Seeadlerschreie - Falko Feldmann - E-Book

Seeadlerschreie E-Book

Falko Feldmann

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Beschreibung

Kannst Du Dir das vorstellen: Silvie schaut in meine Augen, ich schaue in ihre, und wir halten das aus. Wir grinsen nicht, schauen nicht weg, sondern wissen plötzlich, dass wir das Gewitter und überhaupt alles gemeinsam erleben wollen. So richtig gemeinsam erleben. Weißt Du, was ich meine? Du kannst auf einen Baum klettern und die Spitze erreichen. Die Spitze schwankt und Du beißt Dir fast auf die Zunge vor Anspannung. Mit aller Kraft klammerst Du Dich fest und schaust umher: Du siehst zum Gebirge hin, Mann, bis zum Gebirge. Doch wer würde hören, wie Dein Herz klopft, wenn Silvie nicht da wäre? Sie klammert sich von der anderen Seite an den Baum und sieht ebenfalls zum Gebirge hinüber. Glücklich schauen wir uns an und verstehen uns. Dort oben im Baum. Hierunten am Wasser. Überall. Wir spüren den anderen selbst dann, wenn er nicht mehr da ist. Unser Herz findet ihn überall. Selbst am Ende der Welt: "Weil die Welt bei Silvie endet", überlege ich und verziehe das Gesicht grimmig. So soll es sein: wir finden sie und holen sie zurück, Pech und Schwefel.

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Seitenzahl: 244

Veröffentlichungsjahr: 2018

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Für Dich

Inhalt

Klopfen

Freunde

Donnerwetter

Onkel Benno

Honigbrötchen

Schweinerei

Goldstaub

Überflug

Entscheidungen

Veränderungen

Väter

Magie

Aufruhr

Frieden

Träumereien

Abschied

Leben

Sucher und Jäger

Verlust

Bandenrat

Punky und Viper

Morletta

Fasanenschreie

Seeadlerschreie

Klopfen

Dieser 19. Mai 1969 wird mir immer in Erinnerung bleiben. Da kannst Du ganz sicher sein.

Wir haben Deutsch bei Herrn Linke, und das ist nicht lustig. Herr Linke schaut aus kleinen Augen in einem fetten Gesicht. Seine Haare sind spärlich und kleben pomadig und nach hinten gekämmt auf seiner speckig glänzenden Kopfhaut. Er hat keinen Hals, sondern sein Kopf steckt in einem engen Hemdkragen, der vorne durch eine viel zu kurze Krawatte zusammen gehalten wird. Die Krawatte ist hellblau und sieht echt hässlich aus. Sie liegt auf seinem dikken Kugelbauch, der das Jackett auseinander drückt. Auf den Ärmeln hat er an den Ellenbogen Lederaufsätze, die den Stoff schonen sollen, aber selbst schon fast durchgescheuert sind. Aus den Ärmeln schauen die Manschetten eines schäbigen, weißlichen Hemdes hervor. Seine Hände glänzen, weil sie immer eingecremt sind. Er fettet sie im Unterricht mindestens zwei Mal ein. Die wurstigen Finger seiner rechten Hand sind fest um sein Lieblingswerkzeug geschlossen: ein Bambusrohr, mit dem er an der Tafel auf angemalte Wörter zeigt, drohend durch die Luft fuchtelt oder schmerzhaft straft.

„Ruhe!“ warnt seine niederträchtige Stimme in hohem Ton fast leise, aber bis in die letzte Reihe hörbar. Weil sie dabei so zischt, nennen wir ihn heimlich ‚die Natter‘.

„Ruhe, wenn ihr ihn nicht spüren wollt! Verstanden?“ Verstanden.

„Das große ‚L‘ schreibt ihr, indem ihr oben beginnt, ihr Nichtsnutze; erst nach der Schleife geht es abwärts zur Grundlinie. Und wehe dem, der sie unterschreitet.“

Wir lernen Sütterlin-Schrift, wissen nur nicht so recht wofür. Außer meiner Oma schreibt so keiner mehr. Herr Linke schreitet mit gerecktem Wabbelkinn durch den Mittelgang zwischen den Tischen nach hinten. Seine Schweinsäuglein beobachten jede unserer Bewegungen, die wir beim Schreiben machen.

Wir ducken uns über unser Heft, fassen den Füllfederhalter umso fester, je näher uns der Lehrer kommt. Er bleibt - wie so oft - vor mir stehen, ergreift eines meiner Ohrläppchen und dreht es nach oben. Das schmerzt sehr, sage ich Dir.

