Blinde Sekunden - Sonja Rüther - E-Book + Hörbuch

Blinde Sekunden Hörbuch

Sonja Rüther

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Beschreibung

Wer ist dein Freund, wer dein Feind – und worin liegt der Unterschied? Sonja Rüthers Thriller »Blinde Sekunden« jetzt als eBook bei dotbooks. Das Grauen lauert nicht nur in dunklen Gassen … Gerade noch ging die attraktive Silvia durch eine gutbesuchte Hotellobby – im nächsten Moment ist sie spurlos verschwunden. Ein Täter scheint schnell festzustehen. Aber wurde Silvia wirklich das jüngste Opfer jenes Serienmörders, der die Öffentlichkeit immer wieder in Angst und Schrecken versetzt? Für Kommissar Rieckers soll dies der letzte Fall vor seiner Pensionierung werden. Doch selbst seine langjährige Erfahrung hat ihn nicht auf das vorbereitet, was er herausfinden wird … »Ein Thriller abseits der ausgetrampelten Such-den-Mörder-Pfade. Unvorhersehbar und mit Abgründen, wo sie nicht erwartet werden. Sonja Rüther versteht es bestens, eine ungewöhnliche und fesselnde Story zu erzählen. Hoffentlich nicht das letzte Werk!« Bestsellerautor Markus Heitz Jetzt als eBook kaufen und genießen: »Blinde Sekunden«, ein abgründiger, psychologischer Thriller von Sonja Rüther, der die Fans von Romy Hausmann und Karin Slaughter. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Zeit:12 Std. 32 min

Sprecher:Kris Köhler

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Über dieses Buch:

Das Grauen lauert nicht nur in dunklen Gassen … Gerade noch ging die attraktive Silvia durch eine gutbesuchte Hotellobby – im nächsten Moment ist sie spurlos verschwunden. Ein Täter scheint schnell festzustehen. Aber wurde Silvia wirklich das jüngste Opfer jenes Serienmörders, der die Öffentlichkeit immer wieder in Angst und Schrecken versetzt? Für Kommissar Rieckers soll dies der letzte Fall vor seiner Pensionierung werden. Doch selbst seine langjährige Erfahrung hat ihn nicht auf das vorbereitet, was er herausfinden wird …

»Ein Thriller abseits der ausgetrampelten Such-den-Mörder-Pfade. Unvorhersehbar und mit Abgründen, wo sie nicht erwartet werden. Sonja Rüther versteht es bestens, eine ungewöhnliche und fesselnde Story zu erzählen. Hoffentlich nicht das letzte Werk!« Bestsellerautor Markus Heitz

Über die Autorin:

Sonja Rüther, geboren 1975 in Hamburg, betreibt in Buchholz/Nordheide einen Kreativhof (»Ideenreich – der Kreativhof«) und den Verlag »Briefgestöber«.

Bei dotbooks veröffentlichte Sonja Rüther die Thriller »Blinde Sekunden« und »Tödlicher Fokus«, die Horror-Story »Eine Spur aus Frost und Blut« sowie die von ihr herausgegebenen Anthologien »Aus dunklen Federn« und »Aus dunklen Federn 2«, in denen neben ihr auch Autoren wie Markus Heitz, Kai Meyer, Boris Koch und Thomas Finn ihre schwärzesten Seiten zeigen.

Die Website der Autorin:

www.briefgestoeber.de

Die Autorin im Internet:

www.facebook.com/sonja.ruther.1

www.instagram.com/sonneruether

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Originalausgabe September 2014, Juli 2023

Copyright © der Originalausgabe 2014 dotbooks GmbH, München

Copyright © der vorliegenden, für diese Ausgabe neu durchgesehenen Fassung 2023 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Redaktion der Originalausgabe: Ralf Reiter | Redaktion der durchgesehenen vorliegenden Fassung: Alexandra Gentara

Titelbildgestaltung: Nele Schütze Design, München, unter Verwendung eines Bildes von Zastolskiy Victor/shutterstock.com

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ts)

ISBN 978-3-95520-717-5

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Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

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Sonja Rüther

BLINDE SEKUNDEN

Thriller

dotbooks.

Kapitel 1

Göttingen, Sonntag, 10. Mai 2009, 19:03 Uhr

Die meisten Gäste dieser Charity-Veranstaltungen kannte Dr. Karl Freiberger bereits ungeschminkt, narkotisiert mit schlaffen Gesichtszügen und unkaschierten Makeln von seinem OP-Tisch. Er wusste sehr genau, bei wem er wo das Skalpell angesetzt, welche Knorpel er abgehobelt, Brüste vergrößert und wessen Gesichtszüge er aufgepolstert oder gestrafft hatte – kleine und große Korrekturen von Schönheitsfehlern, die der Regenbogenpresse hohe Summen wert gewesen wären, wenn jemals ein Beweisfoto seine Praxis verlassen hätte. Aber genau deshalb kamen sie alle früher oder später zu ihm: Er war diskret und ein Perfektionist.

Ich wünschte, ich müsste meine Freizeit nicht mit meiner Kundschaft verbringen, dachte er mürrisch und sah zu Barbara hinüber. Weder hier im Foyer noch später im großen Festsaal würde er sie aus den Augen verlieren. Nur ihretwegen ließ er diese gesellschaftliche Verpflichtung über sich ergehen. Wenn sie sich für eine Veranstaltung dieser Größe zurechtmachte, blühte sie auf. Für ihr Lächeln lohnte es sich, derartige Anlässe auszuhalten, denn zuhause erstarb es auf ihren Lippen.

Man könnte glatt vergessen, wie krank sie ist.

Er lehnte sich leicht gegen eine weiße Säule, abseits von dem Trubel, und drehte ein leeres Champagnerglas zwischen seinen Fingern. Dies war ihre Bühne, nicht seine. Karl war eher Durchschnitt; wirre, von Grau durchzogene weiße Haare und ein schlichtes Gesicht, das ebenso gut das eines Lateinlehrers oder eines Steuerberaters hätte sein können. In die Jahre gekommene Unauffälligkeit. Der absolute Gegensatz zu Barbara. Bevor die Türen zum großen Saal geöffnet wurden, konnten sich die Fotografen in der Empfangshalle mit ihrem Blitzlichtgewitter austoben, danach kamen nur noch ausgewählte Journalisten in den Genuss, das Geschehen dokumentieren zu dürfen. Dr. Freiberger konnte die Schlagzeilen in den Magazinen bereits vor seinem geistigen Auge sehen. Seine Frau und er waren dabei nur Randfiguren – uninteressant, solange es keinen Skandal zu wittern gab. Und so wird es auch bleiben.

Seine Patientinnen wurden durch seine Arbeit niemals entfremdet. Wer Wünsche äußerte, die gegen seine ästhetischen Maßstäbe verstießen, musste sich einen anderen Chirurgen suchen. Karl Freiberger gönnte sich den Luxus, auch einflussreiche Personen fortzuschicken, wenn er eine Operation ablehnte.

So wie seine Frau an diesem Abend aussah, würde sie es vermutlich auf die Seite mit den schönsten Kleidern des Abends schaffen. Der rote Stoff umschmeichelte ihren makellosen Körper, versprach, an delikaten Stellen Einblick zu gewähren, ohne dass man tatsächlich mehr als gewollt sehen konnte. In dem bunten Blumenstrauß der herausgeputzten Gäste war Barbara die Rose. Sie fuhr sich mit den Fingern durch die langen blonden Haare und lachte gelöst. Das Collier mit achtundvierzig Brillanten um ihren Hals funkelte. Barbara besaß ein bewundernswertes Talent, sich mit kleinen Bewegungen, Gesten, Mimik und ihrer melodischen Stimme so in Szene zu setzen, dass jeder Mann im Raum sie zwangsweise bemerken musste. Sie spielte mit der Aufmerksamkeit ihrer Gesprächspartner, genoss jedes Kompliment. Nichts davon entging Karl.

»Sie sieht wundervoll aus.« Richard Brose trat neben ihn und grinste anzüglich. Er trug im Gegensatz zu den anderen Gästen keinen Smoking. Die obersten Knöpfe des lässigen, weißen Seidenhemds standen offen und die braungebrannte Haut bildete einen auffälligen Kontrast zu dem hellen Stoff. Das dunkelblaue Jackett hing locker über einer Schulter, und nach Betreten des Saals würde er es über eine Stuhllehne hängen. Glänzende schwarze Haare, glatte Gesichtszüge und die ruhelosen Augen eines Eroberers: Karl hasste ihn. An manchen Tagen hätte er Richard gern mit seinem Goldkettchen erwürgt oder ihm zumindest Botox in die Zunge gespritzt, damit er sein Geschwätz nicht mehr ertragen musste. Beherrscht freundlich nickte er. Sie waren beinahe ein Jahrgang, Richard verbannte die fünfzig Jahre jedoch mit jeder Menge Haarfärbemittel und regelmäßigen Spritzen gegen die Falten. Karl mochte neben ihm grau und alt erscheinen, dafür machte er sich aber auch nicht lächerlich.

Man sollte der Jugend nicht nachjagen.

