiten aus schwerem Papier. Die wärmte.
Als zwei Stunden lang keine Schüsse mehr gefallen waren, durften wir uns setzen und uns unterhalten. Ich sprach nicht. Aus meiner heilen Welt kommend war ich stumm geworden und überrascht, dass das Leben ein paar Stunden weit entfernt Hungerrevolten bereit hielt und Zeitungen zum Zudecken.
Ich schaute in die Augen meiner Mitreisenden. Die anfängliche Angst war Ärger gewichen. Sie waren aufgeregt. Ihr Zeitplan war durcheinander gekommen und sie schimpften Venezuela einen Bananenstaat, der nicht einmal ihre Flüge hatte pünktlich abwickeln können. Und das Gepäck sei sicher auch weg, Vagabundos. Einige hatten Gitarren dabei und spielten darauf für uns.
Irgendwann kamen Soldaten und drängten uns durch einen Ausgang zu unserem Flugzeug, das aufgetankt worden war. Panzer waren aufgefahren und hatten Stellung in Richtung Rollbahnende bezogen. Eine nur scheinbare Sicherheit, wenn man sich mit dem Soldatenhandwerk etwas auskennt.
Schon war das Flugzeug auf der Rollbahn, hob ab und ließ alles hinter sich. Auch unser Gepäck. In der Luft erfuhren wir das Ziel: Rio de Janeiro. Das machte fast jeden von uns glücklich.“
*
„Weißt du, Schönheit, mich hatte die Schießerei nicht sonderlich beunruhigt. Es war etwas anderes, was ich in Folge dieser Ereignisse zunächst kaum an mir zulassen wollte: je mehr Unvorhergesehenes geschah, umso stärker bemächtigte sich meiner eine Euphorie, eine Aufgeregtheit, eine Spannung, eine Glut in Erwartung dessen, was noch kommen würde. Voyeurismus. Abenteuerlust. Neugier. Ich empfand, dass alles schon die Erwartungen übertreffend begonnen hatte.“
„Mann, kann es sein, dass du dich hier aufblasen willst? Willst du dich interessanter machen als du bist, weil dein Äußeres dir nicht mehr dient?“ fragt mich die schwarze Schöne.
Doch ich lasse mich nicht mehr irritieren.
*
„Rio. Der Landeanflug auf Rio misslang. Wir durchbrachen eine Wolkenschicht, schwer und schwarz. Wir durchbrachen eine zweite Wolkenschicht, schwerer und schwärzer. In ihr zuckten Blitze und es rüttelte uns ordentlich durch. Als wir die dritte durchstießen, gerieten wir in undurchdringlichen Nebel. Aus den Bullaugen des Flugzeugs war nichts von Rio zu erkennen. Wohl auch nicht für den Piloten: die Landebahn, so teilte er mit, würde in Rio bis ans Wasser reichen. Eine kleine Fehleinschätzung und wir würden nach Rio schwimmen müssen. Er hoffe auf unser Verständnis, so fuhr er fort, dass wir vorsichtshalber nach São Paulo weiterflögen. Wir hatten Verständnis, aber rochen inzwischen erheblich und wollten nur noch duschen und danach ausgestreckt schlafen.
Auf diese Weise fand ich den Weg nach São Paulo. Ich beschloss, meine Reise neu zu planen und nicht direkt nach Manaus zu reisen, sondern von hier aus zunächst an die Universität in Viçosa weiterzufahren und mein Eintreffen in Manaus hinauszuschieben.
Was blieb anderes, als den Bus zu nehmen? Einen Bus für 700 km, für etwas mehr als 15 Stunden. Ich war in Brasilien angekommen. Aber ich stank.“
*
Die lederne Schönheit rümpft die Nase und murmelt so etwas wie „Glaube ich...“ Ich bestelle noch eine Runde und setze wieder an:
„Ich würde am liebsten in der Erzählung mit meiner Begegnung während der Busfahrt nach Nordosten fortfahren, Lady. Hier wurde ich schon am Beginn meiner Reise mit elementaren Fragen der brasilianischen Welt konfrontiert: ich begegnete einem wunderbaren Erdwesen, einer Prinzessin der Scheiben im Sinne der Schicksalskarten, von denen du noch hören wirst: so geduldig sie sich ihrem Schicksal hingab, so vernünftig und praktisch war sie in ihrem Handeln und Denken und zielgerichtet in ihrer Beharrlichkeit.“
„Erdwesen? Scheiben? Schicksalskarten? Was soll das denn sein?“ Die schöne Schwarze blickt mich sehr skeptisch an.