„Wie oft habe ich dir gesagt, sauber zu schreiben? Und was ist das dort? Schon wieder ein Tintenfleck! Du Taugenichts! Ich werde dich lehren, hier nicht meine Zeit zu verschwenden!“ Sein Freund, der Rohrstock, saust neben mir auf die Tischplatte. „Noch einmal, Freundchen, und du machst Bekanntschaft mit ihm!“

Ich nicke und schaue nach unten auf mein Heft, während die Jungen hinter mir hörbar gnickern und sich an meinem Schreck erfreuen. ‚Blöde Kerle‘, denke ich. Aber Bernhard links neben mir greift unter dem Tisch nach meiner Hand und macht ein grimmiges Gesicht. ‚Von dem lassen wir uns nicht unterkriegen‘, soll das heißen. Bernhard ist mein Freund.

Da klopft es.

Drei Mal kurz hintereinander.

Herr Linke schaut in die Luft und horcht mit leicht verdrehtem Kopf, ob er sich vielleicht getäuscht hat.

Es klopft erneut an die Tür des Klassenraumes. Aber deutlicher.

Herr Linke fährt herum und steuert auf die Tür zu. Als er an seinem Pult vorbeikommt, überlegt er es sich anders und lässt sich auf seinen Stuhl fallen, der unter seinem Gewicht stöhnt. Sein Blick lässt uns nicht los, während er scharf ruft: „Wer stört? Herein!“

Langsam öffnet sich die Tür. Alle Augen sind auf sie gerichtet und warten gespannt, wer eintreten wird.

Es tritt ein Mädchen ein. Ein Mädchen, wie wir noch keines gesehen haben, potztausend.

Ich schlucke, Bernhard schluckt, die Kerle hinter mir verstummen und schlucken vermutlich auch. Den Mädchen hinter ihren Tischen erstarren die Gesichtszüge, ihr Grinsen gefriert, ihre eifrigen Federn hören auf, über das Papier zu kratzen.

Das alles nehme ich wahr, während ich meine Brille die Nase hochschiebe, während ich nur auf dieses Mädchen schaue, das inzwischen die Tür hinter sich geschlossen hat und ruhig, fast artig wartet, vom Lehrer angesprochen zu werden.

Wenn sie auch nicht größer ist als wir, so erscheint sie mir doch hochgewachsen, so schlank ist sie. Sie hat ein knielanges, schulterfreies buntes Kleid an, auf dem gelbe und rote Blumen auf einer grünen Wiese wachsen. Ihre Haut ist nicht weiß, sondern so braun wie unsere nach einem langen Sommer. Ihre Haare sind dunkelbraun und schulterlang, die Augenbrauen schwarz und ihre Augen vermutlich ebenfalls braun. So gut sehe ich leider nicht, um das von hier hinten erkennen zu können. Ihre Lippen sind geschwungen und rot und ihre Nase schmal. Hol mich der Hakelmann, ich stehe nicht allein, wenn ich sage, dass sie das schönste Mädchen ist, das wir jemals gesehen haben.

Silvie.

Ich spüre, dass mein Mund offen steht, schließe ihn wieder und schlucke noch einmal.

„Aha, soso!“ züngelt es aus dem Mund der fetten Natter Richtung Silvie. „Da, wo du herkommst, ist Pünktlichkeit ein Fremdwort, was?“

„Ich…“ setzt Silvie an.

„Halt den Mund und setz dich auf deinen Allerwertesten.“ Mit einer herrischen Geste verweist er sie in den Klassenraum.

Silvies Blick sucht einen Platz. Silvies Blick findet keinen Platz. Silvies Blick wendet sich zum Lehrer zurück, doch der greift seinen Stock nur fester und quetscht ein „Mach schon!“ zwischen den Zähnen hervor.

Silvie geht zögernd auf den Mittelgang zu, hat ihre Schultasche mit beiden Händen umfasst und weiß nicht, wo sie sich setzen soll.

Also, ich bin weder ein Held, noch habe ich mich jemals getraut, ein Mädchen anzusprechen; ich schwör´s. Deshalb weiß ich auch nicht, was mich dazu bringt aufzuspringen, als sie sich meiner Reihe nähert. „Hier, nimm meinen Platz!“ flüstere ich ihr zu und biete ihr meinen Stuhl an. Sie sieht mich geradeheraus an. Mir wird siedend heiß und ich laufe puterrot an. Aber sie nickt nur kurz und setzt sich. ‚Mein Gott, was werden meine feinen Mitschüler über mich in der Pause herfallen, über mich, ihre stets errötende Brillenschlange‘, schießt es mir durch den Kopf.

Bernhard aber rückt ein Stück und ich setze mich zu ihm auf seinen Stuhl neben Silvie.