Er betrachtete wieder seine Frau und hoffte, dass sie niemandem – und ganz besonders nicht Richard Brose – Anlass zur Schadenfreude gab. Es war ihr erster öffentlicher Auftritt seit der kleinen Wangenaufpolsterung. Karl achtete besonders auf den Erhalt ihrer natürlichen Schönheit. Sie war zwar die Frau eines Schönheitschirurgen, deswegen musste sie noch lange nicht künstlich und operiert aussehen. Er hatte in den letzten Jahren eine Seite an seiner Frau kennengelernt, die ihn zunehmend mit Sorge erfüllte. An manchen Tagen war sie aufbrausend und impulsiv, an anderen zog sie sich ins abgedunkelte Schlafzimmer zurück und blieb stundenlang im Bett liegen. Irgendetwas zerstörte zunehmend ihre Eigenwahrnehmung, ließ sie um ihre schwindende Jugend trauern und pflanzte ihr unerklärliche Selbstzweifel ein.

»Du siehst müde aus«, sagte Richard Brose. Er war ganz entspannt. Sein Geld verdiente er inzwischen nur noch mit sogenannten Botox-Partys. Mal organisierte er sie selbst, mal wurde er eingeladen. Schnell verdientes Geld zwischen Vorspeise und Hauptgang. »Wird dir deine junge Frau langsam zu viel?«

Wie lange würde die unglückliche Barbara der Masche dieses junggebliebenen Spaßbringers noch widerstehen? Er mochte nicht, wie sie lachte, wenn dieser Fatzke während solcher Veranstaltungen lustige Anekdoten aus seinem Jetset-Leben erzählte. Der Gedanke, sie könnte diesen Mann interessant finden, quälte Karl mehr, als er es hätte tun sollen. Richard Broses Art, Barbara anzuschauen, war eindeutig, und er ließ auch keine Gelegenheit aus, mit ihr zu flirten. Seine größte Niederlage gegen diesen Mann hatte Karl erfahren, als Barbara Brose auf einer Party gestattet hatte, ihre Stirn mit Botox zu glätten.

Damals hatten sie die Veranstaltung wortlos verlassen, und erst zuhause hatte er sie in seiner Enttäuschung angeschrien und ihr Dinge gesagt, die er auch nach vier Jahren noch bereute. Denn da hatten ihre Veränderungen angefangen. Egal, wie oft er sich entschuldigte, er kam nicht mehr an den Teil in ihr heran, den er mit seinen Worten offenbar so schwer verletzt hatte.

»Entschuldige mich.« Es war ihm zuwider, Richard in irgendeiner Form zu antworten. Er ging zur Bar und holte sich einen Whisky. Das würde die nächsten Stunden erträglicher gestalten. Da er auf ruhige Hände angewiesen war, trank er nur selten Alkohol, aber wenn er es tat, spürte er die Wirkung schnell.

Er ist neidisch, weil alle zu mir kommen. Sein Botox ist nur ein Partyspaß. Barbara steht weit über ihm, sie wird ihn nie wieder an sich heranlassen.

Mit dem Glas in der Hand drehte er sich um und betrachtete Barbara. Richard bewegte sich wie eine Schmeißfliege um sie herum, aber sie war zu beschäftigt damit, bezaubernd zu sein. Sie genoss die Blicke, sog gierig die Aufmerksamkeit in sich auf – ohne je zufrieden zu sein. Karl wusste, dass sie bereits auf der Rückfahrt wieder an sich herummäkeln würde.

Gleich wird er sie zum Lachen bringen. Sie anfassen, wann immer er es unverfänglich tun kann.

Niedergeschlagen nahm er einen weiteren Schluck. Er kannte den Verlauf dieser Zusammentreffen leider zu gut, aber solange sie nur mit seinem Kontrahenten spielte und er kein Interesse bei ihr erkennen konnte, wollte er ihr keine Szene machen. Nicht wegen Richard.

Jetzt zeigte das Kleid für seinen Geschmack doch zu viel Haut. Schon legten sich Richards Finger auf ihren Arm, er begrüßte sie mit angedeuteten Wangenküsschen, und Barbara lachte erfrischend. Karl empfand das drängende Bedürfnis, ihr seine Jacke über die Schultern zu legen.

Ich wünschte, sie würde nicht ständig Bestätigung bei anderen suchen. Barbara gab sich mit seinen Komplimenten nicht mehr zufrieden. Oft betonte sie in besonders schwarzen Momenten ihrer Depressionen, dass er als Fachmann jeden ihrer Makel kennen und sie nicht objektiv betrachten würde. Sie glaubt mir nicht mehr. Dieser Umstand traf ihn hart, und auch wenn sie am Ende einer jeden Party wieder mit ihm nach Hause ging, fürchtete er doch, dass die Tage gezählt waren, bis ein jüngerer Mann sie ihm wegnahm.

Er rieb sich über die Augen und nippte am Whisky. Ich bin doch schuld daran, dass sie so geworden ist.

Im Laufe der Ehe hatte er ihr kleine, geradezu unbedeutende Korrekturen vorgeschlagen, weil die Ideen, wie ihre Schönheit noch optimiert werden konnte, sich nicht zurückhalten ließen. Wenn sie sagte, sie fände ihre Brüste zu klein, dann hatte er sie nicht in den Arm genommen und ihr gesagt, dass sie für ihn perfekt wäre. Im Gegenteil. Er beschrieb ihr das Verfahren einer Vergrößerung und passte die Maße ihren Wünschen an.

Aus der anfänglichen Angst vor den Eingriffen war eine Selbstverständlichkeit geworden, und die Resultate machten sie glücklich.

Irgendwann forderte sie sein Können konkret ein: ein dezentes Lippenaufspritzen, eine kleine Konturenkorrektur an den Oberschenkeln. Inzwischen war sie so weit, dass sie jedes Mal, wenn andere etwas machen ließen, überlegte, ob das bei ihr nicht auch gemacht werden sollte.

Das Verhältnis zwischen sinnvollen und unnötigen Eingriffen fing an, sich anzugleichen. Und wenn er etwas nicht machen wollte, schrie sie ihn an und drohte, zu einem anderen zu gehen. Besonders schlimm wurde ein Streit dann, wenn sie seine unbedachten Worte gegen ihn verwendete.

Er merkte, dass er das Glas zu fest umklammerte. Die Fingerknöchel traten weiß hervor. Aber je länger sich Richard in ihrer Nähe befand, desto wütender wurde er.

Sie sieht nicht aus wie achtunddreißig. Er stellte das leere Glas auf den Tresen und ging zurück an einen Platz abseits des Geschehens. Eher wie Ende zwanzig.

Endlich entfernte sich Richard von Barbara und Karl entspannte sich merklich. Nun konnte er ihren Anblick wieder genießen.

In diesem Moment sah er nichts von den Depressionen, ihren Unsicherheiten und Zweifeln – kein Anzeichen ihrer psychischen Veränderungen. Gerne hätte er sie jeden Tag so glücklich erlebt wie in den wenigen Stunden, in denen sie sich im Mittelpunkt der gehobenen Gesellschaft befand.

Karl ließ den Blick schweifen und musterte die umstehenden Gäste, die gesehen werden wollten. Dann wurde es kurz still – immer das sichere Zeichen dafür, dass jemand wusste, wie man allen anderen die Schau stahl.

Suzanna Hillmer war der Star der Veranstaltung. Die Medien berichteten täglich über das gerade mal zwanzigjährige It-Girl, dessen Leistung darin bestand, einen reichen Vater zu haben und hübsch auszusehen. Sie wurde umschwärmt wie ein Weltstar. Für den richtigen Auftritt in dieser exklusiven Ansammlung traf sie zu spät ein und erntete die bewundernden Blicke der Männer und den Neid der Frauen. Ein gewagtes Design, das kaum noch Kleid genannt werden konnte, verhüllte ihren Körper: aneinander genähte goldene Vierecke, als einziger Halt ein breiter Gürtel um die schmale Taille, wurden wie von Zauberhand über den Brüsten gehalten. Es war die perfekte Mischung aus Illusion und Verführung. Auf den ersten Blick hätte Karl schwören können, sie wäre nackt und auf ihrer Haut klebten lediglich ein paar kunstvolle Goldblätter und Strasssteine. Er überlegte, was wohl der Grund sein könnte, weswegen sie früher oder später zu ihm kommen würde. Brüste, urteilte er fachmännisch. Ihr Gesicht ist symmetrisch und jugendlich – mit entsprechender Pflege könnte sie zehn Jahre ohne OP schaffen, danach ... Er bemerkte, wie Barbara sie anstarrte. Diesen Blick kannte er inzwischen zu gut. Schon bald würden Hillmers Handbewegungen und Mimik in ihr Repertoire übergehen. Spätestens in einer Stunde würde Barbara auch wie sie klingen.

Wir sollten fahren, bevor es richtig losgeht.

Diesen Tic hatte er anfangs gar nicht richtig wahrgenommen. Inzwischen schämte er sich für sie, wenn sie die Imitationen in der öffentlichkeit übertrieb. Sie ertrug die jüngere Konkurrenz nicht, und ihr Umgang mit diesem Problem vernichtete alles, was sie so großartig und bemerkenswert machte.

Karl machte sich bereit, sie unauffällig beiseitezunehmen, falls seine Befürchtungen eintreten sollten. Er wusste, dass man inzwischen über sie redete. Hinter vorgehaltener Hand nannte man sie gelegentlich »Mrs. Plagiat«.

Früher oder später werden wir einen Spezialisten aufsuchen müssen. Leider wusste er, dass die Schweigepflicht nicht vor Gerede schützte. Wenn jemand erst bemerkte, dass Barbara zu einem Psychologen ging, würde die Gerüchteküche ins Brodeln geraten.

Karl seufzte und überlegte, ob er sich noch einen Whisky holen sollte. Er sah auf seine Armbanduhr. Es ist noch viel zu früh.