„Nun, du wirst in einer späteren Episode meines Berichtes sehen, dass die Begegnung mit einer gewissen Ma´Zoe durch die Art und Weise ihrer Welterklärung einen tiefen Eindruck in mir hinterließ. Sie vermittelte mir den Eindruck, das Leben verliefe auf festen Bahnen, die man auf verschiedenste Weisen nachvollziehen – aber auch in die Zukunft projizieren könnte. Sie glaubte, den Verlauf der umkehrlosen Reise jedes Menschen durch die Karten des Tarot beschreiben und analysieren zu können. Deshalb nannte sie sie Schicksalskarten. Hätten wir Menschen dann aber überhaupt einen Einfluss auf jedes Geschehen? Vielleicht nur einen scheinbaren, der die Zukunft an die Vorhersage anpasst und damit als richtig bestätigt?
In ihrer Philosophie konnte auch die Wesensart der Menschen aufgrund ihres Handelns und Denkens erkannt und den vier Elementen zugeordnet werden: Erde, Feuer, Luft und Wasser. Ma`Zoes Lehre fiel damals auf fruchtbaren Boden bei mir, weil ich mich schon früh in meinem Leben mit jenen Elementen beschäftigt hatte. So aber wie sich Regina verhielt, von der ich gleich erzählen werde, scheint sie mir zu den Erdwesen gehört zu haben…“
Ich frage mich, ob diese herbe Schönheit in der Lage sein würde, mir zu folgen, und schaue zu ihr hinüber. Sie ahnt, worin meine Befürchtung liegt und beruhigt mich.
„Keine Sorge, Chef. Dein Boot liegt ein wenig tief im Wasser, aber ich bleibe doch erst einmal darin. Wer weiß: vielleicht lerne ich ja noch dazu. Bemühe dich wenigstens, meine Zeit nicht zu verschwenden. Du weißt, ich habe hier alle Hände voll zu tun, um diese Zeitschriften zu studieren, so fragwürdig das auch aus deiner Sicht sein mag.“
Beide grinsen wir uns an.
Sie schaut jetzt etwas provokant zu mir herüber. „Also erzähl mir von jenem Land, tausende Kilometer im Westen und noch einem dazu“, flucht sie mit großer Zurückhaltung, „…und von anderen Erdwesen als Gürteltieren, die meines Wissens dort die einzigen Erdwesen von Bedeutung sind.“
*
„Ich stand in der Schlange auf dem Flughafen von São Paulo und ließ Brasilien langsam auf mich zukommen. Sehr langsam. Man war gegen vier Uhr nachts gelandet, draußen ging gegen sechs Uhr die Sonne auf und die Schlange hatte sich bis sieben Uhr durch die Zollkontrolle geschlängelt.
Ich blinzelte in die Menschenmenge vor dem Ausgang und erkannte rein gar niemanden. Wen hätte ich auch erwarten können?
Meine Regel Nummer eins: nach Verlassen des Sicherheitsbereiches schnurstracks ohne nach links und rechts zu schauen die gegenüberliegende Wand ansteuern; dabei ganz bestimmt und wichtig gucken und erst danach die Lage anpeilen. So machte man das. ‚Wer das nicht tut, ist Beute.‘
Da hatte es auch schon die junge Lady aus den USA erwischt, die ihre schicken Stöckelschuhe unfreiwillig stiftete und dort den jungen Rucksacktouristen aus Canada, der seinen Gürtel hergeben musste, auch wenn er schrie ‚Polizei, Polizei, in dem Gürtel ist meine ganze Barschaft‘. Gringos eben, Touristen, Nicht-Einheimische. Die Polizei kam eifrig angerannt, hielt die Hand auf und den Mund zu.
Ich hockte an der Wand und schaute. Da warf mir einer ein paar Cruzeiros zu. Ganz offensichtlich musste etwas für mein Äußeres tun oder meine Tarnung war perfekt.
Auch nach einer Stunde hockte ich noch immer an der Wand und dachte scharf nach. Dachte scharf nach, scharf nach. Verdammt, was fielen mir dauernd die Augen zu! Und pennte doch tatsächlich im Sitzen ein.
Eine Sekunde nur dauerte der Schlaf. Ich solle verschwinden, schrie mich einer der Polizisten an. Als ich mich hochmühte und fragte, so gut ich konnte, wie ich zum Busbahnhof gelangen könnte, war der Polizist erstaunt: ein Gringo, der so stinkt? Ob er ihm behilflich sein dürfe? Da hinten gäbe es ein Büro, von dem aus ich ein Telex nach Viçosa schicken könne. Mein Gepäck könnte mir dorthin nachgeschickt werden, wenn ich das wollte. Ja? Ach, das Geschenk wäre doch gar nicht nötig gewesen, aber so sei es eben: man müsse eine Menge Mäulchen stopfen in dieser Zeit. Also, mit dem Bus in Richtung ‚Rodoviaria‘, schönen Aufenthalt in Brasilien.