„Sieh mal an, Ehrenmänner.“ Die Natter kneift die Augen zusammen, grinst feist und befeuchtet seine dicken Lippen mit seiner urplötzlich hervorschnellenden Zunge.

„Das kleine ‚i’ ist nur ein Strich, den ihr von oben bis zur Grundlinie zieht, mit einem Haken nach rechts oben. Danach verziert ihr es mit einem Punkt“, fährt er fort, als wäre nichts geschehen. „Jetzt schreiben wir das ‚e’: es ähnelt einem lateinischen ‚n’! Das ‚b’ wird so wie im lateinischen Alphabet geschrieben. Und noch einmal das ‚e’. Na, was lest ihr da? Hahahaha!“ Er schlägt sich auf die Schenkel vor Vergnügen und die Krawatte hüpft auf seinem drallen Bauch auf und ab.

Silvie indes schweigt und blickt ihn still und unverwandt an. Sie scheint ihm aufmerksam zuzuhören und jedes Wort aufzunehmen, was er sagt. Ihr Gesicht zeigt keinen Ansatz eines Lächelns. Zu uns schaut sie nicht ein einziges Mal herüber.

In der Pause rotten sich alle Schüler auf dem Schulhof in ihren Grüppchen zusammen. Es ist heute so warm, dass die Fenster der Schule offen stehen. Auch alle Geräteschuppen, die den Schulhof umgeben, werden gelüftet.

Klar, dass sich die Gruppe um den starken Uwe Gedanken macht, wie sie Silvie begrüßen könnte. Zu dieser Gruppe gehören die Stärksten der Klasse und die, die sich zu ihnen zählen wollen. Das sind die, die nur geduldet werden, wenn sie irgendeinen Unsinn anstellen. Sie tun alles, um ein Lob von den Stärksten zu bekommen. Glaub nur nicht, dass Bernhard und ich zu denen gehören. Wir gehören zu keiner Gruppe so richtig. Wenn wir wollten, würde uns die Strebergruppe aufnehmen. Aber das wollen wir unsererseits auch nicht wirklich.

Silvie steht allein an die Hauswand der Schule gelehnt und schaut sich auf dem Schulhof um. Bernhard und ich überlegen, ob wir mal zu ihr hinüber gehen sollten. Aber vielleicht mag sie das nicht. Andererseits muss es blöd sein, wenn man niemanden kennt. Wir fragen uns, ob sie uns gerne näher kennen lernen würde. Wir sie auf jeden Fall.

Da will sich der schmale Klaus in der Stärksten-Gruppe hervortun. Er fängt mit einem Joghurtbecher offenbar eine von den großen, langbeinigen Spinnen, die in den Geräteschuppen leben, grinst breit, als er die Jungs in den Becher linsen lässt und mit einer Kopfbewegung auf Silvie seinen Plan verrät. Alle nicken ihm begeistert zu und beobachten ihn, wie er sich von der Seite an Silvie heranpirscht.

Gerade wollen wir Silvie warnen, als der schmale Klaus auch schon bei ihr angelangt ist und die Spinne aus dem Joghurt-Becher über Silvie ausschüttet. Die Spinne springt auf Silvies Schulter und krallt sich fest. Klaus rennt feixend weg. Nicht nur die Jungen, sondern auch alle Mädchen auf dem Schulhof haben den Anschlag mitbekommen und reißen schaulustig die Augen auf.

Silvie ist völlig ungerührt. Während sich alle mit angeekeltem Gesicht vorstellen, ihnen würde die Spinne auf der Haut sitzen, bewegt sich Silvie ebenso wenig wie die Spinne. Erst Sekunden später, als die langen Beine der Spinne beginnen, sich voran zu tasten und sie sich anschickt, Silvie den Arm hinunter zu laufen, führt das Mädchen seelenruhig die andere Hand, zu einer Höhle geformt, in den Laufweg der Spinne. Sie sieht ihr zu, wie sie das Versteck sofort annimmt und in der Hand verschwindet. Sanft schließt Silvie die Hand um die Spinne, führt sie an den Mund und spricht etwas in ihre Hand hinein. Sie schaut sich kurz um, findet eine Spalte in der Häuserwand und entlässt die Spinne in den sicheren Unterschlupf.

Silvie lehnt sich wieder an die Wand und schaut zu uns und den anderen auf dem Schulhof hinüber – ohne ein Lächeln, aber auch ohne Aufregung auf ihrem Gesicht.

Ich bewundere sie und nicke ihr langsam und mit ernstem Blick zu. Ich traue mich sogar, ihr dabei in die Augen zu schauen. Ein Anflug eines Lächelns umspielt ihre Mundwinkel und läuft ganz kurz zu ihren Augen hinauf, bevor sich die Züge wieder glätten. Für mich reicht es schon: ich stehe wieder so rot da wie ein Pavian mit seinem Hintern.