Da wurden die Türen zum Saal geöffnet. Schnell ging er zu seiner Frau und legte sanft eine Hand auf ihren Rücken. »Wollen wir reingehen?«

Sie schenkte ihm ein Lächeln und hakte sich bei ihm unter. »Hast du etwa getrunken, Liebling?«, fragte sie flüsternd. »Du weißt doch, dass du nachher noch fahren musst. Warum bist du nur so unvernünftig?«

Er legte die Hand auf ihren Arm und strich zärtlich über die Haut. »Mach dir keine Sorgen, mein Herz, von nun an werde ich mit Wasser vorliebnehmen. Amüsierst du dich gut?«

In ihren Augen verlor sich der Glanz.

In seinem Beruf hatte er viele Formen der Depression kennengelernt. Die wenigsten Patientinnen kamen durch eine Brustvergrößerung oder Nasenkorrektur aus diesen Krisen heraus, und bei Barbara kam und ging die Niedergeschlagenheit, als stünde ihr Seelenheil auf tönernen Beinen.

Seinen Patientinnen gab er gute Ratschläge mit auf den Weg, die in der Theorie von bestechender Logik waren. Manchen reichte etwas Zuspruch, das Gefühl, wahrgenommen zu werden, doch bei seiner eigenen Frau zeigte nichts davon eine Wirkung. An manchen Tagen erreichte er sie schon gar nicht mehr. Und nun konnte er sehen, wie ihre gute Laune wieder einmal in sich zusammenfiel wie ein Kartenhaus.

Bis neun bleiben wir noch, dachte er nach einem weiteren Blick auf die Armbanduhr. Das sind dann immer noch zwei Stunden zu viel.

Kapitel 2

Göttingen, Sonntag, 10. Mai 2009, 22:34 Uhr

Die grünen Vorhänge des Schlafzimmers waren zugezogen, kleine Lampen links und rechts am Rahmen des Spiegels beleuchteten Barbaras Gestalt. Karl betrachtete sie durch den Türspalt.

Sie trug einen weißen Bademantel, das Make-up hatte sie bereits entfernt. Wie lange sie seit der Rückkehr von der Veranstaltung schon am Schminktisch saß, konnte er nicht sagen. Manchmal verbrachte sie Stunden auf diese Weise. In ihren braunen Augen lag eine Traurigkeit, für die er keine Erklärung finden konnte.

Was willst du denn noch?, dachte er hilflos. Ich lege dir doch die Welt zu Füßen. Im ersten Stock des Anwesens herrschte immer eine bedrückende Stille, die er gerne durch kleine Kinderfüßchen oder -lachen aufgehellt hätte, aber Barbara war dagegen.

Kein Nachwuchs.

Die Schönheit musste erhalten bleiben und durfte weder durch Schwangerschaftsstreifen noch Krampfadern, Hängebrüste oder andere Nebenwirkungen des Brütens, wie sie es abfällig nannte, geschmälert werden. Dabei hätte er alles wieder ohne Probleme ins Lot bringen können.

»Kinder machen alt«, waren ihre letzten Worte zu diesem Thema gewesen.

Behutsam schob er die Tür auf und trat ein. Der Abend zwischen den jüngeren und vermeintlich schöneren Frauen wirkte in all seiner Unerfreulichkeit nach. Die älteren und weitaus hässlicheren Frauen hatte sie wie immer gar nicht wahrgenommen. Es nützte auch nichts, wenn er über die Makel der anderen sprach, weil sie ihm kaum zuhörte, wenn sie so niedergeschlagen war.

Dennoch versuchte er es. »Hast du Daphnes Gesicht gesehen? Durch das ganze Botox sieht es richtig tot aus.« Er stellte sich hinter seine Frau und betrachtete sie. 1,71 Meter groß, leichte fünfundfünfzig Kilo, lange, straffe Beine, Wespentaille, feste, große Brüste und blonde Haare bis über die Schultern – begehrenswert und schön. Er liebte alles an ihr abgöttisch.

Warum siehst du nicht, was ich sehe?

Aber wenn sie sich selbst betrachtete, sah sie die kleinen Fältchen um die Augen. Die Haut verlor ihre Spannkraft, die Lider hingen leicht. Sie war erst achtunddreißig Jahre alt, wollte aber wieder zwanzig sein. Eine Suzanna Hillmer. Das und noch viel mehr hatte sie auf der Rückfahrt nach der Veranstaltung unter Tränen zu ihm gesagt.

»Ich hasse sie«, flüsterte Barbara kaum hörbar und imitierte den naiven Gesichtsausdruck des jungen It-Girls, das die Männer so sehr in ihren Bann gezogen hatte. Bei Barbara wirkte es lächerlich, weil die jugendliche Unschuld fehlte. Sie nahm einen der Cremetiegel aus der Schublade, in der ihre Brillanten achtlos zwischen den Tuben und Döschen lagen. Die Creme war neu – keine von denen, die er ihr empfohlen hatte. Um keinen Streit zu provozieren, fragte er nicht, woher dieses Präparat stammte. Wahrscheinlich war es wieder eines der vielen Wundermittel irgendwelcher Freundinnen, die das Altern zu bekämpfen versuchten. Dabei gab er ihr bereits alles, was sie brauchte, aber sie sperrte sich gegen das Argument, falsche Cremes würden eher schaden – diese Diskussion hatten sie oft genug geführt.

»Was tust du da eigentlich?« Karl versuchte, seine Wut über ihre Unzufriedenheit nicht mitklingen zu lassen. »Du bist wunderschön.«

Sie sah ihn durch den Spiegel an, als würde er Lügen erzählen, dann sammelten sich Tränen in ihren Augen. Niemals könnte er ihre Verzweiflung verstehen.

»Es ist deine Arbeit, die wunderschön ist«, flüsterte sie resigniert. »Aber schau mich an: Ich werde alt. Ich bin alt. Alt und verbraucht.«

Seufzend zog er sein Jackett aus und warf es auf das Bett, bevor er wieder hinter sie trat und sie an den Schultern berührte. »Ich sehe eine junge, bildhübsche Frau vor mir. Ich bin es, der neben dir wie ein alter Mann wirkt. Lass gut sein, mein Engel.« Er küsste ihren Scheitel und lockerte dann die Krawatte. Es war ein langer Tag gewesen. Gesellschaftliche Ereignisse strengten ihn genauso an wie Nachuntersuchungen und Beratungsgespräche, die zwingend zu seiner Arbeit gehörten. Die Tage, an denen er operierte und seine Patienten sich in Narkose befanden, waren ihm lieber.

Ansonsten konnte er durchaus von einem perfekten Leben sprechen. Alles, was er sich zum Ziel gesetzt hatte, hatte er auch erreicht. Barbara hatte er im ersten Jahr nach dem Studium kennengelernt. Sie war wesentlich jünger als er und hatte gerade ihr Abitur gemacht, als er schon längst an Leichen herumschneiden durfte.

Als er noch als angestellter Arzt Praxiserfahrungen gesammelt hatte, hatte Barbara eine Freundin zu einem Termin begleitet. Die Freundin benötigte eine Brustverkleinerung, reine Routine und recht uninteressant. Doch er war Barbara sofort verfallen, weswegen er das Beratungsgespräch unnötig ausgedehnt hatte. Eines kam zum anderen. Er überschüttete sie mit Geschenken, hofierte sie und zeigte ihr die glamouröse Welt, in die sie mit ihrer Schönheit gehörte. Sie heirateten sieben Monate später, was nun bereits achtzehn Jahre zurück lag. Karl dachte daran, wie sehr sie ihn seitdem unterstützte und wie oft er sie allein gelassen hatte. Lange hatten sie ein sehr zufriedenes Leben geführt – bis auf das leidige Thema Nachwuchs. Die Jahre waren vergangen, und irgendwann hatte er sich damit abfinden müssen, dass er kein normales Familienleben haben würde. Eine Adoption kam nicht in Frage, denn ihr Verhalten wurde auffälliger. An manchen Tagen war sie launisch, warf Dinge durch den Raum oder weinte grundlos – an anderen war sie voller Tatendrang und zeigte überschwängliche Freude. Die Bewerbungsgespräche für eine Adoption würde sie nicht schaffen.

Jedes asoziale Arschloch kann sich beliebig vermehren und seinen Nachwuchs wie Dreck behandeln, ohne dass es jemanden schert. Aber sobald man ein Kind adoptieren will, mutiert der Staat zum Hüter der Kinderrechte.

Manchmal spielte er mit dem Gedanken, Barbaras Antibabypillen gegen Placebos auszutauschen, doch dann sah er ein, wie selbstsüchtig das wäre. Trotz der äußerlichen Perfektion schien ihre Seele tief drinnen zu welken. Darum musste er sich kümmern. Dringend.

Jetzt wühlte sie in der oberen Schublade des Schminktischs und holte einen Tablettenstreifen hervor.

»Du hast noch Schmerzen?« Es wunderte ihn, da die kleine Korrektur der Nasenscheidewand bereits zwei Monate zurücklag. Er hatte dem Eingriff nur auf ihr Drängen hin zugestimmt, dabei jedoch weniger als vereinbart gemacht. Für sie war dennoch ein deutlicher Unterschied erkennbar gewesen, was sie zumindest für ein paar Wochen glücklicher gemacht hatte.

»Ich sagte dir doch, dass ich starke Kopfschmerzen habe.« Routiniert drückte sie zwei Tabletten aus dem Blisterstreifen und schluckte sie wie gewöhnlich ohne Flüssigkeit hinunter.