Häuserschluchten, Straßenlärm, gleißende Hitze und ein Wolkenbruch begrüßten ihn. Schwüle und noch mehr Schweiß. Endlich die Rodoviaria.
Der Omnibusbahnhof, an dem ich ankam, war ein Moloch. Seine Größe glich der so mancher europäischer Flughäfen. Ich zählte zehn Abfahrtplattformen pro Finger und musste deshalb notgedrungen bei 100 aufhören zu zählen. Wahrscheinlich hielten sich mehr als 30.000 Personen hier auf. Schätzte er zumindest.
Die Tickets für die Reise mussten vor der Abfahrt gekauft werden, ach so. Erst mal Geld tauschen, so schwarz wie möglich. Dollars waren begehrt bei 30 Prozent Inflation, wöchentlich. ‚Geld beruhigt ungemein, macht satt, stillt Durst, vertreibt Müdigkeit‘, dachte er. Ließ wieder Freude zu an diesem neuen Abenteuer, den richtigen Bus zu finden.
Zahllose Firmen hatten die Routen unter sich aufgeteilt oder lagen in Konkurrenz um die Strecken. Vor ihren Schaltern stauten sich hunderte Menschen; und doch kam offenbar jeder pünktlich zu seinem Bus. Nirgendwo Laute des Ärgers, überall Geduld und Ruhe. Der Fahrpreis erwies sich als erschwinglich.
Tausendfaches Stimmengewirr und Lautsprecheransagen als Geräuschkulisse. In kurzen Abständen brüllte die gesamte Anlage auf, schwarze Abgaswolken stiegen aus den Abfahrthallen nach oben und drangen nach außen. Auf das Zeichen des Uhrzeigers hin spie sie einen Riesen nach dem anderen in den Straßenverkehr hinaus und mich mit sich. Ich stellte mir vor, dass so 24 Stunden am Tag ununterbrochen die Motoren dröhnten, die Busse in einer nicht endenden Schlange kamen und gingen und sich so wie jetzt bis auf die Straßen zurückstauten. Nacht um Nacht, Tag um Tag, Jahr um Jahr.
Auch wenn die Hauptreisezeit für größere Entfernungen die kühlere Nacht war, auf den Straßen dann weniger Verkehr tobte und der Reisende früh morgens am Ziel ankam, entschied ich mich dennoch für einen Bus, der um drei Uhr nachmittags fuhr. Der würde mitten in der Nacht in Belo Horizonte ankommen, und dort müsste ich noch einmal umsteigen. ‚Was soll´s. Hauptsache Bewegung.‘ Die Abfertigung der Busse geschah zügig und reibungslos, weil ich kein Gepäck dabei hatte, und die Abfahrt war pünktlich. Der Bus war klimatisiert. So kalt, dass wie durch ein Wunder sein Gestank nachließ. Vielleicht.
Durch die Platzkarte loste mir das Schicksal einen Sitz am Gang im mittleren Teil des Busses zu. Auf der gegenüberliegenden Seite ließ es Regina Platz nehmen.“
vRollinia deliciosa
Auf der gegenüberliegenden Seite des Ganges also hatte es sich Regina gemütlich gemacht. So gut es eben ging. In solch einem Bus. Sie hatte ihr ärmelloses, gelbgrünes Kleid an mit großen, riesig großen, roten Hibiskusblüten darauf. Die Farben setzten einen so perfekten Kontrast zu der tiefen Bräune ihrer Haut, dass er ungläubig die Augen aufriss und unbeabsichtigt den Kopf schüttelte.
„Ist was?“ Regina war irritiert und schaute auf ihr Kleid. Ein Fleck? Ein Riss? Eine sonstige Katastrophe?
„Nein, nein, entschuldige.“ Er wurde so rot, wie seit zwanzig Jahren nicht mehr.
„Ich bin Regina. Du bist nicht von hier?“
Er nannte seinen Namen. „Kurt. Kurt Weiss.“ Sie kicherte, als er den Nachnamen übersetzte, und sagte: „Branco klingt gar nicht... süß. Es wird besser sein, wenn man dich Branquinho nennt; was hältst du davon?“
Branquinho war begeistert. Er traf die wahrscheinlich faszinierendste Frau des Universums und die gab ihm direkt seinen Spitznamen. Cool.