Die Jungs, die sich auf ein herzhaftes Geschrei und Gezeter des neuen Mädchens gefreut haben, sind sauer. Der starke Uwe knallt dem schmalen Klaus mit der flachen Hand auf den Hinterkopf und brüllt ihn an, er hätte das versaut. Der eifrige Sven ruft zu Silvie hinüber, das werde ein Nachspiel haben! So könne man mit ihnen nicht umgehen! Sie halte sich wohl für was Besseres?

Genau! Für was Besseres! Die Mädchen sind ebenso stinkig. „Die will anders sein als wir!“ rufen sie sich zu. „Wie kann man nur eine eklige Spinne anfassen!“ „Seht nur, hat ja selbst Spinnenbeine! Und schwarze Borsten über den Augen.“

„Wer weiß, wo die herkommt, so braun wie die ist?“ fragt einer der Streber, der graue Lukas, bei dessen Gruppe Bernhard und ich stehen. Gemeinsam blitzen wir ihn mit einem scharfen Blick an und schnauzen zu ihm hinüber, er solle sie in Ruhe lassen und den Mund halten. Das wiederum hat der starke Uwe gehört und bölkt betont laut: „Hört, hört! Die Brillenschlange verteidigt die Neue, diese Spinne!“

Und ich: klar doch. Rot. Ich sage Dir: Rot ist nicht meine persönliche Lieblingsfarbe.

Die Klingel rettet alle.

In der nächsten Stunde bei Frau Müller-Kahl hat Silvie einen Stuhl. Sie sitzt vorne in der ersten Reihe beim Neele. Das Neele heißt so, weil sie immer ‚Nee‘ sagt. Sie ist etwas langsam in allem, kann nicht klettern und trägt Zeitungen aus. Ist ja eigentlich nicht schlimm. Sie sagt immer ‚Nee‘. Und als Silvie sie fragt, ob sie was dagegen hat, dass sie sich neben sie setzt, sagt das Neele auch ‚Nee.‘ Silvie bedankt sich und setzt sich also neben sie.

Den ganzen Unterricht über kann ich nicht den Blick von Silvie nehmen. Sie hört aufmerksam zu, schaut nur nach vorn und arbeitet mit. Wenn sie etwas in ihr Heft schreibt, schiebt sie mit Zeige- und Mittelfinger ihre glatten, dunkelbraunen Haare hinters Ohr, so dass ich ihr Gesicht von der Seite sehen kann. Sie trägt einen kleinen Ohrring aus Holz, in dessen Mitte eine winzige farbige Feder hin und her schwingt. Immer wenn sie nach unten schaut, warte ich schon darauf, dass sie mir die Feder wieder zeigt. Nichts anderes hätte besser zu ihr gepasst. Da bin ich mir sicher.

Nach dem Unterricht ist sie weg, bevor ich ihr folgen kann.

Halt mal, halt mal: bevor ich ihr folgen kann? Bin ich wahnsinnig geworden? Bin ich heute zu einem Draufgänger geworden? Schon solche Gedanken zu haben, ist mir fremd. Die Wahrheit ist, dass ich sie natürlich erreicht hätte, wäre ich ihr gefolgt. Aber was hätte ich dann zu ihr sagen sollen? Sag Du es mir: was sagt man dann? Hallo, mein Gott, was bist du schön? Sollen wir zusammen nach Hause gehen? Warum bist du so braun?

Was - sagt - man?

Keine Ahnung. Man hält die Schnauze und schaut vorsichtig. Das ist es auch schon.

Ich freue mich aber schon auf den nächsten Tag, der sie wieder zu mir bringen wird.

Freunde

Die Leute aus unserem Dorf stehen nicht nur auf dem Schulhof in Gruppen zusammen. Die Gruppen haben auch das Dorf unter sich aufgeteilt. Der starke Uwe mit seiner Truppe beherrscht den Bereich im Osten hinter der Bahnlinie Richtung Badeteich. Da gibt es jede Menge Häuserblocks, in denen viele aus unserer Klasse wohnen. Manche von ihnen sind ziemlich fies drauf. Die Knöll-Zwillinge zum Beispiel hänseln jeden, der an ihrem Block vorbei kommt. Sie sind dicker als jeder andere und treten immer zu zweit auf.