Karl verfolgte es mit Sorge, sagte aber nur: »Zeig noch mal her.« Er drehte sie sanft zu sich und fuhr mit dem rechten Zeigefinger die Konturen ihrer Nase nach. Nichts wies auf einen Fehler, eine allergische Reaktion oder eine Entzündung hin. Sie war die perfekte Patientin: keine problematischen Vernarbungen, sie vertrug jedes Mittel und jedes Material. Erfahrungsgemäß heilten ihre Wunden unkompliziert und schnell.

»Lass los«, brauste sie auf und streifte seine Hände ab. »Du kannst ja deine Kollegen um Rat fragen, wenn du nächste Woche zu diesem Kongress fährst. Ich bin müde.« Sie stand auf, ging an ihm vorbei und legte sich aufs Bett, das Gesicht von ihm abgewandt. »Ich verspreche, dass ich eine Lösung finden werde, damit du wieder glücklich bist«, sagte er, dann legte er die Decke über sie und gab ihr einen liebevollen Kuss auf die Stirn. »Bald geht es dir besser.«

Kapitel 3

Hamburg, Freitag, 15. Mai 2009, 17:43 Uhr

»Ich weiß nicht«, sagte Silvia flüsternd ins Telefon. Zum wiederholten Male drehte sie eine Strähne ihres braunen Haars um den rechten Zeigefinger, bis die Kuppe sich dunkel verfärbte.

Sie war nervös, wie immer, wenn sie mit Sven telefonierte. Ihr Herz klopfte. Nach vielen Jahren standen sie kurz davor, Grenzen zu überschreiten, die sie eigentlich stets zu wahren versucht hatten. Sie liebten einander, doch verheiratet waren sie mit anderen. Glücklich verheiratet – gute Leben mit guten Menschen.

Aber wann immer sie sich begegneten, wussten sie, dass Liebe nicht mit Zufriedenheit verwechselt werden konnte: Ihre Herzen schlugen schneller, wenn sie sich nahe waren, ob sie es nun wollten oder nicht. Daran änderte auch die Zuneigung zu ihren Partnern nichts. Betrügen wollten sie sie nicht, aber ohne den anderen konnten sie auch nicht sein.

Fünf Jahre lang hatten sie sich vorgespielt, dass alles gut sei und sie in tiefer Freundschaft verbunden wären. Dass ihnen das reichte und sie sich mit der platonischen Beziehung begnügen würden.

Fünf Jahre. Bis zu einem achtlosen Kuss in einer Silvesternacht. Und danach war nichts mehr wie zuvor.

Plötzlich hatten sie sich zufällig berührt, wenn sie nebeneinander saßen, sich in der Küche um das Essen kümmerten oder unter dem Tisch die Beine ausstreckten.

Da die Paare befreundet waren, sahen sie sich oft. Das war eine schwere Zeit für Silvia und Sven, die das Verlangen, einander spüren zu wollen, nur schwer unterdrücken konnten.

Fünf Monate nach dem besagten Kuss hatte es sich ergeben, dass sie allein in der Wohnung von Silvia und Thomas waren und auf ihre Partner warteten. Gemeinsames Kochen und Spieleabend waren angesagt gewesen. Doch als Silvia Sven hineingelassen und die Tür hinter ihm geschlossen hatte, hatten sie ihre guten Vorsätze vergessen.

Sie hatten sich geküsst, ließen ihre Hände unter die Kleidung gleiten, um die Wärme der Haut zu fühlen, um mehr von dem zu bekommen, was jede Faser des Körpers in Aufregung versetzte. Sie waren leidenschaftlich weit gegangen, aber die Vernunft kehrte im rechten Moment zurück und hatte sie innehalten lassen, verwirrt, glücklich und ratlos, wie es von da an weitergehen sollte.

Als Kathrin und Thomas hinzugekommen waren, hatte es keinen Verdacht gegeben, was sich in dieser Wohnung abgespielt haben könnte. Jetzt war Sven am anderen Ende des Telefons und sprach erstmals offen aus, was sie beide schon so lange dachten. »Silvia, ich kann an nichts anderes mehr denken! Nur noch an dich! Triff mich im Hotel. Vielleicht wird es ja besser, wenn wir dem Verlangen einmal nachgegeben haben.«

In Silvia geriet alles in Bewegung. Der Gedanke, mit Sven allein zu sein und alle Beherrschung fallen zu lassen, war dermaßen aufregend, dass sie ihn am liebsten sofort in die Tat umgesetzt hätte.

Doch was würde sie Thomas damit antun? Was tat sie ihm bereits mit den Gedanken an, die sie tagtäglich hatte?

Ihr Schweigen verunsicherte Sven. »So kann es nicht weitergehen! Letztens hätte uns Thomas fast erwischt, als er nach Hause gekommen ist. Ich will nicht, dass es so weit kommt. Weißt du, wie ich mich dabei fühle? Er ist mein bester Freund, und ich denke nur daran, seine Frau zu berühren und zu küssen! So eine Scheiße! Ich träume sogar schon davon, wie wir es miteinander tun. Ich kann nichts dagegen machen: Der Gedanke daran ist unglaublich!«

Unglaublich ist noch untertrieben. Silvia musste lächeln.

Sven war stets so rücksichtsvoll, ständig bemüht, ihr begreiflich zu machen, dass es hierbei nicht um Sex ging, sondern um den Wunsch, jemanden voll und ganz spüren zu wollen. Als wenn ich das nicht wüsste – es geht mir genauso.

»Ich will es doch auch«, gestand sie schließlich. »Ich habe so etwas noch nie gefühlt. Wenn es nicht besser wird, nachdem wir es getan haben, müssen wir uns eine Lösung einfallen lassen.«

Jetzt schwieg Sven.

»Ich will keine Affäre. So eine Frau bin ich einfach nicht!«

»Glaub mir: Ich habe das auch noch nie gemacht.« Er räusperte sich. »Ich buche ein Zimmer im Elysee. Freitag um fünfzehn Uhr?«

Silvia musste sich setzen, ehe sie antwortete. »Ist gut.« Ihr Herz schlug spürbar schnell, so aufgeregt war sie in ihrem Leben noch nie gewesen. »Ich werde da sein.«

Sven schien es genauso zu ergehen, sie hörte seine Stimme zum ersten Mal derartig rau und gleichzeitig so unsicher leise. »Und, Silvia?«

»Ja?«

»Auch wenn du es dir anders überlegst, bitte komm am Freitag. Es sind keine Erwartungen damit verbunden. Ich würde das ganze Hotel mieten, nur um mit dir einmal ganz frei reden zu können.« Wenn du wüsstest, wie sehr ich mich nach dir sehne ...

»Danke. Das gilt auch für dich.« In ihrer Vorstellung wusste sie genau, wie das Treffen ablaufen würde, und ihr Körper reagierte eindeutig auf die Bilder in ihrem Kopf. Sie wollte ihn spüren, ganz und gar – es gab kein Zurück. »Bis Freitag.«

Das Gespräch hatte höchstens zehn Minuten gedauert, und schon nahmen Dinge ihren Lauf, die nicht mehr zu stoppen waren.

Fest davon überzeugt, mit Sven zu schlafen und danach in dieses Leben zurückkehren zu können, verbannte sie alle Bedenken in unerreichbare Ferne. Dies ist mein einziges Leben. Ich muss es tun!

Kapitel 4

Hamburg, Sonntag, 17. Mai 2009, 16 Uhr

»Kommst du gleich zu mir, oder bist du noch länger am Computer?« Silvia hielt eine Zeitschrift in der Hand und sah nur flüchtig auf den Monitor. Das kleine Arbeitszimmer gehörte ganz ihrem Mann Thomas.

»Ich bin gleich da. Ich muss nur noch ein Portal finden«, antwortete er abwesend und spielte weiter.

»Ist gut.« Ihr war klar, dass sein Gleich irgendwas zwischen zehn Minuten und einer Stunde bedeuten konnte. Also machte sie sich einen Tee und setzte sich auf das helle Ledersofa im Wohnzimmer. Obwohl es schon drei Jahre alt war, roch es noch immer intensiv nach Leder. Es war eines der Möbelstücke, bei denen sie sich durchgesetzt hatte – ganz im Gegensatz zu dem Glastisch, auf dem jeder Fingerabdruck und Wasserfleck sofort zu sehen war.

Noch fünf Tage, dachte sie und spürte die Vorfreude in sich aufsteigen.

Da sie sich mit Sven einig war, gab es keine Befürchtungen, das Treffen könnte negative Folgen nach sich ziehen. Weder würde Sven plötzlich Besitzansprüche anmelden, noch würde es eine weitere Zusammenkunft dieser Art geben. Nur ein einziges Mal wollte sie dem Drang nachgeben, etwas Verrücktes, ja sogar Unrechtes zu tun. Solange keiner davon erfuhr, würde auch niemandem ein Schaden entstehen.

Der Tee dampfte in einem weißen Becher auf dem Couchtisch – eine Kräutermischung, die besser roch, als sie schmeckte, aber der Werbetext versprach Harmonie und Wohlbefinden. Beides konnte sie gerade sehr gut gebrauchen, weil sie mit jedem Tag aufgewühlter war. Sie schlug die Zeitschrift irgendwo in der Mitte auf und dachte an kommenden Freitag. Der Inhalt des zufällig aufgeblätterten Artikels interessierte sie überhaupt nicht.