Ihr Gesicht war von solchem Ebenmaß, dass er nicht ablassen konnte, es zu betrachten. Die dunkle Tönung ihrer Haut und ihre schwarzen, kurzen Rastas gaben einen wunderbaren Rahmen für ihre schwarzen Augen und die tiefrot gefärbten Lippen. Ihre Zähne waren so gleichmäßig aufgereiht und leuchteten beim Lachen, dass er begann, sie anzustarren.
„He! Nun ist es aber gut!“
„Du bist ein Wunder.“
„Hm. Du bist ein komischer Kauz.“ Sie sah zu ihm herüber und betrachtete ihn, wie es schien, nachdenklich. „Also. Woher kommst du?“
Er stotterte die Worte zusammen, die er schon kannte, versuchte, sich an alle Ausdrücke zu erinnern, die er zuhause schon gelernt hatte, und radebrach in noch ungeübter Weise seine Geschichte zurecht. In seinem daheim absolvierten Sprachkurs war ihm das leichter gefallen. Würde aber hoffentlich bald flüssiger. Einen Vortrag über Pilze halten konnte er. Aber die Begriffe, um die es hier ging, die kannte er noch nicht. War also höchste Zeit, sie zu lernen...
„Du willst bis Viçosa fahren? Na, dann haben wir ja etwas Zeit, ein paar neue Wörter zu lernen.“
Sie überlegte, was sie als Gesprächsthema nehmen könnte. „Also hör zu: unser Busnetz ist das weitestreichende und weitestverzweigte der Welt. Man kommt gut von einem Zentrum des Südens bis hin in die des Nordens.“ Regina dozierte und Branquinho folgte den Bewegungen ihrer Lippen andächtig. „Jetzt wiederhole das bitte!“ Sie war sehr streng.
„Euer Busnetz ist so verzweigt wie die Bahnen deines Blutes. Die feinsten Adern reichen bis in die verborgensten und schönsten Stellen deiner Haut und verbinden- wie heißt der da?“ Er wies auf ihren großen Zeh, dessen Nagel sie so rot lackiert hatte, wie ihre Lippen es waren. Sie hatte ihre Sandaletten abgestreift und ihre Beine so weit nach oben gezogen, dass sie die Füße gegen die Rückseite des Vordersitzes drückte. Die Form ihrer Zehen und die Schlankheit ihres Fußes ließ ihn fast schwindelig werden.
„Zeh?“
„Verbindet diese wunderbaren Zehen, über die – wie? Waden? Bis zum - Knie? Mit den - Oberschenkeln?“ Er blickte sie inzwischen geradeheraus an und fragte frech: „Wie heißt diese Außenseite? Und gibt es auch einen Ausdruck für die Innenseite?“
„Geht´s noch?“ brüllte ein Fahrgast von hinten. „Wo sind wir denn hier?“
Doch Regina überschüttete ihn mit einer solchen Kaskade von Wörtern, dass Branquinho ihr nicht folgen konnte.
„Die gibt es. Aber weiter fragst du nichts.“
„Nein. Mehr sehe ich ja auch nicht…“
Jetzt schauten sie sich in die Augen und der Moment entstand, für den allein es sich schon zu leben lohnt: der Blick, der die Individualdistanz abbaut, dachte der Forscher. Man muss ihn aushalten, ohne mit der Wimper zu zucken. Doch in der entscheidenden Sekunde, wenn der Gegner zu ziehen bereit ist, wenn die Entscheidung da ist, muss der Mann die Augen niederschlagen und die Frau gewinnen lassen. Sonst bekommt er sie nicht. So ist das! Nur, wenn sie gewonnen hat, gibt sie auf. Weil es ihre Entscheidung ist.
*
„Was du nicht sagst! Wenn du dich da mal nicht täuscht!“ Biribá bläst mir Rauch ins Gesicht. Aber sie lächelt. „Alles ist unsere Entscheidung.“
„Was du nicht sagst! Ja, natürlich! Du hast recht...!“ Ich lächele möglichst geheimnisvoll zurück. Und tatsächlich schaut sie aus schmalen Augen bei erhobenem Näschen gewissermaßen sinnierend auf mich herab. Ein sehr skeptisches, aber über alle Erwartungen bereits hinaus reichendes Interesse, verdammt noch eins. Ist das mühsam im Alter.
*
Branquinho senkte also die Lider und schaute schon mal vorsichtig in ihren Ausschnitt. Mann, oh, Mann, war das Leben aufregend und schön.
‚Wie leicht überwindbar hier alle Schranken sind, die man hätte befürchten können‘, dachte Branquinho. Er war fasziniert von Reginas Offenheit und Geduld bei einem oft sehr zähen Gesprächsverlauf, der unterbrochen war von Pausen, in denen er Wörter aus dem Wörterbuch heraussuchen musste, wenn er auch mit Gebärden und Hindeuten nicht weiterkam.