Dort hat auch der rote Achim gewohnt, der so wegen seiner Haare hieß, die rot in der Sonne leuchteten. Der rote Achim hat mich mal bis hoch in den Baum auf dem Spielplatz gejagt, um mich zu verprügeln. Warum er das tun wollte, weiß ich nicht. Ein Heuwender hat ihn wenig später mit seinem Fahrrad erwischt, und wir waren alle bei seiner Beerdigung dabei. Geweint hat aber keiner. Der rote Achim war einfach ein komplett nerviger Typ. Heute sind es, wie gesagt, vor allem noch die Knöll-Zwillinge, die alle in Angst und Schrecken versetzen.

Bernhard wohnt ebenfalls dort in einer Erdgeschoss-Wohnung mit einem Balkon. Manchmal, wenn wir uns verstecken müssen, kriechen wir unter den Balkon und legen uns flach auf den Boden. Es ist noch keiner darauf gekommen, dass wir dort liegen.

Hinter der Bahnlinie, aber Richtung Norden zur Burgruine hinaus, herrscht die Bande vom krassen Bernd. Der krasse Bernd hat vor niemandem Angst und ist eigentlich ganz in Ordnung. Nur manchmal überkommt es ihn, und dann sammelt er die Leute um sich, die bei ihm im Viertel wohnen, und er zieht gegen den starken Uwe. Im Winter gibt es dann unglaubliche Schneeballschlachten und im Sommer Verfolgungsjagden bis hinunter an den Fluss ins westliche Gebiet der Streber. Die Streber haben allerdings keinen Hauptmann und verteidigen auch nicht ihr Gebiet.

Bernhard und mir macht so etwas ebenfalls keinen Spaß. Wir haben schon einmal beim krassen Bernd mitgemacht, doch dabei ist meine Brille zerbrochen. Ich stand blind in der Gegend und bekam einen Schneeball nach dem anderen ab. Bernhard macht nicht mit, weil er mal Polizist werden will. Schlägereien gehen deshalb gar nicht, sagt er.

Das Viertel um die Kirche und die Schule herum jenseits des Flusses gehört niemandem. Es wohnen dort zu wenige Leute von uns.

Inzwischen habe ich herausbekommen, dass Silvie und ich fast Nachbarn sind. Wir leben an der Grenze zum Niemandsland. Sie jenseits und ich diesseits des Bahnhofs.

Auf dem Weg zur Schule kommt Silvie auf der gegenüber liegenden Straßenseite an unserer Bäckerei vorbei. Sie schaut herüber, doch ich glaube nicht, dass sie weiß, dass ich hier wohne.

In den Tagen nach Silvies Ankunft erfahren wir das eine und andere über sie. Ihre Eltern sind erst kürzlich mit ihr hier in unseren Ort gezogen. Sie haben die Kneipe jenseits der Bahnlinie übernommen. „Eine echte Spelunke“, sagte mein Onkel, nachdem er einmal darin war. Silvies Mutter sei genauso braun wie Silvie, erzählt meine Oma, obwohl sie sie noch nicht gesehen hat. Sie stamme aus einem anderen Land, das so weit im Südosten liegt, dass nur Hartmann, unser Dorfpolizist, schon einmal dort gewesen ist. Von ihr hat Silvie Rumänisch sprechen gelernt, von ihrem Vater Deutsch. Sie spricht also zwei Sprachen, was wir echt stark finden. Wir sind ohnehin ziemlich platt, wie schlau sie auch sonst so zu sein scheint. Wenn ein Lehrer etwas fragt, weiß sie immer eine Antwort. Egal, ob in Rechnen oder Deutsch. Immer.

Viele unserer Mitschüler sind allerdings verdammt neidisch auf sie und lassen kein gutes Haar an ihr. Sie sprechen schlecht über sie und erfinden Geschichten, die nicht stimmen: in Wirklichkeit habe sie die Spinne verschluckt, kürzlich auf dem Schulhof. Da, wo sie herkäme, gäbe es Vampire. Man müsse sich vor ihr vorsehen, denn sie verwandle sich nachts in einen dieser Blutsauger. Sie könne im Finsteren nicht gesehen werden, weil ihre Haut und ihre Haare fast schwarz seien. Und andere fiese Dinge.

Silvie scheint sich nichts daraus zu machen. Sie lässt sich weder anmerken, ob sie sich über die üblen Nachreden ärgert, noch zeigt sie Furcht, wenn eine Horde Mädchen hinter ihr herläuft und kreischt, da ginge die blöde Silvie, da liefe die schwarze Spinne!

Bernhard und ich machen bei dem Unfug nicht mit. Aber wir können leider nur dafür sorgen, dass wenigstens die Strebergruppe auch nicht mitmacht.

Wir haben bislang einfach keinen Kontakt zu Silvie bekommen und wissen nicht, wie wir es anstellen sollen, mal mit ihr zu sprechen. Sie ist auch uns gegenüber so fern, dass es einfach nicht klappen will.