Wie es wohl sein wird? Sie stellte sich vor, wie die Hoteltür hinter ihnen zufiel und sie einander endlich richtig umarmen und küssen konnten. Seit fünf Jahren hatte sie kein anderer Mann als Thomas berührt. Der leidenschaftliche Kuss mit Sven zählte nicht. Ein einziges Mal, sagte sie sich erneut.

»Robert fragt, ob wir Freitag mit ins September kommen«, riss Thomas sie aus ihren Gedanken. Er hatte unbemerkt das Zimmer betreten. »Eine Art After-Work-Lunch oder so.«

Sie betrachtete ihn, wie er auf seinem Telefon herumtippte und sich dann neben sie setzte. Was tue ich hier nur?

»Ich habe dir doch gesagt, dass ich mich Freitag nach der Arbeit mit ein paar alten Freundinnen treffe.«

Thomas sah sie kurz an und machte ein nachdenkliches Gesicht. »Muss ich wohl vergessen haben.«

Schmunzelnd strich sie ihm durch das kurze dunkle Haar. Er sah so gut aus, selbst in seiner Freizeitkleidung. Durch den regelmäßigen Sport im Fitnesscenter war er gut trainiert, beneidenswert schlank, wie Sven gerne sagte – obwohl er selbst trotz Sportmangel nicht zu dick war. Silvia mochte Thomas’ markantes Gesicht. Er wirkte so zielstrebig und siegessicher, und wenn er erst seinen Anzug trug, musste sie Angst haben, dass andere Frauen ein Auge auf ihn warfen. Als Börsenmakler verdiente er genug, dass sie zusammen mit ihrem Gehalt den Standard leben konnten, den sie so schätzte. Sie waren sich nie uneins, wenn sie ihre Reisen planten, er gönnte ihr all die kostspieligen Dinge, die zu ihrer gepflegten Erscheinung beitrugen. Thomas passte so viel besser zu ihr als Sven, der eher bodenständig und weniger auf sein Aussehen bedacht war. Aber ihre Gefühle waren offenbar anderer Meinung.

»Wundert mich nicht«, nahm sie das Gespräch auf und versuchte, die anderen Gedanken abzuschütteln. »Wahrscheinlich liegt es noch irgendwo in deiner Online-Welt als unerfüllte Queste.« Sie verpasste ihm einen Stoß in die Seite und lachte. Es bereitete ihr großes Vergnügen, ihn mit seinem Gaming-Jargon aufzuziehen.

»Haha, sehr witzig«, erwiderte er. »Vielleicht hast du auch nur vergessen, es mir zu sagen.«

Sie zuckte gleichgültig mit den Schultern. »Ist ja nicht so wichtig.« Mit einem Finger deutete sie aufs Telefon. »Aber geh du doch hin. Dann haben wir beide was vor.«

Statt eine Antwort an Robert zu tippen, legte er das Gerät auf den Tisch neben die Teetasse. »Weiß nicht. Ohne dich ist es nicht so lustig. Vor allem, wenn er Lea mitbringt.«

Silvia lachte. »Verstehe ich das richtig? Du triffst dich nur mit Robert, wenn ich seine tussige Freundin von dir ablenke?«

Er kratzte sich verlegen am Kopf. »So wollte ich es nicht ausdrücken, aber ... ja. Komm schon! Du weißt, wie sie ist.«Silvia spitzte den Mund. »Ach was, Tommi«, äffte sie Leas helle Stimme nach. »Ich finde, jeder sollte Aktien haben. Du nicht auch? Ich habe auch welche, die du dir ja bei Gelegenheit mal anschauen kannst.« Mit lauten Kussgeräuschen drehte sie sich zu ihm und kletterte auf seinen Schoß. »Du bist doch der Fachmann, und ich kenn mich ja nicht aus. Ich bin ja nur eine kleine, hilflose Frau.« Thomas lachte und legte seine Hände auf ihre schmale Hüfte. »Hör bloß auf, Silvia. Ich kann hören, wie dein IQ sinkt.«

Sie küsste ihn und strich ihm dabei sanft durch die Haare. »Jawohl, Herr Börsenmakler.« Mit weiteren Küssen beendete sie das Thema und genoss es, dass er nun weiterführte, was sie begonnen hatte. Seine Hände strichen über ihre Kleidung, er küsste ihren Hals und zog die Bluse leicht zur Seite, um mit den Lippen ihre Lieblingsstelle am Schlüsselbein zu berühren. Genussvoll schloss sie die Augen und ließ das Becken kreisen.

Ich liebe ihn. Es wäre wohl alles einfacher, wenn es sich nicht so verhielte, auch wenn es eine vollkommen andere Liebe war, die sie für ihren Mann empfand – das wusste sie jetzt, da sie durch Sven eine neue Art kennengelernt hatte. Sie mochte es, Thomas zu verführen, war gerne in seiner Nähe und genoss es, dass er ein eigenständiges Leben führte und sich nicht von ihr abhängig machte. Beide unternahmen, wozu sie Lust hatten, selbst wenn es manchmal bedeutete, dass sie kaum Zeit miteinander verbrachten. Sie sagten einander nicht, was sie zu tun oder zu lassen hatten, es sei denn beim Sex; dann konnten beide sehr bestimmend oder fordernd sein.

Unwillkürlich musste sie an Sven denken ... Thomas öffnete ihre Bluse – und ihr kam das Gesicht des Geliebten in den Sinn. Beinahe hätte sie innegehalten. Sie war hin- und hergerissen – ein seltsames Gefühlsdurcheinander aus vertrauten Berührungen und der verbotenen Vorfreude auf die Begegnung mit Sven.

Das ist falsch! Schnell öffnete sie die Augen und versuchte, diesen Moment bewusst zu erleben. Du bist jetzt nicht dran, Sven. Sie wusste, wie anders sich seine Berührungen anfühlten. Thomas ging nach einem gewissen Schema vor, das für beide funktionierte, aber Sven berührte sie, weil er nicht genug von ihr bekommen konnte. Wenn er seine Finger unter ihre Bluse gleiten ließ, verlangte ihr gesamter Körper danach, von ihm gestreichelt zu werden, etwas, das für sie vollkommen neu und unglaublich aufregend war. Dieser kurze Moment des Nachgebens hatte einen schweren, unvergesslichen Eindruck hinterlassen. Dagegen war das hier wie eine dünne Suppe vor dem köstlichen Hauptgang.

Ich komme sicher in die Hölle, dachte sie und vergrub ihr Gesicht in Thomas’ Halsbeuge. Nach Freitag muss alles wieder beim Alten sein!

Kapitel 5

Hamburg, Mittwoch, 20. Mai 2009, 9:33 Uhr

»Genau deshalb bin ich Polizist geworden«, raunte Eberhard Rieckers und drehte die Morgenzeitung mit der Schlagzeile seiner Frau zu.

Die Küchenuhr tickte, der Rauch seiner letzten Zigarette hing noch schwer in der Luft, vermischt mit dem Duft des Kaffees. Egal, wie früh er aufstehen musste, Marianne bereitete das Frühstück vor, und sie begannen jeden Tag gemeinsam – etwas, das sich in fünfundvierzig Ehejahren niemals geändert hatte. Selbst als ihr Sohn noch klein gewesen war, hatte sie sich die Zeit für ihn nicht nehmen lassen. Sie sah erst zur Uhr – heute fing seine Schicht spät an –, dann auf die Schlagzeile.

»Schon wieder eine Tote?« Sie überflog den Artikel.

Eberhard wusste, dass sie nicht alles haarklein lesen musste, denn sie kannte diese tragischen Geschichten zur Genüge.

»Der gleiche Mörder?«

Er legte die Zeitung auf den Tisch, trank von seinem Kaffee und gab einen zustimmenden Laut von sich. »Ich denke schon. Das Muster passt.« Mit der Rechten schob er den leeren Becher in die Tischmitte. Diese Geste reichte meist, damit sie ihm nachschenkte. Sie tat so vieles für ihn, ohne dass er darüber nachdachte. Damals war er beinahe zeitgleich Ehemann und Polizist geworden – zwei Entscheidungen, die er nie bereut hatte, auch wenn sie schon fast ein halbes Jahrhundert zurücklagen.

Mit einem mürrischen Laut tippte er auf die Zeitung, die Marianne wieder vor ihn hingelegt hatte. »Eine Neununddreißigjährige. über Verletzungen und Todesart steht hier nichts. Aber ich wette, sie wurde vergewaltigt, misshandelt, erdrosselt und anschließend intensiv reingewaschen. Wie die anderen.« Er schob das Blatt von sich weg, als könnte er sich so auch von den Fotos distanzieren. »Bislang konnte man keine DNA des Täters finden. Er weiß, was er tut. Das sind die schlimmsten Mörder, weil sie nicht aus dem Affekt heraus agieren. Dieses Schwein würde ich zu gerne erwischen. Sicher ist er ein intelligenter Mensch, vielleicht Mediziner oder Jurist. Einen einfachen Triebtäter hätte man schon gefasst.«

Marianne sah ihm in die Augen. Er wusste, dass sie sich Sorgen machte. Sie machte sich immer Sorgen. Obwohl er hauptsächlich Bagatelldelikte bearbeitete, suchte er nach den komplizierteren Fällen, in denen er etwas bewegen, jemanden retten konnte. Nun stand er kurz vor der Pensionierung, und seit einiger Zeit quälte ihn das Gefühl, in seinem Leben nicht genug geleistet zu haben.