Wenn er sie richtig verstand, kam Regina aus Juiz de Fora und hatte einige Tage in einer Zweigstelle ihrer Firma in São Paulo verbracht, um neue Computerprogramme zu erlernen. Sie war offenbar Sekretärin in einer großen Autofirma aus Deutschland. Deshalb freute sie sich besonders, auch mal einen Deutschen zu treffen, der keinen Schlips trug.
‚Super Pluspunkt‘, dachte Branquinho.
Und so jung sei.
Zweiter Pluspunkt.
Obwohl er etwas streng rieche.
‚Oje, Minuspunkt.‘
Und den Bart müsse man wohl auch kürzen. Oder abschneiden. Der stachele wahrscheinlich immer.
‚Ahaaa? Jokerpunkt?‘ Sie befürchte, der stachele sie? Wo und wobei? fragte der böse Wolf das Zicklein und bemühte sich, dass es auch gaaanz unschuldig klang. Kichern löste das mühsame Gespräch ab und der Sitz, der neben ihr frei geworden war, wurde durch ihn besetzt.
Das Necken und Scherzen, Beschnuppern - sagen wir lieber Betrachten - versetzte die Zeiger der Uhr so in Rotation, dass man es fast Knacken hörte, als seine Frage sie abrupt zum Stillstand brachte: ob sie vielleicht eine Bleibe für ihn in Juiz de Fora wüsste; er könne sich nicht mehr vorstellen, weitere fünf Stunden im Bus sitzen zu bleiben, sondern müsse dringend duschen und ausgestreckt schlafen.
Während die Zeit stillstand, die Herzen aufhörten zu schlagen, beide den Atem anhielten und auf Reginas Antwort warteten, spürte er dieses herrliche Gefühl, das ihm immer zeigte, dass das Schicksal etwas Spannendes für ihn vorbereitete. Das Kribbeln im Bauch, das er so liebte, das sein Herz jetzt auf Hochtouren beschleunigte und das die so oft kühle Kruste vollends aufbrechen ließ und die rote Glut sichtbar machte, wenn Neues nahte.
Ihre Haut war mittlerweile so schwarz wie ihre Rastas, sodass er in der bereits eingebrochenen Dunkelheit, die dann und wann durch einsame, vorbeiziehende Straßenlaternen unterbrochen wurde, nur das Weiße ihrer Zähne und ihrer Augen sehen konnte. Sie duftete nach Kokos und hielt seinem Blick stand.
„Es ist schon so spät, dass ich dir in Juiz nichts mehr zeigen kann, ohne Gefahr zu laufen, selbst nicht mehr nach Hause zu kommen...“ Sie zögerte und er sah das Ringen in ihrem Blick, diesem wunderbaren Blick der bei der Annäherung der Magnete zwischen der Ausrichtung der Pole entscheidet. „Würdest du eventuell mit einer sehr bescheidenen Unterkunft vorlieb nehmen, ohne...“
„Gern!“ unterbrach er sie, ein wenig zu aufgeregt, ein wenig zu hastig. „Gern, Königin“, fügte er, wieder selbstbeherrscht, hinzu. Er wollte inzwischen nur zu gern herausfinden, ob sie überall gleich schwarz war, was er nicht erwartete.
Er sah, wie sie sich, von ihrem eigenen Mut überrascht, die Lippen befeuchtete und lächelte: „Na, dann lass uns die Haltestelle klar machen.“
Der Bus näherte sich irgendwann der Großstadt Juiz de Fora im Bundesstaat Minas Gerais. Regina ging durch den Mittelgang nach vorn zum Busfahrer, einem korpulenten, schwitzenden Mann mittleren Alters mit kräftigen, behaarten Unterarmen, an deren Enden ebenso behaarte Pranken das Steuerrad fest umschlossen hielten. Sie beugte sich zu seinem rechten Ohr hinunter und sprach etwas hinein. Der Fahrer zuckte leicht zusammen, als hätte man ihn im Schlaf gestört. Eine seiner Pranken wies zu einem Schild über ihm, demzufolge man nicht mit dem Fahrer sprechen sollte. Regina ließ sich nicht beeindrucken, legte ihm ihre Hand auf die Schulter und wartete, bis er zu ihr aufblickte. Ein Lächeln breitete sich zu einem fetten Grinsen aus und sein ruckartig hochgerecktes Doppelkinn forderte sie auf, noch einmal zu wiederholen, was sie von ihm wollte. Erneut sprach sie direkt in sein Ohr und deutete in die Dunkelheit, beschrieb einen Anstieg der Straße und zuletzt eine Kurve. Der Fahrer nickte kurz und blickte wieder zu ihr empor, zweifellos lüstern. Mit einer unglaublich anmutigen Bewegung ihrer Hand näherten sich ihre Fingerspitzen seiner Nase und plätscherten von dort über seine dicken Lippen bis sie sich unter seiner Wamme drehten und sie kurz von unten kraulten.