Heute aber fasse ich mir ein Herz und warte auf sie vor unserem Haus. Bernhard holt mich oft ab und ist bereits da. Wir fragen sie, ob wir zu dritt gehen wollen. Sie nickt und sagt: „Von mir aus.“

Wenn der Tag so anfängt, kann er eigentlich nur noch gut werden. Denke ich so bei mir.

Aber vielleicht habe ich mich zu früh gefreut.

Silvie ist ausgerechnet heute total gereizt und sauer. Ausgerechnet heute sagt sie keinen Ton und läuft bald voraus. Bernhard und ich schauen uns an und zucken mit den Schultern. Mir macht das nichts aus. Sie wird ihren Grund haben. Ich habe aber gewagt, sie anzusprechen, und sie hat so etwas wie ‚ok‘ gesagt. Es wird mir in Zukunft sicher leichter fallen, wieder Kontakt mit ihr aufzunehmen.

In der vierten Stunde ist wieder der Schreibunterricht bei Herrn Linke. Er kontrolliert, ob wir unsere Hausaufgaben gemacht haben, und entdeckt, dass Silvie ihre nicht dabei hat. Silvie kennt die Strafe noch nicht und weil sie sauschlecht drauf ist, sieht sie Herrn Linke geringschätzig an. Mann, oh, Mann.

Der Lehrer grinst breit und hebt seinen Rohrstock empor, ruckt mit seinem Kinn in Richtung Silvie und faucht: „Die Hand!“

Wir haben früher schon an uns selbst erfahren, was jetzt kommt: man muss ihm die Handinnenseite hinhalten und er wird mit dem Rohrstock darauf schlagen. Das tut so weh, dass einem die Tränen aus den Augen schießen, ob man will oder nicht. Nicht mal der starke Uwe kann das unterdrücken, obwohl er der Stärkste in der Klasse ist.

Silvie hält ihm trotzig die Hand hin und beißt sich auf die Zähne. Ihr Blick fordert den Lehrer heraus und er holt noch weiter aus. Alle in der Klasse starren auf Silvie. Die einen freuen sich diebisch, dass sie jetzt die verdiente Abreibung bekommt, die anderen sind mitleidig, weil sie wissen, wie schmerzhaft es für sie sein wird.

Ich aber halte es nicht mehr aus. Ohne zu überlegen, schreie ich durch den Klassenraum: „Lassen Sie das! Das tut ihr weh!“

Seine kalten Augen richten sich auf mich und er zischt: „Ach ja?“ Er taxiert mich mit hochgezogenen Augenbrauen und überlegt ein Weilchen.

„Der Schmerz, du Held, soll euch helfen, zwischen richtig und falsch zu unterscheiden.“ Er macht wieder eine Pause, senkt aber den Stock und kommt drohend auf mich zu.

„Die Hand!“

Nun bin ich es, der die Hand aufhält, um die Strafe zu empfangen. Doch in mir steigt aus Angst um Silvie eine solche Wut auf, dass ich glutrot werde und nicht mehr überlegen kann. Als der Stock herab saust, schäumt diese Wut über. Der Stock trifft meine Hand, doch ich spüre es nicht. Ich sehe hinunter und beobachte, wie sie sich in dem Augenblick, als die Haut aufreißt, fest um den Bambus schließt und dem Lehrer den Stock mit einem Ruck entwindet. Im nächsten Augenblick sehe ich zweierlei: das Verblüffen in den Augen des Lehrers und dass ich den Stock über der Kante des Tisches zerbreche.

„Das tut ihr weh!“ schreie ich erneut und nochmal und nochmal.

Ich werfe die Teile des Stockes durch den Raum, höre das Schrillen der Pausenglocke und renne hinaus.

Auf dem Schulhof bleibe ich stehen und schöpfe Atem, tief Atem, ganz tief Atem. Der Schmerz in meiner Hand lässt die Tränen in mir aufsteigen. Ich kämpfe dagegen an, so stark ich nur kann. Kaum kann ich es noch halten, tritt Silvie zu mir und auch Bernhard. Silvie sagt nichts, sondern schaut mich nur an. Sie öffnet meine schmerzende Hand und spuckt hinein. Sie schließt sie wieder. Ob Du es glaubst oder nicht: das hilft tatsächlich. Sie schaut und schaut. Sie ist so ernst und trotzig und wütend. Ihre Augen scheinen Funken zu sprühen. Sie ist in diesem Augenblick so sauwild. Sie ist meinetwegen so sauwild. Sie ist meine wilde Silvie.

Bernhard legt mir die Hand auf die Schulter. Andere Mitschüler kommen und umringen uns. Auch sie schauen nur. Keiner lacht, keiner sagt ein Wort. So stehen alle um mich und die wilde Silvie herum.