Er fragte sich tagtäglich, wie viele Schwerverbrecher an ihm vorübergingen, ohne dass er sie erkannte oder ihnen etwas nachweisen konnte. Es fiel ihm unendlich schwer, sich eine Zukunft auf dem Abstellgleis vorzustellen, auch wenn er seine zunehmenden Defizite nicht länger leugnen konnte. Das Alter ging an niemandem spurlos vorüber. Zigaretten und zu viel Kaffee schienen sein Blut dicker zu machen, er wurde träge, bekam Atemnot, wenn er die Treppen in den ersten Stock etwas schneller hochging, doch sein Verstand war wach, hellwach. Seine stärkste Waffe war die Menschenkenntnis. Wenn er einen Verdächtigen ansah, fiel ihm gleich jedes Detail auf.

»Er wird nicht aufhören. Ich wünschte, er würde in meinem Bezirk zuschlagen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass so gar keine Hinweise zu finden sein sollen.«

»Genau, und dann schlagen wir uns wieder am Küchentisch die Nächte um die Ohren.« Marianne schüttelte den Kopf.

Sie wird es sicher genauso vermissen wie ich. Sie war großartig darin, seine Gedanken in Bewegung zu halten. Beinahe jeden Fall besprach er mit ihr, und es kam nicht selten vor, dass sie ihn nachts aus dem Schlaf riss, weil sie einen guten Einfall hatte.

Sie goss sich den Rest Kaffee in die Tasse und schaltete die Maschine ab. »Ach, Eberhard«, sagte sie mit einem Seufzen. »Pass auf, was du dir wünschst. So ein grausiger Mordfall wäre sicher kein guter Abschluss für deine Karriere.« Sie berührte seine Hand und erntete ein Lächeln. »Du weißt, dass du niemals Ruhe findest, wenn du das Rätsel nicht löst. Ich möchte gewiss keine tragische Figur aus einem Dürrenmatt-Roman hier sitzen haben. Du erinnerst dich an Das Versprechen? Was willst du tun, wenn du so einen Fall nicht zum Abschluss bringen kannst? Als mürrischer Greis in einem dieser Hotels sitzen und bis an dein Lebensende darauf warten, dass dir der Mörder vor die Füße stolpert?«

Dieses Buch kann sie gar nicht leiden. Er legte seine Hand auf ihre und sah sie liebevoll an. Selbst wenn dieser unwahrscheinliche Fall eintreten und er tatsächlich in diese Geschichte hineingezogen würde, würde sie es mit ihm gemeinsam tragen, wie sie alles immer mitgetragen hatte – dessen war er sich sicher.

Dieses Wissen war beruhigend. Sogar die Tatsache, dass er in knapp zwei Jahren seinen Hut nehmen musste, wurde dadurch annehmbar. Manchmal fragte er sich, ob er eine Frau wie sie überhaupt verdient hatte.

Kapitel 6

Hamburg, Mittwoch, 20. Mai 2009, 18:32 Uhr

Die meisten Kolleginnen hatten das Büro bereits verlassen, als Silvia noch die Listen durchging. Marketingassistentin eines Resellers für Systemlösungen bei Großunternehmen zu sein, war genau ihr Ding. Sie liebte es, die Firma auf Messen zu repräsentieren, die Werbemittel einzukaufen und Flyer und Imagebroschüren zu erstellen. Ihr Chef war leicht vertrottelt und wusste daher ihr Mitdenken sehr zu schätzen.

Der Gedanke an das Treffen mit Sven verursachte ein intensives Ziehen der Vorfreude in ihrem Bauch. Wir werden es tatsächlich tun! Immer wieder stellte sie sich vor, wie es wohl sein würde. Wir werden nicht mal bis zum Bett kommen. In ihrer Fantasie küssten sie sich leidenschaftlich, er drückte sie gegen die Wand und schob mit seinen forschen Händen ihr Kleid an den Schenkeln hoch.

Ich werde nichts drunter tragen. Lächelnd hielt sie in der Arbeit inne. Sie konnte nicht anders, diese Gedanken passierten einfach. Was sie in ihr bewirkten, war aufregend, atemberaubend und unfassbar lebendig. Ihr Herz klopfte aufgeregt, und ihr Gewissen schwieg.

In ihrem Leben hatte sie sich noch nie so sehr gewünscht, einen Mann vollkommen zu spüren. Er sollte sie anfassen und küssen – und er sollte erst wieder damit aufhören, wenn sie genug hatte. »Arbeit macht glücklich, oder?« Die männliche Stimme neben ihr erschreckte sie.

Ertappt schob sie die Unterlagen zusammen und hatte das Gefühl, dass ihr all diese verruchten Gedanken deutlich ins Gesicht geschrieben standen.

Holger Stoltzing stand an ihrem Schreibtisch, der einzige Mann auf dieser Etage, der die Gesellschaft der attraktiven Kolleginnen nicht recht genießen konnte, weil er ein verschüchterter, unsicherer Mensch war. Wahrscheinlich auch der Einzige in ganz Hamburg, der sich die Haare mit Pomade frisierte und Strick-Pullunder und hellgrüne Bügelfaltenhosen trug. Seine Mutter packte dem Vierzigjährigen jeden Tag eine Brotdose, was schon für einige hässliche Kommentare in der Teeküche gesorgt hatte. Irgendwie tat er ihr leid.

Silvia war gerne nett zu ihm, weil es ihr egal war, ob sie mit Superman oder einem Sonderling zusammenarbeitete. Hauptsache, jeder erledigte seinen Job und man kam miteinander aus. Als Systemadministrator war er schnell und zuverlässig. Diesem verstörten Wesen traute man kaum einen so wachen Geist zu. Sie war sich sicher, dass er viel mehr leisten konnte, als die Firma ihm abverlangte. Er konnte mit Maschinen, Computern und Programmen eben besser umgehen als mit Menschen. »Entschuldige, ich wollte dich nicht erschrecken«, sagte er schuldbewusst und sah auf die Korrekturabzüge.

»Ich war in Gedanken«, antwortete Silvia verlegen und deutete auf die Blätter. »Ich muss alles noch mal machen, und ich kann mich beim besten Willen nicht mehr entsinnen, wo ich beim ersten Durchlauf den Fehler gefunden hatte. Irgendwo war einer. Mist, ehrlich.«

Holger trat dichter an sie heran. Weil sie stets so freundschaftlich mit ihm redete, kam er ihr oft näher, als ihr lieb war. Er roch nach Staub, Lavendel und Kölnisch Wasser. Als er sich vorbeugte, spürte sie seine Körperwärme, aber er vermied eine Berührung.

»Es ging um den Tippfehler in der Adresse«, sagte er.

Natürlich, das war zu einfach! Silvia fiel ein Stein vom Herzen. »Holger, du bist ein Schatz!«, rief sie erleichtert und suchte die entsprechende Vorlage. »Das hat mir jetzt eine Menge Zeit erspart. Wie konnte ich das nur vergessen?«

Er strahlte glücklich. »Du hattest es in der Teeküche erwähnt.« Dieser Mann vergisst aber auch gar nichts. »Was tust du hier eigentlich noch?« Sie nahm an, dass er ihr mal wieder Schokolade oder eine andere Aufmunterung für den nächsten Tag auf den Tisch schmuggeln wollte. Er stritt zwar bislang halbwegs überzeugend ab, dass die vielen kleinen Aufmerksamkeiten von ihm kamen, doch sie war überzeugt, dass sie sein Dankeschön für ihre Freundlichkeit waren. Solange er sie nicht um ein Rendezvous bat, konnte sie damit leben. Den Kolleginnen erzählte sie, dass ein Typ vom Reinigungsteam in sie verliebt sei. Es gab schon genug Tratsch im Büro, Holger musste nicht noch mehr in den Fokus geraten.

»Ich bin gerade erst fertig geworden und habe dich hier arbeiten sehen«, sagte er leise. »Außerdem habe ich mich gefragt, ob du mir Freitag die Kamera borgen könntest.«

»Die Marketing-Kamera?«

Er nickte verlegen.

»Was willst du damit?«

Seine Ohren begannen rot zu leuchten.

Uh, das will ich wohl gar nicht wissen. »Schon gut«, fügte sie schnell hinzu. »Du kannst sie haben. Allerdings muss ich sie dir schon mittags geben, weil ich früher gehen werde. Hab den halben Tag frei genommen.«

»Oh.« Er sah sich um. Anscheinend dachte er gerade an die anderen Frauen, die zur Mittagszeit hier mit im Raum sitzen würden. Ein Spießrutenlauf für ihn – angestarrt, betuschelt, belächelt, das Horrorszenario schlechthin.

»Keine Sorge, ich bringe sie dir. Aber ... « Sie machte eine nachdenkliche Pause. Lieber geradeheraus ... »Denk bitte daran, alle Bilder zu löschen, bevor du sie am Montag wieder mitbringst.« Er atmete auf und vollführte eine kleine Verbeugung. »Selbstverständlich. Und natürlich absolut unbeschadet.«

Etwas Erwartungsfrohes lag in seinen Augen. Silvia musste an ihr eigenes Vorhaben denken und lächelte. Jeder hat so seine Geheimnisse.

Er ließ sich zu einer Berührung ihrer Schulter hinreißen, die sie mit Widerwillen zur Kenntnis nahm. Nett sein war eine Sache, aber zu freundschaftlich wollte sie es nicht werden lassen. Holger war ein Mann, den sie privat nicht in ihrer Nähe haben wollte, weil sie ständig fürchtete, ihn nicht mehr loszuwerden. Wie ein Hündchen, dem man auf der Straße ein Leckerli gab und das mit treuen Augen um Adoption bettelte.