„Pass du mal auf die Straße auf, du Sohn eines argentinischen Rindviehs!“, schrie in diesem Moment eine Frauenstimme aus dem Dunkel des Busses. Der Fahrer lachte laut heraus: „Verdammt noch mal: Frauen sind wie eben diese Straßen! Voller Kurven und so gefährlich!“
Regina hatte sich inzwischen wieder umgewandt und kam zu ihrem Platz zurück. Branquinho war begeistert, mit welcher inneren Gelassenheit und Ruhe diese wahre Königin mit erhobenem Haupt und einem siegesgewissen Lächeln auf dem Mittelgang schritt, links und rechts von ihrem Volk angehimmelt. Ihre Hände hielten sich eben dort, rechts und links, an den Griffen der Sitze in dem schaukelnden Bus fest. Wenn sich ihre Hand verirrte und aus absichtsvollem Versehen die Schulter eines Mitreisenden ergriff, erntete sie fast dankbares Verständnis. Sie war unglaublich wunderbar.
Regina schob Branquinho wieder ans Fenster und nahm neben ihm Platz. Er fühlte sich auserwählt und er spürte, dass sich ihr Kokosduft verändert hatte, noch anziehender geworden war.
„Wir steigen gleich aus“, teilte sie mit. „Der Fahrer ist so freundlich und lässt uns in meinem Vorort raus. Dann brauchen wir nicht extra aus dem Zentrum zurück zu fahren.“
Sie lächelte, dass ihre Zähne wie Perlen glänzten und sich mit dem Funkeln der Augen verbanden. Branquinho, eigentlich todmüde, spürte neue Kraft in sich aufsteigen. Auch ihm wurde mindestens warm und als er den Blick nicht von ihr ließ, heiß. Trotz des trüben Lichtes sah sie, dass er errötet war. Sie legte ihm ihre Hand auf sein Bein und sagte:
„Auf welcher Seite ist dein Gepäck eingeladen worden? Damit es schnell geht.“
„Ich habe kein Gepäck, wie ich vorhin erzählte; es ist nicht in São Paulo angekommen.“
„Kein Gepäck, ungewaschen, müde und weiß. Da habe ich ja einen Glücksgriff getan.“
Regina lachte und kniff ihn ins Bein. „Los jetzt; da vorne ist es.“
Sie nahm seine Hand, zog ihn hinter sich her bis zum Busfahrer und deutete diesem an, wo er halten könnte. Der fuhr rechts an den Fahrbahnrand und erntete misslaunige Rufe der Reisende: „Machst du das für uns auch, du Bastard?“ „Wir wollen auch nach Hause gebracht werden, Hurensohn“. Unbeeindruckt öffnete der Fahrer die Tür und rief hinter den beiden her: „Hey, Gringo! Sie ist scharf auf weißen Maniok und wird von deinem abbeißen!“ Die Misslaunigen fielen jetzt mit ihm in sein grölendes Gelächter ein.
Als die Tür sich hinter ihnen geschlossen hatte und der Bus dröhnend und eine dunkle Abgaswolke hinter sich lassend abgefahren war, fragte Branquinho:
„Das habe ich nicht verstanden, Regina. Was hat er gemeint?“
„Branquinho, dass wir mal zum Essen gehen sollten, damit du was auf die Rippen bekommst. Hat er doch recht?“ Sie lachte jetzt in sich hinein und blickte zu Boden, nahm wieder seine Hand und deutete eine spärlich beleuchtet Straße hinunter, die auf ein hell erleuchtetes Condomínio zulief, das in einiger Entfernung auf einer Hügelkuppe lag. Schon von hier aus sah man, dass diejenigen, die dort wohnten, zu den Vermögenden gehören mussten.