Wir müssen wieder in den Unterricht.

Die Nachricht von meiner Tat verbreitet sich wie ein Lauffeuer durch die Schule. Als Silvie und ich nach dem Unterricht gemeinsam nach Hause gehen wollen, verfolgt uns ein Rudel Schüler und kreischt: „Die Brillenschlange liebt die schwarze Spinne!“ Das wiederholen sie ein ums andere Mal.

Wir drehen ihnen den Rücken zu und wollen unter dem Geschrei der Meute gerade vom Schulhof gehen, als Silvie sich umwendet, auf die Horde zu rennt und schreit: „Lasst ihn in Ruhe! Er ist keine Brillenschlange! Und er ist mutiger als ihr alle zusammen! Nehmt euch in Acht! Wir sind Freunde!“

Zwar weicht die Schar vor Silvie überrascht zurück, doch wird ihre Warnung von unglaublichem Gejohle beantwortet, weil es eine Bestätigung der Vermutung aller ist. Doch ich bin unheimlich beeindruckt von der wilden Silvie. Ich bin zudem so glücklich, dass ich keine Luft mehr hole, das kann ich Dir sagen. Tausend Ratten am Angelhaken: sie schreit heraus, dass ich ihr Freund bin. Was soll mir da noch passieren?

Wir gehen gemeinsam vom Schulhof und lächeln uns an. Junge, Junge, ich werde das im ganzen Leben nicht vergessen.

Du, jetzt stell Dir vor: gerade in diesem Moment sehen wir, dass das Neele gehänselt wird von den Knöll-Zwillingen. Die foppen und drangsalieren sie und rufen, sie sei fett und dumm. Sie stoßen sie hin und her. Die absolut nervtötenden Knöll-Zwillinge zwicken sie in den Hintern, und sie beginnt zu weinen.

Silvie und ich schauen zu den dreien, dann sehen wir uns an: sind uns die Zwillinge gerade jetzt geschickt, wo wir doch gemeinsam die Stärksten der Welt sein werden, nur um das beweisen zu können?

Was ist heute für ein Tag!

Er konnte nicht schlecht werden!

Wir gehen schnurstracks auf die Knöll-Zwillinge zu und - unsere miesen Klassenkameraden werden Zeugen - fegen sie nur so von dem Neele weg, stoßen beide Zwillinge mühelos in den Schulbach, in dem sie, zum Gelächter aller, schreiend und Drohungen ausstoßend liegen bleiben.

Wir aber geben dem Neele Geleit bis nach Hause und verabschieden uns wenig später vor unserer Bäkkerei mit siegesbewusstem Blick.

Ich schwöre: so etwas habe ich noch nie erlebt.

„Kommst du mit Bernhard und mir zum Angeln, Silvie?“

Rosa, rot, puterrot.

Sie lächelt: „Vielleicht…“

Donnerwetter

Donner grummelt leise, wenn er noch fern ist. Weit entfernt.

Der Tag heute ist schwül und heiß, obwohl der Sommer noch jung ist. Die Sonne steht noch hoch, aber schon im Westen. Wir schauen heute nach Westen. Bernhard, Silvie und ich.

Das Wasser vor uns ist glatt wie ein Spiegel und glänzt. Man muss die Augen fast ganz zukneifen, muss blinzeln, wenn man den Schwimmer aus Kork im Blick behalten möchte. Wenn der Fisch anbeißt, wird der Schwimmer rucken und zucken, sich heben, senken und vielleicht sogar verschwinden. Wir müssen auf der Hut sein. Jede Sekunde zählt beim Angeln. Es ist das Spannendste, was es überhaupt gibt.

Wir heben eine Hand zum Schutz über die Augen und versuchen, den Horizont zu sehen. Man kann das gegenüber liegende Ufer des Kiesteiches erkennen, südwestlich das Dorf. Über den Dächern des Dorfes steigt ein tief schwarzer Streifen herauf. Wolkenmassen, die in den blauen Himmel über uns drängen und alles verdunkeln wollen. Das ist das Gewitter, aus dem der Donner jetzt schon viel deutlicher vernehmbar grollt.

Unsere Köpfe recken sich in den Himmel. Die Sonne strahlt. Nur wenige weiße Wölkchen sind schon über uns. Wir haben noch Zeit. Unsere Blicke treffen sich und unsere Augenbrauen sind fragend. Wir haben doch noch Zeit?

Gerade jetzt, bevor das Gewitter losbricht und der bald aufkommende, erfrischende Regen die glatte Wasseroberfläche mit winzigen Ringen überziehen wird, beißen die Fische.