»So, dank dir kann ich jetzt Feierabend machen. Freitag muss der Big Boss nur noch unterschreiben – Herr Jaeckel ist ja noch im Urlaub –, dann kann ich ins Wochenende verschwinden. Wird echt Zeit jetzt.« Sie fuhr das Computersystem herunter, schaltete den Rechner aus, legte die Unterlagen in die oberste Schublade und nahm ihren Kaffeebecher vom Tisch.

»Soll ich?« Holger deutete auf den Becher und nahm ihn ihr im nächsten Moment schon aus den Fingern. Wieder eine Berührung. »Was machst du denn Schönes am Freitag?«

Sie versuchte, seinen unsicheren Tonfall einzuordnen. Vielleicht war es auch nur ihr schlechtes Gewissen, das sich in diesem Moment doch noch melden wollte und Argwohn in seiner Stimme suchte.

»Ich treffe mich mit Freundinnen«, log sie.

»Aha«, machte er. »Und wo?«

»Im Elysee«, platzte sie mit der Wahrheit heraus, bevor sie überhaupt nachdenken konnte. »Also, wir ... wollen uns dort treffen und dann ... in der Umgebung was essen gehen und anschließend in ... den Turm.« Scheiße, bin ich bescheuert.

Sicher würde er diese Details auch nicht vergessen und sie später nach dem Treffen fragen. Wie sollte sie dann über einen Tag mit Freundinnen sprechen, während sie sich an unglaublich heißen Sex mit ihrem Liebhaber erinnerte?

»Ah, ein schönes Hotel. Fünf Sterne. Die Tochter einer Freundin meiner Mutter arbeitet dort als Abteilungsleiterin im Veranstaltungsbereich. Ich habe auch schon mal eine Nacht dort verbracht, ist gar nicht so lange –«

Ist ja spannend. Silvia unterbrach seinen unerwarteten Redefluss. »Tut mir leid, Holger, ich muss jetzt wirklich los.« Wieso kann ich nie meinen verdammten Mund halten?

Er nickte verständnisvoll, hob zum Abschied den Kaffeebecher und lächelte unsicher. »Ich muss auch nach Hause.«

Als sie das Bürogebäude verließ, machte sich in ihr das ungute Gefühl breit, ein Stück weit die Kontrolle verloren zu haben. Mit Sicherheit war Holger der Letzte, der mit ihrem Mann sprechen würde, dennoch wünschte sie sich, diese Unterhaltung rückgängig machen zu können. Auch wenn es bedeutet hätte, immer noch nach dem Fehler in den Korrekturabzügen zu suchen.

Kapitel 7

Hamburg, Donnerstag, 21. Mai 2009, 12:38 Uhr

Sven und Thomas trafen sich donnerstags regelmäßig in der Gerichtskantine zum Mittagessen – immer um zwölf Uhr dreißig –, seit Sven vor einigen Jahren als Justizfachwirt hier angefangen hatte. In der Mittagspause hatte er nur selten etwas mit seinen Kollegen zu tun. Er mochte es nicht, in den Pausen über die Arbeit zu sprechen, und die Treffen mit Thomas waren immer eine willkommene Abwechslung.

Heute allerdings musste Thomas auf ihn warten.

»Du kommst spät«, begrüßte er Sven, als der zwanzig Minuten zu spät eintraf. In seinem Yuppie-Anzug wirkte Thomas wie ein Staranwalt, dabei stand er als Börsenmakler eher mit einem Fuß auf der Anklagebank, wie Sven ihm immer wieder scherzhaft vorwarf. »Tut mir leid, die Verhandlung hat länger gedauert«, log er. In Wirklichkeit wollte er lediglich die gemeinsame Zeit der Mittagspause verkürzen. Sein Job sorgte für viele spannende Geschichten, die er allerdings lieber in den eigenen vier Wänden erzählte, also ließ er eher Thomas erzählen, oder sie schmiedeten Pläne fürs Wochenende. An diesem Tag hoffte er jedoch, alle Gespräche, die mit Silvia zu tun hatten, zu vermeiden.

Sie nahmen sich jeder ein Tablett und legten Besteck und Servietten darauf. Es war sehr ruhig in der Kantine, und sie mussten kaum anstehen. »Das Essen sieht immer gleich aus, nur die Beschriftung ist anders«, scherzte Thomas und betrachtete die Auswahl.

»Immerhin passen Konsistenz und Farbe zu den tristen Räumlichkeiten.«

Die Mitarbeiterin hinter dem Tresen rückte ihre Haube zurecht und wartete auf die Bestellung. Sie war schon so lange hier angestellt, dass sie sicher jeden blöden Spruch über das Essen kannte.

»Du hast dich diese Woche gar nicht gemeldet.« Thomas‘ Tonfall klang argwöhnisch. »Silvia sagte, mit ihr hättest du auch nicht gesprochen.«

Sven versuchte, locker zu klingen. »Na, dann hättest du dich doch melden können.« Es war seltsam, dem Mann, mit dessen Frau er am nächsten Tag wahrscheinlich schlafen würde, in die Augen zu schauen. Kurz ging ihm ihre lange gemeinsame Vergangenheit durch den Kopf. Sie kannten sich aus der Schulzeit. Vor zehn Jahren hatte er Kathrin kennengelernt, und fünf Jahre später war dann Silvia dazugekommen; seitdem verbrachten sie so viel Zeit miteinander, dass andere Freunde sie schon siamesische Vierlinge nannten.

Was, wenn einer der beiden dahinterkommt? Kaum ein Gedanke quälte ihn mehr. Wie sollen wir es vor ihnen verheimlichen, wenn die Gefühle anschließend nicht weg sind?

Sie nahmen ihr Essen entgegen, bezahlten und suchten sich Plätze am Fenster. Es war hier beinahe so ruhig wie in einer Bibliothek. »Ich meine ja nur, dass es ungewöhnlich für dich ist«, nahm Thomas das Gespräch wieder auf.

Ist das so? Verhalte ich mich ungewöhnlich? Er wusste, dass sich Menschen mit schlechtem Gewissen immer ertappt fühlten; das hatte er oft genug bei den Verhören beobachtet. »Was liegt denn am Wochenende an?«

Thomas konzentrierte sich auf sein Schnitzel und redete mit vollem Mund. »Silvia ist morgen unterwegs. Irgendeine Weibergeschichte. Kann sein, dass es spät wird. Geht Kathrin nicht mit?«

Sven wurde heiß und kalt. Sie hatten keine Geschichte vereinbart, oder besser gesagt: Er hatte vergessen, sich eine Geschichte auszudenken. Was um alles in der Welt sage ich jetzt? »Nicht, dass ich wüsste.«

Er musste Kathrin am nächsten Tag eine Mail schreiben, bevor er seinen Arbeitsplatz verließ, dann brauchte er zu Hause auch keine unangenehmen Fragen zu beantworten. Schatz, komme später, gehe noch mit Kollegen Billard spielen – oder etwas in der Art. Es durfte nicht auffallen, dass er ausgerechnet am selben Tag wie Silvia eine Verabredungen mit alten Freunden hatte. Kurze Mail und fertig. »Wie wäre es dann mit einem Männerabend? Endlich mal die Horrorfilme ausleihen, die unsere Frauen nicht sehen wollen.«

Da wäre ich sonst sofort dabei ... »Kathrin hat doch bald Geburtstag«, sprudelte die Lüge aus ihm heraus. »Ich will morgen ein paar Sachen für sie organisieren. Die Frau eines Kollegen arbeitet im Reisebüro. Ich fahre nach der Arbeit hin und lasse mich beraten. Ist einfacher so. Und Kathrin bekommt nichts davon mit.« Mist, jetzt darf ich nicht vergessen, eine Reise zu buchen. Aus einer harmlosen Lüge resultierten kostspielige Konsequenzen.

»Ich dachte, du wolltest ihr solche Dinger für ihr Armband schenken?«

»Eine Reise wäre auch mal schön.« Er stocherte in seinem Essen und fühlte sich elend. Er meinte, in Thomas’ Augen jedes Mal, wenn er ihn ansah, Misstrauen zu erkennen. Außerdem fühlte er sich von den wenigen anderen Kantinenbesuchern beobachtet.

»Silvia liebt Hotels«, sagte Thomas ansatzlos. »Sie sammelt diese kleinen Seifen, Duschhauben und Heftchen mit Nähzeug, die dann unnütz in unserem Bad rumliegen.« Er lachte kopfschüttelnd. »Als ob wir das Zeug zu Hause brauchen würden.«

Sven wurde ganz anders. Er wollte gewiss nicht mit seinem besten Freund über die Vorlieben von dessen Frau in Bezug auf Hotelzimmer sprechen.

»Geht es dir nicht gut? Du siehst blass aus.«

Natürlich war er darauf eingestellt gewesen, lügen zu müssen, aber nun quälte ihn das schlechte Gewissen härter als erwartet. Länger hielt er dieses Gespräch nicht mehr aus. Mit verzerrtem Gesicht stemmte er sich vom Sitz hoch. »Tut mir leid, aber ich fürchte, ich hab mir irgendwas eingefangen. Muss aufs Klo.« Er rieb sich demonstrativ über den Bauch. »Wir sehen uns.«

Er ließ Thomas mit Schnitzel, Pudding und Apfelsaftschorle sitzen und eilte aus der Kantine, wobei er die Blicke aller auf sich spürte. Sicher sieht mir jeder meine Lügen an.

Die Sache mit dem Unwohlsein war nicht mal gelogen. Nur dass es kein Virus war, sondern die quälende Schuld, die ihm auf den Magen schlug.