Branquinho war überrascht, blickte zu Regina und fragte: „Du wohnst dort?“
„Du würdest dort wohnen, Branco. Ich wohne in der Nähe.“ Er bemerkte, dass sich ihr Gesichtsausdruck mit Blick auf das Condominio einen Augenblick verhärtet hatte. Doch als sie ihn wieder ansah, waren ihre Augen wieder weich. Etwas unsicher fügte sie hinzu: „Ich hoffe, die Einfachheit meiner Wohnung wird dir nichts ausmachen…“
„Wie sollte sie das, wenn dort eine Königin wohnt?“
„Ich danke dir, Branquinho. Dann lass uns gehen.“
Die Straße führte direkt zu dem Condominio ‚Por do Sol‘. Por do Sol, Sonnenuntergang, versprach einen schönen Ausblick, doch Regina sagte:
„Sie umgeben sich mit hohen Zäunen und vergittern sich ihre Aussicht. Sieh nur: sogar im vierten Stock glauben sie, dass eingebrochen würde!“
„Von wem?“, wollte Branquinho wissen.
„Von uns“, sagte Regina mit einem traurigen Ton in der Stimme.
„Wir gehen jetzt dort am Zaun entlang und biegen nach links ab. Dort beginnt die Welt der Schwarzen und Weiße wagen sich nicht dorthin. Du...“, sie hob ihre schwarze Hand, in der seine weiße lag, „...musst dich jetzt entscheiden.“ Das meinte sie tatsächlich ernst, das spürte er.
„Regina, ich komme aus einem kleinen Dorf und habe eigentlich noch nie mit Menschen schwarzer Hautfarbe gesprochen. Vielleicht verstehe ich deshalb die Frage nicht: ich solle dich irgendwo hingehen lassen, wo es für mich unpassend wäre? Ich wäre nicht nur ein schlechter Freund, den du dir angelacht hast; mehr noch kann ich mir einen solchen Ort nicht vorstellen. Wenn du mich also immer noch in deine Welt mitnehmen willst, dann folge ich dir, wohin auch immer. Ich jedenfalls will bei dir bleiben, solange das Schicksal es vorsieht.“
„Das Schicksal? Oh, oh. Was für Reden du mit deinen wenigen Worten führst, die du überhaupt schon kennst! Also komm.“
Sie setzten sich wieder in Bewegung und folgten dem bald nicht mehr beleuchteten und nur noch ab und zu von einem Fahrrad befahrenen Weg.
„Das Schicksal, glaubst du, hat uns zusammengeführt? Bedenke, wir kennen uns erst fünf Stunden…“
„Trotzdem habe ich das Gefühl, wir würden uns schon ewig kennen, Regina. Du bist mir in allem vertraut, was ich von dir wahrnehme.“
„Ja, das geht mir ebenso. Seltsam.“
Sie blickte ihn von der Seite an und rief einem alten Herrn zu:
„Holla, Senhor Mario! Wie geht es Ihrer Frau?“
„Gut, gut, Regina. Und du? Spielst mit dem Feuer?“
„Ist nur ein alter Freund aus Europa, Senhor.“
„So alt sieht er noch gar nicht aus. Weiß dein Vater davon?“
„Wir besuchen ihn morgen. Heute ist es schon zu spät. Einen schönen Abend noch, Senhor.“ Sie beeilte sich, davon zu kommen.
Branquinho bekam den Verdacht, dass er nicht das Richtige tat, indem er Regina in ihre Welt folgte. Doch todmüde, erschöpft und hungrig lieferte er sich dem genannten Schicksal aus und trottete weiter neben ihr her.
Der Weg stieg steil an, verzweigte sich bisweilen ohne Plan und Absicht. Die Häuser machten den Eindruck von steinernen Rohbauten; einstöckig, zweistöckig und manchmal dreistöckig versuchten sie, den Anstieg der Straße nicht nur auszugleichen, sondern strebten ungestüm der Höhe entgegen. Die Häuser türmten sich übereinander, klebten aneinander oder drängten sich gegenseitig zur Seite. Anstatt über Treppen gelangten manche Bewohner offenbar über Leitern die Etagen von außen hinauf. Stromleitungen verkabelten die Häuser und verwirrten sich zu Kabelknäuel, die wie Nester irgendwo an Wänden hingen.
Branquinho spürte immer mehr Blicke schwarzer Augen auf sich und Regina gerichtet. Er fragte sich, ob er nicht verschwinden müsste, um Regina nicht in eine noch schwierigere Situation zu bringen.
„Vielleicht bringe ich dir Probleme und du bekommst meinetwegen Ärger?“ fragte Branquinho.
„Das ist mir egal. Ich will mir weder von meinem Vater noch von meiner Hautfarbe vorschreiben lassen, was ich zu tun und zu lassen habe“, rief sie trotzig. „Ich will auch nicht mehr darüber sprechen. Ich will, dass du heute hier bleibst.“
Er war froh, dass Regina endlich anhielt, einen Schlüssel aus ihrer Handtasche kramte und sagte: „Wir sind da. Komm bitte herein.“
Vermutlich lag das Haus am weitesten oben auf dem Hügel; Branquinho hatte trotz der kühlen Nachtluft angefangen zu schwitzen und war ziemlich außer Atem.