Bernhard sagt: „Das wird ein übles Gewitter! Lasst uns verschwinden. Wir müssen zuhause sein, bevor es über uns hereinbricht!“ Die Wölkchen über uns sind wie hingetupft. Immer neue werden schnell dazu getupft.

„Ich bleibe hier“, rufe ich zurück. „Die Fische beißen jetzt am besten!“

Silvie nickt. „Wir bleiben!“

„Ihr spinnt ja wohl!“ ruft Bernhard und beginnt, seine Angelschnur einzuholen. Ich hole meine Angelschnur nicht ein, sondern schaue zu Silvie hinüber.

Mädchen haben eigentlich keine Ahnung von Fischen, Haken, Weidenruten, Schnur oder Ködern. Aber mit der wilden Silvie ist es anders. Die quatscht auch nicht viel und ist so wie wir.

Sie schaut jetzt zwischen Bernhard und mir hin und her.

„Ich habe keine Angst vor Gewitter. Du?“

„Ich haue ab“, sagt Bernhard und wirft seine Weidenrute ins Gebüsch, steckt Faden und Haken ein. Die Ruten sind schnell geschnitten, aber den Haken zu biegen ist schwer. Den richtigen Faden zu bekommen oft noch schwerer.

Dann schlägt er sich in die Büsche. Man hört ihn aufs Fahrrad springen und davon fahren. ‚Er radelt dem Gewitter entgegen‘, denke ich noch.

„Blödmann.“ Silvie schaut ihm immer noch hinterher, obwohl man ihn längst nicht mehr sehen kann.

Außer nach der Schule auf der Straße war ich noch nie mit Silvie allein und bin deswegen aufgeregter, als wegen des aufziehenden Gewitters. Also setze ich mich und blinzele wieder hinüber zu dem kleinen Korken, den wir in die Schnur geknotet haben. Unter dem Schwimmer hängt der Haken. Silvie hockt sich dicht neben mich, und ich spüre sie an meiner Seite. Ich spüre sie so stark, dass ich fast zur Seite kippe. Ich wage nicht, meine Augen vom Schwimmer zu nehmen. Ich wage nicht, mich zu rühren.

In jedem Augenblick kann ein Fisch anbeißen. Dann muss man bereit sein. Der Fisch versucht, mit dem Köder zu entkommen. Doch wenn man die richtige Schnur ausgewählt hat, und wenn man die richtige Rute geschnitten hat, kämpft man mit ihm, bis man ihn hat. Dann…

Na gut, ich gebe zu, wir haben noch nie einen gefangen.

Aber heute ist das Wetter super und der Köder auch. Silvie hat einen fetten Tauwurm mitgebracht, den sie unter einem umgedrehten Blumentopf gefunden hat. Wir hätten da gar nicht gesucht. Aber sie hat ihn dort gefunden. Es war schwer, ihn an den Haken zu binden, so geschlängelt hat der sich. Silvie fand ihn kein bisschen eklig. Die ist manchmal echt wie ein Junge. Nur noch anders. So, wie sie manchmal guckt. Du weißt es schon: wenn sie manchmal so guckt, werde ich rot bis zu den Ohren. „Ist die Sonne“, sage ich jetzt, als sie es bemerkt. Wenn sie lächelt, vergesse ich kurz, wo ich bin. Ich hole tief Luft und - bin wieder am Kiesteich.

Wir sitzen, ohne zu reden, ohne uns zu bewegen.

„Sieh nur! Ein Seeadler!“ Silvie hat den großen Vogel entdeckt, der über uns kreist. Ich blinzele zu ihm hinauf und spüre, dass er uns mit seinen Adleraugen beobachtet. ‚Pass nur vor dem Gewitter auf, mein Freund‘ denke ich und hoffe, dass er mich hört.

Das Grollen wird lauter, die Wolken nehmen immer noch zu und werden dunkler. Die Wasseroberfläche kräuselt sich hier und da vorsichtig, wird aber immer wieder glatt gezogen. Der schwarze Streifen am Horizont ist schon zwei Hände breit und hat bald die Sonne erreicht.

Mir wird mulmig und ich überlege, ob ich Silvie vorschlagen soll, auch nach Hause zu fahren. Ich habe aber nicht den Mut dazu, weil ich fürchte, dass sie mich auslacht. Als ich mich zu ihr wende und sie anschaue, weiß ich, dass sie das nie machen würde.

Ob Du Dir das vorstellen kannst oder nicht: Silvie schaut in meine Augen und ich schaue in ihre und wir halten das aus. Wir grinsen nicht, schauen nicht weg, sondern wissen plötzlich, dass wir das Gewitter gemeinsam erleben werden. So richtig gemeinsam.