Und trotzdem war der Wunsch, mit Silvia allein zu sein, stärker als alles andere.

Kapitel 8

Göttingen, Freitag, 22. Mai 2009, 11:34 Uhr

Der gepackte Koffer stand bereits im Eingangsbereich. Karl Freiberger starrte ihn an. Nur einen Tag, doch er wollte nicht fahren, nicht jetzt. Ihn schauderte. Die vergangenen Tage waren wie ein Film an ihm vorbeigelaufen. über Nacht hatte sich sein Leben brutal verändert – sie hatte es verändert.

Es kam ihm vor, als hörte er sie schreien, doch im Haus war es totenstill. Er sah sie eben noch vor dem Spiegel sitzen, die Welt war nicht perfekt, aber dennoch irgendwie in Ordnung gewesen. »Sie war doch nur erschöpft«, flüsterte er gedankenverloren. »Ich hätte sie nicht ...«

Mit der Rechten rieb er sich über die angespannten Gesichtszüge. Es fiel ihm schwer, über all das nachzudenken, was er in den letzten Tagen getan hatte. Seine Gedanken überschlugen sich bei dem Versuch, einen überblick zu gewinnen. Was, wenn er etwas Wichtiges übersah oder vergaß?

Es behagte ihm nicht, seine Frau in diesem Zustand zurückzulassen. Die Zerrissenheit stand ihm deutlich ins Gesicht geschrieben.

»Gehen Sie nur, Dr. Freiberger«, hörte er Edith hinter sich sagen. Er hatte die gelernte Krankenschwester wegen Barbara einstellen müssen. Sie war Polin, lebte seit einer Woche in dem kleinen Zimmer neben der Küche und konnte somit vierundzwanzig Stunden zur Stelle sein. Das musste sie auch. Die Alternative wäre ein Krankenhaus gewesen, aber er würde seine Frau niemals in die Hände irgendwelcher Pfuscher geben. Außerdem würde es Gerede geben, und er wollte nicht zulassen, dass sich die anderen ihre aufgespritzten Mäuler über Barbaras Zustand zerrissen. Deshalb die Krankenschwester und das auf die Schnelle voll eingerichtete Krankenzimmer mit allen notwendigen Gerätschaften für Barbaras Intensivbetreuung.

Edith war eine Beleidigung für die geschulten Augen eines Schönheitschirurgen, weil keine Operation der Welt aus dieser Frau einen ansehnlichen Menschen gemacht hätte. Sie war ein einziger Makel. Stämmig, aber statt dick einfach nur schlecht proportioniert. Ihre Arme wirkten zu kurz für den Oberkörper, die Beine waren kräftige Stampfer, und ihr wuchsen schwarze Haare an Stellen im Gesicht, wo sie nichts zu suchen hatten. Und die fettige Anmutung der schwarzen drahtigen Haare auf dem Kopf war nicht wegzuwaschen. Hängende Lider, breite Nase und wässrige Augen. Er musste aufpassen, nicht jedes Mal seinen Mund zu verziehen, wenn er sie ansah.

»Machen Sie sich keine Sorgen, Dr. Freiberger. Ich kümmere mich um alles. Arbeit ist wichtig. Fahren Sie nur.«

Der Akzent komplettierte ihre unsympathische Erscheinung, aber sie arbeitete gewissenhaft und so sorgfältig, wie er es wünschte. Zudem war sie billig und der kleine Aufpreis für ihre Verschwiegenheit absolut vernachlässigbar.

»Sollte irgendwas sein, egal wie wichtig oder unwichtig es ist: Rufen Sie mich an! Und ich wünsche, dass Sie sich sofort melden, wenn sie aufgewacht ist.«

Edith nickte und schob ihren Arbeitgeber mit ein paar polnischen Aussprüchen zur Tür.

Er konnte diese Mentalität nicht leiden. Ständig wurde er von dieser Frau angefasst oder bemuttert. Doch mit einer Maßregelung wollte er bis zu seiner Rückkehr warten. Es war wichtiger, dass er sich auf sie verlassen konnte. Sicher wäre es nicht gut, sie vor seiner Abreise noch zu verärgern.

Der Kongress der Schönheitschirurgen würde für ihn tags darauf bereits wieder beendet sein. Auch wenn er am Samstagabend nicht wie gewohnt mit den Kollegen essen gehen und über die Vorträge und neuen Methoden diskutieren würde, war es unumgänglich, sich dort mit einigen Leute zu treffen. Er versprach sich von ihnen wichtige Ratschläge, die er sich mit der anrührenden Geschichte über eine Patientin erbeten würde – einer ganz und gar erlogenen Geschichte.

Niemand durfte wissen, dass es ausgerechnet seine Frau war, die unter Operationssucht und schweren Depressionen litt. Niemand durfte erfahren, dass ihm die Dinge entglitten und er an einem tiefen Abgrund stand.

Oberflächlich betrachtet, war sein Leben wunderbar, und er würde dafür sorgen, dass niemand einen Blick hinter die Kulissen werfen konnte. Inzwischen war ihm jedes Mittel recht, um die Traurigkeit aus Barbaras Herzen zu vertreiben. Jedes erdenkliche und auch unvorstellbare Mittel.

Alles muss wieder gut werden. Die Eingangshalle war bedrückend still, wenn die Polin endlich mal nichts sagte. Dunkle, mit dezenten Mustern durchwebte Läufer führten von der Eingangstür geradewegs zu einem weiteren Teppich, der auf der Stirnseite links und rechts in die Flure zu den anderen Räumen führte. Vielleicht sollte ich die Vertäfelung an den Wänden weiß streichen lassen? Das dunkelrotbraune Tropenholz war sündhaft teuer gewesen und drückte eben jenen Luxus aus, für den er täglich seine Patienten operierte. Das Haus entsprach seinen Vorstellungen eines perfekten Anwesens. Spartanisch eingerichtet, edle Materialien, antike Möbel, die hochwertig aufgearbeitet worden waren, und jeglicher Verzicht auf überflüssigen Nippes. Barbara empfand vieles davon als zu düster, das hatte sie einige Male erwähnt.

Vielleicht hätte ich ihr besser zuhören sollen?

Er nahm seinen Koffer und verließ das Haus. »Ich sollte noch mal nach ihr sehen«, sagte er, als er ins Freie trat.

»Das haben Sie schon zehnmal in der letzten Stunde getan. Nun fahren Sie endlich.«

Ich sollte gar nicht wegfahren. Schweren Schritts ging er auf seinen Mercedes zu und öffnete den Kofferraum. »Weichen Sie nicht von ihrer Seite, haben Sie verstanden?«

Die Polin winkte ihm fröhlich und schloss dann die Tür.

Er hielt den Blick auf den Eingang gerichtet, als könnte er das Holz durchdringen. Nun kam ihm das Anwesen mit seiner schroffen Steinfassade wie ein überdimensionales Mausoleum vor.

Wenn ihr in meiner Abwesenheit etwas zustößt, werde ich dafür sorgen, dass dir das Lachen vergeht. Er stieg ein, startete den Motor und fuhr los.

Kapitel 9

Hamburg, Freitag, 22. Mai 2009, 14:45 Uhr

Silvia war in ihrem ganzen Leben noch nie so aufgeregt gewesen. Den halben Tag im Büro zu arbeiten, war eine schreckliche Last. Sie konnte sich nicht konzentrieren, starrte wieder und wieder auf die Uhr, die immer langsamer zu werden schien. Was sie auf Montag schieben konnte, ließ sie liegen. Aber ihr Plan, so viel wie möglich abzuarbeiten, damit die Ungeduld nicht unerträglich wurde, scheiterte an ihren abschweifenden Gedanken.

Gleich ist es so weit. Die Vorfreude stand ihr ins Gesicht geschrieben – zum Glück war niemand in der Nähe, der es sehen konnte. Sie schaltete den Computer aus.

Endlich. Sie zog den Knoten des schwarzen Wickelkleids an der linken Körperseite etwas fester und nahm dann Jacke und Handtasche vom Stuhl.

»Ich wünsche euch ein schönes Wochenende!«, rief sie im Vorbeigehen den Kolleginnen zu und ging zur Toilette. Meines wird sicher grandios anfangen.

In der Kabine zog sie sich den Slip aus und steckte ihn in ihre Handtasche. Sie freute sich auf Svens Gesichtsausdruck, wenn er seine Hände an den halterlosen Strümpfen hochwandern ließ und es bemerkte. Verführung und Leidenschaft, beides hatte sie bislang noch nie so prickelnd erlebt. Sie spürte, wie sich ihr Dekollete´ beim Atmen hob und senkte, wie ihre Kleidung am Körper lag, wie anders es sich ohne Slip unter dem Kleid anfühlte.

Ich will das, sagte sie sich und schloss die Augen. Ich will ihn.

Mit Thomas ergaben sich keine Gelegenheiten, bei denen sie diese Fantasie hätte ausprobieren können, aber das Vorhaben mit Sven ließ alles in ihr verrückt spielen.

Wenn es in natura nur halb so gut ist wie in meiner Fantasie, dann haben wir ein massives Problem! Sie wusste, dass sie wahrscheinlich im Begriff war, eine dauerhafte Affäre zu beginnen. All die guten Vorsätze kamen ihr wie Lügen vor. Eine Affäre mit dem besten Freund ihres Mannes, dem Ehemann ihrer Freundin. Niemand kommt zu Schaden, wenn es keiner erfährt. Ist es nicht so?