„Den Weg machst du morgens und abends, wenn du tagsüber arbeitest?“
„Na klar, hält die Beine schön.“ Ihr Lächeln elektrisierte ihn, einem Blitz gleich.
Sie knipste eine kleine Glühbirne an, die alles in ein warmes, heimeliges Licht tauchte. Während sie sich bückte und einige Dinge vom Boden aufsammelte, ins Bad verschwand und ihm zurief, sie sei gleich wieder da und er solle es sich schon mal gemütlich machen, entschloss er sich, das nicht zu tun, um nicht auf der Stelle einzuschlafen.
Die Wohnung bestand nur aus einem einzigen Raum. In der Nähe des Fensters stand ein Bett, das mit weißen Laken bezogen war. Darauf lag ein Kopfkissen; ein weiteres Bettlaken befand sich, säuberlich zusammengelegt, am Fußende des Bettes. Ein kleiner, roher Holztisch mit zwei Stühlen stand vor einer Wand, vor der sich so etwas wie eine Kochstelle befand. Wie sie die Gasflasche gefüllt hierher trug, konnte er sich im Augenblick nicht vorstellen. Das Fenster konnte mit einem Laden von außen geschlossen werden, war aber nicht verglast und auch nicht vergittert. Es gab einen kleinen Schrank, in dem sie wohl Wäsche oder Geschirr verwahrte. Der Fußboden war aus Holzplanken, die rau erschienen. Außer der Lampe gab es kein Elektrogerät.
Einen Moment lang versuchte Branquinho nachzuvollziehen, wie es wäre, hier ohne jeden Luxus zu leben, sogar ohne Kühlschrank… Er fragte sich, ob man sich nicht aus solchen Lebensumständen befreien könnte, wenn man nur wollte. Warum sie es wohl nicht tat? Oder ob sie es gar nicht bemerkte?
„Du stehst ja immer noch da! Willst du Wurzeln schlagen? Ich wohne einfach, nicht wie eine Königin. Ich habe dich gewarnt.“
„Kein Problem, Königin. Was soll ich tun? Ich höre und gehorche.“
„So? Ist das so? Also dann höre, mein Gast: du stinkst zum Himmel und das müssen wir ändern.“
Wieder sah er die Anmut in ihrer Handbewegung. „Dort ist das Bad. Aber schon hier ziehe bitte deine grauenhaften Stiefel aus. Wen willst du damit erschrecken? Weißt du nicht, dass die hier nur das verhasste Militär trägt?“
Er tat, wie ihm geheißen wurde, schnürte die Stiefel auf und zog sie das erste Mal aus, seit er Florida verlassen hatte. Sein Gestank war ihm peinlich und er bat Regina um Entschuldigung.
„In unseren Verhältnissen hat man für Vieles viel Verständnis; trotzdem wirst du heute geschrubbt, darauf kannst du dich verlassen.“
Sie war sehr entschlossen; sie nahm die Stiefel mit den Fingerspitzen, um sie nach draußen zu tragen. „Moment, Regina, mein Schatz…“
Verwundert sah sie, wie er aus den doppelten Sohlen sein kleines Vermögen zog. „Ich werde erst in einigen Monaten wieder etwas Geld bekommen“, sagte er erläuternd.
„Ein Schatz! Er hat einen Schatz!“ flüsterte sie und raunte ihm mit emporgezogenen Augenbrauen zu: „Die Wände haben hier Ohren, Schatz. Leg ihn unter die Matratze.“
Das Bad war winzig, eher eine Dusche mit Spiegel. Regina stand an den Türrahmen gelehnt und ermunterte ihn, der noch unschlüssig war, wie er sich verhalten sollte.
„Na? Fangen wir mit der Hose an?“ Sie hielt ihm ihre rechte Hand hin, um das Kleidungsstück entgegen zu nehmen.
„Du brauchst mir nicht zu helfen, Regina.“
„Die Hose!“ Ihr Blick war sehr, sehr streng.
Er öffnete Gürtel und Reißverschluss, ließ die Hose fallen und gab sie ihr zusammen mit den Strümpfen. Sie hielt sich die gerümpfte Nase zu, trug beides in die Küche, packte sie in einen großen Aluminiumtopf, füllte ihn mit Wasser und stellte das Gas an.
„Das Hemd!“
Brav händigte er ihr sein einziges Hemd aus.
„Du hast ja ein Unterhemd an! Gringo! Also: Unterhemd!“